Einsatz der Waffen - - Iain Banks - E-Book

Einsatz der Waffen - E-Book

Iain Banks

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Beschreibung

Leichen im Keller

Cheradenine Zakalwe ist Spitzenmann der KULTUR-Spionage, ein Söldner, der die Drecksarbeit erledigt. Diesmal ist er auf einer Sondermission, auf der er Diziet Sma begegnet, der Frau, die ihn einst aus der Versenkung geholt und ihm zu einer Karriere als Spezialagent verholfen hat. Wie jedes Mal verlangt Zakalwe für seinen Einsatz neben einem kleinen Vermögen Informationen über den Aufenthaltsort seiner Schwester, und wie jedes Mal versucht Diziet Sma, herauszubekommen, welches dunkle Geheimnis in Zakalwes Vergangenheit verborgen liegt. Und diesmal scheint sie endlich Erfolg zu haben …

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IAIN BANKS

 

 

 

EINSATZ DER WAFFEN

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Cheradenine Zakalwe ist Spitzenmann der KULTUR-Spionage, ein Söldner, der die Drecksarbeit erledigt. Diesmal ist er auf einer Sondermission, auf der er Diziet Sma begegnet, der Frau, die ihn einst aus der Versenkung geholt und ihm zu einer Karriere als Spezialagent verholfen hat. Wie jedes Mal verlangt Zakalwe für seinen Einsatz neben einem kleinen Vermögen Informationen über den Aufenthaltsort seiner Schwester, und wie jedes Mal versucht Diziet Sma, herauszubekommen, welches dunkle Geheimnis in Zakalwes Vergangenheit verborgen liegt. Und diesmal scheint sie endlich Erfolg zu haben …

 

 

 

 

Der Autor

Iain Banks wurde 1954 in Schottland geboren. Nach einem Englischstudium schlug er sich mit etlichen Gelegenheitsjobs durch, bis ihn sein 1984 veröffentlichter Roman »Die Wespenfabrik« als neue aufregende literarische Stimme bekannt machte. In den folgenden Jahren schrieb er zahllose weitere erfolgreiche Romane, darunter »Bedenke Phlebas«, »Exzession« und »Der Algebraist«. Er gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der britischen Gegenwartsliteratur. Am 9. Juni 2013 starb Iain Banks im Alter von 59 Jahren.

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

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Titel der Originalausgabe USE OF WEAPONS Aus dem Englischen von Irene Bonhorst
Überarbeitete Neuausgabe Copyright © 1990 by Iain Banks Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Covergestaltung: Das Illustrat Satz: Winfried Brand
ISBN 978-3-641-16450-8V002
www.heyne.de

Inhalt

 

›Geringfügige mechanische Zerstörung‹

 

Prolog

 

ERSTER TEIL – DER GUTE SOLDAT

Eins

XIII

Zwei

XII

Drei

XI

Vier

X

Fünf

 

ZWEITER TEIL – EIN AUSFLUG

IX

Sechs

VIII

Sieben

VII

Acht

VI

Neun

V

 

DRITTER TEIL – ERINNERUNG

Zehn

IV

Elf

III

Zwölf

II

Dreizehn

I

Vierzehn

 

Epilog

Zakalwes Lied

Kriegszustand

 

›Geringfügige mechanische Zerstörung‹

 

Zakalwe in die Freiheit entlassen;

Diese trägen Rauchkringel über der Stadt,

Schwarze Wurmlöcher in der Luft der mittagshellen Ebene Null.

Hast du erfahren, was du erfahren wolltest?

Oder regenhäutig in einem sicheren Hort aus Beton,

Auf einer Festungsinsel in den Fluten;

Wandeltest du zwischen den zerschmetterten Maschinen,

Und suchtest mit nicht berauschten Augen

Die Maschinen eines anderen Krieges,

Und eine Abnutzung der Seele und des Geräts.

Mit Fahrzeugen und Flugmaschinen und Schiffen,

Mit Gewehren und Drohnen und Feldern spieltest du,

Und schriebst eine Allegorie über deine Wiederkehr

Mit anderer Menschen Tränen und Blut;

Die versuchsweise Dichtung deines Aufstiegs

Aus nichts als talmihafter Barmherzigkeit.

Und die, die dich fanden,

Nahmen dich und machten dich neu.

(»He, mein Junge, jetzt geht es um dich und unsere Dolchgeschosse,

Vorstoß und Geschwindigkeit und blutiges Geheimnis:

Der Weg zum Herzen eines Menschen führt durch seine Brust!«)

Sie hielten dich für ihr Spielzeug,

Wildes Kind; der Rückstoß aus weiter Ferne,

Der Sache dienlich, weil

Utopia wenige Krieger hervorbringt.

Aber du wusstest, dass deine Gestalt einen Strich

Durch jeden ausgeklügelten Plan machte,

Und da du unser Spiel aufrichtig betrieben hast,

Durchschautest du unser stümperhaftes Flickwerk

Und die unberechenbaren Drüsen

Zu deinem eigenen Zweck, in Gebeinen.

– Das Reservoir dieser kultivierten Leben

Bestand nicht aus Fleisch,

Und was wir lediglich wussten,

Das spürtest du

Mit dem ganzen Mark deiner verdrehten Zellen.

 

Rasd-Coduresa Diziet Embless Sma da’Marenhide.

c/o SC, Jahr 115 (Erde, Khmer-Kalender).

Marain-Original, eigene Übersetzung. Unveröffentlicht.

Prolog

 

»Sag mir, was ist Glück?«

»Glück? Glück … ist aufzuwachen, an einem strahlenden Frühlingsmorgen, nach einer kräftezehrenden ersten Nacht mit einer schönen … leidenschaftlichen … mehrfachen Mörderin.«

»… Scheiße, das ist alles?«

 

In seiner Hand lag das Glas wie etwas Gefangenes, das Licht ausschwitzte. Die Flüssigkeit, die es enthielt, war von der gleichen Farbe wie seine Augen und schwappte träge im Sonnenlicht unter seinem verhangenen Blick, wobei die schimmernde Oberfläche des Getränks Glanzlichter wie Adern flüssigen Goldes auf sein Gesicht warf.

Er leerte das Glas in einem Zug, dann betrachtete er es forschend, während der Alkohol sich seinen Weg durch die Kehle bahnte. Seine Kehle kitzelte, und er hatte das Gefühl, als kitzle ihn das Licht in den Augen. Er drehte das Glas zwischen den Händen, bewegte es behutsam und geschmeidig, anscheinend hingerissen von der Derbheit des Fußes und der seidigen Glätte der ungeschliffenen Teile. Er hielt es hoch ins Licht der Sonne, und seine Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. Das Glas funkelte wie hundert winzige Regenbogen; winzige verzerrte Bläschen in dem schlanken Stiel glänzten golden vor dem blauen Himmel und drehten sich in einer geriffelten Doppelschnecke umeinander.

Er senkte das Glas langsam, und sein Blick fiel auf die schweigende Stadt. Er blinzelte über die Dächer und Zinnen und Türme, weit hinaus über die massigen Formen der Bäume, die die spärlichen, staubigen Parks kennzeichneten, und hinaus über die gezackte Linie der Stadtmauern auf die blassen Ebenen und die rauchblauen Hügel, die dahinter im Hitzedunst unter einem wolkenlosen Himmel schimmerten.

Ohne die Augen von dem Anblick abzuwenden, holte er plötzlich mit dem Arm aus und warf das Glas über die Schulter zurück, hinter sich in den kühlen Saal, wo es in der Dunkelheit verschwand und zerschellte.

»Du Schwein«, sagte eine Stimme nach einer kurzen Pause. Die Stimme klang sowohl gedämpft als auch nuschelnd. »Ich dachte, das wäre schwere Artillerie. Ich hätte fast in die Hose gemacht. Möchtest du, dass hier alles voller Scheiße ist? … O verdammt, ich habe außerdem ins Glas gebissen … mmm … Ich blute.« Es entstand erneut eine Pause. »Hast du gehört?« Die gedämpfte, nuschelnde Stimme nahm ein wenig an Lautstärke zu. »Ich blute … Möchtest du, dass der Boden mit Scheiße und blauem Blut bedeckt ist?« Ein kratzendes, klirrendes Geräusch war zu hören, danach folgte Stille. Und dann noch mal:

»Du Schwein!«

Der junge Mann auf dem Balkon wandte sich von der Aussicht über die Stadt ab und ging wieder hinein in den Saal, nur leicht unsicher auf den Beinen. Der Boden war mit einem jahrtausendealten Mosaik ausgelegt, das in jüngerer Zeit mit einer durchsichtigen, kratzsicheren Schicht überzogen worden war, um die winzigen Keramikteilchen zu schützen. In der Mitte des Saals stand ein wuchtiger, kunstvoll gearbeiteter Esstisch, umringt von Stühlen. Entlang der Wände standen verstreut weitere kleine Tische, außerdem noch mehr Stühle, niedrige Truhen und Kommoden mit Schubladen sowie hohe Vitrinen, alle aus dem gleichen dunklen, schweren Holz gefertigt.

Einige der Wände waren mit verblassten, aber immer noch eindrucksvollen Gemälden bedeckt, vorwiegend Darstellungen von Kriegsschlachten; an anderen Wänden, die nur weiß gestrichen waren, prangten gewaltige alte Waffen; hunderte von Speeren und Messern, Schwertern und Schilden, Piken und Keulen, Wurfschlingen und Pfeilen, alle gleichmäßig angeordnet in großen Mandala-Rädern mit genarbten Speichen wie die Splitter einer unglaublich symmetrischen Explosion. Verrostete Feuerwaffen über abgedeckten Kaminen richteten sich wichtigtuerisch gegeneinander.

Es gab ein oder zwei matt gewordene Gemälde und abgewetzte Teppiche an den Wänden, aber an den freien Stellen hätten noch etliche mehr Platz gehabt. Große dreieckige Fenster aus farbigem Glas warfen Lichtkeile auf das Mosaik und das Holz. An den weißen Steinwänden ragten rote Pfeiler nach oben, und diese trugen riesige schwarze Holzbalken, die sich über die Länge des Saals spannten wie ein Riesenzelt aus eckigen Fingern.

Der junge Mann stieß mit dem Fuß einen antiken Stuhl in eine ihm genehme Stellung und ließ sich darauf plumpsen. »Von welchem blauen Blut sprichst du?«, sagte er. Seine eine Hand ruhte auf der Platte des großen Tisches, die andere hob er zum Kopf und strich sich damit über den Schädel, als ob er durch dichtes, langes Haar führe, obwohl sein Kopf in Wirklichkeit kahl rasiert war.

»Häh?«, sagte die Stimme. Anscheinend kam sie von irgendwo unter dem Tisch, neben dem der junge Mann saß.

»Welche Verbindungen zur Aristokratie hast du jemals gehabt, du betrunkener alter Landstreicher?« Der junge Mann rieb sich die Augen mit geballten Fäusten und massierte sich dann mit geöffneten Händen den Rest des Gesichts.

Es folgte eine ziemlich lange Pause.

»Na ja, ich bin einmal von einer Prinzessin gebissen worden.«

Der junge Mann sah hinauf zur Decke mit den Stichbalken und schnaubte durch die Nase. »Unzureichende Beweisführung.«

Er stand auf und ging wieder auf den Balkon hinaus. Er nahm ein Fernglas von der Ummauerung und sah hindurch. Er schnalzte mit der Zunge, schwankte und ging zu den Fenstern zurück, um sich an einen Rahmen anzulehnen, damit sein Sichtfeld nicht wackelte. Er spielte mit der Scharfeinstellung herum, schüttelte dann den Kopf und legte das Fernglas wieder auf die Steinmauer, verschränkte die Arme, lehnte sich an die Wand und blickte hinaus auf die Stadt.

Eine zusammengebackene Masse; braune Dächer und grobe Giebel, wie Krusten und Kanten von Brot; Staub wie Mehl.

Dann, unter der Wucht der Erinnerung, wurde der schillernde Anblick vor ihm für einen kurzen Moment grau und anschließend schwarz, und ihm fiel eine andere Zitadelle ein: die dem Untergang geweihte Zeltstadt auf dem Paradeplatz darunter, als die Scheiben in den Fenstern zitterten; das junge Mädchen – das jetzt tot war – zusammengerollt in einem Sessel, in einem Turm im Winterpalast. Er erschauderte trotz der Hitze und verdrängte die Erinnerungen.

»Wie ist das mit dir?«

Der junge Mann drehte sich um und sah nach hinten in den Saal. »Was meinst du?«

»Hattest du je … ähm … Verbindungen zu … ähm … besseren Kreisen?«

Der junge Mann machte plötzlich ein ernstes Gesicht. »Ich habe einmal …«, setzte er an, dann zögerte er. »Ich kannte mal jemanden … Sie war fast eine Prinzessin. Und ich habe einen Teil von ihr in mir getragen, wenigstens eine Zeit lang.«

»Sag das noch mal. Du hast einen Teil von ihr …?«

»In mir getragen, wenigstens eine Zeit lang.«

Pause. Dann die höfliche Frage: »Hätte das nicht irgendwie umgekehrt sein müssen?«

Der junge Mann hob die Schultern. »Es war eine merkwürdige Beziehung.«

Er wandte sich wieder der Stadt zu und hielt Ausschau nach Rauch oder Menschen oder Tieren oder Vögeln oder irgendetwas, das sich bewegte, doch das Bild, das sich ihm bot, hätte ebenso gut auf einen Hintergrund aufgemalt sein können; nur die Luft bewegte sich und bewirkte ein Flimmern der Sicht. Er überlegte, wie man einen Hintergrund schütteln könnte, damit der gleiche Eindruck entstünde, doch dann ließ er von dem Gedanken ab.

»Siehst du irgendwas?«, brummte die Stimme unter dem Tisch.

Der junge Mann sagte nichts, sondern rieb sich die Brust durch das Hemd und die offene Jacke. Es war eine Generalsjacke, obwohl er kein General war.

Er trat wieder vom Fenster zurück und nahm einen großen Krug von einem der niedrigen Tische an der Wand. Er hob sich den Krug über den Kopf und kippte ihn vorsichtig um, die Augen geschlossen, das Gesicht emporgehoben. In dem Krug war kein Wasser, also geschah gar nichts. Der junge Mann seufzte, betrachtete flüchtig das aufgemalte Segelschiff auf dem Bauch des leeren Kruges und stellte ihn sanft zurück auf den Tisch, genau an die Stelle, wo er gestanden hatte.

Er schüttelte den Kopf und wandte sich ab, um zu einem der riesigen Kamine in der Halle zu schreiten. Er hievte sich auf den breiten Sims hinauf, von wo aus er angestrengt eine der alten Waffen anstarrte, die an der Wand angebracht waren; ein gewaltiges Gewehr mit weiter Mündung, verziertem Schaft und offenem Abzugsmechanismus. Er unternahm den Versuch, die Donnerbüchse von dem Mauerwerk zu lösen, doch sie war zu gut befestigt. Nach einer Weile gab er auf und sprang wieder zu Boden, wo er etwas schwankend landete.

»Hast du etwas gesehen?«, sagte die Stimme wieder voller Hoffnung.

Der junge Mann ging mit behutsamen Schritten vom Kamin auf eine Ecke des Saals zu, zu einer langen, prunkvollen Anrichte. Ihre Platte war voll gestellt mit einem Durcheinander von Flaschen, ebenso wie ein beträchtlicher Teil des Fußbodens ringsum. Er wühlte sich durch die Sammlung von vorwiegend zerbrochenen, vorwiegend leeren Flaschen, bis er eine fand, die unversehrt und voll war. Als er sie ergattert hatte, ließ er sich vorsichtig zu Boden nieder, öffnete die Flasche, indem er ihren Hals am Bein eines neben ihm stehenden Stuhls abschlug, und kippte sich die Hälfte des Flascheninhalts, die er nicht über seine Kleidung geschüttet oder über den Mosaikboden verspritzt hatte, in den Mund. Er hustete und spuckte, stellte die Flasche ab und stieß sie beim Aufstehen mit dem Fuß unter die Anrichte.

Er taumelte zu einer anderen Ecke des Saals und dort zu einem hohen Haufen von Kleidung und Feuerwaffen. Er befreite ein Gewehr aus einem Gewirr von Riemen, Hüllen und Munitionsgürteln und begutachtete die Waffe, dann warf er sie wieder auf den Haufen. Er schob einige hundert kleine leere Magazine zur Seite, um zu einem anderen Gewehr zu gelangen, doch dann verschmähte er auch dieses. Er hob noch zwei weitere auf, prüfte sie und warf sich eins davon über die Schulter, während er das andere auf eine mit einem Teppich bedeckte Truhe legte. Er fuhr mit seiner Untersuchung der Waffen fort, bis er sich drei Gewehre umgehängt hatte und die Truhe mit allerlei Zubehörteilen bedeckt war. Er schob das Zeug von der Truhe in eine grobe, ölverschmierte Tasche und ließ diese zu Boden fallen.

»Nein«, sagte er.

Während er sprach, ertönte ein dumpfes Rumoren von unbestimmbarer Herkunft und Art, etwas, das eher aus dem Boden denn aus der Luft zu kommen schien. Die Stimme unter dem Tisch murmelte etwas.

Der junge Mann ging hinüber zu den Fenstern und legte die Gewehre zu Boden.

Er blieb eine Weile dort stehen und sah hinaus.

»He!«, sagte die Stimme unter dem Tisch. »Hilf mir mal beim Aufstehen, ja? Ich bin unterm Tisch.«

»Was machst du denn unter dem Tisch, Cullis?«, sagte der junge Mann, während er sich niederkniete, um die Gewehre zu überprüfen; er klopfte auf Anzeigenskalen, drehte an Rädchen, änderte Einstellungen und blinzelte durch Visiere.

»Ach, dies und das; du weißt schon.«

Der junge Mann lächelte und ging hinüber zum Tisch. Er griff hinunter und zog mit einem Arm einen großen, rotgesichtigen Mann heraus. Bekleidet war dieser mit einer Feldmarschalljacke, die ihm eine Nummer zu groß war; er hatte sehr kurz geschnittenes graues Haar und nur ein echtes Auge. Der große Mann streckte die Hand aus, damit der andere ihm hochhelfen würde; er stand vorsichtig auf und wischte sich das eine oder andere Stückchen Glas von der Jacke. Er dankte dem jungen Mann, indem er langsam mit dem Kopf nickte.

»Welche Zeit haben wir überhaupt?«, fragte er.

»Was? Du lallst so schrecklich.«

»Zeit. Sag mir die Zeit.«

»Es ist Tag.«

»Aha.« Der große Mann nickte bedächtig. »Genau wie ich angenommen hatte.« Cullis beobachtete den jungen Mann, der zum Fenster und den Waffen zurückging, dann schob er sich von dem großen Tisch weg; mit einiger Mühe gelangte er zu dem Tischchen, auf dem der große Wasserkrug stand, der mit dem Gemälde eines alten Segelschiffes geschmückt war.

Er hob den Krug hoch, wobei er leicht schwankte, kippte ihn über seinem Kopf um, blinzelte, wischte sich mit den Händen durchs Gesicht und schlug den Kragen seiner Jacke hoch.

»Aah!«, sagte er. »Jetzt geht’s mir besser.«

»Du bist betrunken«, sagte der junge Mann, ohne sich von den Gewehren abzuwenden.

Der ältere Mann dachte darüber nach.

»Es ist dir beinah gelungen, das wie eine Kritik klingen zu lassen«, erwiderte er würdevoll, pochte auf sein künstliches Auge und blinzelte ein paar Mal. Er drehte sich so gezielt wie möglich um, der gegenüberliegenden Wand zu, und starrte das Wandgemälde an, das eine Seeschlacht darstellte. Er konzentrierte sich im Besonderen auf ein großes Kriegsschiff, das dort abgebildet war, und sein Unterkiefer spannte sich ein wenig.

Sein Kopf zuckte nach hinten, und es war ein klägliches Husten und Winseln zu hören, das in der Miniaturausgabe einer Explosion endete; drei Meter entfernt von dem Kriegsschiff in dem Wandgemälde löste sich eine Bodenvase in einer Staubwolke auf.

Der große grauhaarige Mann schüttelte traurig den Kopf und pochte wieder auf sein künstliches Auge. »Stimmt schon«, sagte er, »ich bin betrunken.«

Der junge Mann stand auf, hielt die Gewehre, die er ausgesucht hatte, in den Armen, wandte sich um und sah den älteren Mann an. »Wenn du zwei Augen hättest, würdest du alles doppelt sehen. Hier, fang!«

Während er das sagte, warf er ein Gewehr dem Alten zu, der genau in dem Moment eine Hand zum Auffangen ausstreckte, als die Waffe gegen die Wand hinter ihm krachte und scheppernd zu Boden fiel.

Cullis blinzelte. »Ich glaube«, sagte er, »ich würde gern wieder unter den Tisch kriechen.«

Der junge Mann kam zu ihm, hob das Gewehr auf, prüfte es noch einmal und reichte es dem Alten, wobei er ihm half, die langen Arme darumzulegen. Dann bugsierte er Cullis zu dem Haufen aus Waffen und Kleidung.

Der alte Mann war größer als der junge Mann, und sein echtes Auge und sein falsches Auge – das in Wirklichkeit eine Licht-Mikro-Pistole war – blickten auf den jungen Mann hinunter, während dieser einige Munitionsgürtel unten aus dem Haufen herauszog und dem Alten über die Schultern warf. Der junge Mann verzog das Gesicht zu einer Grimasse, als Cullis ihn ansah; er streckte die Hand hoch und drehte dessen Gesicht in eine andere Richtung, dann entnahm er einer der Brusttaschen der zu großen Feldmarschalljacke etwas, das aussah wie eine gepanzerte Augenklappe – und auch eine war. Er band den Riemen behutsam um den Kopf des Alten mit dem grauen, militärisch kurz geschnittenen Haar.

»Mein Gott!«, japste Cullis. »Jetzt bin ich blind.«

Der junge Mann griff nach oben und passte die Augenklappe neu an. »Bitte um Verzeihung. Falsches Auge.«

»So ist es besser.« Der Alte straffte sich und holte tief Luft. »Wo sind die Schweine?« Seine Stimme war immer noch nuschelig, sodass man beim Zuhören das Bedürfnis verspürte, sich zu räuspern.

»Ich sehe sie nicht. Wahrscheinlich sind sie noch draußen. Durch den gestrigen Regenschauer hat sich der Staub gelegt.« Der junge Mann legte Cullis ein zweites Gewehr in die Arme.

»Diese Schweine!«

»Ja, Cullis.« Einige Munitionsbehälter wurden den Gewehren hinzugefügt, die der Alte in den Armen wiegte.

»Diese dreckigen Schweine!«

»Recht hast du, Cullis.«

»Diese … Hmm, weißt du was? Ich könnte einen Drink gebrauchen.« Cullis schwankte. Er senkte den Blick auf die Waffen in seinen Armen und versuchte offenbar dahinter zu kommen, wie sie dorthin geraten waren.

Der junge Mann drehte sich um und nahm noch weitere Gewehre von dem Haufen, doch er änderte seinen Sinn, als er ein lautes Scheppern und Krachen hinter sich hörte.

»Scheiße!«, murmelte Cullis vom Boden her.

Der junge Mann ging zu der mit Flaschen voll gepackten Anrichte. Er belud sich mit so vielen vollen Flaschen, wie er finden konnte, und kehrte zu der Stelle zurück, wo Cullis unter einem Berg von Gewehren, Behältern, Munitionsgürteln und den dunklen Holzsplittern, die die Überreste eines Stuhls für feierliche Bankette waren, friedlich schnarchte. Er räumte die Trümmer von dem Alten und öffnete einige der Knöpfe der zu großen Feldmarschalljacke, um die Flaschen zwischen Jacke und Hemd zu stopfen.

Cullis öffnete die Augen und beobachtete den Vorgang eine Weile lang. »Welche Zeit ist es, hast du gesagt?«

Er knöpfte Cullis’ Jacke bis zur Hälfte zu. »Zeit zu gehen, denke ich.«

»Hmm. Kann sein. Du weißt es am besten, Zakalwe.« Cullis schloss die Augen wieder.

Der junge Mann, den Cullis Zakalwe genannt hatte, schritt eilends zum einen Ende des großen Tisches, auf dem eine verhältnismäßig saubere Decke lag. Ein großes, eindrucksvolles Gewehr ruhte dort; er hob es auf und kehrte zu der großen, wenig eindrucksvollen Gestalt zurück, die am Boden schnarchte. Er packte den Alten am Kragen und ging rückwärts zur Tür am anderen Ende des Saals, wobei er Cullis mit sich zog. Er hielt an, um die ölverschmierte Tasche mit dem Waffenzubehör, das er zuvor ausgewählt hatte, aufzuheben, und warf sie sich über die Schulter.

Er hatte Cullis halbwegs bis zur Tür geschleift, als der Alte aufwachte und ihn mit einem verdrehten, ganz verschwommenen Blick aus seinem echten Auge anstarrte.

»He!«

»Was ist, Cullis?«, murrte er und zerrte ihn ein paar Meter weiter.

Cullis sah sich in dem stillen weißen Saal um, der an ihm vorbeistrich. »Glaubst du immer noch, sie werden diesen Ort bombardieren?«

»Mm-hmm.«

Der grauhaarige Mann schüttelte den Kopf. »Nee«, sagte er. Er holte tief Luft. »Nee«, wiederholte er und schüttelte den Kopf. »Nie!«

»Das Stichwort wird fallen«, murmelte der junge Mann und blickte sich um.

Nichtsdestoweniger hielt die Stille an, als sie die Tür erreichten und er die Flügel mit einem Fußtritt aufstieß. Die Treppe, die in die hintere Eingangshalle und weiter in den Innenhof hinunterführte, bestand aus glänzendem grünem Marmor, eingefasst mit Achat. Er arbeitete sich hinunter, mit klirrenden Waffen und Flaschen und rumpelndem Gewehr, wobei er Cullis Stufe um Stufe hinter sich herzerrte und die Absätze des großen Mannes polternd und scharrend über den Boden rutschten.

Der Alte murrte bei jeder Stufe, und einmal murmelte er: »Nicht so verdammt heftig, Frau.« Bei diesen Worten blieb der junge Mann stehen und sah den Alten an, der schnarchte und aus dessen Mundwinkel Speichel tröpfelte. Der junge Mann schüttelte den Kopf und setzte seinen Weg fort.

Auf dem dritten Absatz legte er eine Pause ein, um einen Schluck zu nehmen, während er Cullis gestattete weiterzuschnarchen; danach fühlte er sich ausreichend gestärkt, um den Abstieg fortzusetzen. Er leckte sich noch die Lippen und hatte soeben Cullis’ Kragen gepackt, als ein anschwellendes, sich vertiefendes Pfeifen ertönte. Er ließ sich zu Boden fallen und zog Cullis halb über sich.

Die Explosion war so nah, dass die hohen Fensterscheiben zersprangen und sich einige Gipsbrocken lösten, die anmutig durch die dreieckigen Keile des Sonnenlichts fielen und sanft auf die Treppe rieselten.

»Cullis!« Er packte erneut den Kragen des anderen Mannes und hüpfte rückwärts die Treppe hinunter. »Cullis!«, schrie er, während er auf einem Treppenabsatz ausrutschte und fast gefallen wäre. »Cullis! Du verpennter alter Schlappschwanz! Wach auf!«

Ein weiteres an- und abschwellendes Heulen schnitt durch die Luft; der ganze Palast bebte bei der Detonation, und oben wurde eine Fensterscheibe hereingeschleudert; Gips und Glas regneten auf die Treppe herab. Halb geduckt und immer noch Cullis hinter sich herzerrend, stolperte er fluchend einen weiteren Treppenabschnitt hinunter. »CULLIS!«, brüllte er, während er sich an leeren Nischen und kunstvoll ausgeführten Wandgemälden im idyllisch-ländlichen Stil vorbeischleppte. »Du vergreistes Arschloch, Cullis; WACH AUF!«

Er rutschte um einen zweiten Absatz herum, wobei die übrig gebliebenen Flaschen wütend klirrten und das große Gewehr Stücke aus der Holztäfelung herausbrach. Das sirenenartige Pfeifen ertönte wieder; er warf sich flach zu Boden, während die Stufen zu ihm hochsprangen und über ihm Glas zerbarst; alles war weiß von aufwirbelndem Staub. Er stand taumelnd auf und sah Cullis, der aufrecht dasaß, sich Gipsbrocken von der Brust wischte und das echte Auge rieb. Es folgte noch eine Explosion, die etwas weiter entfernt dröhnte.

Cullis machte ein trauriges Gesicht. Er schwenkte eine Hand durch den Staub. »Das ist kein Nebel, und das war auch kein Donner, stimmt’s?«

»Stimmt!«, schrie er und strebte eilends weiter nach unten.

Cullis hustete und stolperte hinter ihm her.

Weitere Geschosse schlugen ein, als sie den Innenhof erreichten. Eins explodierte links neben ihm, als er aus dem Palast trat; er sprang in den Schützenpanzerwagen und versuchte, ihn zu starten. Ein Geschoss zerschmetterte das Dach der königlichen Gemächer. Ein Regen aus Schieferplatten und Ziegelsteinen prasselte in den Innenhof, und in einzelnen kleinen Nebenexplosionen zerstoben sie zu Staubwolken. Er hielt sich eine Hand über den Kopf und wühlte mit der anderen im Beifahrerfußraum nach einem Helm. Ein gewaltiges Stück Mauerwerk prallte an der Motorhaube des offenen Fahrzeugs ab und hinterließ eine Delle von beträchtlicher Größe und eine Staubwolke. »Oh … Scheeeeiiiiße!«, sagte er, als er endlich einen Helm gefunden hatte und sich diesen zornig auf den Kopf knallte.

»Dreckige Schw…!«, schrie Cullis, der stolperte, kurz bevor er den Panzerwagen erreichte, und in den Dreck fiel. Er fluchte, dann hievte er sich in den Wagen. Ein weiteres Geschoss und noch eins durchpflügten die Gemächer zu ihrer Linken.

Die Staubwolken, die durch das Bombardement aufgewirbelt worden waren, zogen vor den Gebäudefronten vorbei; die Sonnenstrahlen schnitten einen gewaltigen Keil in das Chaos im Innenhof und fassten den Schatten mit Licht ein.

»Ich habe ehrlich gedacht, sie hätten es auf die Parlamentsgebäude abgesehen«, sagte Cullis kleinlaut, während er das brennende Wrack eines Lastwagens auf der anderen Seite des Innenhofs betrachtete.

»Nun, so war es nicht!« Er betätigte erneut den Anlasser und ließ ein paar Schimpfworte vom Stapel.

»Du hattest Recht«, seufzte Cullis und machte ein zerknirschtes Gesicht. »Um was haben wir noch mal gewettet?«

»Wen interessiert das jetzt noch?«, fauchte er und trat mit dem Fuß irgendwo unter das Armaturenbrett. Der Motor des Panzerwagens erwachte rumpelnd zum Leben.

Cullis schüttelte sich kleine Flocken von Ziegelstein aus dem Haar, während sein Kamerad den Riemen seines Helms schloss und ihm ebenfalls einen Helm reichte. Cullis nahm ihn mit Erleichterung entgegen und begann, sich damit das Gesicht zu fächeln, wobei er sich über dem Herzen auf die Brust klopfte, als wollte er sich ermutigen.

Dann zog er die Hand zurück und starrte ungläubig die warme rote Flüssigkeit darauf an.

Der Motor erstarb. Cullis hörte, wie der andere Mann Verwünschungen ausstieß und den Anlasser aufs Neue betätigte; der Motor stotterte und spuckte, begleitet vom Pfeifen der Geschosse.

Cullis blickte auf den Sitz unter ihm, während weitere Explosionen dröhnten, weit weg im Staub. Der Panzerwagen bebte.

Der Sitz unter Cullis war rot getränkt.

»Einen Arzt!«, brüllte er.

»Was?«

»Einen Arzt!«, überschrie Cullis eine weitere Explosion und streckte die rot verschmierte Hand aus. »Zakalwe! Mich hat’s erwischt!« Sein echtes Auge war vor Entsetzen weit aufgerissen. Seine Hand zitterte.

Das Gesicht des jungen Mannes war wutverzerrt, und er schlug Cullis’ Hand beiseite. »Das ist Wein, du Arsch!« Er beugte sich vor, holte eine Flasche aus dem Uniformrock des Alten und ließ sie in seinen Schoß fallen.

Cullis betrachtete sie überrascht. »Oh!«, sagte er. »Gut.« Er spähte unter die Jacke und zog vorsichtig einige Glassplitter heraus. »Hab’ mich schon gewundert, dass sie so gut passt«, murmelte er.

Plötzlich kam der Motor in Gang und heulte wild auf, als hätten ihn der bebende Boden und der wirbelnde Staub zornig gemacht. Explosionen in den Gartenanlagen schleuderten einen braunen Hagel aus Erde und Stücken von zerschmetterten Skulpturen über die Mauer des Innenhofes, wo sie prasselnd und platschend rings um sie herum niedergingen.

Er rang mit dem Schalthebel, bis der Antrieb griff und ihn und Cullis beinah aus dem Panzerwagen geworfen hätte, als das Fahrzeug einen Satz nach vorn machte und aus dem Innenhof hinaus auf die staubige Straße preschte. Sekunden später brach der größte Teil des ausgedehnten Saales unter den Dutzend oder mehr Artillerie-Einschlägen zusammen und krachte in den Hof hinunter, wobei er ihn und die Gegend ringsum mit Holzsplittern und Mauerwerk und immer noch mehr wirbelndem Staub bedeckte.

Cullis kratzte sich am Kopf und murmelte etwas in den Helm, in den er sich soeben übergeben hatte.

»Diese Schweine!«, sagte er.

»Stimmt, Cullis.«

»Diese dreckigen Schweine.«

»Jawohl, Cullis.«

Der Panzerwagen bog um eine Ecke und heulte davon, in Richtung Wüste.

 

 

 

ERSTER TEILDER GUTE SOLDAT

Eins

 

Sie ging durch die Turbinenhalle, umgeben von einem ständig wechselnden Kreis von Freunden, Bewunderern und Tieren – ein trüber Nebel um den reizvollen Brennpunkt, den sie bildete –, und sprach mit ihren Gästen, gab ihren Bediensteten Anweisungen, machte Vorschläge und bedachte die vielen unterschiedlichen Unterhalter mit Freundlichkeiten. Musik erfüllte den widerhallenden Raum über den glänzenden antiken Maschinen, die still zwischen dem plappernden Schwarm von grell gekleideten Partygängern ruhten. Sie verneigte sich anmutig und lächelte einem vorbeikommenden Admiral zu, wobei sie eine zarte schwarze Blume in der Hand drehte und sie an die Nase hob, um den berauschenden Duft einzuatmen.

Zwei der Hralze zu ihren Füßen sprangen auf, winselten, versuchten, mit den Vorderpfoten Halt am glatten Schoß ihres offiziellen Staatsgewandes zu finden, die schimmernden Schnauzen zu der Blume emporgereckt. Sie beugte sich vor, tätschelte beiden Tieren sanft mit der Blüte die Schnauze, worauf sie sich wieder zu Boden fallen ließen, niesend und den Kopf schüttelnd. Die Leute um sie herum lachten. Sie bückte sich, wobei sich ihr Gewand bauschte, fuhr mit den Händen durch das Fell eines der Tiere und kraulte ihm die Ohren, dann hob sie den Kopf zum Majordomus, der sich ihr soeben näherte, indem er sich respektvoll einen Weg durch die Menge um sie herum bahnte.

»Ja, Maikril?«, sagte sie.

»Der Fotograf von System Times«, verkündete der Majordomus leise. Er straffte sich, als sie sich erhob, bis er zu ihr hinaufblickte und sein Kinn auf einer Höhe mit ihren nackten Schultern war.

»Um die Niederlage einzugestehen?« Sie grinste.

»Das möchte ich annehmen, Ma’am. Er bittet um eine Audienz.«

Sie lachte. »Schön gesagt. Wie viele haben wir diesmal erwischt?«

Der Majordomus rückte ein wenig näher heran und warf einem der Hralze einen nervösen Blick zu, als der ihn anknurrte. »Zweiunddreißig Kameras für bewegte Bilder, Ma’am; und über hundert für Standfotos.«

Sie brachte ihren Mund verschwörerisch dicht ans Ohr des Majordomus und flüsterte: »Nicht mitgezählt die, die wir bei unseren Gästen gefunden haben.«

»Genau, Ma’am.«

»Ich werde ihn empfangen – oder sie?«

»Ihn, Ma’am.«

»Also, ich werde ihn empfangen, allerdings später. Sagen Sie ihm, in zehn Minuten; erinnern Sie mich in zwanzig daran. Im westlichen Atrium.« Sie senkte den Blick auf das Platinarmband an ihrem Handgelenk. Der Projektor, der als Smaragd getarnt war, zeigte kurz den holografischen Plan des alten Kraftwerks in einem Zwillingslichtkegel, der direkt auf ihre Augen gerichtet war.

»Sehr wohl, Ma’am«, sagte Maikril.

Sie berührte ihn am Arm und raunte ihm zu: »Wir gehen hinüber ins Arboretum, in Ordnung?«

Der Kopf des Majordomus bewegte sich kaum merklich, um anzudeuten, dass er verstanden hatte. Sie wandte sich bedauernd an die Leute um sie herum und schlug die Hände zusammen, als ob sie sie um Vergebung anflehen wollte. »Es tut mir außerordentlich Leid. Würden Sie alle mich wohl entschuldigen, nur für einen kurzen Augenblick?« Sie neigte den Kopf zur Seite und lächelte.

 

»Hallo! Guten Tag! Schön, Sie zu sehen. Wie geht es?« Sie schritten schnell durch die Menge der Partygäste, vorbei an den grauen Regenbogen von Drogenflüssen und den schwappenden Becken von Weinbrunnen. Sie ging voraus, mit raschelnden Röcken, während der Majordomus alle Mühe hatte, mit ihrem langbeinigen Gang Schritt zu halten. Sie winkte denen zu, die sie grüßten; Regierungsminister und ihre Schatten, ausländische Würdenträger und Attachés, Medienstars aller Kategorien, Revolutionäre und messinggeschmückte Marinegrößen, Kapitäne aus Industrie und Handel sowie deren auf noch extravagantere Art wohlhabende Anteilseigner. Die Hralze schnappten flüchtig nach den Absätzen des Majordomus; ihre Krallen rutschten auf dem polierten Goldglimmerboden aus, und sie tapsten ungeschickt daher; dann wieder jagten sie ein Stück weiter, wenn sie auf einen der vielen unbezahlbaren Teppiche kamen, die in der Turbinenhalle überall herumlagen.

An der Treppe zum Arboretum, von der Haupthalle aus verborgen durch das östlichste Dynamogehäuse, blieb sie stehen, dankte dem Majordomus, scheuchte die Hralze davon, strich über ihre perfekte Frisur, glättete ihr bereits makellos glattes Gewand und überprüfte, ob der einzige weiße Stein auf dem schwarzen Halsband in der Mitte saß, was der Fall war. Sie begab sich die Stufen hinunter zu dem großen Tor, das in das Arboretum führte.

Einer der Hralze winselte oben an der Treppe, hüpfte auf den Vorderbeinen auf und ab, und seine Augen trieften.

Sie sah sich wütend um. »Ruhe, Hopser! Verschwinde!«

Das Tier senkte den Kopf und trottete davon.

Sie machte das Doppeltor leise hinter sich zu und schloss die stille Fläche üppiger Laubgewächse ein, die das Arboretum darstellte.

Außerhalb der hohen Kristallwölbung der Nebenkuppel war die Nacht schwarz. Im Innern des Arboretums brannten kleine grelle Lampen an hohen Masten und warfen tiefe gezackte Schatten zwischen die Pflanzen. Die Luft war warm und roch nach Erde und Lebenssaft. Sie atmete tief durch und ging zur anderen Seite der umschlossenen Fläche.

 

»Guten Tag.«

Der Mann drehte sich schnell um und sah sie hinter sich stehen, gegen einen Lampenmast gelehnt, die Arme verschränkt, ein kleines Lächeln um die Lippen und in den Augen. Ihr Haar war blauschwarz, wie ihre Augen; ihre Haut war hellbraun, und sie sah schlanker aus als in den Fernsehübertragungen, wo sie manchmal trotz ihrer Größe etwas gedrungen wirkte. Er war groß und sehr schlank und unmodisch blass, und die meisten Menschen hätten bestimmt gefunden, dass seine Augen zu dicht beieinander standen.

Er betrachtete das fein gemusterte Blatt, das er immer noch in einer zerbrechlich aussehenden Hand hielt, und mit einem unsicheren Lächeln trat er aus dem Busch mit den außergewöhnlichen Blüten, den er genauer untersucht hatte. Er rieb sich die Hände, sah peinlich berührt aus. »Es tut mir Leid. Ich …« Er machte eine nervöse Handbewegung.

»Schon gut«, sagte sie und streckte den Arm aus. Sie gaben sich die Hände. »Sie sind Relstoch Sussepin, nicht wahr?«

»Ähm … ja«, antwortete er, offensichtlich überrascht. Er hielt immer noch ihre Hand fest. Als er sich dessen bewusst wurde, drückte sein Gesicht noch mehr Unbehagen aus, und er ließ sie schnell los.

»Diziet Sma.« Sie neigte den Kopf ein wenig, sehr langsam, wodurch sie ihr schulterlanges Haar in Bewegung versetzte, und wandte die Augen nicht von ihm ab.

»Ja, das weiß ich natürlich. Ähm … Freut mich, Sie kennen zu lernen.«

»Gut.« Sie nickte. »Und ich freue mich, Sie kennen zu lernen. Ich habe Ihr Werk gehört.«

»Oh!« Er sah auf jungenhafte Weise zufrieden aus und klatschte in die Hände, eine Geste, die er selbst nicht zu bemerken schien. »Oh, das ist sehr …«

»Ich habe nicht gesagt, dass es mir gefallen hat«, unterbrach sie ihn, und das Lächeln umspielte jetzt nur noch die eine Seite ihres Mundes.

»Ach.« Niedergeschlagenheit.

So grausam. »Aber es hat mir sehr gut gefallen«, sagte sie, und plötzlich war sie auf mitteilsame – fast sogar verschwörerische – Weise erheitert, und ihre Miene drückte Reue aus.

Er lachte, und sie spürte, wie sie sich innerlich entspannte. Das hier würde gut laufen.

»Ich habe mich gefragt, warum ich eingeladen worden bin«, gestand er, und die tief liegenden Augen strahlten plötzlich auf. »Alle hier machen einen so« – er zuckte die Achseln – »wichtigen Eindruck. Deshalb habe ich …« Er deutete linkisch hinter sich auf die Pflanze, die er untersucht hatte.

»Und Sie sind nicht der Ansicht, dass Komponisten als wichtig gelten sollten?«, fragte sie mit einem sanften Tadel in der Stimme.

»Na ja … Verglichen mit all diesen Politikern und Admiralen und Geschäftsleuten … Was die Macht betrifft, meine ich … Und ich bin nicht einmal ein sehr bekannter Musiker. Ich hätte gedacht, dass Savntreig oder Khu oder …«

»Die haben ihre Karriere jeweils sehr gekonnt komponiert, das steht jedenfalls fest«, stimmte sie ihm zu.

Er schwieg einen Moment lang, dann stieß er ein kleines Lachen aus und senkte den Blick. Seine Haare waren sehr fein und schimmerten im Licht der hohen Lampe. Jetzt war sie an der Reihe, in sein Lachen einzustimmen. Vielleicht sollte sie jetzt die Aufgabe zur Sprache bringen und das Thema nicht bis zu ihrer nächsten Begegnung aufzusparen, wenn sie die Zahlen – selbst wenn es in diesem Moment auch noch weit entfernte Zahlen waren – auf ein etwas freundlicheres Niveau reduzieren würde … oder es gar bis zu einem privaten Rendezvous hinauszögern, zu einem noch viel späteren Zeitpunkt, wenn sie erst einmal sicher sein konnte, dass er ihrem Zauber erlegen war.

Wie lange sollte sie um den heißen Brei herumreden? Er war das, was sie wollte, aber nach einer belasteten Freundschaft würde das viel mehr bedeuten; dieser lange, zarte Austausch von immer vertraulicher werdenden Intimitäten, das langsame Anhäufen von gemeinsamen Erfahrungen, der träge Spiraltanz der gegenseitigen Anziehung, das Kommen und Gehen und Kommen und Gehen, sich immer näher an den anderen heranwindend, bis diese Trägheit in der überwältigenden Hitze der Vergeltungssucht entflammte.

Er blickte ihr in die Augen und sagte: »Sie schmeicheln mir, Miss Sma.«

Sie erwiderte seinen Blick und hob das Kinn ein wenig an, sich jeder Ausdrucksnuance ihrer umsichtig eingesetzten Körpersprache bewusst. Jetzt war ein Ausdruck in seinem Gesicht, der ihr gar nicht mehr so kindlich vorkam. Seine Augen erinnerten sie an den Stein an ihrem Halsband. Sie war etwas aus der Fassung gebracht und holte tief Luft.

»Hm.«

Sie erstarrte.

Der Laut war irgendwo seitlich hinter ihr geäußert worden. Sie sah, wie Sussepins Blick flatterte und abschweifte.

Sma behielt eine gelassene Miene bei, während sie sich umwandte; dann starrte sie das grauweiße Gehäuse der Drohne an, als versuchte sie, Löcher hineinzuätzen.

»Was?«, sagte sie mit einer Stimme, die Stahl zum Schmelzen gebracht hätte.

Der unbemannte Flugkörper der Bauart Drohne hatte die Größe – und annähernd auch die Form – eines kleinen Koffers. Er schwebte auf ihr Gesicht zu.

»Es gibt Zoff, Schätzchen«, sagte er, dann schwenkte er schnell zur Seite und neigte den Körper so, dass es aussah, als betrachtete er das tintenschwarze Himmelsgewölbe jenseits der Kristallhalbkugel.

Sma blickte hinunter auf den Steinboden des Arboretums und kräuselte die Lippen. Sie gestattete sich ein winziges Kopfwackeln.

»Mister Sussepin«, sagte sie lächelnd und spreizte die Hände. »Es schmerzt mich, aber würden Sie …«

»Natürlich.« Er hatte sich bereits in Bewegung gesetzt und eilte mit einem flüchtigen Nicken an ihr vorbei.

»Vielleicht können wir uns ein andermal unterhalten«, sagte sie.

Er drehte sich um, immer noch im Rückzug begriffen. »Ja. Ich würde … das wäre …« Offenbar fiel ihm nichts ein, und er nickte wieder nervös, während er eilends auf das Tor am anderen Ende des Arboretums zuschritt. Er ging hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.

Sma drehte sich ruckartig zu der Drohne um, die jetzt unschuldig summte und dem Anschein nach in die Tiefe einer Blume von auffallender Farbe blickte, den stummeligen Rüssel halb in der Blüte vergraben. Der Flugkörper bemerkte sie und sah auf. Sie stand mit gespreizten Beinen da, stützte eine Faust in die Hüfte und sagte: »Schätzchen?«

Das Aurafeld des Fahrzeugs blitzte auf; die Mischung aus purpurnem Bedauern und Geschützlegierungsverwirrung wirkte eindeutig nicht überzeugend. »Ich weiß nicht, Sma … Ist mir nur so rausgerutscht. Es klang gerade so gut.«

Sma stieß mit dem Fuß gegen einen toten Ast, blickte die Drohne eindringlich an und sagte: »Also?«

»Was ich dir zu sagen habe, wird dir nicht gefallen«, sagte der Flugkörper leise, zog sich ein wenig zurück und lief dunkel an vor Kummer.

Sma zögerte. Sie wandte den Blick für eine Weile ab, ihre Schultern sackten plötzlich nach vorn. Sie ließ sich auf einer Baumwurzel nieder. Ihr Gewand legte sich in unordentliche Falten. »Es geht um Zakalwe, nicht wahr?«

Die Drohne ließ vor Überraschung Regenbogen aufzucken; das geschah so schnell – dachte sie –, dass man es fast für echt hätte halten können. »Du liebe Güte«, sagte sie. »Wie …?«

Sma tat die Frage mit einer Handbewegung ab. »Ich weiß es nicht. Der Klang deiner Stimme. Menschliche Intuition … Es musste ja mal wieder so kommen. Das Leben war zu angenehm geworden.« Sie schloss die Augen und legte den Kopf an den rauen dunklen Baumstamm. »Und nun?«

Die Drohne Skaffen-Amtiskaw sank bis zur Schulter der Frau herab, und die Frau sah sie an.

»Wir brauchen ihn wieder mal«, erklärte sie ihr.

»So etwas habe ich mir gedacht«, seufzte Sma und schnippte ein Insekt weg, das sich gerade auf ihrer Schulter niedergelassen hatte.

»Nun, ja. Ich fürchte, anders geht es nicht – er persönlich.«

»Ja, aber muss auch ich persönlich …?«

»So … lautet die Abmachung.«

»Wunderbar«, sagte Sma missmutig.

»Möchtest du den Rest auch noch hören?«

»Ist er erfreulicher?«

»Eigentlich nicht.«

»Zum Teufel!« Sma schlug sich mit den Händen auf den Schoß. »Du kannst mir genauso gut gleich alles auf einmal verpassen.«

»Du müsstest morgen aufbrechen.«

»Ach, Drohne, jetzt hör aber auf!« Sie vergrub den Kopf in den Händen. Dann blickte sie auf. Die Drohne spielte mit einem Zweig. »Du machst Witze.«

»Leider nicht.«

»Und was wird aus all dem hier?« Sie deutete mit einer ausholenden Handbewegung auf das Tor der Turbinenhalle. »Wie geht es mit der Friedenskonferenz weiter? Was ist mit all dem Abschaum da draußen, mit den schmierigen Händen und den glänzenden Augen? Was ist mit der dreijährigen Arbeit? Was wird aus einem ganzen Scheißplaneten …?«

»Die Konferenz wird fortgeführt werden.«

»O ja, sicher, doch was ist mit dieser ›intimen Rolle‹, die mir zugedacht war?«

»Ach«, sagte die Drohne und hob den Zweig direkt vor das sensorische Band vorn in ihrem Gehäuse, »nun …«

»O nein!«

»Hör zu, ich weiß, dir missfällt …«

»Nein, Drohne; es ist nicht …« Sma stand plötzlich auf und ging ans Ende der Kristallwand, um in die Nacht hinauszublicken.

»Dizzy …«, sagte die Drohne und kam näher herangeschwebt.

»Komm mir nicht mit ›Dizzy‹!«

»Sma …, es ist kein echtes Wesen. Es handelt sich um ein Double; elektronisch, mechanisch, elektrochemisch, chemisch; eine Maschine; eine bewusstseinsgesteuerte Maschine, kein eigenständiges, lebendiges Geschöpf. Weder ein Klon noch …«

»Ich weiß, worum es sich handelt, Drohne«, sagte sie und schlug die Hände hinter sich zusammen.

Die Drohne kam noch näher herangeschwebt, legte ihr die Felder auf die Schulter und drückte sie sanft. Dann löste sie den Griff und senkte den Blick.

»Wir brauchen deine Einwilligung, Diziet.«

»Ja, auch das weiß ich.« Sie sah nach oben auf der Suche nach Sternen, die zweifach verborgen waren, durch Wolken und durch die Lichter des Arboretums.

»Du kannst natürlich hier bleiben, wenn du darauf bestehst.« Die Stimme der Drohne klang hintergründig, vorwurfsvoll. »Die Friedenskonferenz ist sicher wichtig; sie bedarf … einer Persönlichkeit, die die Dinge schlichtet. Daran besteht kein Zweifel.«

»Und warum ist es so verdammt entscheidend, dass ich morgen aufbreche?«

»Erinnerst du dich an Voerenhutz?«

»Ich erinnere mich an Voerenhutz«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme.

»Nun, der Friede hat vierzig Jahre gedauert, doch jetzt droht er zu zerbrechen. Zakalwe arbeitete mit einem Mann namens …«

»Maitchigh?«, warf sie stirnrunzelnd ein und wandte den Kopf halb zu dem Flugkörper um.

»Beychae. Tsoldrin Beychae. Er wurde Präsident des Haufens, der unserer Sache folgte. Solange er an der Macht war, hielt er das politische System zusammen, doch er hat sich vor acht Jahren zur Ruhe gesetzt, lange bevor er dazu gezwungen war, sein Leben der Forschung und philosophischen Betrachtung zu widmen.« Die Drohne gab ein seufzerartiges Geräusch von sich. »Seither haben sich die Dinge zurückentwickelt, und zur Zeit lebt Beychae auf einem Planeten, dessen Anführer jenen Kräften gegenüber unterschwellig feindselig eingestellt sind, die Zakalwe und Beychae repräsentierten und die wir unterstützten; diese Anführer haben eine leitende Funktion in der Gruppe übernommen. Es sind etliche kleine Streitereien ausgebrochen, und es brauen sich noch viel mehr zusammen. Es droht ein Krieg auf der ganzen Linie, in den der gesamte Haufen hineingezogen wird, wie man hört.«

»Und Zakalwe?«

»Im Grunde genommen ist es eine Kleinigkeit. Hinunter zum Planeten, Beychae überzeugen, dass er gebraucht wird, und ihn zumindest dazu bringen, dass er sein Interesse bekundet. Doch das könnte einen flexiblen körperlichen Einsatz erfordern, und die zusätzliche Schwierigkeit ist, dass Beychae nicht leicht zu überzeugen sein wird.«

Sma dachte darüber nach, während sie in die Nacht starrte. »Gibt es keine Tricks, die wir anwenden könnten?«

»Die beiden Männer kennen einander zu gut, als dass etwas anderes als der wirkliche Zakalwe funktionieren könnte … Und genauso verhält es sich mit Tsoldrin Beychae und der politischen Maschinerie im ganzen System. Insgesamt sind bei der Sache zu viele Erinnerungen im Spiel.«

»Ja«, sagte Sma leise. »Zu viele Erinnerungen.« Sie rieb sich die nackten Schultern, als ob ihr kalt wäre. »Werden auch schwere Geschütze aufgefahren?«

»Wir sind dabei, eine Bereitschaftsflotte aufzustellen; den Kern bilden ein Spezial-Systemtransporter und drei Allgemeine Kontakt-Einheiten, die um die Gruppe herum stationiert sind, und dazu ungefähr achtzig weitere AKE, die sich in einer Bahn aufhalten, aus der sie innerhalb eines Monats herbeieilen können. Innerhalb des nächsten Jahres oder so müssten noch vier oder fünf Universal-Systemtransporter in zwei- oder dreimonatiger Reichweite zur Verfügung stehen. Aber das ist die alleräußerste Reserve.«

»Mega-Zahlen von Toten machen keinen guten Eindruck, wie?« Smas Stimme klang verbittert.

»Wenn du es so ausdrücken willst, ja«, antwortete Skaffen-Amtiskaw.

»O verdammt!«, sagte Sma leise und schloss die Augen. »Also, wie weit ist es nach Voerenhutz? Ich habe es vergessen.«

»Nur etwa vierzig Tage, aber wir müssen erst noch Zakalwe unterwegs auflesen; sagen wir mal … neunzig für den ganzen Ausflug.«

Sie drehte sich um. »Wer wird mein Double überwachen, wenn ich mit dem Schiff unterwegs bin?« Sie warf einen kurzen Blick zum Himmel.

»Die Auf Probe wird auf jeden Fall hier bleiben«, sagte die Drohne. »Dir wird das sehr schnelle Patrouillenboot Xenophobe zur Verfügung gestellt. Es kann morgen starten, frühestens kurz nach Mittag, wenn du es wünschst.«

Sma stand eine Weile lang reglos da, die Füße dicht nebeneinander, die Arme verschränkt, die Lippen geschürzt und das Gesicht angespannt. Skaffen-Amtiskaw kam nach einer kurzen Innenschau zu dem Entschluss, dass sie ihr Leid tat.

Die Frau rührte sich eine Zeit lang nicht und sagte nichts; dann plötzlich schritt sie auf das Tor der Turbinenhalle zu, wobei ihre Absätze auf dem gefliesten Weg klapperten.

Die Drohne sauste hinter ihr her und heftete sich an ihre Schulter.

»Was ich mir wünschte«, sagte Sma, »wäre, dass du eine bessere Zeitplanung hättest.«

»Es tut mir Leid. Bin ich dir bei irgendwas in die Quere gekommen?«

»Ganz und gar nicht. Und was, zum Teufel, ist überhaupt ein ›sehr schnelles Patrouillenboot‹?«

»Ein neuer Name für eine Entmilitarisierte Schnelle Angriffseinheit, eine ESAE«, sagte die Drohne.

Sie sah den Flugkörper an. Er wackelte auf eine Art, die einem Achselzucken gleichkam.

»Angeblich klingt diese Bezeichnung besser.«

»Und sie heißt Xenophobe? Na ja, sehr passend. Kann mein Double sofort einspringen?«

»Morgen Mittag; könntest du die Vorbereitungen des Einsatzes …«

»Morgen Früh«, sagte Sma, während die Drohne vor ihr herumflackerte und die großen Torflügel öffnete, indem er sie ansaugte; sie schritt hindurch und eilte die Stufen hinauf, die zur Turbinenhalle führten, wobei sie ihre Röcke vorn raffte. Die Hralze kamen aus der Halle um die Ecke geflitzt und drängten sich jaulend und hopsend um sie herum. Sma blieb stehen, während die Tiere um sie herumtollten, an ihrem Saum schnupperten und versuchten, ihr die Hände zu lecken.

»Nein«, sagte sie zu der Drohne. »Wenn ich es mir recht überlege, kannst du mich noch heute Abend scannen, sobald ich dir Bescheid gebe. Ich werde zusehen, dass ich dieses Pack möglichst früh loswerde. Ich werde jetzt Botschafter Onitnert suchen; lass Chuzleis von Maikril ausrichten, dass sie den Minister in zehn Minuten an die Bar bei Turbine Eins bringen soll. Übermittle meine Bitte um Entschuldigung an die Typen von System Times, sorge dafür, dass sie in die Stadt zurückgebracht und versorgt werden; jeder soll eine Flasche Nachtnektar bekommen. Sag dem Fotografen ab, gib ihm eine Kamera für Standaufnahmen und lass ihn … vierundsechzig Fotos machen, mit ausdrücklicher Genehmigung. Jemand von der männlichen Belegschaft soll Relstoch Sussepin suchen und ihn bitten, in zwei Stunden in meine Gemächer zu kommen. Oh, und …«

Sma verstummte plötzlich und ließ sich in die Hocke nieder, um die lange Schnauze eines der winselnden Hralze in den Händen zu wiegen. »Schönchen, Schönchen, ich weiß, ich weiß doch«, sagte sie, während das dickbäuchige Tier jämmerlich jaulte und ihr übers Gesicht leckte. »Ich wäre gern bei der Geburt deiner Babys dabei, aber es geht nicht …« Sie seufzte, streichelte das Tier und hielt sein Kinn in einer Hand. »Was soll ich nur tun, Schönchen? Ich könnte dich in Tiefschlaf versetzen lassen, bis ich zurückkomme, und du würdest es niemals erfahren … Aber all deine Freunde würden dich vermissen.«

»Lass sie alle in Tiefschlaf versetzen«, schlug die Drohne vor.

Sma schüttelte den Kopf. »Du passt auf sie auf, während ich weg bin«, wies sie den anderen Hralz an. »Ja?« Sie küsste das Tier auf die Nase und stand auf. Schönchen musste niesen.

»Noch zwei Dinge, Drohne«, sagt Sma, während sie durch die aufgeregte Meute schritt.

»Was denn?«

»Nenn mich nie wieder ›Schätzchen‹, abgemacht?«

»Abgemacht. Was noch?«

Sie bogen um den schimmernden Rumpf der Turbine Nummer Sechs, die schon lange außer Betrieb war, und Sma hielt einen Moment inne, um den Blick über die emsig beschäftigte Menge vor ihr wandern zu lassen; dann holte sie tief Luft und straffte die Schultern. Sie lächelte bereits, als sie weiterging und leise zu der Drohne sagte: »Ich möchte nicht, dass mein Double mit irgendjemandem ins Bett geht.«

»Okay«, sagte die Drohne, während sie sich den Partygästen näherten. »Schließlich ist es in gewisser Hinsicht dein Körper.«

»Das ist genau der Punkt, Drohne«, sagte Sma und nickte einem Diener zu, der herbeigeeilt kam und ein Tablett mit Getränken darbot. »Es ist nicht mein Körper.«

 

Fluggeräte und Bodenfahrzeuge entfernten sich schwebend beziehungsweise schlängelnd von dem alten Kraftwerk. Die wichtigen Leute waren bereits gegangen. Es waren noch ein paar Unermüdliche im Saal, aber die kamen gut ohne sie zurecht. Sie fühlte sich müde und drüste einen kleinen Hormon-Kick, um ihre Stimmung zu heben.

Vom Südbalkon der Gemächer, in die der Nebenblock des Kraftwerks umgewandelt worden war, blickte sie hinunter in das tiefe Tal und die Kette von Rücklichtern, die entlang des Riverside Drive aufgereiht waren. Eine Flugmaschine pfiff über sie hinweg, legte sich in die Kurve und drehte über der großen gewölbten Mauer des alten Staudamms ab. Sie sah der entschwindenden Maschine nach und ging dann auf die Penthousetür zu, wobei sie die kleine Jacke für offizielle Anlässe auszog und sich über die Schulter warf.

Musik erklang tief im Inneren der luxuriös ausgestatteten Suite unter dem Dachgarten. Sie ging stattdessen in Richtung Arbeitszimmer, wo Skaffen-Amtiskaw wartete.

Das Rasterbild, mit dem das Double auf den neuesten Stand gebracht wurde, entstand in wenigen Minuten mit dem Scanner. Sie hatte dabei das übliche Gefühl der Verwirrung, doch es ging schnell vorbei. Sie schleuderte die Schuhe von den Füßen und tappte durch den weichen dunklen Korridor in die Richtung, aus der die Musik kam.

Relstoch Sussepin hievte sich aus dem Sessel, in dem er es sich gemütlich gemacht hatte, ohne das sanft schimmernde Glas mit Nachtnektar loszulassen. Sma blieb in der Tür stehen.

»Danke, dass Sie dageblieben sind«, sagte sie und ließ das Jäckchen auf eine Couch fallen.

»Gern geschehen.« Er führte das Glas mit dem glitzernden Getränk an die Lippen, doch dann überlegte er es sich offenbar anders und wiegte es stattdessen in beiden Händen. »Was … äh … hatten Sie irgendetwas Besonderes …?«

Sma lächelte, was irgendwie traurig wirkte, und legte beide Hände auf die seitlichen Kopfpolster des großen Drehsessels, hinter dem sie stand. Sie senkte den Blick auf das Fellkissen. »Vielleicht bilde ich mir jetzt zu viel auf mich ein«, sagte sie. »Aber, um nicht lange um die Sache herumzureden …« Sie sah zu ihm auf. »Hast du Lust, mit mir zu schlafen?«

Relstoch Sussepin stand stocksteif da. Nach einer Weile hob er das Glas zum Mund und nahm einen langsamen, ausgiebigen Schluck, dann senkte er das Glas wieder gemächlich. »Ja«, sagte er. »Ich würde gern … sofort.«

»Es geht nur heute Nacht«, sagte sie und hielt eine Hand hoch. »Nur heute Nacht. Es ist schwierig zu erklären, aber ab morgen … Für vielleicht ein halbes Jahr oder länger, werde ich unglaublich beschäftigt sein; ein Job, bei dem ich sozusagen an zwei Orten gleichzeitig sein werde, verstehst du?«

Er hob die Schultern. »Natürlich. Alles was du sagst.«

Daraufhin entspannte sich Sma, und ein Lächeln überzog ihr Gesicht. Sie drehte den großen Sessel mit einem Stoß um und streifte sich das Armband vom Handgelenk, um es auf die Sitzfläche fallen zu lassen. Dann knöpfte sie behutsam das Oberteil ihres Abendkleides auf und stand erwartungsvoll da.

Sussepin kippte den Inhalt seines Glases hinunter, stellte es in ein Regal und schritt auf sie zu.

»Lampen«, flüsterte sie.

Die Lampen dämpften langsam ihr Licht, immer mehr, bis schließlich der sanft schimmernde Bodensatz des Getränkes das Glas in dem Regal zum hellsten Gegenstand im Raum machte.

XIII

 

»Wach auf!«

Er wachte auf. Dunkelheit. Er straffte sich unter der Decke und fragte sich, wer ihn auf diese Weise angesprochen haben mochte. Niemand nahm sich diesen Ton ihm gegenüber heraus, nicht mehr; selbst im Halbschlaf, nachdem er unerwartet aus dem Schlaf gerissen worden war, zu einem Zeitpunkt mitten in der Nacht, vernahm er etwas in diesem Ton, das er seit zwei, vielleicht drei Jahrzehnten nicht mehr gehört hatte. Unverschämtheit. Respektlosigkeit.

Er streckte den Kopf aus den schützenden Decken in die warme Luft des Raums und spähte in der düsteren Beleuchtung, die von einer einzigen Lampe stammte, in alle Richtungen, um zu sehen, wer es gewagt hatte, ihn auf diese Weise anzusprechen. Ein Augenblick der Angst – war es jemandem gelungen, an den Wachen und Sicherheitsmonitoren vorbeizukommen? – wurde abgelöst von einer zornigen Neugier, wer die Unverfrorenheit hatte, so mit ihm zu sprechen.

Der Eindringling saß auf einem Stuhl direkt am Ende des Bettes. Er sah sonderbar aus, auf eine sehr neue Art ungewöhnlich, von unbestimmbarer Herkunft, möglicherweise sogar fremdweltlich. Er vermittelte den Eindruck, eine leicht verzerrte Projektion zu sein. Auch seine Kleidung sah fremdartig aus; sackförmig, grellfarben, selbst im dämmrigen Licht der Nachttischlampe. Der Mann war wie ein Clown oder ein Hofnarr gekleidet, doch sein irgendwie zu gleichmäßiges Gesicht hatte einen Ausdruck von … Grimm? Verachtung? Die … Fremdartigkeit machte eine Deutung schwierig.

Er wollte nach seiner Brille greifen, doch es war nur der Schlaf in den Augen, der seine Sicht trübte. Die Chirurgen hatten ihm vor fünf Jahren neue Augen verpasst, doch nach sechzig Jahren Kurzsichtigkeit konnte er sich die eingefleischte Reaktion nicht abgewöhnen, bei jedem Erwachen nach seiner nicht vorhandenen Brille zu greifen. Das war ein geringer Preis, den er zu zahlen hatte, dachte er immer wieder, und jetzt, mit der Alterungsumkehrbehandlung … Der Schlaf wich aus seinen Augen. Er setzte sich auf, betrachtete den Mann auf dem Stuhl und glaubte, zu träumen oder einen Geist zu sehen.

Der Mann sah jung aus; er hatte ein breites, gebräuntes Gesicht und schwarzes Haar, das zum Hinterkopf zurückgebunden war, doch das waren nicht die Gründe, weshalb ihm der Gedanke an Geister und Tote kam. Es lag an den dunklen, tiefgründigen Augen und den unirdischen Zügen des Gesichts.

»Guten Abend, Ethnarch.« Die Stimme des jungen Mannes klang verhalten und gemessen. Irgendwie wirkte sie wie die Stimme einer viel älteren Person, verglichen mit der sich der Ethnarch auf einmal jung vorkam. Ein eisiger Schauder durchfuhr ihn. Er blickte sich im Raum um. Wer war dieser Mann? Wie war er hier hereingelangt? Angeblich war der Palast uneinnehmbar. Überall waren Wachposten aufgestellt. Was ging da vor sich? Die Angst kehrte zurück.

Das Mädchen vom vergangenen Abend lag immer noch auf der anderen Seite des breiten Bettes, nur eine Erhebung unter der Decke. Ein paar ungenutzte Bildschirme an der Wand zur Linken des Ethnarchen warfen den schwachen Schein der Nachttischlampe zurück.

Er hatte Angst, aber jetzt war er vollkommen wach, und sein Gehirn arbeitete schnell. Im Kopfbrett des Bettes war eine Pistole verborgen; der Mann am Fußende des Bettes war dem Anschein nach nicht bewaffnet. Doch die Pistole stellte eine letzte Zuflucht in höchster Verzweiflung dar. Der Stimmkode war das Richtige. Die Mikrofone und Kameras im Raum waren in Funktionsbereitschaft, und ihre automatischen Schaltsysteme warteten nur auf einen bestimmten Satz, der sie einschalten würde; manchmal wollte er hier eine ungestörte Privatsphäre, hin und wieder wollte er etwas nur für sich selbst aufzeichnen, und natürlich hatte er immer um die Möglichkeit gewusst, dass ein Unbefugter sich Zutritt verschaffen könnte, wie dicht das Sicherheitsnetz auch sein mochte.

Er räusperte sich. »Na, das ist aber mal eine Überraschung!« Seine Stimme klang ganz ausgeglichen, ruhig.

Er lächelte dünn, zufrieden mit sich selbst. Sein Herz – das Herz, das bis vor elf Jahren einer athletischen jungen Anarchistin gehört hatte – schlug schnell, doch nicht so schnell, dass es beunruhigend gewesen wäre. Er nickte. »Das ist wirklich eine Überraschung«, wiederholte er. Damit waren die entscheidenden Worte gefallen! Im Kontrollraum im Erdgeschoss würde bereits die Alarmanlage läuten ; die Wachleute würden in ein paar Sekunden zur Tür hereingestürmt kommen. Oder vielleicht wollten sie dieses Risiko nicht eingehen und würden stattdessen die Gaszylinder in der Decke auslösen und sie beide durch eine Explosion in die Bewusstlosigkeit und einen blendenden Nebel schleudern. Das barg die Gefahr in sich, dass seine Trommelfelle platzten, dachte er und schluckte, doch er könnte sich immer wieder neue von einem gesunden Dissidenten beschaffen. Vielleicht wäre das nicht einmal nötig; Gerüchten zufolge umfasste der Prozess der Alterungsumkehr auch die Möglichkeit, dass Körperteile nachwuchsen. Nun, es war kein Schaden, wenn man ein paar Reserven hatte, wenn man auf Nummer Sicher ging. Er schätzte das Gefühl des Geschütztseins, das ihm das verlieh. »Nun«, hörte er sich selbst sagen, nur für den Fall, dass die Schaltsysteme den Kode beim ersten oder zweiten Mal nicht mitbekommen hatten, »das ist wirklich eine Überraschung.« Die Wachleute müssten jeden Augenblick hier sein …

Der grell gekleidete junge Mann lächelte. Er krümmte den Körper auf seltsame Art und beugte sich dann vor, bis seine Ellbogen auf dem oberen Rand des geschnitzten Fußbretts des Bettes ruhten. Seine Lippen bewegten sich und fabrizierten so etwas wie ein Lächeln. Er griff in eine der Taschen seiner schlabberig weiten Hose und brachte eine kleine schwarze Pistole zum Vorschein. Er richtete sie auf den Ethnarchen und sagte: »Dein Kode funktioniert nicht, Ethnarch Kerian. Es wird keine Überraschungen geben. Das Sicherheitszentrum im Erdgeschoss ist ebenso tot wie alles andere.«

Der Ethnarch Kerian starrte die kleine Waffe an. Er hatte Wasserpistolen gesehen, die mehr Eindruck machten. Was geht hier vor? Sollte er wirklich gekommen sein, um mich umzubringen? Der Mann war bestimmt nicht wie ein Meuchelmörder gekleidet, und jeder ernsthafte Attentäter hätte ihn mit Sicherheit im Schlaf umgebracht. Je länger der Bursche dort saß und redete, desto mehr brachte er sich in Gefahr, ob er nun die Verbindungen zum Sicherheitszentrum gekappt hatte oder nicht. Also war er vielleicht ein Wahnsinniger, aber gewiss kein Mörder. Es war einfach absurd, dass sich ein echter, professioneller Meuchelmörder so benehmen sollte, und nur einem außerordentlich fähigen und absolut professionell arbeitenden Attentäter wäre es gelungen, die Sicherheitssysteme des Palastes zu umgehen … Auf diese Weise versuchte der Ethnarch Kerian sein plötzlich wild schlagendes, rebellisches Herz zu beruhigen. Wo blieben nur die verdammten Wachleute? Er dachte wieder an die Pistole, die in dem geschnitzten Kopfbrett hinter ihm verborgen war.

Der junge Mann verschränkte die Arme, sodass die kleine Pistole nicht mehr auf den Ethnarchen gerichtet war.

»Hast du etwas dagegen, dass ich dir eine kleine Geschichte erzähle?«

Er muss wahnsinnig sein! »Nein, nein, erzähl mir ruhig eine kleine Geschichte«, sagte der Ethnarch in seinem freundlichsten und onkelhaftesten Ton. »Übrigens, wie heißt du eigentlich? Offenbar hast du mir einiges an Wissen voraus.«

»Ja, das habe ich, nicht wahr?«, kam die alte Stimme über die jungen Lippen. »Genau genommen sind es zwei Geschichten, aber den größten Teil der einen kennst du bereits. Ich erzähle sie gleichzeitig; wir wollen mal sehen, ob du unterscheiden kannst, welche welche ist.«

»Ich …«

»Pscht«, sagte der Mann und legte sich die kleine Pistole an die Lippen.

Der Ethnarch warf einen Seitenblick zu dem Mädchen auf der anderen Seite des Bettes. Ihm wurde bewusst, dass er und der Eindringling in ziemlich gedämpfter Lautstärke gesprochen hatten. Wenn er das Mädchen aufwecken würde, könnte es den Fremden vielleicht in seinen Bann ziehen oder zumindest so lange seine Aufmerksamkeit ablenken, bis er sich die Pistole aus dem Kopfbrett gegriffen hatte; er war so schnell wie seit zwanzig Jahren nicht mehr, dank der neuen Behandlung … Wo, zum Teufel, blieben nur die Wachleute?

»Jetzt hör mal zu, junger Mann!«, brüllte er. »Ich möchte bloß mal wissen, was du dir einbildest! He?«

Seine Stimme – eine Stimme, die ohne Verstärker ganze Säle und Plätze gefüllt hatte – hallte im Raum wider. Verdammt, sogar die Wachleute im Sicherheitszentrum im Erdgeschoss müssten ihn jetzt gehört haben, auch ohne Mikrofone. Das Mädchen auf der anderen Seite des Bettes regte sich nicht.

Der junge Mann feixte. »Sie schlafen alle fest, Ethnarch. Es gibt nur dich und mich. Also, jetzt zu der Geschichte …«

»Was …?«, fragte der Ethnarch Kerian mit erstickter Stimme, während er die Beine unter der Decke anzog. »Was willst du hier?«

Die Miene des Eindringlings drückte gelindes Erstaunen aus. »Oh, ich bin hier, um dich abzuholen. Du sollst entfernt werden. Also …« Er legte die Pistole auf den oberen Rand des Fußbrettes. Der Ethnarch starrte sie an. Sie war zu weit entfernt, als dass er sie hätte packen können, aber …