Das Spiel Azad - Iain Banks - E-Book

Das Spiel Azad E-Book

Iain Banks

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Beschreibung

Spielernaturen

Jernau Morat Gurgeh ist der beste Spieler in der KULTUR, und in allen Spielen ist er unschlagbar. Da hört er von dem Spiel Azad, das alle acht Jahre in Groasnachek in der Großen Magellanschen Wolke gespielt wird, dem Herrschaftsbereich des Imperiums. Gurgeh soll für die KULTUR an dem Spiel teilnehmen. Das Spiel Azad erweist sich als ein politisches Spiel, ein Kampf um Macht und Ämter. Gurgeh steigt in der Hierarchie der Spieler immer höher, bis er gegen den Kaiser des Imperiums selbst antreten muss. Da dämmert ihm, dass das Spiel blutiger Ernst geworden ist: er spielt um seine Heimat, die KULTUR, und droht zu verlieren …

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IAIN BANKS

 

 

 

DAS SPIEL AZAD

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Jernau Morat Gurgeh ist der beste Spieler in der KULTUR, und in allen Spielen ist er unschlagbar. Da hört er von dem Spiel Azad, das alle acht Jahre in Groasnachek in der Großen Magellanschen Wolke gespielt wird, dem Herrschaftsbereich des Imperiums. Gurgeh soll für die KULTUR an dem Spiel teilnehmen. Das Spiel Azad erweist sich als ein politisches Spiel, ein Kampf um Macht und Ämter. Gurgeh steigt in der Hierarchie der Spieler immer höher, bis er gegen den Kaiser des Imperiums selbst antreten muss. Da dämmert ihm, dass das Spiel blutiger Ernst geworden ist: er spielt um seine Heimat, die KULTUR, und droht zu verlieren …

 

 

 

 

Der Autor

Iain Banks wurde 1954 in Schottland geboren. Nach einem Englischstudium schlug er sich mit etlichen Gelegenheitsjobs durch, bis ihn sein 1984 veröffentlichter Roman »Die Wespenfabrik« als neue aufregende literarische Stimme bekannt machte. In den folgenden Jahren schrieb er zahllose weitere erfolgreiche Romane, darunter »Bedenke Phlebas«, »Exzession« und »Der Algebraist«. Er gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der britischen Gegenwartsliteratur. Am 9. Juni 2013 starb Iain Banks im Alter von 59 Jahren.

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

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Titel der Originalausgabe A PLAYER OF GAMES Aus dem Englischen von ´Rosemarie Hundertmarck
Überarbeitete Neuausgabe Copyright © 1988 by Iain Banks Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München Covergestaltung: Das Illustrat Satz: Winfried Brand
ISBN 978-3-641-16914-5V002
www.heyne.de

Inhalt

 

ERSTER TEIL – KULTURPLATTE

 

ZWEITER TEIL – IMPERIUM

 

DRITTER TEIL – MACHINA EX MACHINA

 

VIERTER TEIL – DER FREIBAUER

 

 

 

 

ERSTER TEILKULTURPLATTE

Dies ist die Geschichte eines Mannes, der für lange Zeit fortging, nur um an einem Spiel teilzunehmen. Der Mann ist ein Spieler namens Gurgeh. Die Geschichte fängt mit einem Kampf an, der kein Kampf ist, und endet mit einem Spiel, das kein Spiel ist.

Wer ich bin? Von mir werde ich später erzählen.

Und so fängt die Geschichte an.

 

Bei jedem Schritt wirbelte Staub auf. Er hinkte durch die Wüste, folgte der in einem Anzug steckenden Gestalt vor ihm. Das Gewehr lag ruhig in seinen Händen. Sie mussten beinahe da sein; durch das Schallfeld des Helms dröhnte die ferne Brandung. Sie näherten sich einer hohen Düne. Von oben müssten sie die Küste sehen können. Irgendwie hatte er überlebt. Er hatte nicht damit gerechnet.

Draußen war es hell und heiß und trocken, aber innerhalb des Anzugs war er vor der Sonne und der sengenden Luft abgeschirmt – wohlbehütet und kühl. Eine Ecke der Sichtscheibe seines Helms war da, wo er einen Treffer abbekommen hatte, dunkel, und das rechte Bein, ebenfalls lädiert, konnte er nicht richtig abbiegen, sodass er hinken musste. Aber ansonsten hatte er Glück gehabt. Sie waren zum letzten Mal einen Kilometer weiter hinten angegriffen worden, und jetzt befanden sie sich fast außer Reichweite.

Raketen kamen in einem glitzernden Bogen über den nächsten Kamm. Wegen der beschädigten Sichtscheibe sah er sie zu spät. Er glaubte, die Raketen feuerten bereits, aber es war nur der Sonnenschein, der sich auf ihren glatten Körpern widerspiegelte. Die Raketen senkten sich und formierten sich wie ein Vogelschwarm.

Als sie tatsächlich zu feuern begannen, wurde das durch rote Lichtblitze angekündigt. Er hob sein Gewehr, um zurückzuschießen. Die anderen der Gruppe, alle in Anzügen, waren bereits dabei. Einige warfen sich auf die staubige Wüstenerde, andere ließen sich auf ein Knie nieder. Er war der Einzige, der stand.

Die Raketen schwenkten ab, wendeten alle gleichzeitig und trennten sich dann, um verschiedene Richtungen einzuschlagen. Einschläge zu seinen Füßen trieben Staubwolken hoch. Er versuchte, auf eine der kleinen Maschinen zu zielen, aber sie bewegten sich verblüffend schnell, und das Gewehr fühlte sich in seinen Händen groß und unhandlich an. Der Alarm seines Anzugs übertönte die fernen Schüsse und die Rufe der anderen Leute; Lichter blinkten innerhalb des Helms, gaben Einzelheiten des Schadens bekannt. Der Anzug schüttelte sich, und sein rechtes Bein wurde plötzlich taub.

»Wach auf, Gurgeh!«, sagte Yay lachend neben ihm. Sie drehte sich auf einem Knie, als zwei der kleinen Raketen plötzlich auf ihren Abschnitt der Gruppe zurasten; sie mussten spüren, dass dort die schwächste Stelle war. Gurgeh sah die Maschinen kommen, aber das Gewehr sang wild in seinen Händen und zielte immer dahin, wo die Raketen gerade eben gewesen waren. Die beiden Maschinen schossen auf den Raum zwischen ihm und Yay zu. Eine explodierte, löste sich auf; Yay schrie triumphierend. Die andere flog weiter. Yay holte mit dem Fuß aus und versuchte, nach ihr zu treten. Sich unbeholfen umdrehend, schoss Gurgeh nach der Rakete und bestrich dabei unabsichtlich Yays Anzug. Er hörte sie aufschreien und dann fluchen. Sie taumelte, brachte das Gewehr jedoch herum. Staubfontänen spritzten um die zweite Rakete hoch, die kehrtmachte und von neuem auf sie zulenkte. Das rote pulsierende Licht beleuchtete seinen Anzug und füllte seine Sichtscheibe mit Dunkelheit. Er fühlte sich vom Hals abwärts wie gelähmt und fiel zu Boden. Um ihn wurde es schwarz und sehr still.

»Sie sind tot«, teilte ihm ein munteres Stimmchen mit.

Er lag auf dem für ihn unsichtbaren Wüstensand. Er hörte ferne, gedämpfte Geräusche, spürte Vibrationen durch den Boden. Er hörte seinen eigenen Herzschlag, die Ebbe und Flut seines Atems. Er versuchte, den Atem anzuhalten und das Herz zu verlangsamen, aber er war paralysiert, eingekerkert, ohne Kontrolle.

Seine Nase juckte. Es war unmöglich, sie zu kratzen. Was tue ich hier?, fragte er sich selbst.

Die Wahrnehmung kehrte zurück. Leute redeten, und er starrte durch die Sichtscheibe auf den flach gedrückten Wüstensand einen Zentimeter vor seiner Nase. Bevor er sich bewegen konnte, zog ihn jemand an einem Arm hoch.

Er löste die Helmverschlüsse. Yay Meristinoux, ebenfalls ohne Helm, sah ihn an und schüttelte den Kopf. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt, und von ihrem einen Handgelenk baumelte das Gewehr. »Du warst schrecklich«, sagte sie, jedoch nicht unfreundlich. Sie hatte das Gesicht eines schönen Kindes, aber die langsame, tiefe Stimme klang wissend und schalkhaft – eine verhaltene Stimme.

Die anderen saßen ringsumher auf Steinen oder im Sand und unterhielten sich. Ein paar gingen zum Clubhaus zurück. Yay hob Gurgehs Gewehr auf und hielt es ihm hin. Er kratzte sich die Nase, dann lehnte er es mit einem Kopfschütteln ab, die Waffe an sich zu nehmen.

»Yay«, sagte er zu ihr, »das ist etwas für Kinder.«

Sie antwortete nicht gleich. Sie hängte sich das Gewehr über die Schulter, zuckte die Achseln. Dabei glitzerten die Mündungen beider Gewehre im Sonnenschein kurz auf; er sah von neuem die heranrasende Reihe der Raketen, und für eine Sekunde wurde ihm schwindelig.

»So?«, fragte sie. »Es ist nicht langweilig. Du hast dich über Langeweile beklagt, da dachte ich, das Kriegsspiel würde dir Vergnügen machen.«

Er klopfte sich den Staub ab und schlug die Richtung zum Clubhaus ein. Yay ging neben ihm. Bergungsroboter schwebten an ihnen vorbei und sammelten die Bestandteile der zerstörten Maschinen auf.

»Es ist infantil, Yay. Warum sollte man seine Zeit mit solchem Unsinn verschwenden?«

Sie blieben oben auf der Düne stehen. Das niedrige Clubhaus lag hundert Meter entfernt, zwischen ihnen und dem goldenen Sand und der schneeweißen Brandung. Das Meer gleißte unter der hoch stehenden Sonne.

»Blas dich nicht so auf«, riet sie ihm. Der kräftige Wind zauste ihr kurzes braunes Haar und trieb die Gischt der Brandung wieder aufs Meer hinaus. Yay bückte sich nach den Teilen einer zerschmetterten Rakete, die halb vergraben im Sand lagen, hob sie auf, pustete Sandkörnchen von den schimmernden Oberflächen und drehte sie in den Händen. »Mir macht es Spaß«, erklärte sie. »Mir machen Spiele, wie du sie magst, Spaß, aber … so etwas auch.« Sie blickte verwirrt drein. »Das ist doch ein Spiel. Macht dir das überhaupt kein Vergnügen?«

»Nein. Und nach einer Weile wird es dir auch kein Vergnügen mehr machen.«

Sie zuckte leichthin die Achseln. »Warten wir’s ab.« Sie reichte ihm die Teile der Maschine. Er sah sie sich an. Eine Gruppe junger Männer ging auf dem Weg zu den Schießständen an ihnen vorbei.

»Mr. Gurgeh?« Einer der jungen Männer blieb stehen und sah Gurgeh fragend an. Ein Ausdruck der Verärgerung huschte über das Gesicht des Älteren und wich dem amüsierter Toleranz, den Yay in solchen Situationen schon gesehen hatte. »Jernau Morat Gurgeh?« Der junge Mann war sich immer noch nicht ganz sicher.

»Schuldig.« Gurgeh lächelte liebenswürdig. Yay bemerkte, dass er seinen Rücken ein bisschen straffte, sich etwas in die Höhe reckte. Das Gesicht des Jüngeren strahlte. Er vollführte eine schnelle, formelle Verbeugung. »Mr. Gurgeh«, sagte er mit breitem Lächeln, »mein Name ist Shuro … Ich bin …« Er lachte. »Ich verfolge alle Ihre Spiele; ich habe einen kompletten Satz Ihrer theoretischen Werke gespeichert …«

Gurgeh nickte. »Da haben Sie sich ordentlich hineingekniet.«

»In der Tat. Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie irgendwann während Ihres Aufenthalts hier gegen mich spielen würden … gleichgültig, in welchem Spiel. In Aufmarsch bin ich wahrscheinlich am stärksten; ich spiele ab drei Punkten, nur …«

»Während mein Handicap bedauerlicherweise Mangel an Zeit ist«, unterbrach Gurgeh ihn. »Aber, selbstverständlich, sollte sich eine Gelegenheit ergeben, würde ich mich freuen, gegen Sie zu spielen.« Er bedachte den Jüngeren mit der Andeutung eines Nickens. »Es war mir ein Vergnügen, Sie kennen zu lernen.«

Der junge Mann zog sich errötend zurück. »Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, Mr. Gurgeh … Auf Wiedersehen … Leben Sie wohl.« Er lächelte verlegen, drehte sich um und ging, seine Gefährten einzuholen.

Yay sah ihm nach. »Du genießt das, nicht wahr, Gurgeh?« Sie grinste.

»Durchaus nicht«, wehrte er kurz ab. »Es ärgert mich.«

Yay sah immer noch dem durch den Sand stampfenden jungen Mann nach und musterte ihn dabei von oben bis unten. Sie seufzte.

»Und was ist mit dir?« Mit Abscheu betrachtete Gurgeh die Raketenteile in seinen Händen. »Genießt du diese … diese Zerstörung?«

»Das kann man doch nicht Zerstörung nennen«, antwortete Yay bedächtig. »Die Raketen werden durch Explosion demontiert, nicht zerstört. Ich könnte eins von diesen Dingern in einer halben Stunde wieder zusammensetzen.«

»Dann ist es nicht echt.«

»Was ist nicht echt?«

»Die intellektuelle Leistung. Die Übung in Geschicklichkeit. Die menschlichen Gefühle.«

Yay verzog ironisch den Mund. »Ich sehe, wir haben einen langen Weg zurückzulegen, bevor wir einander verstehen, Gurgeh.«

»Dann lass mich dir helfen.«

»Ich soll dein Protegée sein?«

»Ja.«

Yay blickte von ihm zu den Brechern auf dem goldenen Strand und wieder zurück. Da der Wind stark blies und die Brandung rauschte, fasste sie langsam hinter ihren Kopf, kippte den Helm nach vorn und ließ ihn einrasten. Ihm blieb es überlassen, sein eigenes Spiegelbild auf ihrer Sichtscheibe anzustarren. Er fuhr sich mit der Hand durch die schwarzen Locken.

Yay schob die Sichtscheibe hoch. »Ich möchte dich sehen, Gurgeh. Chamlis und ich kommen dich übermorgen besuchen, ja?«

»Wenn du möchtest.«

»Ich möchte.« Sie blinzelte ihm zu und stieg die Düne wieder hinunter. Im Vorübergehen gab sie sein Gewehr einem Bergungsroboter, der mit glitzerndem metallenem Abfall beladen war.

Gurgeh blieb einen Augenblick lang stehen, die Teile der demontierten Maschine in den Händen. Dann ließ er sie wieder in den toten Sand fallen.

Das Spiel AzadEr roch die Erde und die Bäume an dem seichten Teich unterhalb des Balkons. Der Himmel war bedeckt, und es war sehr dunkel. Nur ein schwacher Schimmer kam von oben, wo die Wolken von den hellen Platten der fernen Tagseite des Orbitals angeleuchtet wurden. Wellen schwappten in der Finsternis, laute Schläge gegen die Rümpfe unsichtbarer Boote. Lichter blinkten rings um das Ufer des Sees. Dort standen niedrige College-Gebäude zwischen den Bäumen. Die Party war eine Präsenz hinter seinem Rücken, etwas, das er nicht sah, das aus dem Fakultätsgebäude heranflutete wie Donnergrollen, Musik und Lachen und die Düfte von Parfum und Essen und exotischen, nicht zu identifizierenden Dämpfen.

Superblau stürmte auf ihn ein, umzingelte ihn. Die Wohlgerüche der warmen Nachtluft, die sich aus der Reihe offener Türen hinter ihm ergossen, trugen auf ihren Wellen den Lärm, den die Leute erzeugten. Sie wurden zu einzelnen Luftsträngen, Fasern, die sich von einem Seil abwickelten, und jede hatte ihre eigene bestimmte Farbe und Charakteristik. Die Fasern wurden zu Erdklumpen, etwas, das man zwischen den Fingern zerreiben, absorbieren, identifizieren kann.

Da: Dieser rotschwarze Geruch nach gebratenem Fleisch! Er jagte das Blut schneller durch die Adern, förderte die Speichelabsonderung, wurde von getrennten Teilen seines Gehirns gleichzeitig als verlockend und als ein wenig abstoßend eingestuft. Die animalische Wurzel roch Brennstoff, proteinreiche Nahrung; der Mittelhirnstamm registrierte tote, verbrannte Zellen … während der Baldachin des Vorderhirns beide Signale ignorierte, weil er wusste, sein Bauch war voll, und das gebratene Fleisch stammte nicht von einem richtigen Tier.

Er nahm auch das Meer wahr, einen salzigen Geruch aus zehn oder mehr Kilometern Entfernung, jenseits der Ebene und der niedrigen Hügel, ein weiterer aufgefaserter Strang wie das Netz und Gewebe der Flüsse und Kanäle, die den dunklen Teich mit dem ruhelosen fließenden Ozean jenseits des duftenden Graslandes und des würzigen Waldes verbanden.

Superblau ist ein für Spieler typisches Sekret, ein Produkt der durch Genmanipulierung modifizierten Drüsen in Gurgehs Schädel unterhalb der alten, animalischen Bereiche seines Gehirns. Die Palette der im eigenen Körper hergestellten Drogen, aus der die große Mehrheit der Kultur-Individuen wählen kann, umfasst bis zu dreihundert verschiedene Komponenten von unterschiedlicher Beliebtheit und Raffinesse. Superblau ist eine der am wenigsten benutzten, weil es kein direktes Lustgefühl vermittelt und seine Erzeugung beträchtlicher Konzentration bedarf. Aber es ist gut für Spiele. Was kompliziert ausgesehen hat, wird einfach; unlösbare Aufgaben werden lösbar, Undurchschaubares wird offensichtlich. Eine Mehrzweckdroge, ein Abstraktionsmodifizierer, kein Sinnesverstärker, kein sexuelles Stimulans und kein physiologisches Aufputschmittel.

Und er brauchte es nicht.

Das wurde offenbar, sobald der erste Andrang erstarb und die Plateau-Phase eintrat. Der Junge, gegen den er spielen sollte und dem er eben bei dessen vorhergehender Partie in Vier Farben zugesehen hatte, bevorzugte einen Stil der Täuschung, mit dem Gurgeh jedoch leicht fertig werden würde. Was der Kleine machte, wirkte eindrucksvoll, war aber zum größten Teil Show, modisch, verwickelt – und gleichzeitig hohl und empfindlich, also letzten Endes verwundbar. Gurgeh lauschte auf die Geräusche der Party, die Geräusche des Wassers im See und die Geräusche, die von den anderen Universitätsgebäuden am gegenüberliegenden Ufer kamen. Die Erinnerung an den Spielstil des jungen Mannes blieb klar.

Lösche sie!, entschied er sich in diesem Augenblick. Brich den Bann!

Etwas in ihm entspannte sich, als sei es ein Phantomglied, eine Illusion. Der Bann, das Äquivalent des Gehirns für ein kleines, primitives, in einer Schleife verlaufendes Unterprogramm, wurde gebrochen, hörte einfach auf zu sein.

Gurgeh blieb noch eine Weile auf der Terrasse am See stehen. Dann drehte er sich um und kehrte zu der Party zurück.

 

»Jernau Gurgeh. Ich dachte, Sie seien davongelaufen.«

Er wandte sich dem kleinen Roboter zu, der zu ihm geschwebt war, als er den kostbar eingerichteten Saal wieder betrat. Leute standen plaudernd umher oder scharten sich unter den herrlichen Bannern antiker Wandbehänge um Spielbretter und -tische. Es waren auch ein Dutzend Roboter im Raum; sie spielten, sahen zu, sprachen zu Menschen. Ein paar zeigten die formelle, gitterähnliche Anordnung, was bedeutete, dass sie über Transceiver kommunizierten. Mawhrin-Skel, der Roboter, der Gurgeh angesprochen hatte, war bei weitem die kleinste unter den anwesenden Maschinen. Er hätte bequem auf zwei Händen Platz nehmen können. In dem formellen Blau seines Aurafeldes waberten Spuren von Grau und Braun. Er sah wie das Modell eines komplizierten und altmodischen Raumschiffs aus.

Gurgeh warf der Maschine, die ihm durch die Menschenmenge zum Vier-Farben-Tisch folgte, einen finsteren Blick zu.

An dem Spieltisch des jungen Mannes setzte er sich auf einen hohen, reich mit Ornamenten verzierten Holzstuhl, den sein soeben geschlagener Vorgänger eilends verlassen hatte. »Ich dachte, dieses Jüngelchen hätte Ihnen vielleicht Angst eingejagt«, sagte der Roboter. Er sprach laut genug, dass das in Rede stehende ›Jüngelchen‹ – ein strubbelköpfiger Mann von vielleicht dreißig – ihn hören konnte. Der junge Mann blickte verletzt drein.

Gurgeh merkte, dass die Leute in seiner Umgebung ein bisschen stiller wurden. Mawhrin-Skels Aurafelder wechselten zu einer Mischung aus Rot und Braun, gleichzeitig belustigtes Vergnügen und Missvergnügen anzeigend, ein widersprüchliches Signal, das einer direkten Beleidigung nahe kam.

»Achten Sie nicht auf diese Maschine«, riet Gurgeh dem jungen Mann. »Es macht ihr Spaß, Leute zu ärgern.« Er rückte mit dem Stuhl näher heran, zog sich seine alte, unmodisch lose und weitärmelige Jacke zurecht. »Ich bin Jernau Gurgeh. Und Sie?«

»Stemli Fors.« Der junge Mann schluckte ein bisschen.

»Freut mich, Sie kennen zu lernen. Und nun: Welche Farbe nehmen Sie?«

»Äh … Grün.«

»Gut.« Gurgeh richtete sich auf: Er wartete ein Weilchen, dann wies er auf das Brett. »Bitte nach Ihnen.«

Der junge Mann namens Stemli Fors machte seinen ersten Zug. Gurgeh beugte sich vor, um den seinen zu machen. Der Roboter Mawhrin-Skel setzte sich auf seine Schulter und summte vor sich hin. Gurgeh klopfte mit einem Finger auf das Gehäuse der Maschine, und sie schwebte ein Stückchen zur Seite. Für den Rest des Spiels imitierte sie das klickende Geräusch, mit dem die Pyramiden an ihren Scharnieren umgekippt wurden.

Gurgeh schlug den jungen Mann mühelos. Das Finish gestaltete er sogar ein bisschen raffiniert. Durch Fors’ Unfähigkeit konnte er am Ende ein hübsches Muster erzeugen; er fegte einen Stein unter dem Maschinengewehrknattern rotierender Pyramiden durch vier Diagonalen und zeichnete den Umriss eines Quadrats auf das Brett – in Rot, wie eine Wunde. Mehrere Leute applaudierten; andere murmelten anerkennend. Gurgeh dankte dem jungen Mann und stand auf.

»Billiger Trick«, bemerkte Mawhrin-Skel so laut, dass alle es hörten. »Der Junge war eine leichte Beute. Das war unter Ihrem Niveau!« Sein Feld blitzte leuchtend rot auf, er sprang über die Köpfe der Leute durch die Luft und verschwand.

Gurgeh schüttelte den Kopf. Dann ging er.

Der kleine Roboter ärgerte und amüsierte ihn zu beinahe gleichen Teilen. Die Maschine war grob und beleidigend, und häufig brachte sie ihn in Wut, aber sie stellte eine so erfrischende Abwechslung zu der schrecklichen Höflichkeit der meisten Leute dar. Zweifellos war sie losgesaust, um jetzt irgendeinem anderen auf die Nerven zu gehen. Gurgeh nickte auf seinem Weg durch die Menge verschiedenen Leuten zu. Er sah den Roboter Chamlis Amalk-ney an einem langen, niedrigen Tisch mit einer Dame sprechen, die zu den weniger unerträglichen Professoren gehörte. Gurgeh ging zu ihnen hinüber. Er nahm sich ein Glas von einem vorbeischwebenden Serviertablett.

»Ah, mein Freund …«, begrüßte Chamlis Amalk-ney ihn. Der alte Roboter war anderthalb Meter hoch und über einen halben Meter breit und tief, sein einfaches Gehäuse matt von der jahrtausendelangen Abnutzung. Er wandte Gurgeh sein Sensorband zu. »Die Frau Professor und ich haben eben von dir gesprochen.«

Professor Boruelals strenger Ausdruck verwandelte sich in ein ironisches Lächeln. »Sie kommen soeben von einem weiteren Sieg, Gurgeh?«

»Merkt man das?« Er hob das Glas an die Lippen.

»Ich habe gelernt, die Zeichen zu deuten«, antwortete die Professorin. Sie war doppelt so alt wie Gurgeh, gut in ihrem zweiten Jahrhundert, aber immer noch groß und hübsch und umwerfend. Ihre Haut war hell, ihr Haar weiß, wie es immer gewesen war, und kurz geschnitten. »Haben Sie wieder einen meiner Studenten gedemütigt?«

Gurgeh zuckte die Achseln. Er leerte das Glas und sah sich nach einem Tablett um, auf dem er es abstellen könnte.

»Gestatte«, murmelte Chamlis Amalk-ney, nahm ihm das Glas behutsam aus der Hand und stellte es auf ein Tablett, das in gut drei Metern Entfernung vorbeikam. Sein gelblich schimmerndes Feld holte ein volles Glas mit dem gleichen ausgezeichneten Wein heran. Gurgeh nahm es.

Boruelal trug einen dunklen Anzug aus weichem Stoff, am Hals und an den Knien von zarten Silberketten aufgehellt. Ihre Füße waren bloß, was zu ihrer Kleidung in Gurgehs Augen weniger passte, als es – zum Beispiel – ein Paar hochhackiger Stiefelchen getan hätte. Aber im Vergleich zu anderen vom Stab der Universität war das eine ganz unbedeutende Exzentrizität. Gurgeh blickte lächelnd auf die Zehen der Frau nieder, die sich sonnenbraun von dem hellen Holzfußboden abhoben.

»Sie sind so destruktiv, Gurgeh«, warf Boruelal ihm vor. »Warum helfen Sie uns nicht stattdessen? Wann wird aus einem umherziehenden Gastdozenten ein Teil der Fakultät?«

»Ich habe es Ihnen gesagt, Professor, ich habe zu viel zu tun. Ich habe mehr als genug Partien zu spielen, Artikel zu schreiben, Briefe zu beantworten, Besuche zu machen … und außerdem würde es mich langweilen. Ich langweile mich schnell, wissen Sie.« Gurgeh wandte den Blick ab.

»Jernau Gurgeh würde einen sehr schlechten Lehrer abgeben«, pflichtete Chamlis Amalk-ney ihm bei. »Wenn ein Student etwas nicht auf der Stelle begriffe, verlöre Gurgeh, ganz gleich, wie kompliziert und verwickelt die Sache wäre, sofort die Geduld und gösse ihm wahrscheinlich den Inhalt seines Glases über den Kopf – wenn nichts Schlimmeres.«

»Davon habe ich gehört.« Die Professorin nickte ernst.

»Das ist ein Jahr her.« Gurgeh runzelte die Stirn. »Und Yay hatte es verdient.« Er sah den alten Roboter böse an.

»Nun …«, die Professorin streifte Chamlis mit einem Blick, »vielleicht haben wir jemanden gefunden, der Ihnen gewachsen ist, Jernau Gurgeh. Es gibt da ein …« In der Ferne krachte es, und das Hintergrundgeräusch im Saal wurde stärker. Alle drehten sich danach um.

»Oh, nicht schon wieder ein Aufruhr«, stöhnte die Professorin müde.

An diesem Abend war bereits einem der jüngeren Dozenten ein zahmer Vogel entwischt, war kreischend durch die Halle geschwirrt und hatte sich im Haar mehrerer Leute verfangen, bevor der Roboter Mawhrin-Skel das Tier mitten in der Luft abfing und bewusstlos schlug, sehr zum Bedauern der meisten Party-Gäste.

»Was ist jetzt schon wieder?«, seufzte Boruelal. »Entschuldigen Sie mich.« Geistesabwesend ließ sie ihr Glas und einen Appetithappen auf Chamlis Amalk-neys breiter, flacher Oberfläche zurück und bahnte sich, rechts und links um Verzeihung bittend, ihren Weg durch die Menge zur Quelle des Spektakels.

Chamlis’ Aura flackerte in einem missvergnügten Grauweiß. Er setzte das Glas geräuschvoll auf den Tisch und warf das Häppchen in einen weit entfernten Kübel. »Es ist diese schreckliche Maschine Mawhrin-Skel«, erklärte Chamlis gereizt.

Gurgeh blickte über die Anwesenden zu der Stelle, von der der ganze Lärm kam. »Wirklich?«, fragte er. »Mawhrin-Skel ist schuld an dem Krawall?«

»Ich weiß wirklich nicht, warum du ihn so nett findest«, sagte der alte Roboter. Er nahm Boruelals Glas wieder hoch und goss den blassgoldenen Wein in ein ausgebreitetes Feld, sodass die Flüssigkeit mitten in der Luft wie in einem unsichtbaren Gefäß hing.

»Er amüsiert mich«, antwortete Gurgeh. »Übrigens – Boruelal sagte etwas darüber, man habe den richtigen Spielpartner für mich gefunden. War es das, worüber ihr vorhin gesprochen habt?«

»So ist es. Man hat irgendeine neue Studentin aufgetrieben, ein Kabinenkind aus einem Systemfahrzeug mit einer Begabung für Abräumen.«

Gurgeh hob eine Augenbraue. Abräumen war eins der komplexeren Spiele seines Repertoires. Außerdem war es eins der Spiele, in denen er am besten war. Es gab andere menschliche Spieler in der Kultur, die fähig waren, ihn zu schlagen – obwohl sie alle Abräum-Spezialisten waren, keine Allround-Spieler wie er –, doch nicht einer von ihnen hätte einen Sieg garantieren können, und es waren wenige, wahrscheinlich nicht mehr als zehn in der ganzen Bevölkerung.

»Und wer ist dieser talentierte Säugling?« Der Lärm auf der anderen Seite des Raums hatte nachgelassen.

»Es ist eine junge Frau.« Chamlis schwenkte die in einem Kraftfeld ruhende Flüssigkeit umher und ließ sie durch dünne Fäden hohler, unsichtbarer Energie tröpfeln. »Gerade von Bord der Kargo-Kult hier eingetroffen. Sie ist noch dabei, sich einzurichten.«

Das Systemfahrzeug Kargo-Kult hatte vor zehn Tagen am Chiark-Orbital angelegt und es erst vor zwei Tagen wieder verlassen. Gurgeh hatte an ein paar Schaukämpfen im Schiff teilgenommen – zu seinem geheimen Entzücken hatte er auf der ganzen Linie gesiegt; nicht in einem einzigen Match war er geschlagen worden –, Abräumen hatte er jedoch überhaupt nicht gespielt. Ein paar seiner Gegner hatten eine angeblich brillante – wenn auch schüchterne – junge Spielerin an Bord erwähnt, aber sie war, soviel Gurgeh wusste, nicht aufgetaucht, und er hatte angenommen, die Fähigkeiten dieses Wunderkindes seien stark übertrieben worden. Schiffsleute neigen zu einem wunderlichen Stolz auf ihr Fahrzeug; sie sonnten sich in dem Gedanken, dass das Schiff, mochten sie auch von dem großen Spieler geschlagen worden sein, immer noch etwas enthielt, mit dem ihm beizukommen war. Natürlich hätte das Schiff selbst ihn besiegen können, aber das zählte nicht; sie meinten Leute – Menschen oder Roboter mit 1,0-Wert.

»Sie sind ein bösartiges und eigensinniges Gerät«, sagte Boruelal zu dem Roboter Mawhrin-Skel, der in Schulterhöhe neben ihr schwebte. Sein Aurafeld zeigte mit der Farbe Orange Wohlbefinden an, war jedoch mit purpurnen Fleckchen nicht überzeugender Zerknirschung durchsetzt.

»Oh«, fragte Mawhrin-Skel munter, »ist das Ihr Ernst?«

»Reden Sie einmal mit dieser widerwärtigen Maschine, Jernau Gurgeh.« Die Professorin betrachtete stirnrunzelnd die Oberfläche von Chamlis Amalk-neys Gehäuse, dann nahm sie sich ein frisches Glas. Chamlis goss die Flüssigkeit, mit der er gespielt hatte, in Boruelals altes Glas und stellte es auf den Tisch zurück.

»Was haben Sie jetzt schon wieder angestellt?«, wandte sich Gurgeh an Mawhrin-Skel, der gerade an seinem Gesicht vorbeischwebte.

»Anatomie-Unterricht.« Das Feld des Roboters brach zu einer Mischung aus formellem Blau und brauner Übellaunigkeit zusammen.

»Man hat auf der Terrasse einen Chirlip gefunden«, erklärte Boruelal und maß den kleinen Roboter mit einem anklagenden Blick. »Er war verletzt. Jemand holte ihn herein, und Mawhrin-Skel erbot sich, ihn zu behandeln.«

»Ich hatte nichts zu tun«, warf Mawhrin-Skel ein.

»Er hat ihn vor allen Leuten getötet und seziert.« Die Professorin seufzte. »Sie waren sehr aufgebracht.«

»Er wäre sowieso am Schock gestorben«, sagte Mawhrin-Skel. »Das sind faszinierende Wesen, die Chirlips. Diese niedlichen kleinen Pelzfalten verbergen freitragende Knochen, und das zur Schleife verbundene Verdauungssystem ist außerordentlich faszinierend.«

»Aber nicht, wenn Leute essen.« Boruelal suchte sich auf dem Tablett einen neuen Appetithappen aus. »Er bewegte sich noch«, setzte sie düster hinzu. Sie aß den Happen.

»Synaptische Residualkapazität«, erläuterte Mawhrin-Skel.

»Oder ›schlechter Geschmack‹, wie wir Maschinen es nennen«, sagte Chamlis Amalk-ney.

»Darin sind Sie Experte, was, Amalk-ney?«, fragte Mawhrin-Skel.

»Ich beuge mich Ihren überlegenen Talenten auf diesem Gebiet«, schoss Chamlis zurück.

Gurgeh lächelte. Chamlis Amalk-ney war ein langjähriger – und alter – Freund; der Roboter war vor mehr als viertausend Jahren konstruiert worden. Er behauptete, das genaue Datum vergessen zu haben, und noch nie war jemand unhöflich genug gewesen, die Wahrheit zu erforschen. Gurgeh hatte den Roboter sein ganzes Leben lang gekannt; er war jahrhundertelang ein Freund der Familie gewesen.

Bei Mawhrin-Skel handelte es sich um eine jüngere Bekanntschaft. Die reizbare, über schlechte Manieren verfügende kleine Maschine war erst vor zweihundert Tagen im Chiark-Orbital eingetroffen und stellte eine weitere atypische Persönlichkeit dar, die sich von dem übertriebenen Ruf der Welt, exzentrisch zu sein, angezogen gefühlt hatte.

Mawhrin-Skel war als Roboter für die Kontakt-Sektion ›Besondere Umstände‹ der Kultur konstruiert worden. Im Grunde war er eine Militärmaschine mit einer Reihe ausgeklügelter, wirksamer Sensor- und Waffensysteme, die bei den meisten Robotern ganz unnötig und sinnlos gewesen wären. Wie bei allen intelligenten Kultur-Konstrukten war sein Charakter vor der Konstruktion nicht vollständig festgelegt worden, sondern man hatte ihm erlaubt, sich zu entwickeln, während das Gehirn des Roboters zusammengesetzt wurde. Die Kultur betrachtete diesen unvorhersehbaren Faktor bei der Herstellung bewusster Maschinen als den Preis, der für die Individualität zu zahlen war, aber das Ergebnis war, dass sich nicht jeder so ins Dasein gerufene Roboter völlig für die Aufgaben eignete, für die man ihn ursprünglich vorgesehen hatte.

Mawhrin-Skel war solch ein fehlgeleiteter Roboter. Seine Persönlichkeit – so hatte man entschieden – war nicht das Richtige für Kontakt, nicht einmal für Besondere Umstände. Er war labil, streitsüchtig und ohne Fingerspitzengefühl. Und das waren nur die Gründe, die er den Leuten freiwillig zur Begründung seines Misserfolgs nannte. Man hatte ihm die Wahl gelassen zwischen einer radikalen Persönlichkeitsveränderung, wobei er wenig oder gar nichts dabei mitzureden haben würde, wie sein endgültiger Charakter aussehen sollte, oder einem Leben außerhalb Kontakts, zwar mit intakter Persönlichkeit, aber ohne seine Waffen und die komplizierteren Kommunikations- und Sensorsysteme, die entfernt werden würden, um ihn auf ein Niveau zu bringen, das dem eines Standard-Roboters näher kam.

Er hatte voller Bitterkeit Letzteres gewählt. Und er war in der Hoffnung, an diesen Ort zu passen, zum Chiark-Orbital gereist.

»Fleischkopf«, sagte Mawhrin-Skel zu Chamlis Amalk-ney und sauste auf die Reihe der offenen Fenster zu. Das Aurafeld des älteren Roboters blitzte vor Ärger weiß auf, und ein heller, wogender Fleck regenbogenfarbenen Lichts verriet, dass er seinen Richtstrahl-Transceiver benutzte, um mit der sich entfernenden Maschine zu kommunizieren. Mawhrin-Skel stoppte mitten in der Luft, wendete. Gurgeh hielt den Atem an. Was mochte Chamlis gesagt haben, und was würde der kleinere Roboter antworten? Er würde sich nicht die Mühe machen, seine Bemerkungen geheim zu halten, wie Chamlis es getan hatte.

»Ich gräme mich nicht um das«, erklärte er langsam aus zwei Metern Entfernung, »was man mir genommen, sondern um das, was man mir gegeben hat, damit ich – wenn auch nur entfernt – erschöpften, ausgeleierten Greisen wie Ihnen ähnele, die nicht einmal den Anstand der Menschen besitzen zu sterben, wenn sie veraltet sind. Sie sind eine Materialverschwendung, Amalk-ney.«

Mawhrin-Skel wurde zu einer verspiegelten Kugel, und in diesem ostentativ durch keine Kommunikation zu erreichenden Modus fegte er aus dem Saal in die Dunkelheit.

»Junger Kretin!« Chamlis’ Feld zeigte frostiges Blau.

Boruelal zuckte die Achseln. »Mir tut er Leid.«

»Mir nicht«, meinte Gurgeh. »Ich glaube, er amüsiert sich prächtig.« Er wandte sich der Professorin zu. »Wann werde ich Ihr junges Abräum-Genie kennen lernen? Sie verstecken sie doch nicht, um sie zu trainieren?«

»Nein, wir lassen ihr nur Zeit, sich zu akklimatisieren.« Boruelal fuhr sich mit dem spitzen Ende des Zahnstochers, auf dem der Appetithappen aufgespießt gewesen war, zwischen die Zähne. »Soviel ich in Erfahrung bringen konnte, ist das Mädchen behütet aufgewachsen. Anscheinend hat sie das Systemfahrzeug kaum einmal verlassen; es muss für sie ein komisches Gefühl sein, hier zu sein. Außerdem ist sie nicht gekommen, um sich mit der Spieltheorie zu befassen, worauf ich Sie ganz besonders hinweisen möchte, Jernau Gurgeh. Sie wird Philosophie studieren.«

Gurgeh blickte angemessen überrascht drein.

»Behütet aufgewachsen?«, fragte Chamlis Amalk-ney. »In einem Systemfahrzeug?« Seine Kanonenmetall-Aura zeigte Verwirrung an.

»Sie ist schüchtern.«

»Das lässt sich denken.«

»Ich muss sie kennen lernen«, sagte Gurgeh.

»Das werden Sie«, versicherte Boruelal ihm. »Möglicherweise schon bald; sie sagte, sie werde vielleicht zum nächsten Konzert mit mir nach Tronze reisen. Hafflis veranstaltet dort ein Spiel, nicht wahr?«

»Das tut er für gewöhnlich«, bestätigte Gurgeh.

»Vielleicht wird sie dort gegen Sie spielen. Aber wundern Sie sich nicht, wenn Sie sie nur abschrecken.«

»Ich werde das liebenswürdige Benehmen in Person sein«, versprach Gurgeh ihr.

Boruelal nickte nachdenklich. Sie blickte über die Party hin. Ein lautes Jubelgeschrei stieg von der Mitte des Saales auf und lenkte sie für eine Sekunde ab.

»Entschuldigen Sie mich«, sagte sie. »Ich glaube, ich entdecke einen im Entstehen begriffenen Aufruhr.« Sie ging. Chamlis Amalk-ney wich zur Seite aus, um nicht wieder als Tisch benutzt zu werden; die Professorin nahm ihr Glas mit sich.

»Hast du Yay heute Morgen gesehen?«, erkundigte sich Chamlis bei Gurgeh.

Gurgeh nickte. »Sie ließ mich einen Anzug anlegen, ein Gewehr herumschleppen und auf Spielzeugraketen schießen, die sich ›explosionsartig‹ auflösten.«

»Es hat dir keinen Spaß gemacht.«

»Überhaupt keinen. Ich hatte große Hoffnungen auf das Mädchen gesetzt, aber noch mehr von diesem Unsinn, und ich glaube, ihre Intelligenz wird sich explosionsartig auflösen.«

»Nun, ein solcher Zeitvertreib liegt nicht jedem. Sie wollte dir nur helfen. Du hattest gesagt, du seiest nervös, du hieltest Ausschau nach etwas Neuem.«

»Jedenfalls war das nicht das Richtige.« Unerklärlicherweise war Gurgeh plötzlich traurig.

Leute strömten an ihm und Chamlis vorbei und strebten der langen Reihe von Fenstern zu, die auf die Terrasse hinausgingen. In seinem Kopf machte sich ein dumpfes Summen breit; er hatte ganz vergessen, dass beim Abklingen von Superblau eine bestimmte geistige Kontrolle notwendig ist, wenn man einen lästigen Kater vermeiden will. Mit einem leichten Gefühl der Übelkeit sah er die Leute vorbeiströmen.

»Es muss Zeit für das Feuerwerk sein«, bemerkte Chamlis.

»Ja … gehen wir ein bisschen an die frische Luft?«

»Genau das, was ich brauche.« Chamlis’ Aura zeigte ein trübes Rot.

Gurgeh stellte sein Glas ab. Er und der alte Roboter schlossen sich dem Strom der Leute an, der sich aus dem hellen, mit Wandbehängen geschmückten Saal auf die im Flutlicht liegende Terrasse über dem dunklen See ergoss.

Der Regen schlug gegen die Fenster, und das hörte sich genauso an wie das Prasseln der Holzklötze im Feuer. Die Aussicht von dem Haus in Ikroh – den steilen, bewaldeten Hang hinab zum Fjord und darüber hinweg zu den Bergen auf der anderen Seite – wurde von dem Wasser, das die Scheiben hinunterlief, verkrümmt und verzerrt, und manchmal flossen niedrige Wolken wie nasser Rauch um die Türme und Kuppeln von Gurgehs Heim.

Yay Meristinoux nahm einen großen, schmiedeeisernen Schürhaken von der Kaminplatte. Einen bestiefelten Fuß auf den kunstvoll gemeißelten Stein der Einfassung und eine blassbraune Hand auf den seilähnlichen Rand des massigen Simses gestemmt, stocherte sie nach einem der zischenden Holzstücke, die auf dem Gitter brannten. Funken stoben den hohen Kamin hinauf und trafen sich mit den niederfallenden Regentropfen.

Chamlis Amalk-ney schwebte am Fenster und betrachtete die stumpfgrauen Wolken.

Die in einer Ecke des Raums eingelassene Tür schwang auf, und Gurgeh erschien, ein Tablett mit heißen Getränken in den Händen, gekleidet in einen losen, hellen Hausmantel über dunklen, ausgebeulten Hosen. Auf leise klatschenden Pantoffeln durchquerte er den Raum. Er stellte das Tablett ab, sah Yay an. »Ist dir schon ein Zug eingefallen?«

Yay kam herbei, betrachtete das Spielbrett verdrießlich, schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube, du hast gewonnen.«

»Sieh her.« Gurgeh rückte ein paar Figuren zurecht. Seine Hände fuhren schnell wie die eines Zauberers über das Brett, doch Yay folgte jeder Bewegung. Sie nickte.

»Ja, ich verstehe. Aber …«, sie tippte auf ein sechseckiges Feld, auf das Gurgeh eine ihrer Figuren geschoben und ihr damit eine Aufstellung gegeben hatte, mit der sie möglicherweise hätte gewinnen können, »nur, wenn ich diese blockierende Figur zwei Züge früher doppelt gesichert hätte.« Sie nahm ihr Glas, setzte sich auf die Couch, hob das Glas dem stumm lächelnden Mann auf der Couch ihr gegenüber zu und sagte: »Cheers. Auf den Sieger.«

»Du hättest beinahe gewonnen«, versicherte Gurgeh ihr. »Vierundvierzig Züge – du wirst sehr gut.«

»Relativ.« Yay nahm einen Schluck. »Nur relativ.« Sie lehnte sich auf der tiefen Couch zurück. Gurgeh schob die Figuren auf ihre Startpositionen. Chamlis Amalk-ney schwebte näher und blieb in der Luft stehen. »Weißt du was?« Yay sah zu der verzierten Decke hoch. »Mir gefällt immer wieder, wie dieses Haus riecht, Gurgeh.« Sie drehte sich zu dem Roboter um. »Fällt es Ihnen nicht auch auf, Chamlis?«

Das Aurafeld der Maschine kippte kurz zur Seite – das Achselzucken eines Roboters. »Ja. Wahrscheinlich liegt es daran, dass unser Gastgeber in seinem Kamin Bonise verheizt, ein Holz, das von der alten Waver-Zivilisation vor Jahrtausenden speziell des Duftes wegen entwickelt wurde, den es beim Brennen verströmt.«

»Ja, wirklich, es ist ein angenehmer Geruch.« Yay stand auf und trat wieder ans Fenster. Sie schüttelte den Kopf. »Aber es ist so klar wie Scheiße, dass es hier viel regnet, Gurgeh.«

»Das machen die Berge«, erklärte der Mann.

Yay sah sich zu ihm um und hob eine Augenbraue. »Was du nicht sagst!«

Gurgeh lächelte und strich sich mit der Hand über seinen ordentlich geschnittenen Bart. »Wie geht es mit der Landschaftsgestaltung voran, Yay?«

»Ich möchte nicht darüber sprechen.« Kopfschüttelnd betrachtete sie das unaufhörliche Niedergehen des Regens. »Was für ein Wetter!« Sie leerte ihr Glas. »Kein Wunder, dass du allein lebst, Gurgeh.«

»Oh, das liegt nicht an dem Regen, Yay«, antwortete Gurgeh. »Es liegt an mir. Niemand hält es aus, längere Zeit mit mir zusammenzuleben.«

»Er meint«, erläuterte Chamlis, »dass er es nicht aushält, längere Zeit mit irgendjemandem zusammenzuleben.«

»Vermutlich stimmt das eine wie das andere.« Yay kehrte zu der Couch zurück, setzte sich mit untergeschlagenen Beinen und spielte mit einer der Figuren auf dem Spielbrett. »Was halten Sie von dem Spiel, Chamlis?«

»Sie haben die wahrscheinlichen Grenzen Ihrer technischen Fähigkeiten erreicht, aber Ihr Fingerspitzengefühl entwickelt sich weiter. Allerdings bezweifele ich, dass Sie Gurgeh jemals schlagen werden.«

»He!« Yay tat, als sei ihr Stolz verletzt. »Ich bin erst Anfängerin; ich werde mich verbessern.« Sie stieß die Fingernägel beider Hände zusammen. »Und ebenso«, fügte sie hinzu, »werde ich mich, wie man mir sagt, in der Landschaftsgestaltung verbessern.«

»Sie haben Probleme?«, erkundigte sich Chamlis.

Yay blickte für einen Augenblick drein, als habe sie ihn nicht gehört. Dann seufzte sie und ließ sich zurücksinken. »Jaa … Dieses Arschloch Elrstrid und diese verdammte pedantische Preashipleyl-Maschine. Sie haben … so gar keinen Sinn für das Abenteuerliche. Sie wollen einfach nicht zuhören.«

»Wobei wollen sie nicht zuhören?«

»Bei Ideen!«, schrie Yay zur Decke hinauf. »Immer, wenn es um etwas anderes geht, um etwas, das zur Abwechslung nicht so gottverdammt konservativ ist. Nur, weil ich jung bin, beachten sie mich nicht.«

»Ich dachte, sie seien mit Ihrer Arbeit zufrieden«, sagte Chamlis. Gurgeh lehnte sich auf seiner Couch zurück, ließ die Flüssigkeit in seinem Glas kreisen und betrachtete Yay ruhig.

»Oh, es ist ihnen recht, wenn ich all die einfachen Arbeiten tue.« Yays Stimme klang plötzlich müde. »Eine Bergkette oder zwei aufrichten, ein paar Seen ausschachten … aber ich rede von der Gesamtplanung, von etwas wirklich Neuem. Wir tun nichts weiter, als dass wir eine weitere Platte wie alle vorherigen bauen. Sie könnte eine von Millionen irgendwo in der Galaxis sein. Was soll das für einen Sinn haben?«

»Dass Leute darauf leben können?«, regte Chamlis mit rosigem Aurafeld an.

»Leute können überall leben!« Yay stemmte sich von der Couch hoch und sah den Roboter mit ihren leuchtenden grünen Augen an. »Es herrscht kein Mangel an Platten; ich rede von Kunst!«

»Was hattest du im Sinn?«, fragte Gurgeh.

»Wie wäre es«, sagte Yay, »mit magnetischen Feldern unter dem Basismaterial und magnetisierten Inseln, die über Ozeanen schweben? Überhaupt kein normales Land, nur große fliegende Felsbrocken mit Flüssen und Seen und Vegetation und ein paar unerschrockenen Leuten? Klingt das nicht aufregender?«

»Aufregender als was?«, wollte Gurgeh wissen.

»Aufregender als das da!« Yay Meristinoux sprang auf und lief ans Fenster. Sie klopfte gegen die traditionelle Glasscheibe. »Sieh dir das an! Man könnte ebenso gut auf einem Planeten sein. Seen und Hügel und Regen. Möchtest du nicht lieber auf einer schwebenden Insel leben, die oberhalb des Wassers durch die Luft segelt?«

»Und wenn die Inseln zusammenstoßen?«, fragte Chamlis.

»Na und?« Yay drehte sich zu dem Mann und der Maschine um. Draußen wurde es immer dunkler, und die Innenbeleuchtung verstärkte sich langsam. Sie zuckte die Achseln. »Jedenfalls könnte man es so einrichten, dass das nicht passiert … aber haltet ihr das nicht für eine wundervolle Idee? Warum sollten eine einzige alte Frau und eine Maschine imstande sein, mich aufzuhalten?«

»Nun«, meinte Chamlis, »ich kenne die Preashipleyl-Maschine, und wenn sie Ihre Idee für gut hielte, würde sie sie nicht einfach ignorieren. Sie besitzt eine Menge Erfahrung, und …«

»Ja«, bemerkte Yay, »zu viel Erfahrung.«

»Das ist unmöglich, junge Dame«, behauptete der Roboter.

Yay Meristinoux holte tief Atem. Es sah aus, als wolle sie heftig widersprechen, doch dann breitete sie nur die Arme aus, rollte die Augen gen Himmel und wandte sich wieder dem Fenster zu. »Wir werden sehen«, murmelte sie.

Bisher war es den ganzen Nachmittag über ständig dunkler geworden, doch plötzlich brach auf der anderen Seite des Fjords heller Sonnenschein durch die Wolken und den nachlassenden Regen. Der Raum füllte sich langsam mit einem wässerigen Leuchten, und die Hauslichter wurden wieder schwächer. Wind bewegte die Wipfel der tropfenden Bäume. »Ah!« Yay streckte den Rücken und bog die Arme. »Keine Bange.« Sie betrachtete die Landschaft draußen kritisch. »Teufel; ich laufe eine Runde!«, verkündete sie. An der Tür in der Ecke des Raums zog sie erst den einen, dann den anderen Stiefel aus, warf die Weste über einen Stuhl und knöpfte die Bluse auf. »Ihr werdet schon sehen.« Sie hob vor Gurgeh und Chamlis den Zeigefinger. »Schwebende Inseln – ihre Zeit ist gekommen.«

Chamlis schwieg. Gurgeh blickte skeptisch drein. Yay ging.

Chamlis sah aus dem Fenster zu, wie das Mädchen – jetzt nur noch mit Shorts bekleidet – den Pfad entlangrannte, der vom Haus durch Wiesen und Wald hinunterführte. Yay winkte einmal, ohne zurückzublicken, und verschwand zwischen den Bäumen. Chamlis ließ zur Antwort seine Felder flackern, obwohl Yay es nicht sehen konnte.

»Sie ist hübsch«, stellte er fest.

Gurgeh lehnte sich auf der Couch zurück. »Sie gibt mir das Gefühl, alt zu sein.«

»Oh, jetzt fang du nicht damit an, dich selbst zu bemitleiden.« Chamlis schwebte vom Fenster weg.

Gurgeh blickte auf die Steine des Kaminsockels nieder. »Mir kommt im Augenblick alles … grau vor, Chamlis. Manchmal glaube ich, ich fange an, mich selbst zu wiederholen, und auch neue Spiele seien nichts als verkleidete alte, und jedenfalls sei keines der Mühe wert.«

Chamlis tat etwas, das er selten tat. Er ließ sich mit seinem Gewicht auf die Couch niedersinken. »Gurgeh«, sagte er sachlich, »entscheide dich. Sprechen wir von Spielen oder vom Leben?«

Gurgeh warf den dunkellockigen Kopf zurück und lachte.

»Spiele«, fuhr Chamlis fort, »sind dein Leben gewesen. Wenn sie für dich allmählich an Reiz verlieren, kann ich mir schon vorstellen, dass du auch in jeder anderen Beziehung nicht besonders glücklich bist.«

»Vielleicht ist es bei den Spielen nichts als eine Ernüchterung.« Gurgeh drehte eine geschnitzte Figur in den Händen. »Früher war ich der Meinung, auf die Umgebung komme es nicht an, ein gutes Spiel sei ein gutes Spiel, und seine Regeln ließen sich perfekt von einer Gesellschaft auf die andere übertragen … Aber jetzt bekomme ich Zweifel. Nimm zum Beispiel Aufmarsch.« Er wies mit einem Nicken auf das Brett vor sich. »Es ist ausländisch. Irgendein Hinterwäldlerplanet hat es vor ein paar Jahrzehnten entdeckt. Die Leute spielen es dort, und sie schließen Wetten darauf ab; dadurch wird es wichtig. Aber was haben wir, das wir setzen könnten? Was hätte es für einen Sinn, wenn ich, sagen wir, Ikroh setzen würde?«

»Yay würde die Wette bestimmt nicht annehmen«, meinte Chamlis belustigt. »Sie findet, es regnet hier zu viel.«

»Aber verstehst du nicht? Wenn jemand ein Haus wie dieses haben wollte, hätte er sich bereits eins bauen lassen. Wenn er irgendetwas in diesem Haus haben wollte …«, Gurgehs Handbewegung bezog den ganzen Raum ein, »hätte er es bestellt und bekommen. Ohne Geld, ohne Besitz verschwindet ein Großteil des Vergnügens, das die Erfinder des Spiels ursprünglich daran gehabt haben.«

»Du nennst es ein Vergnügen, dein Haus, deine Titel, deinen Grundbesitz, vielleicht sogar deine Kinder zu verlieren, mit einer Schusswaffe auf den Balkon hinaustreten und dir das Gehirn aus dem Kopf blasen zu müssen? Das soll ein Vergnügen sein? So etwas gibt es bei uns nicht. Du wünschst dir etwas, das du nicht haben kannst, Gurgeh. Du genießt dein Leben in der Kultur, doch es versorgt dich nicht mit ausreichenden Bedrohungen. Der wahre Spieler braucht die Aufregung des möglichen Verlustes, sogar des Ruins, um sich richtig lebendig zu fühlen.« Gurgeh blieb stumm. Auf ihn fielen der Schein des Feuers und das weiche Licht der indirekten Beleuchtung. »Du hast dich ›Morat‹ genannt, als du deinen Namen vervollständigtest. Aber vielleicht bist du gar nicht der perfekte Spieler. Vielleicht hättest du dich ›Shequi‹ nennen sollen – den Wettenden.«

»Weißt du«, sagte Gurgeh langsam, und seine Stimme war kaum lauter als das Knistern des Holzes im Feuer, »ich habe tatsächlich ein bisschen Angst, gegen dieses junge Mädchen anzutreten.« Er streifte den Roboter mit einem Blick. »Es ist so. Weil ich es genieße zu siegen, weil ich etwas habe, das niemand kopieren kann. Ich bin ich. Ich bin einer der Besten.« Wieder sah er mit einem kurzen Blick zu der Maschine auf, als schäme er sich. »Aber hin und wieder mache ich mir doch Sorgen, ich könnte verlieren. Ich denke, wenn nun da draußen irgendein junger Mensch ist – jemand, der jünger und begabter ist als ich –, der fähig ist, mir das wegzunehmen. Das beunruhigt mich. Je größer mein Erfolg, desto schlimmer wird es, weil ich dann umso mehr zu verlieren habe.«

»Du bist ein Atavismus«, antwortete Chamlis. »Auf das Spiel kommt es an, auf den Spaß, nicht auf den Sieg. Das ist die konventionelle Weisheit, nicht wahr? Wer sich in der Niederlage eines anderen sonnt, wer diesen käuflich erworbenen Stolz nötig hat, zeigt nur, dass er von Anfang an unvollständig und unzulänglich war.«

Gurgeh nickte langsam. »So sagt man. So glaubt es jeder andere.«

»Aber du nicht?«

»Ich …« Der Mann hatte Schwierigkeiten, das richtige Wort zu finden. »Ich … frohlocke, wenn ich siege. Das ist besser als Liebe, besser als Sex oder irgendeine Drüsendroge. Nur in einem solchen Augenblick fühle ich mich …«, er schüttelte den Kopf, presste die Lippen zusammen, »… wirklich. Als mich selbst. In der übrigen Zeit … da komme ich mir ein bisschen wie dieser Ex-BU-Roboter vor, dieser Mawhrin-Skel, so, als sei mir irgendein … Geburtsrecht weggenommen worden.«

»Ah, darin besteht in deinen Augen eure Wesensverwandtschaft?« , fragte Chamlis kalt und zeigte die dazu passende Aura. »Ich habe mich schon gefragt, was du in dieser abstoßenden Maschine siehst.«

»Bitterkeit.« Gurgeh ließ sich wieder zurücksinken. »Das sehe ich in ihr. Zumindest hat das den Wert der Neuheit.« Er stand auf, stellte sich vor das Feuer, stocherte mit dem schmiedeeisernen Feuerhaken in den Scheiten herum, fasste mit einer schweren Zange ein weiteres Stück Holz und legte es ungeschickt auf.

»Wir leben nicht in einem heroischen Zeitalter«, teilte er dem Roboter mit, den Blick ins Feuer gerichtet. »Das Individuum gehört der Vergangenheit an. Darum ist das Leben für uns alle so bequem. Es kommt nicht auf uns an, deswegen sind wir sicher. Eine einzelne Person kann keine echte Wirkung mehr zeitigen.«

»Kontakt verwendet Individuen«, betonte Chamlis. »Man schickt Leute in jüngere Gesellschaften, und diese Leute haben eine dramatische und entscheidende Wirkung auf das Geschick ganzer Meta-Zivilisationen. Für gewöhnlich gehören sie nicht der Kultur an, sondern sind ›Söldner‹, aber sie sind menschlich, sie sind Leute.«

»Sie werden ausgewählt und benutzt. Wie die Figuren eines Spiels. Sie zählen nicht«, gab Gurgeh ungeduldig zurück. Er verließ den hohen Kamin, kehrte zur Couch zurück. »Außerdem bin ich keiner von ihnen.«

»Dann lass dich einlagern, bis ein heroischeres Zeitalter anbricht.«

»Brrr!« Gurgeh setzte sich wieder. »Falls jemals eines anbricht. Auf jeden Fall hätte das für mich zu viel Ähnlichkeit mit Betrügen.«

Der Roboter Chamlis Amalk-ney lauschte auf den Regen und das Feuer. »Nun«, erklärte er bedächtig, »wenn der Neuheitswert das ist, was du dir wünschst, ist Kontakt – ganz zu schweigen von BU – die Stelle, an die du dich wenden solltest.«

»Ich habe nicht die Absicht, mich bei Kontakt zu bewerben«, wehrte Gurgeh ab. »Mit einem Haufen von Hauruck-Weltverbesserern in einem Kontakt-Schiff eingesperrt zu sein und nach Barbaren zu suchen, die man belehren könnte, ist nicht meine Vorstellung von Vergnügen oder Erfüllung.«

»Das meine ich nicht. Ich meine, dass Kontakt über die besten elektronischen Gehirne, die meisten Informationen verfügt. Vielleicht kann man dir dort ein paar Ideen liefern. Jedes Mal, das ich mit den Leuten zu tun hatte, haben sie gute Arbeit geleistet. Sie stellen eine letzte Zuflucht dar, verstehst du.«

»Warum?«

»Weil sie listig sind. Hinterlistig. Sie sind ebenfalls Wetter und daran gewöhnt zu gewinnen.«

»Hmm.« Gurgeh strich seinen dunklen Bart. »Ich wüsste gar nicht, wie ich an sie herankommen sollte.«

»Kein Problem«, sagte Chamlis. »Ich habe meine eigenen Verbindungen; ich könnte …«

Eine Tür knallte zu. »Heilige Scheiße, ist es kalt da draußen!« Yay platzte in den Raum und schüttelte sich. Sie umschlang ihre Brust mit den Armen. Ihre dünnen Shorts klebten an ihren Schenkeln, sie zitterte am ganzen Körper. Gurgeh stand von seiner Couch auf.

»Kommen Sie hierher ans Feuer«, sagte Chamlis zu dem Mädchen. Yay stand bibbernd und triefend am Fenster. »Steh nicht herum«, wandte sich Chamlis an Gurgeh. »Hol ein Handtuch!«

Gurgeh maß die Maschine mit einem kritischen Blick. Dann verließ er den Raum.

Bis er zurückkam, hatte Chamlis das Mädchen überredet, sich vor das Feuer zu knien. Ein gekrümmtes Feld über ihrem Nacken hielt ihren Kopf der Wärme zugewandt, während ein anderes Feld ihr Haar bürstete. Wassertröpfchen fielen von ihren durchweichten Locken auf den Kaminsockel und zischten auf den heißen Steinen.

Chamlis nahm Gurgeh das Handtuch weg, und der Mann sah zu, wie die Maschine es über den Körper der jungen Frau bewegte. Er schüttelte den Kopf und setzte sich seufzend wieder auf die Couch.

»Deine Füße sind schmutzig«, sagte er zu dem Mädchen.

»Ah, aber es war schön zu laufen.« Yay lachte unter dem Handtuch hervor.

Unter viel Gepuste und Gepfeife und ›Brr-brr‹ wurde Yay abgetrocknet. Sie schlang das Handtuch um sich und setzte sich mit hochgezogenen Füßen auf die Couch. »Ich bin halb verhungert«, verkündete sie plötzlich. »Ist es dir recht, wenn ich mir etwas zu essen …?«

»Lass mich das machen«, erbot sich Gurgeh. Er ging durch die Tür in der Ecke und kam noch einmal kurz zurück, um Yays Wildlederhose über den gleichen Sessel zu drapieren, auf dem sie ihre Weste gelassen hatte.

»Worüber habt ihr gesprochen?«, erkundigte sich Yay bei Chamlis.

»Über Gurgehs Unzufriedenheit.«

»Hat es etwas genützt?«

»Das weiß ich nicht«, gestand der Roboter.

Yay griff nach ihren Kleidern und zog sich schnell an. Eine Weile saß sie vor dem Kamin und blickte ins Feuer, während das Tageslicht verblasste und das Licht im Raum anging.

Gurgeh kam mit einem Tablett, das voll beladen war mit Süßigkeiten und Getränken.

 

Nachdem Yay und Gurgeh gegessen hatten, setzten sich alle drei zu einem komplizierten Kartenspiel von der Art, die Gurgeh am liebsten mochte, einem, zu dem Bluff und ein kleines bisschen Glück gehörten. Mittendrin landeten Freunde von Yay und Gurgeh mit ihrem Luftfahrzeug auf dem Rasen vor dem Haus – Gurgeh wäre es lieber gewesen, sie hätten das nicht getan. Vergnügt lärmend und lachend kamen sie herein; Chamlis zog sich in eine Ecke am Fenster zurück.

Gurgeh spielte den guten Gastgeber und sorgte dafür, dass seine Gäste fortlaufend mit Erfrischungen versorgt wurden. Er brachte auch Yay ein frisches Glas. Sie hörte zusammen mit einer Gruppe von anderen zwei Leuten zu, die sich über das Bildungswesen stritten.

»Wirst du gehen, wenn die sich verziehen, Yay?« Gurgeh lehnte sich mit dem Rücken an den Wandbehang hinter ihm und senkte die Stimme ein bisschen, sodass Yay gezwungen war, sich von der Diskussion abzuwenden und ihm das Gesicht zuzukehren.

»Vielleicht«, antwortete sie langsam. Ihr Gesicht glühte im Feuerschein. »Du willst mich wieder darum bitten zu bleiben, nicht wahr?« Sie betrachtete die Flüssigkeit, die sie in ihrem Glas kreisen ließ.

»Oh«, Gurgeh schüttelte den Kopf und blickte zur Decke hoch, »das bezweifele ich. Es wird mir langweilig, die gleichen alten Züge und Gegenzüge durchzuexerzieren.«

Yay lächelte. »Man kann nie wissen. Eines Tages mag ich meine Meinung ändern. Du solltest dich nicht darüber ärgern, Gurgeh. Es ist beinahe eine Ehre.«

»Du hältst dich für eine solche Ausnahme?«

»Hmm.« Sie trank.

»Ich verstehe dich nicht«, sagte er.

»Weil ich dich abweise?«

»Weil du niemanden sonst abweist.«

»Jedenfalls nicht so hartnäckig.« Yay nickte, betrachtete stirnrunzelnd ihr Glas.

»Nun gut, warum willst du mich nicht?« So. Endlich hatte er es ausgesprochen.

Yay schürzte die Lippen. »Weil …«, sie blickte zu ihm hoch, »es für dich von Wichtigkeit ist.«

»Ah.« Er nickte, sah nach unten, rieb sich den Bart. »Ich hätte Gleichgültigkeit heucheln sollen.« Er sah ihr gerade ins Gesicht. »Wirklich, Yay.«

»Ich habe das Gefühl, du willst … mich nehmen«, erklärte Yay, »wie eine Figur, wie ein Feld. Als sei ich … dein Eigentum.« Sie wirkte plötzlich ganz verwirrt. »An dir ist etwas sehr … ich weiß nicht, Gurgeh, vielleicht etwas Primitives. Du hast nie das Geschlecht gewechselt, nicht wahr?« Er schüttelte den Kopf. »Oder mit einem Mann geschlafen?« Ein weiteres Kopfschütteln. »Das habe ich mir gedacht«, fuhr Yay fort. »Du bist wunderlich, Gurgeh.« Sie leerte ihr Glas.

»Weil ich mich nicht von Männern angezogen fühle?«

»Ja. Du bist doch ein Mann!« Sie lachte.

»Ich sollte mich also von mir selbst angezogen fühlen?«

Yay musterte ihn eine Weile. Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. Dann lachte sie und schlug die Augen nieder. »Nun, jedenfalls nicht körperlich.« Sie grinste ihn an und hielt ihm ihr leeres Glas hin. Gurgeh füllte es von neuem; Yay kehrte zu den anderen zurück.

Gurgeh überließ Yay der Diskussion über den Stellenwert der Geologie in der Bildungspolitik der Kultur und sprach Ren Myglan an, eine junge Frau, auf deren Besuch am heutigen Abend er gehofft hatte.

Einer der Leute hatte seinen Liebling mitgebracht, ein proto-intelligentes styglisches Zähltier, das im Raum herumtapste und mit seinem ein wenig fischigen Atem halblaut zählte. Das schlanke, dreibeinige Wesen mit seinen blonden Haaren und der hochsitzenden Taille hatte keinen erkennbaren Kopf, aber eine Menge bedeutungsvoller Ausbuchtungen. Es begann die Leute zu zählen; es waren dreiundzwanzig im Raum anwesend. Dann zählte es die Möbelstücke, worauf es sich auf Beine konzentrierte. Es kam zu Gurgeh und Ren Myglan gewandert. Gurgeh sah, dass das Tier seine Füße betrachtete und vage, schwankende, tatschende Bewegungen in Richtung seiner Slipper ausführte. Er stieß es mit dem Zeh an. »Macht sechs«, murmelte das Zähltier und wanderte davon. Gurgeh setzte sein Gespräch mit der Frau fort.

Nach ein paar Minuten, in denen er mit ihr geplaudert hatte und ihr hin und wieder näher gerückt war, flüsterte er ihr etwas ins Ohr, und ein- oder zweimal fuhr er ihr mit den Fingern über ihrem seidigen Kleid das Rückgrat hinunter.

»Ich möchte eigentlich mit den anderen weggehen«, sagte sie leise, schlug die Augen nieder, biss sich auf die Lippe und führte ihre Hand nach hinten, wo sie die seine, die ihr Kreuz streichelte, festhielt.

»Irgendeine langweilige Band, irgendein Sänger, der sich für alle produziert?«, schalt er sie liebevoll und nahm lächelnd seine Hand weg. »Sie verdienen eine individuellere Bemühung, Ren.«

Sie lachte leise, stieß ihn an.

Schließlich verließ sie den Raum und kam nicht wieder.

Gurgeh schlenderte zu der Stelle hinüber, wo Yay, wild gestikulierend, die Vorzüge eines Lebens auf schwebenden magnetischen Inseln darlegte. Dann entdeckte er Chamlis in seiner Ecke. Der Roboter ignorierte bemüht das dreibeinige Zähltier, das zu ihm hochstarrte und versuchte, einen seiner Auswüchse zu kratzen, ohne umzufallen. Gurgeh verscheuchte das Wesen und unterhielt sich eine Weile mit Chamlis.

Schließlich ging der ganze Haufen, Flaschen und ein paar eroberte Tabletts mit Süßigkeiten davontragend. Das Luftfahrzeug zischte in die Nacht hinaus.

Gurgeh, Yay und Chamlis beendeten ihr Kartenspiel; Gurgeh gewann.

»Ich muss jetzt gehen.« Yay stand auf und streckte sich. »Chamlis?«

»Ich auch. Ich werde mit Ihnen kommen; wir können uns einen Wagen teilen.«

Gurgeh brachte sie zum Aufzug. Yay knöpfte ihren Mantel zu. Chamlis erkundigte sich bei Gurgeh: »Möchtest du, dass ich bei Kontakt ein Wort fallen lasse?«

Gurgeh, der geistesabwesend die Treppe hinaufgeblickt hatte, die zum Haupthaus führte, sah Chamlis verwirrt an. Yay auch. »Ach so.« Gurgeh lächelte. Er zuckte die Achseln. »Warum nicht? Sehen wir mal, auf was für Ideen Leute kommen, die mehr verstehen als wir. Was habe ich zu verlieren?« Er lachte.

»Ich freue mich, dich glücklich zu sehen.« Yay küsste ihn leicht. Gefolgt von Chamlis trat sie in den Aufzug, und als die Tür sich schloss, zwinkerte sie Gurgeh zu. »Grüße Ren von mir«, sagte sie grinsend.

Gurgeh starrte eine Weile die geschlossene Tür an, dann lächelte er kopfschüttelnd vor sich hin. Er kehrte in den Gesellschaftsraum zurück, wo zwei ferngesteuerte Hausroboter aufräumten. Anscheinend war alles wieder da, wo es sein sollte. Gurgeh trat an das Spielbrett zwischen den beiden Couchen und rückte eine der Aufmarsch-Figuren in die Mitte ihres Start-Sechsecks. Dann sah er sich die Couch an, auf die Yay sich gesetzt hatte, nachdem sie von ihrem Lauf zurückgekommen war. Dort hob sich ein verblassender feuchter Fleck dunkel von dem dunklen Material ab. Zögernd streckte Gurgeh die Hand aus, berührte ihn, roch an seinen Fingern, musste über sich selbst lachen. Er nahm einen Schirm und ging nach draußen, um den Schaden zu begutachten, den der Rasen durch das Luftfahrzeug erlitten hatte, und kehrte ins Haus zurück, wo ihm ein Licht in dem gedrungenen Hauptturm verriet, dass Ren auf ihn wartete.

 

Der Aufzug fiel zweihundert Meter durch den Berg, dann durch den gewachsenen Fels darunter. Er verlangsamte, passierte eine Drehschleuse, senkte sich sacht durch den Meter ultradichten Basismaterials und hielt unterhalb der Orbitalplatte in einer Transitgalerie an. Dort warteten zwei Unterseite-Wagen. Die Außenschirme zeigten den Sonnenschein, der auf die Plattenbasis fiel. Yay und Chamlis stiegen in einen Wagen, sagten ihm, wohin sie wollten, und setzten sich. Das Gefährt löste sich aus seiner Befestigung, drehte sich und schoss davon.

»Kontakt?«, sagte Yay zu Chamlis. Der Boden des kleinen Wagens deckte die Sonne ab, und hinter den Seitenschirmen leuchteten scharf die Sterne. Der Wagen fegte an den Reihen lebenswichtiger, aber im Allgemeinen unentzifferbarer obskurer Ausrüstungen vorbei, die unter jeder Platte hingen. »Habe ich soeben den Namen des großen gütigen Buhmannes vernommen?«

»Ich schlug Gurgeh vor, Kontakt zu kontaktieren«, antwortete Chamlis. Er schwebte zu einem Schirm. Der Schirm löste sich, wobei er weiter den Blick nach draußen zeigte, und schob sich an der Wagenwand nach oben, bis der Bereich, den er eingenommen hatte, offen lag. Wo der Schirm ein Fenster imitiert hatte, war jetzt ein wirkliches Fenster, eine Scheibe aus transparentem Kristall, auf deren anderer Seite sich das harte Vakuum und der Rest des Universums befanden. Chamlis sah zu den Sternen hinaus. »Ich dachte mir, man könne dort ein paar Ideen haben – etwas, um ihn zu beschäftigen.«

»Ich habe geglaubt, du hütest dich vor Kontakt.«

»Das tue ich auch, im Allgemeinen. Aber ich kenne einige der Gehirne; ich habe immer noch meine Verbindungen … Ich traue ihnen schon zu, dass sie helfen könnten.«

»Ich weiß nicht«, meinte Yay. »Wir alle nehmen das schrecklich ernst; er wird darüber hinwegkommen. Er hat doch Freunde. Ihm wird nichts allzu Fürchterliches zustoßen, solange seine Kumpel in der Nähe sind.«

»Hmm«, machte der Roboter. Der Wagen hielt an einer der Aufzugröhren des Dorfes, in dem Chamlis Amalk-ney wohnte. »Werden wir Sie in Tronze sehen?«, erkundigte er sich.

»Nein, ich habe an diesem Abend eine Standortkonferenz«, antwortete Yay. »Und dann ist da ein junger Mann, den ich neulich beim Kriegsspiel kennen gelernt habe … Ich habe Vorsorge getroffen, dass ich heute Abend zufällig mit ihm zusammentreffe.« Sie grinste.

»Ich verstehe«, sagte Chamlis. »Sie verfallen in den räuberischen Modus, wie? Nun, viel Vergnügen bei dem zufälligen Zusammentreffen.«

»Ich werde mir Mühe geben«, sagte Yay lachend. Sie und der Roboter sagten sich auf Wiedersehen. Dann verließ Chamlis den Wagen durch die Schleuse. Sein altes, ein wenig verbeultes Gehäuse glänzte kurz in dem von unten kommenden Sonnenlicht auf. Er stieg die Aufzugröhre hoch, ohne auf eine Kabine zu warten. Dieser geriatrische Übermut entlockte Yay ein Lächeln und ein Kopfschütteln. Der Wagen fuhr wieder an.

 

Ren schlief weiter, halb von einem Laken zugedeckt. Ihr schwarzes Haar floss über das Kopfende des Bettes. Gurgeh saß an seinem gelegentlich benutzten Schreibtisch vor den Balkonfenstern und blickte in die Nacht hinaus. Der Regen hatte aufgehört, die Wolken hatten sich gelichtet und zerstreut. Jetzt warf das Licht der Sterne und der vier Platten auf der anderen, das Gleichgewicht haltenden Seite des Chiark-Orbitals – drei Millionen Kilometer entfernt und mit den Oberflächen im Tageslicht – einen silbrigen Schein auf die vorüberziehenden Wolken und ließ das dunkle Wasser des Fjords glitzern.

Gurgeh stellte das Lesegerät an, drückte seinen kalibrierten Rand ein paar Mal, bis er die ihn interessierenden Veröffentlichungen fand, las dann eine Weile. Es waren Artikel über die Spieltheorie von anderen anerkannten Spielern, Besprechungen von einigen ihrer Spiele, Analysen neuer Spiele und viel versprechender Anfänger.

Später öffnete er die Fenster und trat auf den runden Balkon hinaus. Die kühle Nachtluft berührte seine nackte Haut, und er erschauerte ein bisschen. Er hatte sein Taschenterminal mitgenommen und hielt die Kälte eine Weile aus, sprach zu den dunklen Bäumen und dem schweigenden Fjord, diktierte einen neuen Artikel über alte Spiele.