Die Wasserstoffsonate - Iain Banks - E-Book

Die Wasserstoffsonate E-Book

Iain Banks

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Beschreibung

Zurück zu den Anfängen der Kultur

Die ferne Zukunft: Die Menschheit hat sich in den letzten zehntausend Jahren in der Galaxis ausgebreitet. Künstliche Intelligenzen, denkende Raumschiffe und Mensch-Maschine-Wesen sind nun der Alltag in der sogenannten KULTUR. Doch wie hat all das einmal angefangen? Als die herrschende Elite einer alten Zivilisation komplett ausgelöscht wird, wird schnell eine Verdächtige präsentiert – doch Lieutenant Vyr Cossont ist unschuldig. Sie macht sich auf die Suche nach den Tätern und gerät in eine Verschwörung, die Tausende Jahre zurückreicht, bis in die Anfänge der KULTUR …

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Seitenzahl: 840

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Das Buch

Die Menschheit hat sich in den letzten zehntausend Jahren in der Galaxis ausgebreitet. Künstliche Intelligenzen, denkende Raumschiffe und Mensch-Maschine-Wesen sind nun der Alltag in der sogenannten KULTUR. Doch wie hat all das einmal angefangen? Als ein Botschafter von der alten Zivilisation der Zihdren von einem Raumschiff der Gzilt ausgelöscht wird, wird hastig nach einem Schuldigen gesucht. Der Botschafter hatte offenbar eine geheime Nachricht, nach der nun in den Weiten der Galaxis fieberhaft gesucht wird. Lieutenant Vyr Cossont wird mit den Nachforschungen beauftragt, und ein Misserfolg kommt nicht infrage, denn die Gzilt stehen kurz vor der Sublimation, einer Weiterentwicklung, die ihre gesamte Zivilisation betrifft. Also begibt sich Cossont auf die Suche nach der einzigen Person, die nicht nur die geheime Nachricht des ermordeten Zihdren-Botschafters kennt, sondern auch deren Bedeutung erklären kann – ein Geheimnis, das Tausende Jahre zurückreicht, bis in die Anfänge der KULTUR …

Der Autor

Iain Banks wurde 1954 in Schottland geboren. Nach einem Englischstudium schlug er sich mit etlichen Gelegenheitsjobs durch, bis ihn sein 1984 veröffentlichter Roman Die Wespenfabrik als neue aufregende literarische Stimme bekannt machte. In den folgenden Jahren schrieb er zahllose weitere erfolgreiche Romane, darunter Bedenke Phlebas, Exzession und Der Algebraist. Banks starb im Jahr 2013. Er gilt heute als einer der bedeutendsten Vertreter der britischen Gegenwartsliteratur.

Mehr zu Iain Banks und seinen Romanen erfahren Sie auf:

Iain Banks

Die Wasserstoffsonate

Roman

Aus dem Englischen vonAndreas Brandhorst

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der englischen Originalausgabe

THEHYDROGENSONATA

Deutsche Erstausgabe 08/2014

Redaktion: Rainer Michael Rahn

Copyright © 2012 by Iain M. Banks

Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-13142-5

www.diezukunft.de

In Gedenken an

Paul Gamble

und

Ronnie Martin

Mit Dank an Adèle, Tim, Les, Joanna und Nick

1

(S –24)

In den letzten Tagen der Gzilt-Zivilisation, vor ihrem seit langem geplanten Aufstieg zu etwas Besserem und den Feierlichkeiten, die diesen gloriosen Moment begleiten sollten, begegnete eines der letzten Gzilt-Schiffe einem fremden Raumschiff, dessen einzige Aufgabe darin bestand, einer sehr besonderen Person die Teilnahme an besagten Feiern zu ermöglichen.

Die beiden Schiffe trafen sich im Detonationsschatten eines planetaren Trümmerstücks namens Ablate, eines etwa dreitausend Kilometer langen und wie das Auge eines Tornados geformten Felsbrockens. Ablate war der Rest eines Planeten, der vor knapp zweitausend Jahren absichtlich zerstört worden war, bevor er der Supernova im Innern einer sich ausdehnenden Kugel aus Schutt, Gas und Strahlung zum Opfer gefallen wäre, in den brodelnden Wolken aus Feuer und Glut.

Der Felsbrocken selbst war alles andere als natürlich. Er schien wie aus einer runden Torte geschnitten; seine Spitze und einige Hundert Kilometer des schmaleren Abschnitts hatten ursprünglich aus dem metallischen Material bestanden, das den Kern des inzwischen nicht mehr existierenden kleinen Planeten gebildet hatte. Das breitere Ende, kreisförmig und mit einem Durchmesser von ein paar Hundert Kilometern, sah wie eine sanft gewölbte Kuppel aus und war Teil der kahlen felsigen Oberfläche des Planeten gewesen. Der Hyperraumantrieb hielt Ablate auf die Stoß- und Flammenfront gerichtet, wodurch die ursprüngliche Spitze und ein großer Teil der ihr folgenden Schichten aus metallischen Substanzen während der vergangenen neunzehn Jahrhunderte in der sich noch immer ausdehnenden Feuerwolke des explodierten Sterns abgeschabt, verbrannt und verdampft waren.

Die bunten Himmel von Ablate, geschaffen von den leuchtenden Gas- und Trümmerwolken der Supernova und dem langsamen Substanzverlust des Planetenfragments, boten einen der spektakulärsten Anblicke in der zivilisierten Galaxis, und deshalb spielte Ablate eine besondere Rolle für das Volk der Gzilt. Die Gzilt hatten diesen Teil des Planeten vor der Vernichtung bewahrt und ihn mit dem Sternenantrieb und den Feldprojektoren ausgestattet, die ihn stabil und – in der Mitte des Kreises, der einst zur Oberfläche des Planeten gehört hatte – bewohnbar hielten.

Das fremde Schiff war eine unregelmäßig geformte, unscharfe Ansammlung von dunklen Kugeln, mit einem Durchmesser von etwa hundert Metern an seiner Hauptachse. Der obere Teil empfing das Licht der leuchtenden Gaswolken, die von der Supernova ins All geschleudert worden waren, der untere ein mattes Glühen, das vom einzigen äußeren künstlichen Merkmal des planetaren Trümmerstücks stammte, einer überkuppelten Mulde, die mehrere Kilometer durchmaß und in der geborstenen, schattenlosen Oberfläche wie ein zu perfekter Krater anmutete. In der kalten, trockenen und luftleeren Wüste, die sie umgab, wirkte sie wie eine Oase voll Wärme, Feuchtigkeit und Atmosphäre. Unter dem aus mehreren dünnen Schichten bestehenden Schirmfeld erstreckten sich Parks und Seen, gesäumt von sorgfältig proportionierten Gebäuden und Bereichen mit üppiger, aber kontrollierter Vegetation von der Art, wie sie viele Humanoiden bevorzugten.

Das Gzilt-Schiff war viel größer als das andere. Es sah aus wie tausend Breitschwerter in der gen Himmel gestreckten Faust eines Gottes. Es durchquerte die wogenden Staub- und Gaswolken am Rand von Ablates kreisförmigem Abschnitt, erreichte die Mulde mit dem Schirmfeld und glitt zu der Ansammlung aus dunklen Kugeln, die das fremde Schiff darstellte. Dort verharrte es, über dem kleineren Raumschiff und der Kuppel, verdunkelte mit seiner aus zahlreichen Spitzen bestehenden Masse den Himmel voller leuchtender Supernovawolken.

Das kleinere Schiff wartete darauf, dass sich das größere mit ihm in Verbindung setzte, was höflich gewesen wäre, doch entsprechende Signale blieben aus. Daraufhin beschloss es, selbst einen Versuch der Kontaktaufnahme zu unternehmen.

~Ich grüße Sie. Ich bin das zihdren-überbleiberische zeremoniell-repräsentative Trägerschiff Begeisterte Sparsamkeit III. Sie sind, wenn ich mich nicht sehr irre, die gziltische UR-VWS8*Churkun. Es ist mir eine Ehre, hierher eingeladen worden zu sein und Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen.

~Das ist interessant, lautete die Antwort. ~Ein Zihdren-Überbleiber, wie? Ein zeremoniell-repräsentatives Trägerschiff, sagen Sie?

~In der Tat, das bin ich. Ist eigentlich offensichtlich.

~Eigentlich offensichtlich?

~Ja. Sowohl, wenn ich das sagen darf, in Hinsicht auf die äußere Form als auch in Bezug auf die nicht abgeschirmte Emissionssignatur.

~Noch einmal: interessant.

~Ja. Wenn Sie mir eine Bemerkung gestatten …

~Gestattet. Wir warten darauf.

~Sie scheinen – wie soll ich mich ausdrücken? – etwas weniger einladend und höflich zu sein, als ich, wie ich gestehen muss, erwartet habe und, wenn ich das hinzufügen darf, aufgrund der Umstände erwarten durfte, womit ich auch ein gewisses Übermaß an Förmlichkeit meine. Gehe ich recht in der Annahme, dass es einen besonderen Grund dafür gibt? Außerdem muss ich zur Kenntnis nehmen, dass auch die Krater-Anlage hier auf Ablate nicht meinen Erwartungen entspricht, denn ich bin davon ausgegangen, dass sie zumindest bemannt, wenn nicht im vollen zeremoniellen Empfangsmodus sein sollte, was aber offenbar nicht der Fall ist. Ich registriere weder biologische noch nicht biologische intelligente Wesen. Es gibt einige aktive Sub-KI-Substrate, aber mehr nicht … Mir ist natürlich klar, dass dies für die Gzilt eine besondere Zeit ist, mehr noch, eine einmalige Zeit, eine Zeit der Diskontinuität und, wie man annehmen kann, der stillen, aber zielstrebigen Vorbereitung und vielleicht auch Vorfreude. In einer solchen Situation wäre eine gewisse Förmlichkeit nicht ungewöhnlich, doch nichtsdestotrotz …

~Wie Sie schon sagten, es ist eine besondere Zeit. Eine Zeit, die ungebetene Gäste und unwillkommene Aufmerksamkeit in Gestalt von Leuten bringt, die es ausnutzen möchten, dass wir weniger werden und abgelenkt sind.

~… Wir haben gerade eine gewisse Signalstörung erlebt, oder zumindest eine Störung des Signalprotokolls, so unwahrscheinlich das auch sein mag … Nun, was die unwillkommene Aufmerksamkeit von Dritten betrifft, so muss ich sagen, dass diese bedauerlicherweise zu erwarten war. Die Vorbereitungen für die Sublimation bringen solche Konsequenzen mit sich, die aber zum Glück nicht sehr ins Gewicht fallen und mit denen jene, die ich die Ehre habe, hier zu vertreten, bestens vertraut sind. Die Zihdren …

~Es hat keine Signal- oder Protokollstörung gegeben, und es gibt sie auch jetzt nicht. Ich habe Ihre Kommunikation neutralisiert, und das mache ich auch jetzt.

~Ah. Dann habe ich mich also nicht geirrt. Nur um ganz sicher zu sein … Spreche ich mit dem Kommandanten der virtuellen Crew der 8*Churkun?

~Ja.

~Ah. Nun, Kommandant, offenbar hat unser Gespräch unter unharmonischen Voraussetzungen begonnen, was ich betrüblich finde. Dennoch hoffe ich, dass Sie meine Besorgnis – man könnte in diesem Zusammenhang sogar von Enttäuschung sprechen – angesichts der Tatsache verstehen, dass unsere Bekanntschaft an diesem Ort unter so ungünstigen Vorzeichen begonnen hat. Bitte sagen Sie mir, welchen Beitrag ich leisten kann, um unser Gespräch in freundlichere Bahnen zu lenken.

~Die Vorbereitungen für die Sublimation locken viele Parasiten an. Fremde Präsenzen, die davon profitieren wollen, dass wir die Sphäre des Realen verlassen, die hoffen, Schätze ergattern zu können … Sie warten auf eine günstige Gelegenheit.

~Ich verstehe. Natürlich weiß ich, wovon – und von wem – Sie reden. So verhielt es sich auch mit jenen, die zu repräsentieren ich die Ehre habe, Ihren geschmeichelten Mentoren und kaum erforderlichen zivilisatorischen Helfern, den Zihdren.

~Die Sie zu repräsentieren behaupten.

~Das behaupte ich tatsächlich. Es ist wirklich der Fall. Ich meine, ich repräsentiere sie wirklich. Das steht kaum zur Debatte. Meine Herkunft und …

~Dies ist ein Kriegsschiff.

~Eine weitere Unterbrechung. Ich verstehe.

~Ein Kriegsschiff.

~Offensichtlich. Lassen Sie mich darauf hinweisen, dass ich keinen Zweifel an Ihrer Schiffsklasse und dem martialischen Status hatte. Wir kennen den kontemporären Unbegrenzte-Reichweite-und-volle-Waffenstärke-Schiffstyp, dem Sie angehören.

~Es gab Veränderungen. Förmlichkeiten und Protokolle haben an Bedeutung verloren. Dieses Schiff ist vier Komma sechs Jahrhunderte alt und hat nie einen Schuss im Zorn abgegeben. Da die meisten unserer Art bereits fort sind und im Sublimen Vorbereitungen treffen, ist es unsere Aufgabe, die unterschiedlichen Bestandteile unseres baldigen Vermächtnisses vor jenen zu schützen, die sich mit den Früchten unserer Genialität und unserer Arbeit nach oben mogeln wollen, bis hin zu dieser Stelle, die wir ehrenhaft erreicht haben, ohne opportunistische Klauerei.

~Was Ihnen bestimmt hoch anzurechnen ist, kein Zweifel. Warten Sie! Meine Güte! Halten Sie mich vielleicht für so ein Schiff? Glauben Sie etwa, dass ich Teil der von Ihnen erwähnten primitiven und aggressiven Kräfte bin? Das ist gewiss nicht der Fall! Ich bin ein Zihdren-Überbleiber, das zeremoniell-repräsentative Trägerschiff Begeisterte Sparsamkeit III. Das sollte klar sein; ich habe nichts zu verbergen und bin völlig transparent, ohne irgendwelche Abschirmungen. Untersuchen Sie mich ruhig. Mein lieber Kollege, wenn Sie Hilfe bei der Konfrontation mit denen möchten, die versuchen, Ihr Vermächtnis zu stehlen, so brauchen Sie nur zu fragen! Ich stelle gewissermaßen eine Verbindung zu jenen dar, die immer nur das Beste für Sie wollten und sie …

~Zur Tarnung besagter Entitäten gehört es, sich als andere Schiffe und Personen auszugeben. Nach meiner Einschätzung ist genau das bei Ihnen der Fall. Wir haben Sie sondiert und festgestellt, dass Sie etwas an Bord haben, das vor unseren ehrlichen Augen ganz und gar abgeschirmt ist.

~Was? Mein lieber Kommandant, Sie können doch nicht einfach nur »schätzen«, dass ich Ihnen eine falsche Identität vorgaukle! Das ist absurd! Und was das eine voll abgeschirmte Substrat in mir betrifft … Dabei handelt es sich um meine Fracht, die aus genau einem zeremoniellen Gast besteht, unserem einen humanoiden Ausdruck des Respekts, von den Gzilt eingeladen und erwartet, um die bevorstehende Sublimation zu feiern! Natürlich überbringt diese Entität den Gzilt eine Botschaft vom Zihdren-Überbleiber, in die ich nicht eingeweiht bin! So etwas kann doch nicht seltsam, ohnegleichen oder besorgniserregend sein, oder? Die Gzilt haben über Jahrtausende hinweg an den relevanten diplomatischen Protokollen teilgenommen, ohne auch nur einmal zu klagen. Ein winziges Fragment des Realen möchte Ihnen Lebewohl sagen und repräsentiert gleichzeitig jene, die Sie mehr als alle anderen im Sublimen willkommen heißen!

~Es gibt hier List und Täuschung. Etwas ist verborgen. Wir sehen es, auch wenn Sie selbst es nicht sehen können.

~Wovon reden Sie da? Es tut mir leid. Ich habe genug hiervon. Ihr Verhalten und Benehmen geht weit über das des vorsichtigsten und wachsamsten Kriegsschiffes hinaus und überschreitet, ehrlich gesagt, die Grenze zur Paranoia. Ich ziehe mich zurück. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden … Leben Sie wohl.

~Geben Sie die in Ihrem abgeschirmten Substrat enthaltenen Informationen frei.

~… Haben Sie mich mit einem Signalschild umgeben? Ist Ihnen klar, welche Konsequenzen das haben könnte?

~Geben Sie die in Ihrem abgeschirmten Substrat enthaltenen Informationen frei.

~Ich kann nicht. Von allen anderen Dingen einmal abgesehen, es gibt da gewisse diplomatische Gepflogenheiten …

~Geben Sie die in Ihrem abgeschirmten Substrat enthaltenen Informationen frei.

~Ich habe es schon beim ersten Mal verstanden, herzlichen Dank! Und ich kann nicht und will nicht. Wie können Sie es wagen! Wir sind Ihre Freunde! Neutrale Beobachter wären angesichts eines solchen Verhaltens entsetzt und empört! Jene, die sich seit langer Zeit für Ihre Freunde und Verbündete halten …

~Geben Sie die in Ihrem abgeschirmten Substrat …

~Sehen Sie? Auch ich kann unterbrechen! Ich weigere mich, Ihrer Forderung nachzugeben. Deaktivieren Sie unverzüglich den Signalschild, der mich umgibt. Und sollten Sie weitere Versuche unternehmen, mich an der Kommunikation mit …

~… enthaltenen Informationen frei.

~Dies ist unerhört! Haben Sie … Sind Sie verrückt? Ihnen muss doch klar sein, mit wem Sie sich hier anlegen! Ich repräsentiere die Zihdren-Überbleiber, Sie Irrer! Die anerkannten und voll akzeptierten Erben der sublimierten Zihdren, die für Ihre Spezies fast die Bedeutung von Göttern haben. Ich spreche von den Geschöpfen, die nach dem Buch der Wahrheit Ihre spirituellen Vorfahren sind! Ich muss Sie warnen. Zwar bin ich im Großen und Ganzen unbewaffnet, doch ich verfüge durchaus über Ressourcen, die …

~Geben Sie die in Ihrem abgeschirmten Substrat enthaltenen Informationen frei.

~Also gut. Bis dann. Aus und Ende.

~Geben Sie die in Ihrem abgeschirmten Substrat enthaltenen Informationen frei.

~… Deaktivieren Sie auf der Stelle den Signalschild! Und hören Sie sofort auf, meine Triebwerksfelder zu blockieren! Ich beabsichtige, ungeachtet Ihrer Blockadeversuche, ein Hochbeschleunigungsmanöver mit maximaler Energie einzuleiten, und alle Schäden, die dadurch bei mir und bei Ihnen entstehen, sind allein Ihre Verantwortung, nicht meine! Die Zihdren-Überbleiber und die Zihdren selbst werden von diesem Akt der Barbarei erfahren; machen Sie es nicht noch schlimmer für sich!

~Geben Sie die in Ihrem abgeschirmten Substrat enthaltenen Informationen frei.

~… Dass Ihre völlig ungerechtfertigte Barbarei nicht gerade zur Explosion meiner Triebwerkskomponenten geführt hat, verdanke ich mehr meinem ausgeprägten Geschick als Ihrer brutalen Verwendung überwältigender Energie. Ich bin, wie uns beiden inzwischen klar sein dürfte, praktisch hilflos. Dies ist das Ergebnis einer Situation, die Ihnen keine Ehre erweist, glauben Sie mir. Zu meinem großen Bedauern und unter erheblichem Protest, sowohl persönlicher als auch förmlicher Natur, muss ich fragen: Wenn ich die im abgeschirmten Substrat enthaltenen Informationen tatsächlich freigebe, sind Sie dann bereit, den Signalschild zu deaktivieren und die Störung meiner Triebwerksfelder zu beenden, damit ich sowohl kommunizieren als auch beschleunigen kann?

~Geben Sie die in Ihrem abgeschirmten Substrat enthaltenen Informationen frei.

~Kann ich dann kommunizieren und diesen Ort verlassen?

~… Ja.

~Na schön. Hier.

~Untersuchung abgeschlossen. Dies sind die Ergebnisse.

~… Interessant, könnte man sagen. Ich verstehe. Damit hätte ich nicht gerechnet. Mir ist jetzt klar – ebenso wie Ihnen, nehme ich an –, warum der Substratinhalt einer gewissen Geheimhaltung unterlag. Zwar obliegt es nicht meiner Verantwortung, in dieser Hinsicht irgendeinen Kommentar abzugeben, doch wenn ich eine persönliche Meinung äußern darf: Besagter Inhalt stellt eine Art Rechtfertigung dar. Diese Worte sind durchaus ein Eingeständnis; man könnte sie sogar Beichte nennen. Mir leuchtet ein, dass solche … Abrechnungen oft Teil des Vorgangs der Sublimation von Spezies und Zivilisationen sind. Angelegenheiten werden geregelt, unter bestimmte Dinge wird ein Strich gezogen. Doch wie dem auch sei, meine Mission bestand allein darin, die zeremonielle Gastperson zu befördern; vom Kontext, von Inhalt, Substanz und Bedeutung der Nachricht hatte ich keine Ahnung. Dementsprechend bin ich der Ansicht, meinen Verpflichtungen nachgekommen zu sein, wenn auch unter sehr ungewöhnlichen und schwierigen Umständen, weshalb ich um die Erlaubnis bitte, meinen Auftraggebern diese unerwartete Wende der Ereignisse mitzuteilen, mich aus dem Raumgebiet der Gzilt-Jurisdiktion zurückzuziehen und weitere Anweisungen abzuwarten. Ich habe mich an unseren Teil der Abmachung gehalten und alle Informationen in meinem abgeschirmten Substrat freigegeben. Darf ich Sie jetzt ersuchen, Ihr Versprechen einzulösen, mich vom Signalschild zu befreien und damit aufzuhören, meine Triebwerksfelder zu destabilisieren?

~Nein.

Das Gzilt-Schiff 8*Churkun – ein Kriegsschiff bis auf den Namen – hielt das kleinere Schiff praktisch unter sich fest, als es das Feuer mit mittlerer Energie aus zwei Nahbereich-Plasmakammern eröffnete, nicht nur auf das kleine Schiff, sondern auch auf die von einem blauen, gestaffelten Schirmfeld geschützte Anlage in der Kratermulde. Beide Ziele wurden vernichtet.

Der Waffenimpuls war so stark, dass er bis in eine Tiefe von mehreren Kilometern reichte und praktisch einen hundert Meter breiten Schacht ins Felsgestein des Planetenfragments brannte. Ein Geysir aus Magma spritzte rings um die äußeren Schutzfelder des Schiffes hoch, als der Schacht kollabierte. Dem schnell abkühlenden Regen aus geschmolzenem Gestein folgten die pulverisierten, atomaren Trümmer des Zihdren-Überbleibers und der zerstörten Kraterstation; sie bildeten eine gemeinsame Wolke, die dem bunten Himmel über Ablate entgegenstrebte.

Einige größere Brocken aus der Kuppel, die sich über dem Krater gewölbt hatte, flogen zum nahen Horizont und leuchteten kurz auf, als sie in einem Vorhang aus Feuer verschwanden.

Tief unter der geschundenen Oberfläche registrierten automatische Systeme die Explosion und die davon verursachte geringfügige Flugbahnveränderung; sie nahmen eine Kurskorrektur vor.

Wo es eine kleine blaue Oase voller Licht und Leben gegeben hatte, erstreckte sich jetzt ein größerer und tieferer Krater, der von seiner brodelnden Mitte bis zum schorfigen Rand weiß, gelb und rot glühte. Als die Krateroberfläche weit genug abgekühlt war, um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie sie nach endgültiger Verfestigung aussehen würde, war die 8*Churkun längst verschwunden.

Vom anderen Schiff zeigten sich nur noch einige bereits verblassende neue Farbschlieren am bunten Firmament von Ablate.

2

(S –23)

Als die Sonne über der Ebene von Kwaalon unterging, spielte Vyr Cossont – beziehungsweise Lieutenant Commander (Reserve) Vyr Cossont – auf einer dunklen, hohen Terrasse des schwarzen architektonischen Konglomerats, das ein relativ winziger Teil des Äquatorialbereichs der Gürtelstadt von Xown war, T. C. Vilabiers 26. Streichspezifische Sonate Für Ein Noch Zu Erfindendes Instrument, Katalognummer MW 1211, und zwar auf einem der wenigen noch existierenden Exemplare jenes Musikinstruments, das extra für eben diese ausgesprochen schwierige Sonate entwickelt worden war, nämlich einer körperresonanten Antagonistischen Hendekagonsaite, auch schlicht Elfsaite genannt.

T. C. Vilabiers 26. Streichspezifische Sonate Für Ein Noch Zu Erfindendes Instrument, Katalognummer MW 1211, war vor allem unter der Bezeichnung »Die Wasserstoffsonate« bekannt.

Bei der Elfsaite handelte es sich um ein akustisches Instrument – für gewöhnlich mit einem Bogen gespielt, gelegentlich auch gezupft – von beträchtlichem Alter und beeindruckender Größe. Sie war mehr als zwei Meter hoch, einen breit und anderthalb tief. Der Spieler saß sowohl auf als auch in ihr; ein kleiner Sattel war für ihn bestimmt, Teil des unteren Hohlraums, um den sich der Rest des Instruments wölbte wie ein großer, deformierter Ring. Mit beiden Beinen formte der Spieler zwei Drittel des Dreibeins, das die Elfsaite stützte. Das letzte Drittel bestand aus einem Holm, der wie ein nicht besonders eleganter Gehstock aus dem unteren Ende ragte.

Die ersten Versionen dieses sehr speziellen Musikinstruments waren aus Holz gefertigt worden; bei späteren Ausführungen hatte man Kunststoff, Metall, gewachsene Schalen und künstliche Knochen verwendet. Das Exemplar im Besitz von Vyr Cossont bestand zum größten Teil aus Kohlefaser, für lange Zeit das traditionelle, am weitesten verbreitete Material.

Cossont erreichte das Ende einer besonders schwierigen Passage des Stücks und legte eine Pause ein. Sie streckte den Rücken, bewegte die schmerzenden Füße in den Pantoffeln – die Elfsaite verlangte, dass der Spieler mit zwei kleinen Pedalen die Spannung der Saiten veränderte, während die Hacken das Gewicht von Spieler und Instrument balancierten – und legte die beiden Bögen des Instruments vor den kleinen Sattel, auf dem sie saß.

Sie beobachtete den Himmel über der Terrasse, wo sich am dunkler werdenden Blau des Abends einige rosarote und orangefarbene Wolkenstreifen abzeichneten. Zwei Kilometer weiter unten lag die Ebene von Kwaalon bereits in schwarzer Nacht – nicht ein Licht zeigte sich zwischen der letzten schrägen Klippe der Gürtelstadt und dem fernen flachen Horizont. Ein kühlender Wind wehte über die Terrasse, seufzte in den Geländerdrähten und pfiff um Cossonts Flieger, der dreißig Meter entfernt auf einem Dreibein ruhte, und ließ die junge Frau frösteln, denn sie trug nur eine dünne Hose und eine leichte Jacke.

Sie strich eine vom Wind gelöste Haarsträhne aus den Augen und blickte sich weiter um. Etwa einen Kilometer entfernt deutete ein Fleck auf einen Vogelschwarm hin, vermutlich begleitet von ihrem verspielten Intimus Pyan. Cossont strengte ihre Augen an, brachte sie auf maximale Vergrößerung und fühlte dabei, wie kleine Muskeln Einfluss auf die Linsen in jedem Auge nahmen, während andere Filamente die Form der Foveae veränderten. Waren es Vögel? Und gehörten sie zur richtigen Art? Doch die Entfernung war zu groß. Vielleicht gab es in dem Schwarm ein dunkles Geschöpf, das etwas größer war als die anderen, vielleicht auch nicht. Und selbst wenn ein solches Individuum existierte: Vielleicht handelte es sich nur um einen größeren Vogel, den die anderen mieden.

Vermutlich hätte sie ein lokales System um Auskunft bitten können. Es war durchaus denkbar, dass mehrere der Vögel über Erweiterungen verfügten oder ganz und gar künstlich waren – in dem Fall hätte Cossont sie nach dem Verbleib ihres Intimus fragen können. Doch in letzter Zeit hatte sie sich daran gewöhnt, dass solche Systeme entweder gar nicht oder nur teilweise funktionierten; das schien für alle Systeme der Gzilt-Zivilisation zu gelten, wo auch immer sie sich befanden. Und überhaupt, Cossonts Interesse war nicht groß genug für eine entsprechende Nachfrage. Außerdem hatte es kaum einen Sinn, in solchen Momenten mit Pyan reden zu wollen; er war sein eigener Herr und gehörte ihr nicht. Manchmal fragte sie sich, ob er überhaupt die Bezeichnung Freund verdiente.

Sie seufzte, streckte die Arme und schüttelte alle vier Hände, als wollte sie sie von etwas Klebrigem befreien.

Erneut beugte sie den Rücken, der während der letzten Viertelstunde steif geworden war, als sie den sehr anspruchsvollen Mittelteil der Wasserstoffsonate gespielt hatte. Vorsichtig stand sie auf, hielt sich dabei mit einer Hand am Hals der Elfsaite fest, nahm die beiden Bögen mit einer anderen, strich sich mit der dritten übers Haar und bohrte mit einem Finger der vierten in ihrer Nase.

Ein Spieler mit vier Händen kam am besten mit der Elfsaite zurecht. Sie konnte auch von zwei Personen gespielt werden, obwohl das ein hohes Maß an Koordination und manchmal auch komplizierte Fußarbeit erforderte. Fast alle für die Elfsaite geschriebenen Stücke, unter ihnen die Wasserstoffsonate, ließen sich auch von einem Streichtrio sowie zwei angemessen gestimmten Bässen spielen. Doch die berühmteste Komposition Vilabiers des Jüngeren verlangte die akustische Antagonistische Hendekagonsaite für vier Hände und einen einzelnen, sehr geschickten Instrumentalisten.

Die Elfsaite war, wie auch die Wasserstoffsonate, kaum in angemessener Weise zu spielen, von perfekt ganz zu schweigen. Aber das eine erforderte das andere, und die Sonate war auf der großen Antagonistischen Hendekagonsaite gespielt worden, wenn auch nur einige wenige Male in fast einem Millieon. Was Cossont besonders ärgerte: Es gab sogar Aufzeichnungen, die bewiesen, dass das unmöglich Scheinende tatsächlich bewerkstelligt werden konnte.

Vyr Cossont galt als begabte Instrumentalistin, und man sagte ihr ein besonderes Feingefühl für alte Streichinstrumente nach – sie hatte zu den fünf besten Volupt-Spielern der Gzilt gehört und war jetzt die Eine, die Beste, wenn auch nur deshalb, weil die anderen vier in der Einlagerung auf die Sublimation warteten. Doch allmählich geriet sie in Verzweiflung, denn sie befürchtete, ihr selbst gewähltes Lebenswerk nicht mehr vollenden zu können, bevor ihre ganze Zivilisation die Existenz im Realen beendete und sie zusammen mit allen anderen, die sie kannte und schätzte, in den metaphorischen Himmel des Sublimen aufstiegen. Die Wasserstoffsonate einmal ganz zu spielen, jede Note korrekt und ohne eine einzige Pause, abgesehen von den wenigen Unterbrechungen, die vor dem Beginn neuer Tonfolgen nötig waren … Darin bestand Cossonts Lebensaufgabe. Dies klang nur einfach, wenn man nichts von der Sonate oder der Elfsaite wusste. Inzwischen sehnte Vyr Cossont die Sublimation herbei, da sie sich Erlösung davon versprach.

Nur noch dreiundzwanzig Tage trennten sie vom großen Moment. Noch dreiundzwanzig Tage, um vor der Letzten Umarmung – oder wie es die Leute gerade nannten – all die anderen Dinge zu tun, die sie immer hatte tun wollen, und trotzdem den Sieg über die komplizierte Sonate und das für sie bestimmte Instrument zu erringen.

Cossont glaubte nicht mehr daran, dass sie es schaffen würde. Sie spielte sogar mit dem Gedanken, aufzugeben und auf jene zu hören, die behaupteten, dass Lebensaufgaben nicht unbedingt erfüllt werden mussten, sondern in erster Linie dazu dienten, die Zeit zu vertreiben. Nach Ansicht dieser Leute waren alle Aufgaben, Ziele und Ambitionen letztendlich bedeutungslos.

»Flieger …«, sagte sie, betrachtete die Kuppe eines Fingers und leckte ab, was sie darauf entdeckte. Mit derselben Hand rieb sie sich anschließend den Rücken. »… ist Pyan bei den Vögeln dort?« Sie deutete in die entsprechende Richtung.

Der zweisitzige Flieger, eine klobige kleine Maschine mit Stummelflügeln, zeigte sein Erwachen, indem er die Lichter an der offenen Cockpithaube aufleuchten ließ. »Ja«, kam die Antwort aus der Ohrkapsel. »Soll ich ihn hierher rufen?«

»Noch nicht.« Cossont seufzte erneut. »Kannst du ihm deine du weißt schon was schicken, die kleine …«

»Meine Minidrohne?«

»Genau. Behalte ihn damit im Auge. Falls er nicht hört, wenn wir …« Sie unterbrach sich, neigte den Körper von einer Seite zur anderen und streckte ihn. Dann schüttelte sie erneut zwei ihrer Hände, schob die beiden Bögen der Elfsaite unter einen Arm und versuchte, die im Wind tanzenden Haarsträhnen wieder unters Band zu stecken. »Wetter?«, fragte sie, als sich in der dorsalen Wölbung des Fliegers eine Luke öffnete, aus der eine winzige Version der Maschine hervorkam, sich in der Luft schwebend orientierte und dann dorthin sauste, wo Cossont zuvor den Vogelschwarm gesehen hatte. Für einige Sekunden war die Minidrohne im schwachen Licht zu sehen, das von den oberen Bereichen der Gürtelstadt reflektiert wurde – einige Hundert Kilometer der nächsten horizontalen Stadtsektionen glänzten im Sonnenschein wie ein gewaltiges Filigranwerk aus Gold und Silber am Himmel.

»Es wird kühler, um ein Grad in fünfzig Minuten«, sagte der Flieger. »Wind aus unterschiedlichen Richtungen, nimmt zu bis auf durchschnittlich achtzehn Stundenkilometer, mit Böen von bis zu fünfundzwanzig, auf Westnordwest drehend.«

Cossont runzelte die Stirn und schaute über die weite Ebene hinweg nach Nordwesten, wo sich eine dunkle Berglinie zeigte. Dann kehrte ihr Blick zu den gewölbten Klippen der Gürtelstadt zurück. Das gewaltige Gebilde war eine steil aufragende Ansammlung aus halb exotischen Metallrohren, Verkleidungen, geschwungenen und gebogenen Wänden aus synthetischem Stein, Diamantfilm-Fenstern und weiten Filigranen aus pechschwarzen Kabeln – all das ragte mehr oder weniger senkrecht empor, bis hin zu zweihundert Kilometern hohen Gipfeln, die von Horizont zu Horizont und bis ins All reichten. Cossont machte etwas, das sie sich bei ihren früheren Besuchen der Gürtelstadt nicht gestattet hatte: Sie stand einfach nur da und beobachtete, hielt nach Bewegungen Ausschau. Es gab keine. In letzter Zeit waren sie selten geworden. Manchmal kam sich Vyr Cossont wie die einzige noch lebende Person auf einer Welt vor, deren Bewohner sich alle in die Einlagerung zurückgezogen hatten.

Zwischen den unterschiedlichen lokalen Komponenten der Gürtelstadt sah sie den Himmel und Wolken auf der anderen Seite des kolossalen Artefakts, etwa fünfzig Kilometer entfernt. Im Süden war der Himmel heller, und die Wolken wirkten dort dünner, faseriger. Das Maß der Offenheit – die Teile der Stadt, die Öffnungen aufwiesen – betrug hier etwa fünfzig Prozent, was dem Wind Gelegenheit gab, geradewegs hindurchzuwehen.

»Es könnte klappen«, murmelte Cossont.

Erneut rieb sie sich den Rücken. Normalerweise besaßen Gzilt die für Humanoiden übliche Anzahl von Armen – zwei, nach der allgemeinen Konvention –, und die Veränderungen, die nötig gewesen waren, um Cossont mit zwei weiteren auszustatten, bescherten ihr zwar zusätzliche Geschmeidigkeit und Flexibilität, führten aber auch zu Verkrampfungen in der Wirbelsäule, wenn sie zu lange in einer Position verharrte.

»Was dagegen, wenn ich wieder schlafe?«, fragte der Flieger.

»Nein, schlaf ruhig«, sagte Cossont und winkte, betrachtete dabei die Regler und Einstellknöpfe der Elfsaite. »Warte, bis ich dich brauche. Fahre auch die Kommunikation herunter«, fügte sie hinzu und klickte auf die Ohrkapsel, mit der sie die betreffenden Implantate kontrollierte.

Wieder allein und von Stille umgeben, als der Wind aufhörte, zögerte Cossont einen Moment. Sie blickte zum blauschwarzen Himmel hoch, mit all den kleinen Lichtern von Sternen und Satelliten, und fragte sich, wie die Sublimation sich anfühlen mochte und wie die »andere Seite« beschaffen war, an deren Existenz zwar nicht der geringste Zweifel bestand, die aber dennoch ein Geheimnis blieb.

Die Gzilt lebten seit Jahrhunderten und vielen Generationen mit der Idee des Sublimen. Zuerst hatten nur einige wenige Personen es für eine gute Idee gehalten, aber im Lauf der Zeit waren es immer mehr geworden. Schließlich gab es so viele Befürworter, dass die Sache wirklich funktionieren konnte – für eine Sublimation brauchte man viele Leute, vorzugsweise eine ganze Zivilisation.

Rein theoretisch konnte auch ein Individuum sublimieren, aber konkret schlugen nur einzelne KIs diesen Weg mit Erfolg ein, denn nur eine komplexe und selbstreferenziell perfekte, hoch entwickelte KI brachte den notwendigen inneren Zusammenhalt für die Sublimation mit; ein normales biologisches Individuum war dazu nicht imstande, denn es löste sich einfach auf. Es war keine völlige Vernichtung, keine Annihilation – alle mitgenommenen Informationen blieben erhalten –, aber die Person als funktionierende, identifizierbare und markante Entität hörte auf zu existieren. Zivilisationen – und die Personen, aus denen sie bestanden – blieben von Bestand und erblühten im Sublimen über galaktisch signifikante Zeiträume, veränderten sich dabei allerdings über die Grenzen dessen hinaus, was sich begreifen und verstehen ließ.

Dazu wäre es allerdings ohnehin gekommen, auch wenn die betreffenden Zivilisationen beschlossen hätten, im Realen zu bleiben. Doch das Sublime bot um Größenordnungen mehr Stabilität als die Sphäre von Materie und Energie, darin waren sich alle Forscher, Statistiker und sonstigen Fachleute einig.

Cossont seufzte. Sie hatte keine Ahnung, warum sie zum Himmel hochsah und über dies alles nachdachte. Das Sublime war überall, vergleichbar mit gewissen Vorstellungen von Gott. Sie betrachtete das Ende eines Fingers, der zur Hand eines Oberarms gehörte. Die Kuppe war schwielig vom Spiel auf der Elfsaite; das Sublime konnte ebenso gut in dieser verhärteten Haut zu Hause sein wie oben am Himmel.

Verpackt, eingerollt und komprimiert in Dimensionen jenseits der Dimensionen, die man kannte und mit denen man vertraut war – dort befand sich das Sublime, durch Irrgärten voll rechtwinkliger Abzweigungen von der normalen, dreidimensionalen Realität getrennt, in der Cossont auf einer hohen Plattform stand und darüber nachdachte.

Es war ihr schwer genug gefallen, die vierte Dimension des Hyperraums zu verstehen, ganz zu schweigen von den nächsten drei oder vier, die irgendwie das Reale umfingen und es den darin eingebetteten Universen ermöglichten, von der Universen erzeugenden Singularität im Zentrum des Seins aufzusteigen und entweder einen immensen kosmischen Krapfen zu umkreisen und zum Ausgangspunkt zurückzukehren, wo Kompression und Wiedergeburt warteten, oder in das einzugehen, was dieses unglaubliche Ultrauniversum umgab.

Das Sublime erstreckte sich in Dimensionen jenseits davon: unvorstellbar mikroskopisch, unfassbar weit entfernt und gleichzeitig überall. Es war eingewoben in die Struktur der Raumzeit, nicht in Form von einzelnen Fasern des metaphorischen Gewebes oder ihren kleinsten Fäden, auch nicht in Form ihrer Moleküle, Atome oder subatomaren Partikel, sondern wie die superwinzigen Strings, aus denen alles Existierende besteht. In den Dimensionen sieben bis elf, dort erstreckte sich das Sublime.

Das war natürlich der Grund, warum die Elfsaite elf Saiten hatte. Ihr Entwicklungskonzept reichte zehntausend Jahre zurück, aber schon damals hatten wache Köpfe die überdimensionalen Zusammenhänge zumindest erahnt, und kreative Künstler waren bestrebt gewesen, die entsprechenden Erkenntnisse in ihren Arbeiten, darunter musikalische Kompositionen, zu berücksichtigen. Cossont wusste noch immer nicht, was die bis zu dreizehn inneren zusätzlichen Saiten zu bedeuten hatten, die außerordentlich schwer zu stimmen waren. Dass die Elfsaite mehr Saiten besaß, als man aufgrund ihres Namens annehmen konnte, passte zu dem unhandlichen, obstruktiven Charakter der Antagonistischen Hendekagonsaite.

Der Wind frischte auf und wehte über die Plattform. Einige Haare fielen Cossont ins Gesicht; sie schob sie unters Band zurück.

Achtzehn Arten von Wetter. Von all den Dingen, die sie während der vielen Erklärungsversuche über das Sublime gehört hatte, war ihr nur dieses eine Detail in Erinnerung geblieben. Es gab dort achtzehn Wetter, nicht nur eins. Was das wirklich bedeutete und ob es dem Realen gegenüber eine Verbesserung darstellte, wusste sie nicht.

Sie atmete mehrmals tief durch und bereitete sich darauf vor, erneut in dem Instrument Platz zu nehmen und das Spiel fortzusetzen, fühlte sich aber noch nicht ganz dazu bereit. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu der Begegnung früher am Abend zurück, kurz nachdem der Flieger sie von ihrem Apartment in einem zweitausend Kilometer entfernten und noch bewohnten Teil der Gürtelstadt hierher gebracht hatte, zur Plattform über der Kwaalon-Ebene, wo sich im Umkreis von Dutzenden Kilometern vermutlich sonst niemand aufhielt.

Cossont zog Einsamkeit vor, wenn sie die Elfsaite spielte.

Noch vor dem Öffnen der Cockpithaube hatte Pyan Vögel in der Ferne bemerkt und um Erlaubnis gebeten, mit ihnen zu spielen.

Sie hatte geseufzt und zugestimmt, woraufhin sich das um Hals und Schultern gewickelte Geschöpf von ihr gelöst hatte und davongeflogen war. Anschließend hatte Cossont die Elfsaite aus dem Passagierabteil geholt und geöffnet, es sich aber aus einer Laune heraus anders überlegt und den Flieger angewiesen, das Instrument zu hüten, was dumm gewesen war, denn vor wem sollte es hier geschützt werden müssen? Dann hatte sie sich auf den Weg gemacht, zu einem Spaziergang durch die Gürtelstadt.

Dort war es dunkel und kühl. An den meisten Orten flammte automatisch Licht auf, wenn die Sensoren Cossonts Bewegungen oder ihre Körperwärme registrierten. In anderen Bereichen musste sie sich allein auf ihre nanotechnisch verbesserten Augen verlassen, die das Restlicht verstärkten und ihr ein geisterhaftes Abbild der Umgebung zeigten. Die Luft wurde noch kälter, was Jacke und Hose veranlasste, sich ein wenig aufzublähen, damit sie warm blieb. Durch breite Korridore ging sie, durch große widerhallende Räume und vorbei an Arkaden, gewaltigen Rohrleitungen, säulenartigen Trägern und weiten Auditorien, begleitet nur vom Geräusch ihrer Schritte.

Die große, weltumfassende Gürtelstadt.

Viele Gzilt hielten sie für etwas, das sie voller Stolz zurücklassen konnten, wenn sie sublimierten – ein Denkmal für Genialität, Vision und Macht –, wobei sie praktischerweise vergaßen, dass sie sie gar nicht gebaut hatten. Über viele Jahrtausende hinweg hatten sie die gewaltige Konstruktion erweitert und Neues hinzugefügt, doch Idee und Ursprung gingen nicht auf sie selbst zurück.

Die Gürtelstadt war von den Werpesch erbaut worden, einer alten humanoiden Spezies, die sich längst ins Sublime zurückgezogen hatte. Vor elftausend Jahren hatten die Gzilt ihr Erbe angetreten und sowohl den Planeten als auch die ihn umfassende Stadt übernommen, zusammen mit einigen anderen Sonnensystemen. Aber solange sie auch Besitz und Eigentum der Gürtelstadt für sich beanspruchen konnten, die Ehre des Konzepts stand ihnen nicht zu.

Dennoch hatten sie sich elf Jahrtausende lang um sie gekümmert und so zumindest ein Zeichen ihrer Obhut für die Zukunft hinterlassen.

Beim Zentrum eines längst verlassenen früheren Wohnbereichs fand Cossont eine alte Schule mit Eingelagerten. Eine Landschaft aus aufeinandergestapelten und schwach leuchtenden weißen Behältern, deren Temperatur nur wenig über der der Umgebung lag, erstreckte sich auf dem einstigen Spielplatz. Aus dem Innern des Gebäudes drang etwas mehr Wärme, stieg auf und sammelte sich unter der hohen gewölbten Decke, die im infraroten Spektrum glühte. Tote Bäume standen wie Gerippe da.

Ein Wächter-Mech beim Schultor entfaltete sich – aus einer Kugel wurde eine drei Meter große, mehr oder weniger humanoide Gestalt voller Kanten und Waffenarme. Der Mech wirkte sehr beeindruckend, was er auch sollte. Selbst aus einer Entfernung von einigen Metern vermittelte er den Eindruck, Cossont weit zu überragen. Ihr fiel plötzlich ein, wie unmilitärisch ihre Jacke aussah; sie trug das Emblem einer Dungstampfer-Band, in der sie vor Jahren elektrische Volupt gespielt hatte. Der Name »Herren der Exkremente« – das Logo veranlasste viele Betrachter, eine Grimasse zu schneiden – war ihr schon vor zwanzig Jahren kindisch erschienen, aber die Jacke hatte sie behalten, als Erinnerung an eine gute Zeit in ihrem Leben. Sie gehörte zu den wenigen Kleidungsstücken, die sie ihrer veränderten Anzahl von Armen angepasst hatte.

»Bürgerin«, sagte der Wächter-Mech. Dann identifizierte er sie, wahrscheinlich mithilfe ihrer Ohrkapsel. »Lieutenant Commander der Reserve«, korrigierte er sich und salutierte.

»Ich gehe nur ein wenig spazieren«, teilte Cossont der Maschine mit.

Der Mech blieb reglos und schien darüber nachzudenken, faltete sich dann ohne ein weiteres Wort und mit metallisch geölter Eleganz zu einer Kugel zusammen. In kompakter Form sah er wie eine Skulptur aus.

Vyr Cossont ging weiter und begegnete der Familie in der Nähe eines weiteren tiefen Abgrunds. Der breite Weg führte dort über einen der hundert Meter breiten offenen Tunnel, die die ganze Gürtelstadt durchzogen. Der Mann und die Frau saßen an einem kleinen Feuer, dessen flackernder Schein über die Diamantfilm-Wände am Rand der Straße huschte.

»Guten Abend«, grüßte Cossont und richtete einen neugierigen Blick auf das Feuer, in dem einige kleine Holzscheite brannten. Hinter dem Paar lag noch mehr Feuerholz, sorgfältig geschnitten; vermutlich stammte es von einem der toten Bäume. Beide sahen ohne ein Lächeln zu ihr auf. Sie waren für ein Leben im Freien gekleidet und wirkten ein wenig ungepflegt. Es gab keine besonderen Merkmale, die Cossont eine Identifizierung ermöglicht hätten. Ihre Implantate entdeckten nichts Elektronisches an oder in ihnen, was sehr ungewöhnlich war. Sie blickte in fleckige, schmutzige Gesichter und verspürte den Wunsch, die Fremden zur nächsten funktionierenden Dusche zu bringen, damit sie sich waschen konnten.

»N’Abend«, sagte der Mann, wandte den Blick ab und stocherte im Feuer. Die Frau murmelte etwas in ihre dicke Wanderjacke. Vielleicht kommunizierte sie mit jemandem, dachte Cossont, was ihr aber wenig plausibel erschien, da ihre Implantate nichts Technisches bei diesen Leuten entdeckt hatten.

Vyr wollte die Fremden gerade fragen, ob sie Wanderer waren, Einheimische, die einen Bummel machten oder so, doch plötzlich kam ein kleines Gesicht aus der Jacke der Frau, starrte sie mit großen Augen an und verschwand dann wieder in dem Kleidungsstück. Die Frau hob den Kopf und sah zu Cossont hoch, in ihrem Gesicht eine Mischung aus Argwohn und Trotz.

Cossont brauchte einen Moment und vielleicht zwei, bis sie begriff.

Sie war so sehr daran gewöhnt, sich selbst als Teil der letzten Generation zu sehen, die keine Kinder mehr haben würde, dass ihr nicht sofort klar wurde, was sie eigentlich gesehen hatte. Ein Spielzeug?, lautete ihr erster Gedanke.

»Sie haben ein Kind!«, entfuhr es ihr dann, trat einen weiteren Schritt auf die Frau zu und setzte sich auf die Fersen, damit sie sich auf einer Augenhöhe mit der Fremden befand. Sie streckte ihr die Hand entgegen, zog sie dann unschlüssig zurück.

Die Frau schien erneut in ihre Jacke zu sprechen. »Chuje«, gurrte sie, »sag Hallo.«

Das kleine Gesicht kam erneut hervor. Ein Kind, ein echtes Kind, soweit Cossont das feststellen konnte, vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Ein Mädchen. Es blickte sie sehr ernst an, und Cossont sagte: »Hallo, Chuje.«

»Allo«, erwiderte das Kind, biss sich auf die Lippe und verschwand wieder in der Jacke.

Cossont starrte die Frau groß an. Der Mann rückte näher und musterte sie beide. »Das Kind …«, begann Cossont.

»Unsere Tochter«, sagte die Frau. »Dreieinhalb Jahre alt.« Diesmal war da nicht nur Argwohn und Trotz, sondern auch Stolz. Das Kind zeigte sich erneut und kuschelte sich an seine Mutter, ohne den Blick von Cossont abzuwenden.

Vyr Cossont saß mit offenem Mund da und blickte in die großen dunklen Augen des Mädchens. Schließlich wandte sie sich an die Eltern. »Sie wollen also nicht …«

»Nein«, sagte der Mann.

Sie wollten nicht sublimieren, wenn es in dreiundzwanzig Tagen so weit war, wenn all die Eingelagerten auf Xown, Zyse und all den anderen Planeten, Monden, Habitaten und Schiffen der Gzilt für die wenigen letzten Stunden vor der Sublimation geweckt wurden.

Natürlich wusste Cossont, dass es solche Leute gab, Verweigerer, die es ablehnten, zusammen mit allen anderen ins Sublime aufzusteigen. Sie hatte einige von ihnen kennengelernt – und dabei angenommen, dass sie es sich im letzten Moment anders überlegten –, war dabei aber keinen Kindern begegnet.

Die Vereinbarung – es war kein Gesetz, kam dem jedoch sehr nahe – sah vor, dass man keine Kinder ins Sublime mitnahm. Es sollte der reife, wohlüberlegte letzte Schritt einer Zivilisation und der ihr angehörenden Individuen sein, die gründlich darüber nachgedacht und sich aus freien Stücken für den Übergang entschieden hatten. Die Gzilt glaubten, dass Kinder bei einer so wichtigen Angelegenheit nicht zu einer fundierten Einwilligung imstande waren, was bedeutete: Die Mitnahme eines Kindes in die Sublimation kam Missbrauch gleich.

Also hatten die Leute aufgehört, Kinder zu bekommen. Einige wenige – sehr wenige – wurden trotzdem geboren, von Eltern, die dennoch sublimieren wollten, doch wer mit kleinen Kindern eine solche Entscheidung traf, galt als Paria. Die meisten von ihnen hatten sich in kleine Gemeinschaften von Gleichgesinnten in fernen Habitaten zurückgezogen.

Cossont stellte fest, dass sie das junge Paar noch immer anstarrte. Sie waren tatsächlich sehr jung, etwa zehn Jahre jünger als sie; bei der Geburt des Kindes konnten sie selbst kaum mehr als Kinder gewesen sein. »Ihre Tochter wird einsam sein«, sagte sie.

»Das ist sie schon jetzt«, erwiderte der Mann.

Gleichzeitig sagte die Frau: »Das wissen wir.«

»Ja.« Cossont kam sich dumm vor. »Wie könnten Sie es nicht wissen?« Sie lächelte entschuldigend.

»Sie ist unsere Zukunft«, sagte der Mann und nickte dem Kind zu.

Cossont nickte ebenfalls und fragte sich, welche Art von Zukunft das sein sollte. Keine andere Spezies oder Zivilisation würde davon ausgehen, dass die wenigen Prozent der Gzilt, die nach der Sublimation übrig blieben, eine Fortsetzung ihrer Zivilisation darstellten. Alle Wohnorte der Gzilt, von der Heimatwelt Zyse bis zu den kleinsten Habitaten und Schiffen, würden als herrenloses Gut gelten, das man übernehmen konnte. Xown sollte wegen der Gürtelstadt zu einem pankulturellen Monument werden, unter Schutz und Aufsicht der Neutralen Stiftungen des Galaktischen Rates. Niemand riskierte, fortgeschickt oder aus der Luftschleuse eines Habitats geworfen zu werden, aber die Welten der Gzilt würden sich früher oder später mit anderen Bewohnern füllen, einige von ihnen humanoid, andere nicht, und alle fremd.

Selbst wenn man seine Meinung änderte: Nach der Sublimation aller anderen durfte man nicht zu lange zögern. Während der ersten Stunden im Sublimen fanden so große subjektive und absolute Veränderungen statt, dass man Isolation riskierte, wenn man auch nur eine Stunde mit dem Übergang wartete. Man erreichte die andere Daseinsebene zwar, doch die anderen, die vor einem eingetroffen waren – Freunde, Partner, Verwandte, Zwillingsbrüder oder -schwestern, Klone, was auch immer –, hatten sich dann bereits so sehr verändert, dass einen nichts mehr mit ihnen verband. Das Ergebnis: Man war auf sich allein gestellt oder Mitglied einer kleinen Gruppe, ohne Zusammenhalt, ohne Verankerung. Dann bestand die große Gefahr, dass man sich innerhalb kurzer Zeit einfach auflöste, dass man sinnentleert einging in die allgemeine Struktur des Sublimen.

Niemand wusste, ob dieses Phänomen auf die exotische Physik und andere fundamentale Naturgesetze im Sublimen zurückging oder auf eine Regel der Bewohner jener Sphäre, mit der sie den Übergang von Individuen und Völkern erleichterten. Zahlreiche Zivilisationen hatten in diesem Zusammenhang Untersuchungen angestellt und die Wirkung bestätigt, ohne ihre Ursache bestimmen zu können. Vielleicht ein bisschen von allem, schien der allgemeine Konsens zu sein, was nicht sehr hilfreich war.

»Wir gehören nicht zum Widerstand«, sagte die Frau plötzlich. Ihr Blick galt den Blitzen an Cossonts Jackenkragen. Mit »Widerstand« waren militante Verweigerer gemeint, die Demonstrationen veranstalteten, zu zivilem Ungehorsam aufriefen und auch jetzt noch vor dem Galaktischen Rat behaupteten, das Sublime sei illegal und unangemessen mandatiert. Einige Randgruppen des Widerstands verliehen ihrem Standpunkt mit Gewalt Nachdruck.

»Wir sind nur Zivilisten«, sagte der Mann.

Cossont nickte erneut. Das Paar hatte seine Ränge abgelegt, wie hoch oder niedrig sie auch gewesen sein mochten. Das kam vor. Es machte arm – man konnte es mit einem religiösen Armutsgelübde vergleichen –, aber es war nicht sonderlich schlimm, in einer Gesellschaft arm zu sein, die längst keinen Mangel mehr kannte und in der Geld allein zeremonielle Funktionen erfüllte. Nur eine Person mittleren Einkommens war nötig, um all jenen zu helfen, die Hilfe benötigten. Und wer den Makel der Armut trug … Solchen Leuten begegnete man entweder mit Argwohn oder mit Bewunderung – es hing vom jeweiligen Standpunkt ab.

Das Kind streckte den Kopf etwas weiter aus der Jacke seiner Mutter und sah Cossont neugierig an, wobei sich der orangerote Feuerschein in seinen großen Augen widerspiegelte. Die kleinen Hände drehten ein Spielzeug hin und her.

»Kann ich es halten?«, fragte Cossont plötzlich und richtete den Blick erst auf die Frau und dann auf den Mann.

»Nein«, sagte der Vater sofort, und die Mutter legte einen Arm um ihre Tochter, als wollte sie sie vor Cossont schützen. »Das erlauben wir nicht«, fügte der Mann hinzu. »Zu viele Leute wollen unser Kind berühren oder es halten.« Er zuckte die Schultern. »Es gefällt ihm nicht mehr.« Er sah sich in dem großen Raum um, in dem sie sich befanden. »Das ist einer der Gründe, warum wir hier sind.«

»Es tut mir leid«, sagte die Frau an Cossont gerichtet, ohne den schützenden Arm wegzuziehen.

»Ich verstehe«, erwiderte Cossont und rang sich ein Lächeln ab. Sie sah alle drei an, schenkte dem Kind ein Grinsen und stand langsam auf. »Ich muss gehen«, sagte sie. »Viel Glück.«

»Danke«, sagte der Mann.

»Sind Sie dorthin unterwegs?« Cossont zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen war.

Das weckte neues Misstrauen in dem Mann; er hob und senkte nur die Schultern.

»Wenn Sie dorthin gehen …«, sagte Cossont. »Es gibt da einen Einlagerungsort in einer alten Schule, von einem Kampf-Mech bewacht. Er sollte kein Problem für Sie sein; ich sage es Ihnen nur, damit Sie … nicht überrascht sind.« Sie lächelte einmal mehr.

Die Frau nickte, und das Kind verschwand wieder in der dicken Jacke.

»Freut mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben«, sagte Cossont.

»Gleichfalls«, entgegnete der Mann. »Auf Wiedersehen.«

»Geben Sie gut auf sich acht.«

Die Frau nickte nur.

Cossont drehte sich um und ging fort, den Schatten des großen Raums entgegen. Der Schein des kleinen Feuers, von ihren verbesserten Augen verstärkt, erhellte einen Teil des Weges.

Vielleicht war das Kind nicht einmal echt gewesen, dachte sie. Es konnte ein aufwendiges Spielzeug gewesen sein, oder eines der neuen künstlichen Kinder, die jenen zur Verfügung standen, die sich nach der Gesellschaft eines Kindes sehnten – eigentlich kaum mehr als ein Roboter. Cossont erinnerte sich daran, ein solches Kind einmal in einem Schirmprogramm gesehen zu haben, von einem echten nicht zu unterscheiden. Offenbar hatten sie sogar den richtigen Geruch.

Aber vielleicht fühlten sie sich nicht richtig an. Möglicherweise waren sie zu schwer oder zu hart. Das mochte der Grund sein, warum sich die Eltern geweigert hatten, Cossont ihre kleine Tochter halten zu lassen.

Der Kampf-Mech erwachte erneut, als sie an ihm vorbeikam. Er richtete sich wieder auf, doch diesmal schwieg er und salutierte nur.

Cossont schüttelte den Kopf und bewegte die Schultern, drehte die Elfsaite dann in den auflebenden Wind. Sie ergriff die beiden Bögen, nahm in einer fließenden Bewegung in dem Musikinstrument Platz, brachte Rücken und Füße in die richtige Position, holte tief Luft und ließ den Atem langsam entweichen, wobei sie die ersten Töne erklingen ließ. Fast sofort kam eine kleine Bö über die Terrasse, erreichte die Resonanzsaiten an der Rückseite des Instruments und entlockte ihnen ein tiefes Brummen. Das Geräusch – keineswegs misstönend, erstaunlich genug für die Elfsaite – war dumpf und wurde von eben jenem Windstoß fortgetragen, der es geschaffen hatte. Aber es veranlasste Cossont trotzdem zu einem »Ah«, als sie erneut die doppelten Schultern beugte, ihre Finger um die dreikantigen Bögen schloss und sich auf das Spiel konzentrierte.

Diesmal wollte sie den vorletzten Abschnitt der Wasserstoffsonate proben, den sie bisher noch nie in einem Durchgang gespielt hatte. Dieser Teil war sehr schwer, und eigentlich wollte sie ihn gar nicht spielen, aber sie kam nicht weit, wenn sie sich allein auf die leichten Passagen beschränkte. Dieser vorletzte Abschnitt … Er war schnell und furios, sogar zornig.

Sie beschloss, an ihre Mutter zu denken. Das würde helfen.

»Ich meine, sieh dich nur an!«

Vyr sah sich an. Sie betrachtete sich im schwarzen Spiegel, eben noch Teil der Fensterwand des Hauptschlafzimmers, und zuckte die Schultern. Eine recht elegante Bewegung, wenn man vier Arme hatte, fand sie. »Was ist denn?«, fragte sie ihre Mutter und runzelte die Stirn.

Warib sah ihre Tochter einfach nur an, was Vyr zum Anlass nahm, ihr Spiegelbild noch einmal zu überprüfen. Was sie dort im dunkel gewordenen Glas sah, war eine hochgewachsene junge Gzilt, die eine gut sitzende Uniform trug, dunkelgraue Haut und helles Haar hatte, das auf Schultern fiel, die etwas breiter als normal waren, aber keineswegs grotesk wirkten. Die oberen Arme waren länger und kräftiger als die beiden zusätzlichen, die Brust wies eine gesunde Glätte auf, und die Hüften hatten angemessene Rundungen für eine nicht zu den Säugetieren zählende Humanoide. Ihre Beine waren ein wenig kürzer und der Rücken etwas länger, als es der Idealvorstellung von einer Gzilt entsprach, aber wenn kümmerte das? Die vier Arme passten besser dazu; sie schufen einen guten Ausgleich.

Ihre Mutter schnaubte demonstrativ.

Vyr kniff die Augen zusammen. Gab es ein Detail, das sie übersehen hatte? Sie befand sich im Apartment ihrer Mutter und damit in relativ unvertrautem Territorium, aber bestimmt gab es hier irgendwo einen richtigen Spiegel-Invertor, vielleicht im anderen, dunklen Schlafzimmer, wo vermutlich Waribs jüngster Liebhaber schlief.

Vyr musterte ihre Mutter. »Was ist denn?«, fragte sie erneut.

Warib sprach mit zusammengebissenen Zähnen. »Das weißt du genau.«

Vyrs Mutter trug einen elegant langen, leichten Morgenmantel, der unpraktisch genug aussah, um richtig teuer zu sein. Sie war eine schlankere Version ihrer Tochter, hatte längeres und dichteres Haar. In physischer Hinsicht alterte sie rückwärts und würde damit bis zur Sublimation fortfahren. Vyr war bereits über das Alter hinaus, in dem die Gzilt damit begannen, ihr Erscheinungsbild zu kontrollieren, aber nur um einige Jahre, und sie hatte ohnehin beschlossen, während der Zeit, die ihnen allen noch blieb, ganz normal zu altern. Schließlich stand das große transzendentale Remmidemmi der Sublimation kurz bevor, und daneben sollte alles andere an Bedeutung verlieren und verblassen und so.

Vyr war ein wenig überrascht gewesen, als sie feststellte, dass sich ihre Mutter getadelt oder gar gerügt fühlte, weil die eigene Tochter älter aussah als sie. Ähnlich hatte es sich mit Vyrs Beförderung zum Lieutenant Commander verhalten. Sie war davon ausgegangen, dass Warib stolz sein würde. Stattdessen hatte sich ihre Mutter darüber aufgeregt, dass die Tochter einen – nominell – höheren Rang bekleidete. Als ob solche Dinge noch eine Rolle spielten.

»Meinst du die Arme?«, fragte Vyr und bewegte alle vier. Hinter Warib konnte man durch die Fenster des Apartments ein langsam vorbeigleitendes Meer sehen. Warib wohnte auf einem kilometerlangen Superliner, der endlos an der endlosen Küste des Pinicoln-Meers entlangfuhr, eines großen Binnenmeers von Land, dem einen riesigen Kontinent, der den größten Teil von Zyse einnahm.

ENDE DER LESEPROBE