Das Priesterkind - Veronika Egger - E-Book

Das Priesterkind E-Book

Veronika Egger

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  • Herausgeber: Lübbe
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Eigentlich dürfte es Veronika gar nicht geben. Ihr Vater ist Priester. Und das katholische Kirchengesetz sieht vor, dass Priester enthaltsam leben. Als die Kirche von dem unehelichen Kind erfährt, wird Veronikas Vater daher vor die Wahl gestellt. Er entscheidet sich für sein Amt, gegen das Mädchen. Berührend und nachdenklich beschreibt Veronika, was es bedeutet, ein verbotenes Kind zu sein, vom eigenen Vater verleugnet und von der Gesellschaft abgelehnt zu werden. Und sie beschreibt, wie sie nach einer schweren Zeit, in der sie aufgrund der Heimlichtuerei depressiv und krank wird, in der Natur ihr Refugium findet.

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Seitenzahl: 278

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumZitatKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12

Über dieses Buch

Eigentlich dürfte es Veronika gar nicht geben. Ihr Vater ist Priester. Und das katholische Kirchengesetz sieht vor, dass Priester enthaltsam leben. Als die Kirche von dem unehelichen Kind erfährt, wird Veronikas Vater daher vor die Wahl gestellt. Er entscheidet sich für sein Amt, gegen das Mädchen. Berührend und nachdenklich beschreibt Veronika, was es bedeutet, ein verbotenes Kind zu sein, vom eigenen Vater verleugnet und von der Gesellschaft abgelehnt zu werden. Und sie beschreibt, wie sie nach einer schweren Zeit, in der sie aufgrund der Heimlichtuerei depressiv und krank wird, in der Natur ihr Refugium findet.

Über die Autorin

Veronika Egger, 1977 im bayerischen Miesbach geboren, hat zunächst Lehramt an der Uni Passau studiert, bevor sie an der VWA in Regensburg ein Tourismusstudium absolvierte. Seit 2008 ist sie Gästeführerin im Bayerischen Wald. Heute arbeitet sie in einer Agentur für Regionalentwicklung und bietet zudem Wandertouren und Themenwanderungen für Gruppen und Einzelgäste an.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Matthias Auer

Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen unter Verwendung eines Motivs von© getty-images Deutschland GmbH

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-1861-5

luebbe.de

lesejury.de

»Frieden findet man nur in den Wäldern.«Michelangelo (1475–1564)

Kapitel 1

»Ab sofort sagst du nicht mehr, wer dein Vater ist, Veronika!«

Ich sitze mit meiner Mutter an unserem kleinen Esstisch in der Küche und genieße eine große Portion leckere Nudeln mit Tomatensauce.

»Wieso? Warum soll ich das denn nicht mehr sagen?«, frage ich zwischen zwei Bissen und weiß wirklich nicht, was sie damit meint.

Doch Mama ist es ernst. Denn bevor ich weitere Fragen stellen kann, streckt sie mir kurz die offene Handfläche entgegen. Das heißt Stopp und ist die für sie typische Handbewegung, die kein weiteres Nachfragen mehr erlaubt.

Nur einen Satz zur Erklärung schiebt sie noch nach.

»Dein Schuldirektor möchte das nicht, und wir müssen uns daran halten …«

Ich sehe sie irritiert an und verstehe auch nach diesem Hinweis nicht, warum ich nichts mehr über meinen Vater erzählen soll. Es gibt doch so viel Spannendes zu berichten. Allein diese farbenschillernden, wertvollen Gewänder, die er in der Kirche trägt. Ich wette, dass die Väter meiner Freundinnen so etwas nicht besitzen! Zudem darf ich in die Sakristei und dort die glänzenden Kelche bestaunen und in die vielen alten Bücher schauen. Und ich spiele auch mit Papas wertvollen riesengroßen Holzfiguren. Wer darf das schon? »Ein lustiger Engel mit einem großen Hut auf dem Kopf« ist übrigens meine Lieblingsfigur. Er blickt mich immer aus den Augenwinkeln an, egal von welcher Seite ich gucke. Das ist total faszinierend. Dazu hat er ein Lächeln, das mich an unseren Nachbarn Gustl erinnert, der mir immer Äpfel schenkt.

Ich bin auch dabei, wenn sich mein Vater auf wichtige Predigten vorbereitet und ganz konzentriert auf seiner alten Schreibmaschine tippt. Gut, ich muss dann ganz still sein, aber eine Zeit lang ist es trotzdem ganz schön. Ich male in dieser Zeit am liebsten Bilder, und das gleichmäßige Tippen ist wie eine beruhigende Melodie, die mich auf besonders ausgefallene Ideen bringt. Ich male gern Kirchtürme, aber auch Altäre und Heiligenfiguren, alles in bunten Farben und mit ganz viel Gold.

»Wir sind ein gutes Team«, sagt Papa häufig, lobt mich anschließend für meine farbenfrohen Bilder und liest mir im Gegenzug aus seiner fertigen Predigt vor. Meistens geht es darum, dass Gott uns liebt und immer ein Auge auf uns wirft. Ich mag diese Vorstellung. Sie gibt mir Sicherheit.

Das ganze Ergebnis seiner Schreibarbeit höre ich dann zusammen mit meiner Mutter bei der nächsten Sonntagspredigt in der Kirche. Leider sitzen wir nie in der ersten Reihe, sondern immer irgendwo hinten. Aber ich genieße es trotzdem, wenn ich meinen Vater dort vorn stehen sehe und alle ihm andächtig lauschen. Es ist mucksmäuschenstill in der Kirche. Man hört nichts, nur seine donnernde Stimme, die den ganzen riesigen Kirchenraum erfüllt.

Es ist ein wunderschönes Gefühl, dass der Pfarrer da vorn, der, den alle mögen und bewundern, den alle um Rat fragen und der auf alles eine Antwort weiß, zu mir gehört.

Aber mein Vater ist auch noch darüber hinaus etwas Besonderes. Er ist nicht einer dieser immer mürrisch dreinblickenden Pfarrer, die etwas Unnahbares haben, nein, dieser Pfarrer ist einer, der stets lacht, der überall dabei ist, wo sich die Gemeinde trifft, der mit allen scherzt und jedem zuhört. Er spielt Fußball, feiert Feste mit, sitzt in den Gasthöfen beim Kartenspiel und wandert an den freien Tagen mit Jugendlichen in den Bergen. Ich glaube, die Leute hier lieben ihn wirklich, ach was, ich glaube, man liebt ihn auf der ganzen Welt.

Und dieser tolle Pfarrer Graml, das ist mein Vater!

Aber das soll ich ja jetzt nicht mehr sagen. Dabei weiß es sowieso jeder, zumindest hier in meinem Weiler und auch in der Gemeinde, in Irschenberg, in der ich zur Schule gehe.

In Gedanken versunken schiebe ich die Nudeln, die mir gerade von der Gabel gerutscht sind, mit dem Löffel zurück und versuche, weiter mein Mittagessen zu genießen.

Mama stochert wortlos in der Sauce herum. Sie scheint nicht nur keinen Appetit zu haben, nein, sie wirkt auch wieder traurig, wie so oft in der letzten Zeit.

Ich erkenne das an der Stille. Wenn Mama, die eigentlich fröhlich ist und viel lacht, nicht mehr spricht, dann ist sie bedrückt, und meistens ist das auch der Auftakt zu einem leisen Weinen. Sie weint oft, zumindest immer dann, wenn Papa anruft und sagt, dass er nicht kommen kann. Ob sie heute auch weint, weil sie mit dem Schuldirektor gesprochen hat, werde ich gleich sehen.

Und wirklich, ihre Augen werden ganz feucht, und sie nimmt sich schnell die Serviette und wischt sich damit die Tränen weg.

»Komm, iss weiter«, sagt sie. »Ich habe auch noch einen leckeren Apfelbrei für dich gemacht.«

Sie gibt mir neckisch einen Stupser auf die Nasenspitze. »Veronika, komm, denk an etwas anderes. Denk an Schnuffi, dein Meerschweinchen. Das freut sich schon, dass du ihm gleich ein saftiges Salatblatt gibst.«

Schnuffi, ja, um Schnuffi kümmere ich mich gleich. Aber ich bin jetzt auch traurig. Warum ist bei mir bloß immer alles anders?

Meine Freundinnen haben Eltern, über die sie nicht nur sprechen dürfen, sondern die auch zusammenleben und mit denen sie regelmäßig etwas unternehmen. Nur bei mir ist alles immer sehr, sehr kompliziert.

Ich bin sieben Jahre alt und wohne seit meiner Geburt mit meiner Mutter, der Egger Gerti, in einem typisch bayerischen Zweifamilienhaus in Auerschmied. Es ist nicht unser Haus, wir haben nur eine kleine Wohnung darin. Drei winzige Zimmer, eine Küche, ein Bad und einen schönen Balkon, auf dem mein Meerschweinchen wohnt und auf dem in der warmen Jahreszeit immer herrlich bunte Blumen blühen. Denn Mama liebt Blumen, und sie liebt ihr Zuhause.

»Auerschmied ist kein Ort, sondern ein 30-Seelen-Weiler«, sagt sie immer und hat mir auch den Unterschied erklärt. Ein Weiler besteht nur aus wenigen Häusern, bei uns sind es gerade mal zehn.

Es ist also sehr überschaubar hier, jeder kennt jeden, seine Gewohnheiten, seine Vorlieben. Man weiß, wann die Frau Huber zum Einkaufen fährt, und kennt die Katzen aller Nachbarn mit Namen. Jeder hört, wenn sich die Stadlers anschreien, und es wird getuschelt, dass die Schusters im Nachbardorf den Hof aufgeben. Aber ich mag das. Auerschmied, das ist viel Heimat, Vertrauen, ein bisschen wie Familie.

Hier wohnen auch ein paar Kinder, mit denen ich mich gut verstehe und häufig gemeinsam im nahe gelegenen Wald unterwegs bin. Es gibt einen Bach, der sich durch den Weiler schlängelt, viele im Sommer herrlich blühende Wiesen, und wenn die Luft klar ist, können wir von einer Anhöhe aus das Mangfallgebirge sehen.

»Wir leben hier genauso idyllisch wie Schneewittchen und die Zwerge, nur nicht hinter, sondern vor den sieben Bergen«, sagt Mama oft und spricht dann ganz geheimnisvoll, sodass ich richtig in Märchenstimmung komme und mich herrlich geborgen fühle.

Seit ein paar Wochen ist meine kleine Welt allerdings viel größer geworden, denn ich bin jetzt ein Schulkind und fahre jeden Morgen mit dem Schulbus in die weite Welt, genauer ins rund sieben Kilometer entfernte Irschenberg, denn dort ist die nächste Grundschule. Meine Mutter, die bislang als Zimmermädchen in einer Pension in Schliersee gearbeitet hat, suchte sich daraufhin extra einen Job in der Nähe. Sie arbeitet nun halbtags in einem Haushalt und ist meist schon zu Hause, wenn ich mittags zurückkomme. Ich fühle mich superwohl und gehe gern zur Schule.

Mama sieht immer noch traurig aus. Was hat sie bloß? Bestimmt hängt es mit ihrem Besuch bei meinem Schuldirektor zusammen. Ich wusste, dass sie heute bei ihm einen Termin hatte, konnte mir aber nicht vorstellen, weshalb. Denn eigentlich bin ich gut in der Schule, besonders im Religionsunterricht. Warum, ist klar. Durch Papa weiß ich ganz viel über die Kirche, und wenn meine Religionslehrerin uns Kinder etwas fragt, zeige ich immer auf, weil ich mich in Kirchendingen richtig gut auskenne. Ich bin durch mein Insiderwissen quasi Expertin und gebe gern viel davon preis.

Aber vielleicht ist das ja nicht richtig, und der Direktor hat meine Mutter deshalb in die Schule bestellt?

»Ab sofort sagst du nicht mehr, wer dein Vater ist!«

Mamas Satz geht mir immer wieder durch den Kopf.

Und dann kommt mir ein Gedanke, der mich nicht mehr loslässt: Niemand soll wissen, wer er ist! Das ist es, was sie so traurig macht …

Aber das geht doch gar nicht! Was sage ich denn, wenn wir demnächst von unseren Eltern erzählen sollen? Das tun wir nämlich gerade im Unterricht. Jedes Kind stellt sich und seine Familie vor. Und was sage ich dann? Torsten, ein Junge aus meiner Klasse, hat stolz »der Papa ist ein Zimmermann« gesagt und beschrieben, was sein Vater genau macht.

»Der Papa ist Pfarrer« darf ich jetzt nicht mehr sagen. Dabei habe ich mich sehr darauf gefreut, ausführlich zu erzählen, wie die Arbeit eines Pfarrers ist. Ich bin ja, zumindest manchmal, hautnah mit dabei.

»Magst du nicht mehr?«, fragt mich Mama jetzt, und als ich den Kopf schüttle, tauscht sie den halb leer gegessenen Spaghetti-Teller gegen eine Schale Apfelbrei aus und meint: »Lass es dir schmecken, meine Kleine.«

Doch ich weiß nicht, ob das noch klappt. Es geht mir zu viel durch den Kopf.

Ich darf ja auch nicht lügen, das hat mir mein Papa schon oft gesagt. Erst kürzlich wieder, als wir zusammen auf dem Sofa saßen und Papa mir aus einem Märchenbuch vorgelesen hat. Ich liebe es, wenn er vorliest, weil er so eine tiefe, kräftige Stimme hat und es so spannend macht, dass ich wie weggeschaltet bin. Am Schluss, als er das Buch zuklappte, meinte er noch, dass es wichtig sei, die Wahrheit zu sagen, immer.

»Der liebe Gott erlaubt keine Lüge«, meinte er und sah mich dabei lächelnd an. »Das steht ja in den Zehn Geboten!«

Und dann musste ich sie aufzählen, und Papa hat mich gelobt, weil ich sie perfekt aufsagen konnte.

»Du bist ein gutes Mädchen«, hat er gemeint und mich gedrückt. Papa und ich, wir lieben uns.

Und damit sitze ich jetzt in der Falle. Ich darf nicht sagen, wer mein Vater ist, und ich darf nicht lügen. Wie passt das zusammen?

»Pfarrer dürfen keine Kinder haben«, sagt Mama dann plötzlich, während sie den Abwasch macht. Offenbar sieht sie mir an, dass mich das Thema sehr beschäftigt.

»Aber er hat doch ein Kind, mich. Darf es mich denn jetzt nicht geben? Komme ich ins Gefängnis? Oder der Papa? Oder wir beide?«

Ich bin richtig nervös und habe auch ein bisschen Angst bekommen.

»Nein, nein, alles gut.« Sie streichelt mir über die Wange. »Es ist übrigens wunderbar, dass es dich gibt.«

Aber mir wird das alles zu viel. So viel Durcheinander. Ich darf nicht sagen, wer mein Vater ist, und eigentlich darf es mich gar nicht geben. Warum ist das überhaupt so wichtig? Ich sehe doch meinen Vater sowieso nur wenige Tage im Monat. Darf ich das bald auch nicht mehr?

Ich brauche Ruhe, um über all das nachzudenken.

Mama trocknet das Geschirr ab, und ich frage, ob ich in mein Zimmer gehen könne. Zum Glück nickt sie, und ich lege mich erschöpft aufs Bett und schließe die Augen. Meine Gedanken tanzen zu wild in meinem Kopf.

Warum ist bei mir bloß immer alles so kompliziert? Andere Kinder dürfen sagen, was die Eltern machen, und sie leben zusammen in einem Haushalt. Bei mir ist alles anders. Ich bin bei meinem Vater immer nur zu Besuch.

»Ein Pfarrer lebt dort, wo er arbeitet«, hat meine Mutter mir erklärt, und ich habe es geschluckt.

Mein Vater arbeitet in einer Klinik, genauer im Klinikum in Ebersberg. Das ist ein kleines Städtchen ca. 40 Kilometer von uns entfernt. Dort wohnt er in einer kleinen Angestelltenwohnung auf dem Klinikgelände. Aber er springt auch noch bei anderen Kirchengemeinden im Umfeld ein und gibt dort Gottesdienste. Deshalb hat er wenig Zeit, und deshalb ist jeder Tag mit ihm etwas Besonderes, ein richtiger Festtag.

Meistens kommt er zu uns nach Auerschmied. Mama macht dann Braten und Kartoffelknödel, zum Nachtisch gibt es Strudel. Sie deckt wunderschön den Tisch und zieht sich das schickste Dirndl an, und auch ich trage mein Sonntagskleid.

Während Mama in der Küche alles vorbereitet, setze ich mich ans Fenster und warte, bis ich Papas Auto auf dem schmalen Weg entdecke. Dann sause ich blitzschnell durchs Haus auf den Hof und sehe zitternd vor Freude zu, wie er den Wagen parkt und aussteigt.

Oft hat er Geschenke für mich dabei und auch Lebensmittel für uns. Er bringt leckeren Schinken mit oder Süßigkeiten, häufig besondere Spezialitäten aus München. Papa bleibt meistens bis zum nächsten Morgen.

Wir gehen in der Zeit viel mit ihm spazieren und sind häufig im Wald unterwegs. Mama kennt sich perfekt aus. Ich glaube, es gibt nicht eine Pflanze, die sie nicht kennt.

Oft ziehen wir mit Körbchen los und sammeln Früchte und Beeren, aber auch Pilze und Blätter für einen frischen Salat. Und wir sammeln unsere eigene kleine Hausapotheke. Denn Mama weiß genau, welches Kraut bei welcher Krankheit hilft.

Sie gibt mir Ringelblumensalbe auf die Wunde, wenn ich mir beim Toben die Knie aufgeschlagen habe, und setzt einen Sud aus Heidelbeeren an, wenn mir übel ist und ich denke, dass ich mich übergeben muss.

Wenn Papa unruhig ist und Herzrasen hat, bekommt er Zitronenmelisse, und wenn er nicht schlafen kann, mixt sie ihm einen Tee aus Baldrian und Kamille.

Sie weiß wirklich alles über die Natur, und ich lerne so viel von ihr. Aber auch Papa kennt sich im Wald gut aus. Er ist allerdings am besten bei den Tieren bewandert, erkennt die vielen verschiedenen Vögel an ihrem Gesang und kann auch Wildspuren auf dem Erdboden lesen. Deshalb ist für mich ein Waldspaziergang fast wie eine Unterrichtsstunde, nur viel, viel spannender. Und weil es so schön ist, genießen wir es auch immer ganz ausgiebig.

Wir wandern den ganzen Tag, erzählen und singen, und zwischendurch gibt es ein langes Picknick. Papa hat immer einen randvoll gepackten Rucksack dabei, aus dem er die leckersten Sachen zieht. Dann sitzen wir drei entweder auf einer Decke oder auf einer kleinen Holzbank am Waldrand, essen Brezen mit Obazdn oder eine Leberkässemmel und Wurstsalat. Wir beobachten die Vögel am Himmel und die Käfer am Boden. Wir horchen auf Geräusche und zählen die Wolken.

Das sind die schönen Stunden mit Papa. Sie sind unbeschwert und herzlich. Aber so ein Tag, auf den ich mich eine oder zwei Wochen lang freue, kann auch ganz anders aussehen. Dann kommt kein Auto weit und breit, sondern ich höre das Telefon klingeln, und wenn Mama abhebt, fließen schnell Tränen, erst bei ihr und dann auch bei mir. Denn Papa hat abgesagt. Mal ist es ein Trauerfall in der Gemeinde, mal muss er für einen anderen Pfarrer einspringen. Oder es gibt ein Kirchenfest oder, oder, oder.

Begründungen gibt es viele, und Papa kann sich ja nicht zerreißen. Alle wollen ihn bei sich haben. Für Mama und mich heißt das aber, wieder eine Woche oder gar zwei auf ihn zu warten, und für den freien Sonntag heißt es, dass er einfach zerstört ist.

Gut, natürlich unternimmt Mama auch allein etwas mit mir. »Wir lassen uns doch den Tag nicht verderben«, sagt sie dann, und wir wandern zu zweit los. Aber sie geht mit einer Absage nicht so locker um, wie sie es mich denken lassen will. Ich soll nicht sehen, dass sie traurig ist. Doch ich merke genau, wie sehr sie gegen die Tränen kämpft. Sie kann mir nichts vormachen. Ich bin ihre Tochter.

Ähnlich trostlos können auch die unregelmäßigen Sonntagseinladungen bei meiner Oma Karin, Mamas Mutter, enden. Sie lebt seit Opa Peters Tod allein im wenige Kilometer entfernten Hausham, und mehrmals im Jahr sind wir dort alle drei am Sonntag zum Essen eingeladen. Mama, sie ist übrigens Einzelkind wie ich, freut sich immer sehr darauf, weil wir dann nicht allein sind und sie etwas Familie spüren kann.

Wir fahren immer zu zweit vor, und Papa kommt nach. Zumindest denken wir das – und irgendwann geht dann das Telefon, und Papa sagt ab, weil er mal wieder keine Zeit hat. Ich weiß nie, warum das so ist. Mama murmelt etwas von einem Sterbefall, einer Jugendfreizeit, die am Sonntag endet oder einer Gemeindefeier. Aber eigentlich ist das einerlei. Was allein zählt, das ist, dass Papa auch hier nicht kommt und damit die wenige Zeit, in der die Familie zusammen sein kann, die gemeinsame Zeit, auf die wir uns alle so sehr freuten, ausfällt.

»Nun gräme dich nicht, sondern genieße den Sonntag!«, sagt Oma Karin dann und stellt ihr liebevoll zubereitetes Essen auf den Tisch. Sie möchte uns ablenken mit ihren leckeren Gerichten, aber auch mit irgendwelchen Geschichten von ihren Freundinnen. »Weißt du eigentlich, dass die Ingrid jetzt auch in Hausham wohnt?«, erzählt sie, oder: »Die Sybille hat sich einen Garten gepachtet und kann von der Ernte fast leben.«

Aber meine Mutter ist mit beidem schlecht aufzuheitern. Und so bleibt sie die ganze Zeit über traurig. Für sie ist mal wieder eine kleine Welt zusammengebrochen, und sie weiß genau, dass bis zum nächsten Treffen viel Zeit vergehen kann.

Wenn Mama sich dann aber beruhigt hat, beginnt sie meistens sofort wieder zu planen.

»Wenn wir zum Papa fahren, gehen wir in einen schönen Biergarten und gönnen uns eine leckere Brotzeit«, verspricht sie mir gern und malt mir aus, was wir in München bald alles unternehmen.

»Wenn …«, denke ich dann immer. Denn aus der angekündigten einen Woche, die bis dahin vergeht, können gut auch zwei oder mehr werden, weil Papa keine Zeit hat und uns immer wieder absagt.

Früher, als Papa noch in Hausham, genauer in Agatharied gearbeitet hat, war es leichter, zusammen zu sein. Ich war noch sehr klein und erinnere mich nicht mehr wirklich daran. Aber Mama erzählt oft von der Zeit, weil er damals bei uns in der Nähe wohnte und immer kurz vorbeischauen konnte. Aber dann musste er umziehen, erst nach Garmisch-Partenkirchen und dann nach Ebersberg. Jetzt trennt uns eine Stunde Autofahrt.

Ich wäre gern mehr mit meinem Vater zusammen. Er fehlt mir. Vielleicht erzähle ich auch deshalb so gern von ihm. Dann ist er mir näher. Aber das ist ja jetzt auch vorbei.

Als ich an diesem Tag noch mit Schnuffi spiele, bin ich nicht mehr fröhlich, und in der Nacht kann ich nicht schlafen, weil mir immer noch zu viel durch den Kopf schießt. Ich habe Angst vor morgen, vor der Schule, vor den Lehrern. Denn ich stecke in der Falle.

Was soll ich denn sagen, wenn mich Frau Hartmann, meine Klassenlehrerin, fragt, was mein Vater beruflich macht? Wenn ich die Wahrheit sage, ist es falsch, und Mama und ich bekommen Ärger. Wenn ich nichts sage, bekomme ich einen Tadel, und wenn ich lüge, ist mir der liebe Gott böse. Ich kenne ja sein Gebot.

Im Grunde ist es aussichtslos. Ich kann machen, was ich will. Ich mache es immer falsch.

Ich spüre, wie sich die Angst immer mehr in mir ausbreitet. Die Angst, anzuecken und etwas falsch zu machen, aber auch die Angst, verurteilt und nicht mehr geliebt zu werden. Es sind zu viele Verbote und Regeln. Ich verliere den Überblick.

Ich wälze mich unruhig im Bett hin und her und achte auch jetzt darauf, dass die Matratze dabei nicht zu sehr quietscht. Das ist auch so ein Problem, wie ich lernen musste, denn Alois, unser Vermieter, hat sich darüber schon beschwert.

Vor ein paar Wochen stand er plötzlich an einem Montagmorgen ganz früh vor der Tür und klopfte. »Immer wenn Besuch da ist, quietscht die Matratze …«, hat er im Gespräch mit Mama lautstark herumgepoltert. Das hat sie ganz besonders geärgert, und sie hat den Alois richtig ausgeschimpft. Papa, der mit mir in der Küche frühstückte, hat nichts dazu gesagt. Er ist nicht mal hinaus auf den Flur gegangen, sondern ganz stumm am Tisch sitzen geblieben und hat keinen Mucks von sich gegeben, während meine Mutter mit Alois in der Tür stand und sich lautstark gegen ihn zur Wehr setzte.

»Das ist eine Unverschämtheit«, habe ich sie schimpfen hören, und der Alois hat etwas gesagt von »… das hättest du dir früher überlegen müssen, bevor du das Bankert hattest.«

»Was ist ein Bankert genau?«, fragte ich Papa leise. Er hat nur mit den Schultern gezuckt und »Das habe ich noch nie gehört« gemurmelt.

Ich habe mich darüber gewundert. Denn Bankert hat vor einigen Wochen auch die Bäuerin vom Schandler-Hof gesagt, als ich mit Mama zum Bäcker gegangen bin. Sie stand mit einer anderen Frau vor der Eingangstür, und als meine Mutter hineingehen wollte, hat sie »Nun lass mal die Gerti und ihr Bankert vorgehen« gesagt. Mama hat dann sofort meine Hand gegriffen und mich an sich gezogen, so, als ob sie Angst um mich hätte und mich schützen müsste.

Auf dem Nachhauseweg, ich hatte eine knusprige Breze in der Hand, von der ich immer wieder mit großem Appetit abbiss, fragte ich sie dann, was ein Bankert sei.

»Das ist ein Wort für ein Kind …«, hat Mama schmallippig geantwortet

»Ein gutes Wort?«

»Wie man es nimmt …«

»Aber die Bäuerin hat es ziemlich gemein gesagt.«

»Ja, wenn Menschen gemein sind, hört es sich auch so an. Aber weißt du was, vergiss das Wort wieder. Ich mache das auch. Dann müssen wir beide uns keine Gedanken darüber machen.«

Da habe ich ganz fest in die Breze gebissen und mir vorgenommen, nicht mehr an das alles zu denken … Es wird mir zu viel. Ich bin sieben Jahre alt, und mein Leben besteht nur noch aus Abwarten – und neuerdings auch Verschweigen. Ich möchte aber so gern einfach nur Normalität. Ohne Streitereien, Angriffe und kurzfristige Absagen. Ich möchte, dass wir drei zusammen sind, am liebsten immer. Wir haben doch nur uns und müssen zusammenhalten. Gut, der Papa kennt viele Leute, aber hier im Weiler spricht er mit niemandem. Er nickt nur kurz und huscht ins Haus. Und Mama trifft sich auch mit niemandem. Sie ist immer nur mit mir zusammen. Wir haben ein völlig abgekapseltes Familienleben, und das ist nicht gut.

Müde, erschöpft, aufgewühlt und mit klopfendem Herzen ziehe ich mir die Decke über den Kopf. Ich möchte nichts sehen, nichts hören, nicht sprechen. Einfach nur allein sein und vergessen.

*

»Sieh mal, Papa, der Löwenzahn, er blüht so gelb wie die Sonne! Ich pflücke welchen für die Mama.«

Papa nickt und streichelt mir liebevoll übers Haar.

»Das ist eine gute Idee, Veronika. Du bist ein wirklich liebes Mädchen. Dann kann sie sich die Blumen zu Hause in eine Vase stellen und sich immer an unseren schönen Wanderausflug heute erinnern.«

Ich schmiege mich an ihn, obwohl ich weiß, dass Papa das nicht so mag. Körperliche Berührungen sind ihm etwas unangenehm. Das spüre ich. Gut, er nimmt mich schon in den Arm, streichelt mir über den Kopf und küsst mich auf die Wange, aber es sind nur ganz kurze Momente. Längeres Kuscheln? Nein, das mag er nicht.

Dabei wünsche ich mir so sehr, dass er mich lange in den Arm nimmt, festhält, mich streichelt. So wie Mama das macht. Aber mein Vater kann das nicht. Ich habe es ein paarmal versucht, aber sein Körper verkrampft dann richtig und wird ganz starr. Wenn ich ihn dann nicht von mir aus loslasse, schiebt er mich zwar sanft, aber bestimmt zur Seite.

Er ist nicht nur bei mir so, auch mit meiner Mutter mag er nicht kuscheln. Ich sehe die beiden nie eng umschlungen irgendwo stehen und erlebe nie, dass sie abends ganz nah nebeneinander auf dem Sofa sitzen und fernsehen. Nein, das gibt es nicht. Sie sitzen zusammen wie Gemeindemitglieder in der Kirchenbank. Vertraut, aber nie wirklich eng.

Da es innige Berührungen selten gibt, mag ich es besonders, wenn mir mein Vater wenigstens Komplimente macht. Denn ich bin gern ein liebes Mädchen, genauer »sein« liebes Mädchen, und als ich die Blumen pflücke, sind seine Blicke wie Streicheleinheiten.

Meine Eltern und ich sind schon seit vielen Stunden unterwegs. Wir waren am Seehamer See, haben in einer Gaststätte Brotzeit gemacht und sind jetzt auf dem Heimweg.

Papa und ich gehen voraus und haben Mama ein bisschen hinter uns gelassen. Ich nehme seine Hand, halte stolz in der anderen die Blumen, und ganz gemütlich spazieren wir zurück nach Auerschmied. Ich fühle mich wohl, denn ich weiß, dass ich jetzt meinen Papa ganz für mich allein habe. Heute geht es um keine Beerdigung und keine Hochzeit, es geht nur um Mama und um mich, um unsere kleine Familie. Es ist ein wunderschöner Sommertag, und ich blinzle zufrieden in die Sonne.

»Weißt du, die Dorthe, die aus der Schule, die pflückt jeden Tag Blumen für ihre Mutter und ihren Vater«, erzähle ich unbekümmert. »Was sind deine Lieblingsblumen?«

»Lilien«, antwortet er wie aus der Pistole geschossen.

»Solche, die auch in der Kirche stehen?«

»Ganz genau, vor der Mutter-Gottes-Statue, die ich dir beim letzten Mal gezeigt habe.«

»Die große, die neben dem Beichtstuhl steht?«

»Ja, genau die. Schön, dass du dich so gut erinnerst.«

Papa drückt zur Bekräftigung sanft meine Hand. Ich erwidere den Druck. Wir verstehen uns.

»Mama, kommst du?«, rufe ich und drehe mich zu meiner Mutter um, die mich fröhlich anlächelt.

Aber was ist das? Ihre Gesichtszüge werden plötzlich ernst. Zeitgleich lässt mein Vater meine Hand los. Ich sehe aufgeschreckt zu ihm hoch. Aber er ist schon weg, hetzt in großen Schritten zu einem winzigen Feldweg, der in ein kleines Waldstück führt. Was ist mit Papa?

Auf dem großen Weg, der nach Auerschmied führt, kommt ein Mann auf uns zu. Der Förster? Ein Bauer? Aber es ist unwichtig. Mich interessiert nur, wohin jetzt so aufgeregt mein Vater rennt. Ich möchte gerade »Papa« rufen, als ich schon Mamas Hand auf meinem Mund spüre.

»Psst!« Sie beugt sich zu mir hinunter. »Sei jetzt ganz still, Schatz«, flüstert sie mir ins Ohr und sieht mich ernst an. »Es ist wichtig, hörst du?«

Ich nicke, bin aber so überrumpelt, dass mir vor Schreck die Blumen aus der Hand fallen.

Tränen schießen mir in die Augen, und meine Knie zittern.

»Ganz ruhig, meine Kleine«, meint Mama und hockt sich neben mich. Mit der einen Hand hält sie mich umfangen und mit der anderen sammelt sie die Blumen auf.

»Aber … wo … ist denn Papa?«, presse ich schließlich schluchzend heraus, weil ich ihn nicht mehr sehe, und zugleich habe ich Angst, dass mir der Satz zu laut herausgerutscht ist. Ich will nicht schon wieder Ärger bekommen.

»Grüß Gott, Veronika«, höre ich den Mann dann schon von Weitem sagen, und dabei winkt er uns sogar zu. »Alles in Ordnung mit euch beiden?«

»Ja klar, Fritz, die Kleine hatte Angst vor einer Biene und hat deshalb geweint. Aber jetzt ist das Tierchen schon wieder weggeflogen. Danke, dass du fragst.«

Mama strahlt den älteren Mann an, der jetzt direkt auf uns zukommt. Er schüttelt amüsiert den Kopf.

»Ja, ja, so ist das mit den Bienen. Die stiften immer nur Verwirrung. Dann macht’s mal gut, ihr beiden.«

Mit einem Kopfnicken weist er zum Wäldchen. »Du, Veronika, der Graml Josef läuft nur ein paar Meter weiter vorn. Aber bestimmt hast du ihn gesehen. Ihr seid ja quasi gerade erst gemeinsam spaziert …«

Mit einem Lächeln sieht er erst zu mir und dann zur Mama. »Habt einen schönen Sonntag!«, sagt er dann freundlich, lüftet kurz seinen Hut und geht mit einem »Pfiat di Gott« weiter.

Mama und ich sehen ihm nach, und wir sind beide mächtig angespannt. Ich zittere immer noch vor Aufregung. Es ging alles so schnell. Ich bin von ganz oben auf Wolke sieben hart auf den Boden geprallt. Papas große Hand, sie steht für Sicherheit und Zugehörigkeit. Sie weggerissen zu bekommen ist ein Schock.

Mama scheint meine Anspannung zu spüren. Sie nimmt mich in ihre Arme, und ich genieße die Wärme, die sie mir gibt, und sehe über ihre Schulter hinweg, wie der fremde Mann zwischen den Bäumen verschwindet.

»Sieh mal, dort hinten«, flüstert sie mir da ins Ohr und deutet mit der Hand die Richtung an. »Dort hinten, gleich neben den beiden Obstbäumen, dort auf der Bank, da sitzt der Papa und wartet auf dich.«

Sie streichelt mir über die Wange.

»So, nun lauf schon, lauf zum Papa. Er freut sich auf dich.«

Aber ich mag nicht mehr. Was ist, wenn wieder jemand aus dem Dorf hier spazieren geht? Dann reißt sich der Papa wieder von mir los und rennt weg. Nein, das will ich nicht mehr.

Ich schüttle den Kopf.

»Magst du nicht zum Papa?«, fragt mich Mama wieder, und plötzlich platzt es aus mir heraus.

»Nein, ich mag nicht mehr, nie mehr. Ich gehe jetzt nur noch mit dir.«

Mama sieht mich erschrocken an, dann nimmt sie meine Hand.

»Das ist auch gut, Veronika. Komm, dann gehen wir beide jetzt zusammen.«

Wenig später setzen wir uns zu Papa auf die Bank, und niemand spricht mehr an, was passiert ist. Das ist auch nicht nötig, denn ich weiß ja, was los ist.

Ein katholischer Pfarrer darf keine Kinder haben, und der Mann auf dem Weg, der meinen Vater kannte, durfte nicht sehen, dass er ein Kind an der Hand hatte. Papa musste sich mal wieder entscheiden, zwischen seiner Kirche und seiner Tochter. Er hat sich entschieden und versucht, mich unsichtbar zu machen. Ich begreife, dass zu meinem Leben neben Warten und Verleugnen auch das Verstecken gehört und meine ganze Existenz ein einziges großes Geheimnis ist.

Ich merke es jeden Tag. Die Woche über in der Schule, in der ich nicht die Wahrheit sagen darf, und sonntags in der Gemeinde, in der ich unsichtbar bleiben soll. Wenn Papa seine Messe gehalten hat und zur Verabschiedung am Ausgang steht, wechselt er mit jedem der Messebesucher ein paar Worte. Nur Mama und mich lässt er wortlos an sich vorbeigehen.

Ich möchte so gern stehen bleiben und »Hallo, Papa« sagen, aber Mama hat mir eingetrichtert, dass ich das nicht dürfe. Ich soll nichts sagen, am besten keine Miene verziehen, einfach nur an ihm vorübergehen und höchstens ein »Grüß Gott« murmeln.

Das ist grausam. Wenn ich auf gleicher Höhe bin, umgibt mich sein vertrauter Duft wie eine warme Wolke. In dem Moment möchte ich mich von Mamas Hand losreißen, mich an meinen Vater schmiegen, egal, was die Leute sagen. Aber ich darf es nicht!

Draußen, auf dem Kirchplatz, auf dem sich dann die Gläubigen versammeln, um zu reden, gehen wir schweigend durch die Menschentraube. Wir bleiben nirgends stehen, weil auch niemand mit uns redet. Das Kirchleben findet ohne uns statt.

»Arbeit ist Arbeit, und Familie ist Familie. Das trennt man schön«, hat mir Papa einmal erklärt.

»Aber mein Vater bist du doch immer«, habe ich entgegnet, doch für Papa war das Thema erledigt.

Kapitel 2

Wir besuchen heute Papa in Ebersberg. »Wenn er so wenig Zeit hat, dann müssen wir eben zu ihm«, sagt Mama immer, aber meine Begeisterung, nach Ebersberg zu fahren, hält sich in Grenzen, denn auch dort geht es wieder ums Verstecken. Im Auto ist alles noch super. Wir hören Schlager, singen mit, lachen und erzählen uns viel, ich von meinen Lehrern und den Mitschülern, Mama von ihrer Arbeit im Haushalt. Wir haben allein immer Spaß zusammen. Doch kaum auf dem Klinikgelände angelangt, ergreift meine Mutter eine sichtbare Unruhe.

»Denk daran, es ist besser, wenn uns hier niemand sieht«, schärft sie mir jedes Mal ein, bevor wir auf den riesengroßen Parkplatz fahren. »Es könnte uns jemand erkennen. Hier lassen sich auch Patienten aus Irschenberg oder Hausham behandeln.«

Ihre Stimme klingt brüchig. Sie ist nervös.

»Ja, ich weiß«, sage ich leise. Es ist mir nicht neu, dass ich auch hier auf dem Krankenhausgelände das große Geheimnis bin.

Vor dem Aussteigen sieht sich Mama immer noch einmal um, prüft, ob sie unter den vielen Patienten und Besuchern, die hier ein und aus gehen, nicht irgendein vertrautes Gesicht erkennt. Erst wenn »die Luft rein ist«, wie sie gern scherzhaft sagt, geht’s los, und wir flitzen so schnell wie möglich zum Hauseingang, in dem Mama unruhig auf den Klingelknopf drückt. Zum Glück surrt es schnell. Die Tür springt auf. Mama schiebt mich rasch in den Flur, und dann schleichen wir durch die Gänge, und ich fühle mich ein bisschen wie der Einbrecher in einem Krimi, den ich kürzlich im Fernsehen gesehen habe.