Toskanische Verhältnisse - Marco Malvaldi - E-Book

Toskanische Verhältnisse E-Book

Marco Malvaldi

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Beschreibung

In Montesodi Marittimo leben mehr Hühner als Menschen. Ein von Gott und der Welt vergessenes Örtchen, dessen Bewohner seit Jahrhunderten Fremde nicht gerade willkommen heißen. Ideales Terrain für einen jungen Arzt, die genetischen Eigenheiten der Bevölkerung zu untersuchen. Doch kaum ist der Besucher eingetroffen, stirbt unter mysteriösen Umständen seine Vermieterin, eine alte, recht widerspenstige Dame. Da in der Nacht ihres Todes ein Schneesturm das Dorf von der Außenwelt abschnitt, muss der Mörder noch mitten unter den wenigen Bewohnern des Dorfes weilen …

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Übersetzung aus dem Italienischen von Luis Ruby

Das Zitat aus Giovanni Pascolis Gedicht »Die Poesie« ist in Estella Wondrichs Übersetzung zitiert, erschienen in: Pascoli, Ausgewählte Gedichte, Trient 1907

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-492-96405-0

© 2012 Sellerio Editore, Palermo

Deutschsprachige Ausgabe:

© Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2013

Umschlaggestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin, unter Verwendung eines Fotos von Michael Trevillion/Trevillion Images

Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell

Für Paolo, mit der Frage:

Wie schaffen das wohl die Schiffe, schwer wie sie sind,

zu schwimmen?

Mein keusches Licht ferne schimmert

Dem nächtlichen Wandrer; des Strebens

Ist müde sein Herz und wimmert

Auf dem farblosen Pfade des Lebens.

Still steht er, da fühlt er leise

Mein Leuchten ins Herz sich dringen.

Fort setzt er die dunkle Reise

Mit Singen.

Giovanni Pascoli: Die Poesie

Nur mal so zur Veranschaulichung

Um einen Eindruck davon zu vermitteln, was für ein Ort Montesodi Marittimo ist, hier einfach ein paar Zahlen.

812: die Zahl der Einwohner, womit sich die Menschen gegenüber den offiziell im Dorf registrierten Hühnern (Stücker 1726) klar in der Minderheit befinden. Zum Glück genießen Hühner, mit Ausnahme von Signorina Conticini, kein aktives Wahlrecht, sonst wäre im Dorf so einiges anders.

69: das Durchschnittsalter im Dorf, mit einer bimodalen Verteilung um zwei Spitzen bei 70 bzw. 40 Jahren, einer nicht unerheblichen Koda im oberen Bereich und einem einzelnen, aber stolzen Ausreißer jenseits der hundert.

24: der Steigungsgrad der Hauptstraße von Montesodi, an der fast die gesamte Ortschaft liegt und die im Volksmund unter dem Namen »Herzkasperweg« bekannt ist. Um zu verstehen, was das bedeutet, sollte man sich vor Augen halten, dass der härteste Anstieg beim Giro d’Italia, der Mortirolopass, eine maximale Steigung von achtzehn Grad aufweist. In diesem Dorf ist jedes Fahrzeug diesseits eines Geländewagens nichts als ein hübsches Möbelstück auf Rädern.

Minus 17: die Tiefsttemperatur, die in der letzten Woche des Jahres 2011 erreicht wurde, unangenehm, aber noch weit entfernt von den minus 22 Grad, von denen der gute Castaldi manchmal schwatzt, der in meteorologischen Fragen Zuverlässigste unter den Senioren. Dass Castaldi rund um die Uhr besoffen ist, tut seinen Aussagen nicht nur keinen Abbruch, vielmehr bestätigt es sie: Nach allgemeiner Meinung ist es bei der Kälte, die Castaldi schon ertragen musste, wirklich kein Wunder, wenn er sich hin und wieder einen genehmigt.

3: Anzahl der Betriebe, die innerhalb des Ortsgebiets ansässig sind. Konkret handelt es sich um die Grundversorgung (ein Schreibwaren- und Lebensmittelgeschäft einschließlich Zapfsäule unten am Hang), das La Pignata (ein Restaurant auf halber Höhe, mit Lammfleisch als Spezialität des Hauses) sowie das Stellone il Grezzo (wenn man so will, »der harte Stern mit dem weichen Kern«, ein Lokal, wo ausschließlich Peroni-Bier ausgeschenkt wird, ganz oben auf der Piazza neben der Kirche).

2: Zahl der Geburten, die im Lauf des vergangenen Sonnenjahrs im Dorfgebiet stattgefunden haben. Die neuen Erdenbürger heißen Jonathan und Emily Pontypine und sind die Zwillinge eines englischen Pärchens, das sich bei einer Spritztour im Umland verfahren hatte. Die beiden Kinder beschlossen, zwei Monate vor dem Termin zur Welt zu kommen, nachdem die Mutter, Signora Gwendolen, ihrerseits beschlossen hatte, aus dem Wagen zu steigen und den Herzkasperweg hochzulaufen, auf der Suche nach der nächstgelegenen Toilette.

So weit unsere Sintflut von Zahlen für diese Wüste von Dorf.

Anfang

Schon bevor man das Dorf erreicht, lässt die Straße nach Montesodi Marittimo wohl niemanden kalt.

Hinter einer Abzweigung mit dem Schild »Campagnaia-Montesodi M.mo«, dessen banal weiße Lettern auf blauem Hintergrund nichts von dem ahnen lassen, was einem bevorsteht, beginnt die Strecke fast unverzüglich anzusteigen und schlängelt sich dann dickköpfig zwischen den Eichenwäldchen hindurch; als wollte sie uns zeigen, dass es doch allzu einfach wäre, sich wie eine normale Straße zu verhalten und den bequemsten Weg durch die Täler zu nehmen, die sich zwischen den Hügeln erstrecken. Eine Fahrbahn, die etwas auf sich hält, hat mehr zu bieten.

Der Straßenverlauf wird nach der Abzweigung zu einer Abfolge von Kurven und Schlaglöchern, wobei der Asphalt objektiv gesehen nicht im besten Zustand sein mag, aber die Ersteren erscheinen doch zahlreicher als die Letzteren; umso mehr, wenn einem im Auto leicht schlecht wird, so wie Piergiorgio Pazzi, und man jede Kurve einzeln zählt. So wie er es in diesem Moment tat, während er um Atem rang und auf jeder der kurzen Geraden versuchte, seinen Mageninhalt wieder dorthin zu befördern, wo er hingehörte. Und dabei schickte er ein Stoßgebet zum Himmel, seine Forschungstätigkeit in Montesodi Marittimo nicht damit anfangen zu müssen, dass er sich die Seele aus dem Leib spie.

Zum Teil, gewiss, aus Eigenliebe; vor allem aber auch, weil der Besitzer des Wagens, der ihn nach Montesodi fuhr, nicht gerade so aussah, als ob er es wohlwollend aufnehmen würde, wenn sich dieses Unglück in seinem Auto ereignete.

Der Betreffende war ein Mann um die fünfzig, groß, breitschultrig, mit kugelrundem Bauch und dem Augenschein nach ohne Weiteres in der Lage, mit bloßen Händen einen Reifen zu wechseln, und zwar ohne Wagenheber. Dieser Mann also hatte ihn mit einem Geländewagen am Bahnhof abgeholt und sich mit einem Händedruck und einem knappen »freutmichPuntoni« vorgestellt. Piergiorgio schloss aus alledem, dass a) sein Gegenüber Puntoni hieß und b) körperliche Auseinandersetzungen das Letzte waren, worauf man sich mit diesem Burschen einlassen wollte.

Und so war die Begrüßung das Einzige, was sie während der Fahrt an Worten ausgetauscht hatten, bevor sie das unbewaldete Wegstück bei l’Anguillaia erreichten. Puntoni war damit beschäftigt, auf einem lokalen Radiosender das Spiel der Fiorentina zu verfolgen, Piergiorgio verfolgte die gleichlaufenden Windungen der Straße und seiner eigenen Eingeweide. Ermutigt von einer Geraden, die etwas länger ausfiel als die bisherigen, sah sich Piergiorgio, während der Reporter voller Begeisterung einen Einwurf referierte, der den Violetten in Strafraumnähe zugesprochen worden war, auf dem baumlosen Straßenstück ein wenig um und versuchte zu begreifen, wohin es ihn da eigentlich verschlagen hatte. Und die Szenerie, die er erblickte, ließ ihn erstarren.

Mitten auf der waldlosen Ebene stand trotz der Januarkälte ein Kerl mit bloßem Oberkörper, etwa einen Meter fünfzig groß und völlig kahl. Er hatte einen Bart, der ihm bis zum Bauch reichte, und Waden, die zwei San-Daniele-Schinken glichen. Schon deshalb überkam einen spontan die Idee, sich umzusehen, vielleicht steckte da irgendwo auch ein Gandalf. Dazu muss man sagen, dass der Mann ganz unverkennbar Qualen litt: Wahrscheinlich nicht so sehr wegen der Kälte, sondern wegen des Baumstamms von dreißig Zentimetern Durchmesser und gut zwei Metern Länge, den dieser Troll durch die Gegend schleppte, gestützt auf Brust und Unterarme, die Hände auf Höhe der Leisten verschränkt; in dieser Haltung stolperte er mühsam vorwärts, die rechte Gesichtshälfte an den Stamm gepresst, mit zitternden Armen. Die Spitze der mächtigen Last schwankte bei jedem Schritt.

Im Gegensatz zu Piergiorgio, der dem Schauspiel gebannt beiwohnte, blieb Puntoni völlig ungerührt, seine Aufmerksamkeit galt weiterhin der Fiorentina und den offenkundigen Schwierigkeiten der »Lilien«, den Spielstand auszugleichen, was der erregte Reporter in lebhaften Tönen wiedergab. Während der Geländewagen die Szene hinter sich ließ, konnte sich Piergiorgio nach einigen Sekunden die Frage nicht verkneifen:

»Entschuldigen Sie, wer war das denn?«

Gestört in seiner Konzentration auf die Bemühungen der Violetten, warf Puntoni Piergiorgio einen kurzen Blick zu.

»Wer, das?«

»Der Kerl mit dem Baumstamm.«

»Das ist Bonacci.«

Schweigen. Wenn man von dem Umstand absah, dass der Sportreporter inzwischen heulte wie ein Kojote.

»Aha. Und was macht er mit dem Baumstamm?«

»Na, üben.«

Schweigen. Diesmal wirklich, denn die Fiorentina hatte gerade das zweite Gegentor kassiert und der Kommentator vermutlich Selbstmord begangen. Nach ein paar Sekunden wagte sich Piergiorgio vor:

»Und wofür trainiert einer, der Baumstämme durch die Gegend schleppt?«

Puntoni drehte sich abermals zu ihm um, sichtlich genervt.

»Na, für die Festa della Panca.«

Und damit drehte er die Lautstärke des Radios hoch, aus dem der wiedererstandene Kommentator beklagte, dass vor dem Tor eine Abseitsstellung übersehen worden sei, indes Puntoni den Blick auf die Straße richtete, wo das mit den Kurven schon wieder losging.

Piergiorgio stellte keine weiteren Fragen, bis sie ihr Ziel erreicht hatten.

Im Dorf angekommen, wurde Piergiorgio zur Casa Zerbi gebracht, in der er für seinen gesamten Aufenthalt unterkommen sollte.

Die Casa Zerbi war eines von wenigen Gebäuden im Dorf, die über mehr als zwei Stockwerke verfügten; fast alle Häuser, die Piergiorgio unterwegs zu Gesicht bekommen hatte, in Hanglage am Herzkasperweg, begnügten sich mit einer Kombination aus Erdgeschoss und erstem Stock hinter einem Fünfzigerjahreverputz, eine Hülle, die ursprünglich einmal elfenbeinfarben gewesen sein musste, gegenwärtig jedoch eher an verschimmelten Milchkaffee denken ließ. Die einzigen zwei Bauten, die sich von den anderen abhoben, waren das Restaurant, vor dem auf einer hölzernen Tafel der geschnitzte Schriftzug La Pignata prangte, sowie das Haus von Signorina Conticini, deren Garten eine bemerkenswerte Sammlung von Zwergen zu bieten hatte. Über sie alle wachte nicht etwa Schneeweißchen, sondern eine überlebensgroße Madonna, zu allem Überfluss mit einem blinkenden Leuchtherzen ausgestattet.

Ganz oben am Hang dagegen hatten die wenigen Gebäude, die den Hauptplatz säumten, drei Stockwerke oder mehr. Sie stammten allesamt aus der Zeit vor 1900 und waren von entschieden gediegenerer Bauweise. Sowohl an Größe wie an optischem Reiz alles überragend stand das Haus des Bürgermeisters, Casa Benvenuti: ein großzügiges, solides Bauwerk mit einem eisenbeschlagenen Tor, das etwaigen Eindringlingen schon vor der breiten Außentreppe Einhalt gebot. Außer Konkurrenz lief natürlich die Kirche, benannt nach ihrem Schutzpatron Sant’Antonio Abate, dem heiligen Antonius der Einsiedler. Ein hässliches Gebäude ungewisser stilistischer Provenienz, das einzig durch seine Höhe auffiel und dessen religiöse Funktion allein am Kirchturm abzulesen war, welcher die Kirche selbst an Hässlichkeit fast noch übertraf. Das edelste Haus von allen, der Palazzo Palla, Heimstatt der Marchesi Filopanti Palla, die sich vom gemeinen Volk auch räumlich distanzierten, stand freilich außerhalb des Dorfes. Der Palazzo lag noch etwas höher am Hang als der Kirchplatz, aber durch einen guten Kilometer unasphaltierte Straße davon getrennt.

Gegenüber der Kirche stand die Casa Zerbi: ein Gebäude mit einer Treppe aus Holz und Eisen und Vollholz-Fensterläden, drei Stockwerke zuzüglich einer Mansarde, die normalerweise als Gästezimmer diente.

Und just in dieser Mansarde machte sich Piergiorgio ans Auspacken, nachdem er den Raum in Besitz und selbst wieder etwas Farbe angenommen hatte. Er räumte seine Kleidung und alles Weitere aus dem Koffer, was er brauchen würde, um zwei Wochen fern von zu Hause zu überstehen: seine Laufklamotten, Bücher, Laptop, iPod und so weiter; in großer Eile, versteht sich, denn in weniger als einer Stunde stand schon das Begrüßungsessen auf dem Programm, und der Ärmste musste sich noch duschen, rasieren und umziehen.

Piergiorgio war noch mit dem Auspacken beschäftigt, als sein Handy klingelte. Na klar.

Professor Ferroni. Komisch, ich hätte gewettet, es ist die Mamma.

»Pazzi, sind Sie das? Wie geht’s? Sind Sie schon angekommen?«

»Ja, ich bin’s, Professor. Ja, ich bin schon da. Alles in Ordnung.«

»Und das Dorf? So scheußlich wie auf dem Foto?«

»Na ja, ein bisschen schon. Sagen wir’s so: Las Vegas ist das hier nicht gerade.«

»Und wie sind die Einheimischen? Hat man Sie gut aufgenommen?«

»Ja, schon. Einer hat mich abgeholt. Also, Leute habe ich bisher zwei gesehen. Soweit ›Leute‹ das richtige Wort ist. Der eine sah aus wie ein Bär in Menschenkleidung, den anderen kann ich Ihnen gar nicht richtig beschreiben. In Form schienen sie jedenfalls beide zu sein.«

»Na, darum geht’s uns doch«, sagte Ferroni und sprach dann plötzlich im Ton eines Auktionators weiter. »›Montesodi Marittimo, das stärkste Dorf Europas.‹ Ist die Philologin auch schon da?«

»Ich glaube schon. Angeblich ist sie auch hier untergebracht, aber ich habe sie noch nicht gesehen.«

»Ach, keine Sorge, die werden Sie schon erkennen, wenn Sie sie sehen. Lila Haare, ovale Brille und im Gesicht ein unsichtbares Schild mit der Aufschrift ›Ich bin von der Scuola Normale‹. Beim Kick-off-Meeting hat sie von der ersten bis zur letzten Minute genervt. Schließen Sie also Freundschaft mit den Einheimischen, falls Ihnen nach Gesellschaft ist – die Tante macht mir prima facie einen ziemlich ungenießbaren Eindruck.«

Sonntag beim Abendessen

»So. Erst einmal hallo und guten Abend zusammen. Ich hoffe, Sie alle konnten das Abendessen und Stelios Küche genießen, die wie üblich ganz ausgezeichnet war, wie ich betonen möchte. Nun wären die kulinarischen Künste des guten Stelio zwar Grund genug, hierherzukommen, aber wir haben uns heute auch noch aus anderem Grunde versammelt, nämlich um unsere Gäste ganz herzlich willkommen zu heißen.«

Der Herr Bürgermeister drückte sich in der Regel in bestem Italienisch aus, hatte jedoch im Lauf des Abendessens und beim anschließenden Beisammensein Trost und Schutz vor der Kälte gefunden, indem er sich etliche Gläser Grappa hinter die Binde goss, was seine Beredsamkeit nun ein wenig beeinträchtigte. Gönnerhaft nickte er Piergiorgio zu, der zu seiner Rechten saß.

»Dr. Piergiorgio Pazzi, Physiologe, nicht wahr, vom Institut für Endokrinologie der Universität Pisa. Er ist für die biomedizinische Seite des Projekts zuständig ...«

Der Bürgermeister machte eine ausladende Handbewegung nach links, wo eine junge Frau saß. Sie war groß, hatte schwarze, durch ein paar lila Strähnen aufgepeppte Haare und trug eine kleine Brille mit Metallrahmen, hinter deren Gläsern ein Augenpaar lag, so grün wie die Hoffnung, die Trägerin näher kennenzulernen; eine Hoffnung, die Piergiorgio ganz entgegen Professor Ferronis Ratschlag schon seit ihrem ersten Anblick hegte.

»... und Dr. Margherita Castelli, Forschungsangestellte in Romanischer Philologie an der Scuola Normale Superiore di Pisa. Sie übernimmt den, wenn man so sagen kann, genealogischen Teil. Soweit ich verstanden habe, wird die Aufgabe von Frau Dr. Castelli darin bestehen, die Familienhintergründe und den Stammbaum jedes einzelnen Bewohners unseres Ortes zurückzuverfolgen, und zwar anhand des Kirchenarchivs, das bei uns bis aufs Jahr 1634 zurückgeht.«

Die unterschiedliche Ausführlichkeit der beiden Vorstellungen kündete nicht etwa von einer Feindseligkeit gegenüber Pazzi. Vielmehr beruhte sie auf dem Umstand, dass der Bürgermeister, der Piergiorgio rechts und Frau Dr. Castelli links von sich hatte Platz nehmen lassen, sich mehr oder minder über die gesamte Dauer des Abendessens nach links gewandt und den armen Piergiorgio fast völlig ignoriert hatte.

»Die durch Frau Dr. Castelli durchgeführte Rekonstruktion wird dazu dienen, ohne jede Ambi-, Ambig-, also mit absoluter Sicherheit festzustellen, wie eng die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen uns allen sind, nicht wahr, sodass sich unser genetisches Erbe zweifelsfrei zuschreiben lässt.«

Denn, zugegeben, wahrscheinlich lag Professor Ferroni nicht ganz falsch, wenn er Dr. Castelli als klassische Vertreterin der Scuola Normale und Nervensäge erster Güte bezeichnete. Aber er hatte dabei die Tatsache übergangen, dass sie auch eine ausgesprochene Schönheit war. Von nordischem Aussehen, unterkühlt und vielleicht nicht sehr freundlich; aber genau von dem äußerlich kalten Typus, den sich der Durchschnittsitaliener als eisige Oberfläche vorstellt, die den Gipfel eines Vulkans umgibt, solange er untätig bleibt. Gewiss, draußen ist es kalt, aber das sind nur die äußeren Bedingungen; drinnen sieht es völlig anders aus.

Der Abendempfang für die neu eingetroffenen Gäste hatte ein paar Stunden zuvor damit begonnen, dass die beiden Wissenschaftler im Haus des Bürgermeisters vorstellig geworden waren. Dieser hatte ausdrücklich Wert darauf gelegt, sie schon vor dem offiziellen Abendessen, an dem ein Gutteil der Dorfbewohner teilnehmen würde, persönlich kennenzulernen und sie zu diesem Zweck bei sich zu Hause zu empfangen. Der Herr Bürgermeister – mit Namen Benvenuti Armando – erwies sich als etwa sechzigjähriger Provinzkavalier mit offenem Blick, gerader Haltung und der gelassenen Ausstrahlung eines Mannes, der weiß, dass das Leben es gut mit ihm meint und er sich das auch redlich verdient hat. Nun ließ er wie jeder gute Gastgeber den Neuankömmlingen eine kleine Hausführung angedeihen. Zunächst zeigte er ihnen den Wohnbereich, hielt vor dem Panoramafenster im Esszimmer inne, um sie an der prächtigen Aussicht teilhaben zu lassen, und führte ihnen anschließend die großzügige gemauerte Küche vor. Dann geleitete er sie in den Garten, wo ein Belvedere den Blick auf das ganze Tal freigab; neben einigen Obstbäumen befand sich ein Kräutergarten, in dem auch zwanzig verschiedene Sorten scharfe Paprika wuchsen, dazu einige äußerst seltene Salbeiarten. Schließlich führte er die Gäste ins Untergeschoss und verkündete, während er eine kleine feuerfeste Tür öffnete, mit gespieltem Gleichmut:

»Und nun kommen wir zum wichtigsten Teil des Hauses.«

Piergiorgio hatte einen Weinkeller erwartet und sich schon ein paar anerkennende Floskeln zurechtgelegt – meine Güte, das ist ja großartig, und was für ein Jahrgang ist das hier, wie lange haben Sie denn gebraucht, um sich so eine Kollektion anzulegen –, was man halt so sagt, wenn man die Sammlung eines leidenschaftlichen Connaisseurs besichtigt, von deren Gegenstand man keinen blassen Schimmer hat. Doch die hohlen Worte konnte er sich glücklicherweise sparen, denn der Keller, in den Bürgermeister Benvenuti sie treten ließ, war tatsächlich beeindruckend. Nicht wegen der Weine – das hätte Piergiorgio nicht zu beurteilen vermocht –, sondern wegen der Räumlichkeit an sich. Der eigentliche Keller, in den man durch eine Bodenluke gelangte, war aus dem Tuffstein gegraben: gut einhundert Quadratmeter voller in den Stein gehauener Nischen, mit etwa einem Dutzend grober Säulen, auch diese aus dem Tuff gehauen und ebenfalls mit einer Reihe von Nischen ausgestattet. Alles voller Flaschen.

Während Piergiorgio und Margherita, die Philologin, sich umsahen, lächelte Benvenuti und zog eine Flasche aus einem der vielen kleinen Hohlräume.

»Hier haben wir einen kleinen Aperitif, und dann nehmen wir gleich mit, was wir beim Abendessen trinken werden. Sie sind heute in jeder Hinsicht meine Gäste.«

»Entschuldigen Sie«, sagte Margherita und ließ ihren Blick weiter durch den Raum schweifen, »sind wir nicht in einer Trattoria verabredet?«

»Doch, doch, wir gehen ins Pignata«, sagte Benvenuti. »Gleich hier oben am Berg. Aber wir haben ja wichtigen Besuch, und da lasse ich es mir nicht nehmen, das Rohmaterial zur Verfügung zu stellen ...«

»Wie meinen Sie das?«

»Kommen Sie, folgen Sie mir. Das Beste haben Sie noch gar nicht gesehen.«

Sie gingen die Treppe hoch, der Bürgermeister klappte die Luke zu und ging auf ein zweites Metalltürchen zu, das etwas Aseptisches an sich hatte. Er öffnete es, machte eine ausgreifende Geste und sagte:

»Bitte sehr.«

Dass der Bürgermeister ein leidenschaftlicher Jäger war, hatten die beiden im Laufe ihres Besuchs begriffen, sowohl anhand der Glasschränke, in denen ein knappes Dutzend Karabiner ausgestellt waren, als auch wegen der Trophäen – ein Hirsch und ein Wildschwein, oder besser gesagt ihre jeweiligen Köpfe –, die die Gäste von der Nordwand des Wohnzimmers mit gläsernem Blick begrüßt hatten. Dennoch brauchte Piergiorgio einige Sekunden, um diesen Raum mit dem gefliesten Boden, dem Metallwaschbecken und der Kühltruhe mit den Jagdtrophäen zusammenzubringen. Anders gesagt: Er brauchte einige Sekunden, um zu verstehen, dass der Herr Bürgermeister eine Metzgerei im Haus hatte.

Margherita hingegen begriff auf der Stelle und wurde kalkweiß.

Und während die zwei sich umsahen, ohne zu wissen, was sie dazu sagen oder ob sie überhaupt etwas sagen sollten, versetzte ihnen der Herr Bürgermeister den Gnadenstoß.

»Ich sagte ja, Sie sind heute in jeder Hinsicht meine Gäste. Alles, was Sie heute Abend zu sich nehmen werden« – der Bürgermeister griff sich mit eleganter Geste an die Brust –, »habe ich erlegt. Höchstpersönlich.«

Was der Bürgermeister nach dem Abendessen dahergeredet hatte, um das gesellige Beisammensein zu eröffnen, mochte durch den Alkohol vernebelt sein, aber es war in allen Punkten zutreffend; insbesondere, was die Küche von Meister Stelio anging. Das war bemerkenswert, denn ein Blick auf die Speisenfolge, die unerbittlich das Repertoire einer toskanischen Dreigroschen-Trattoria abzubilden schien – »Gemischter Vorspeisenteller mit Schinken und Crostini«, »Tagliolini mit Trüffeln«, »Im Ofen geschmorter Hase mit Kartoffeln«, all das mit dickem Filzstift von Hand geschrieben, in Anführungszeichen und auf einem gelben Blatt Papier –, hatte Piergiorgios Erwartungen eingangs beträchtlich sinken lassen.

Dazu kam noch der diplomatische Zwischenfall, der sich ereignet hatte, als der Inhaber und Koch des Restaurants die Vorspeisen persönlich an den Haupttisch brachte – wo der Bürgermeister, die Gäste, die Ratsherrn und einige andere halbwegs kultivierte Menschen saßen – und neben die Philologin trat, in der Hand einen ordentlichen Teller schön dünn geschnittenen toskanischen Schinken, dazu Crostini mit gebackener Schweinsleber. Die junge Frau drehte sich zu ihm um, hob die Hand und sagte freundlich:

»Ich bin vegan.«

Der Gastgeber packte mit seiner freien Linken die Hand der jungen Frau und schüttelte sie enthusiastisch.

»Freut mich, Signorina. Ich bin Stelio.«

Und damit knallte er ihr den Teller vor die Nase, stolz wie Oskar.

»Lecker, unser Schinken, was?«

Piergiorgio, der der Philologin aus dem Schlamassel geholfen hatte, indem er sich galant des Schinkens bemächtigte, nickte begeistert. Sprechen konnte er nicht, mit vollen Backen. Und selbst wenn er dazu in der Lage gewesen wäre, er hätte es nicht getan, aus bloßer Angst, das Aroma entfliehen zu lassen. Ein Aroma, nein: eine ganze Reihe von Aromen, wie Piergiorgio sie noch nie bei einem Schinken erlebt hatte: zweifellos Fruchtnoten und Nuss im mageren Teil, während das Fett (das sonst ja gerne entfernt wurde) rosig war und einen rauchigen Duft hatte, süßlich, angenehm und lang anhaltend.

»Stelio und ich, wir sind in Sachen Schinken keine Amateure. Das fängt mit der Sau an, da wird alles so gemacht, wie es sich gehört. In seinem letzten Monat kriegt das Tier außer den Eicheln auch Honig und Kastanien gefüttert, das gibt dem Fleisch seinen Duft. Und dann wird jede Sau täglich mit einem eigens dafür gefertigten Werkzeug gebürstet, zur Anregung des Kreislaufs und damit das Fett gesund bleibt.«

Während Piergiorgio ausgiebig kaute und insgeheim die paradoxe und liebenswerte Sorge pries, die ein Nutztierhalter, der diesen Namen verdiente, den ihm anvertrauten Geschöpfen angedeihen ließ, bevor er sie schlachtete, erging sich der Bürgermeister in technischen Details.

»Wenn der Schinken so weit ist, kommt er in die Räucherkammer, das ist der wärmste Raum im Haus, gleich neben dem Kamin, wo wir auch Wacholderzweige verfeuern. So nimmt der Schinken das Aroma von Wacholderholz an, und nicht etwa das der Beeren, wie es diese Barbaren in der Garfagnana machen. Das schmeckt ja wie Hustensaft.«

»Ich begreife nicht, wie Sie so was tun können«, sagte Margherita, während sie ein Stück Brot zerkrümelte. »Armes Tier. Erst wird es mit Obst gefüttert, massiert, gehätschelt. Gerade, dass es nicht heiß gebadet wird. Und dann schleppt ihr es in eine Kammer, verpasst ihm eine Kugel und fertig, jetzt gibt’s Schinken. Versetzen Sie sich doch einmal in dieses arme Geschöpf. Eben ist es noch völlig glücklich, und eine Sekunde später ...«

Der Bürgermeister reagierte sichtlich gekränkt.

»Signorina, wofür halten Sie uns eigentlich?«

Und indem er sich zu Margherita drehte, holte der Erste im Dorfe zur Erklärung aus.

»Also, schauen Sie, den Tag, an dem das Schwein geschlachtet wird, kann man fast schon mit einer griechischen Tragödie vergleichen. Ist Ihnen klar, was für ein Ritual damit verbunden ist?«

Nein, sagte Margheritas Gesicht, und ich verzichte auch gern darauf, es zu erfahren. Aber der Bürgermeister tat, als hätte er das nicht gemerkt.

»Wissen Sie, dass an der Schlachtung eines Schweins die ganze Familie beteiligt ist?«

»Das kann ich mir schon vorstellen«, sagte Margherita, die das Thema allmählich zu reizen begann. »Ganz leicht wird es wohl nicht sein, so einen Kandidaten einzufangen und ins Schlachthaus zu zerren.«

Der Bürgermeister lächelte.

»Da sind Sie auf dem Holzweg, Signorina. Um ein Tier zu töten, das so fett ist, dass es sich fast nicht auf den Beinen halten kann, genügt rein theoretisch ein Mann.«

Margherita starrte den Bürgermeister ungläubig an. Piergiorgio nickte unwillkürlich, im Gedanken an die Szene, die er am Nachmittag beobachtet hatte, während der Bürgermeister weitersprach.

»Der Metzger geht hin, betäubt es mit dem stumpfen Ende des Beils, packt es an den Hinterläufen, hängt es auf und fertig. Wenn das Schwein hängt, wird es aufgeschlitzt und verblutet. Eine schnelle, sichere, saubere Sache. Warum, glauben Sie, wird also die ganze Familie an der Schlachtung des Schweins beteiligt, einschließlich der Kinder?«

Margherita schüttelte kaum merklich den Kopf, sagte aber kein Wort.

»Weil das Schwein Mitglied der Familie ist, Signorina. Die Kinder kennen es, sie haben gesehen, wie es geboren wurde, und haben mit ihm gespielt. Der Herr des Hauses hat es aufgezogen, er hat es massiert, hat es aufwachsen sehen. Alle Angehörigen des Hauses haben es aufwachsen sehen. Einer allein könnte es niemals über sich bringen, das Schwein zu töten.«

Ende der Leseprobe