Krieg der Seelen - Iain Banks - E-Book

Krieg der Seelen E-Book

Iain Banks

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Seit Jahrzehnten tobt ein Krieg, der über das Leben nach dem Tod entscheidet

Wenn der Tod nicht mehr das Ende ist, weil jedes Bewusstsein digital gespeichert wird, wenn die Massenspeicher von Himmel und Hölle zum Angriff rüsten, wenn eine junge Frau für ihre Rache die Grenzen zwischen Raum und Zeit überwindet und nur ein Mann die größte aller Schlachten verhindern kann – dann entbrennt ein Krieg, der die Grenzen zwischen Realität und den digitalen Welten verschwimmen lässt, bis Leben und Tod an Bedeutung verlieren.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1048

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Der Tod ist besiegt – zumindest virtuell. Denn jedes Bewusstsein wird im digitalen Raum gespeichert, im Himmel oder in einer der zahlreichen Höllen, wo die Verdammten unerträgliche Qualen erleiden müssen. Doch seit Jahrtausenden schwelt ein Konflikt in der Galaxis: Sollen die Höllen abgeschafft werden? Die Befürworter erachten die digitale Verdammnis der Seelen als unwürdig für die hochentwickelten Zivilisationen, die Gegner sehen in der Hölle die einzige Chance zur Aufrechterhaltung der moralischen Standards. Doch nun spitzt sich der Konflikt zu, und als die Pro-Höllen-Fraktion zu gewinnen droht, sehen ihre Gegner nur eine Möglichkeit, den Konflikt doch noch für sich zu entscheiden: den Krieg in die Realität zu tragen. Und das wäre nicht nur das Ende der Höllen, sondern das der gesamten Galaxis …

Zum Autor

Iain Banks wurde 1954 in Schottland geboren. Nach einem Englischstudium schlug er sich mit etlichen Gelegenheitsjobs durch, bis ihn sein 1984 veröffentlichter Roman Die Wespenfabrik als neue aufregende literarische Stimme bekannt machte. In den folgenden Jahren schrieb er zahllose weitere erfolgreiche Romane, darunter Die Sphären, Der Algebraist und Welten. Banks gilt heute als einer der bedeutendsten Vertreter der britischen Gegenwartsliteratur.

Iain Banks

Kriegder

Seelen

Roman

Aus dem Englischen von Andreas Brandhorst

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der englischen Originalausgabe

SURFACEDETAIL

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Deutsche Erstausgabe 01/2012

Redaktion: Rainer Michael Rahn

Copyright © 2010 by Iain Banks

Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-07284-1V002

www.heyne-magische-bestseller.de

Für Seth und Lara

Mit Dank an Adèle

1

Diese Frau könnte ein Problem werden.«

Sie hörte einen von ihnen dies sagen, nur etwa zehn Meter entfernt in der Dunkelheit. Hinter der Furcht, dem Entsetzen darüber, gejagt zu werden, prickelten Aufregung und fast so etwas wie Triumph, als sie begriff, dass über sie gesprochen wurde. Ja, dachte sie, ich könnte nicht nur ein Problem für euch werden, ich bin es bereits geworden. Und die Männer waren auch besorgt– während der Jagd erlebten die Jäger ihre eigene Furcht. Zumindest einer von ihnen. Der Mann, der die Worte gesprochen hatte, hieß Jasken. Veppers’ wichtigster Leibwächter und Sicherheitschef. Jasken. Natürlich. Wer sonst?

»Das glauben Sie, nicht wahr?«, ertönte die Stimme eines zweiten Mannes. Das war Veppers. Etwas in ihr schien zu erstarren, als sie seine tiefe, perfekt modulierte Stimme hörte, jetzt kaum mehr als ein Flüstern. »Andererseits… Sie sind alle problematisch.« Er klang außer Atem. »Können Sie damit irgendetwas sehen?« Vermutlich meinte er Jaskens Erweiternde Okulinsen, ein außerordentlich teures Stück Hardware, das wie eine dicke Sonnenbrille aussah. Sie machten die Nacht zum Tag, zeigten ihrem Benutzer angeblich sogar Wärme und Radiowellen. Jasken trug sie oft, aus Angeberei, wie sie geglaubt hatte. Aber vielleicht verriet er damit eine tief in ihm verwurzelte Unsicherheit. So wundervoll die Brille auch sein mochte, noch hatte sie Jasken nicht dabei geholfen, sie wieder Veppers’ sorgfältig manikürten Händen auszuliefern.

Sie stand, ganz dicht, an einem Bühnenbild. Bevor sie sich dagegen gedrückt hatte, gerade eben, hatte sie es in der Düsternis als mit dunklen und hellen Farben bemalte Leinwand erkannt, war aber zu nahe gewesen, um Einzelheiten zu sehen. Sie neigte den Kopf ein wenig nach vorn und wagte einen Blick nach unten und nach links, dorthin, wo die beiden Männer standen: auf einem Gerüst, das aus der Nordwand des Bühnenhauses ragte. Dort nahm sie zwei schemenhafte Gestalten wahr, eine von ihnen hatte etwas in der Hand, das ein Gewehr sein mochte. Sie konnte nicht sicher sein. Im Gegensatz zu Jasken blieb sie auf ihre Augen angewiesen.

Sie atmete flach und gleichmäßig und brachte, um nicht gesehen zu werden, den Kopf mit einer schnellen, aber glatten Bewegung nach hinten. Vorsichtig reckte sie den Hals, ballte die Fäuste und streckte die Finger wieder. Ihre Beine schmerzten bereits.

Sie stand, unten am Bühnenbild, auf einer schmalen hölzernen Leiste, die etwas schmaler war als ihre Schuhe. Um das Gleichgewicht zu wahren, musste sie mit gespreizten Füßen stehen, mit Zehen, die in entgegengesetzte Richtungen wiesen. Zwanzig Meter unter ihr, in Dunkelheit verborgen, erstreckte sich der Bereich hinter der Bühne des großen Opernhauses. Wenn sie fiel, prallte sie auf dem Weg nach unten vermutlich gegen andere Gerüste.

Über ihr, in Düsternis gehüllt, ragten der Rest des Bühnenhauses und das riesige Karussell auf, das weiter hinten alle Kulissen für die Aufführungen hielt. Ganz langsam schob sie sich über die Leiste, fort von den beiden Männern auf dem Nordwandgerüst. Ihre linke Ferse schmerzte noch immer dort, wo sie vor einigen Tagen das Tracer-Implantat herausgeholt hatte.

»Sulbazghi?«, hörte sie Veppers sagen, mit gedämpfter Stimme. Er und Jasken hatten leise miteinander gesprochen; jetzt verwendeten sie vermutlich Funk oder dergleichen. Eine Antwort von Dr. Sulbazghi hörte sie nicht; wahrscheinlich benutzte Jasken einen Ohrhörer. Vielleicht galt das auch für Veppers, obwohl er nur selten ein Phon oder andere Kommunikationsgeräte trug.

Veppers, Jasken und Dr. S. Sie fragte sich, wie viele Männer sonst noch an der Suche beteiligt waren, außer diesen dreien. Veppers hatte Wächter unter seinem Kommando, ein ganzes Gefolge von Dienern, Helfern und anderen Leuten, die er für eine solche Suche rekrutieren konnte. Außerdem hatte das Opernhaus einen eigenen Sicherheitsdienst– immerhin gehörte es Veppers. Und Veppers’ guter Freund, der Polizeichef, würde ihm weitere Leute leihen, in dem unwahrscheinlichen Fall, dass seine eigenen nicht genügten. Sie schob sich weiter über die schmale Leiste.

»An der Nordseite«, hörte sie Veppers nach einigen Momenten sagen. »Hier sind einige bukolische und landschaftliche Szenenbilder zu bewundern. Keine Spur von unserem kleinen illustrierten Mädchen.« Er seufzte. Theatralisch, dachte sie, was wenigstens angemessen war. »Lededje?«, rief er plötzlich.

Es überraschte sie, ihren Namen zu hören. Auf einmal zitterte sie und spürte, wie die bemalte Leinwand in ihrem Rücken zitterte. Ihre linke Hand flog zu einem der beiden Messer, die sie gestohlen hatte; die doppelte Scheide war am Gürtel der Arbeitshose befestigt, die sie trug. Sie kippte nach vorn, fühlte den drohenden Fall. Rasch brachte sie die Hand nach hinten und fing sich gerade noch ab.

»Lededje?« Seine Stimme, ihr Name, hallte in den großen dunklen Tiefen des Bühnenkarussells wider. Sie kroch etwas weiter über die Leiste und glaubte zu spüren, wie sie sich unter ihren Füßen bog.

»Lededje?«, rief Veppers erneut. »Komm schon, dies wird allmählich langweilig. In einigen Stunden erwartet mich ein sehr wichtiger Empfang, und du weißt doch, wie lange ich brauche, um mich anzuziehen und angemessen vorzubereiten. Astil wird sich ärgern, und das möchtest du doch nicht, oder?«

Sie erlaubte sich ein spöttisches Grinsen. Es war ihr völlig schnuppe, was Astil, Veppers’ aufgeblasener Butler, dachte oder fühlte.

»Du hattest deine Tage der Freiheit, aber das ist jetzt vorbei, finde dich damit ab«, erklang Veppers’ tiefe Stimme. »Sei ein braves Mädchen und komm zu mir. Ich verspreche, dass ich dir nicht wehtue. Zumindest nicht sehr. Ein Klaps, vielleicht. Ein Zusatz für deine Körpermale, möglicherweise. Klein natürlich, nur ein Detail. Und selbstverständlich eine ausgezeichnete Arbeit, mit großer Sorgfalt. Etwas anderes kommt nicht infrage.« Sie hörte das Lächeln in seinen Worten. »Aber mehr nicht, ich schwöre. Im Ernst, liebes Kind. Komm jetzt, solange ich noch glauben kann, dass dies nicht mehr ist als reizende Ausgelassenheit und harmlose Aufsässigkeit, kein offenkundiger Verrat und unerträglicher Affront.«

»Leck mich«, sagte Lededje ganz, ganz leise und trat einige weitere behutsame Schritte über das dünne Holzband am unteren Rand des Bühnenbilds. Sie glaubte, ein leises Knacken unter sich zu hören, schluckte und setzte den Weg fort.

»Ich bitte dich, Lededje!«, hallte Veppers’ Stimme durch die Dunkelheit. »Ich bemühe mich sehr, vernünftig zu sein! Ich bin vernünftig, nicht wahr, Jasken?« Sie hörte, wie Jasken etwas murmelte, und dann kehrte Veppers’ Stimme zurück. »Ja, in der Tat. Da hast du’s. Selbst Jasken hält mich für vernünftig, und er versucht dauernd, dein Verhalten zu rechtfertigen, er ist praktisch auf deiner Seite. Was kannst du mehr verlangen? So, jetzt bist du dran. Es ist deine letzte Chance. Zeig dich, junge Dame. Ich werde ungeduldig. Dies ist nicht mehr komisch. Hörst du mich?«

Oh, klar und deutlich, dachte Lededje. Wie sehr er den Klang der eigenen Stimme mochte. Joiler Veppers hatte sich nie gescheut, der Welt über alles seine Meinung kundzutun. Und weil er so reich und mächtig war und seine Finger überall in den Medien hatte, blieb der Welt gar nichts anderes übrig, als ihm zuzuhören.

»Ich meine es ernst, Lededje. Dies ist kein Spiel. Es hört jetzt auf, weil du es so willst, wenn du klug bist. Wenn nicht, sorge ich für ein Ende. Und glaub mir, Kritzelkind, du möchtest nicht, dass ich dieser Sache ein Ende mache.«

Noch ein Schritt, und wieder knackte es unter ihren Füßen. Wenigstens übertönte die Stimme alle von ihr verursachten Geräusche.

»Ich zähle bis fünf, Lededje!«, rief Veppers. »Dann machen wir’s auf die harte Tour.« Ihr Fuß strich über den dünnen Holzstreifen. »Na schön«, sagte Veppers. Sie hörte den Zorn in seiner Stimme, und obwohl sie ihn hasste und von ganzem Herzen verachtete: Dieser besondere Tonfall schickte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Plötzlich gab es ein Geräusch wie eine Ohrfeige, und für einen Moment dachte Lededje, dass Veppers Jasken geschlagen hatte. Dann begriff sie: Er hatte in die Hände geklatscht. »Eins!«, rief er. Eine Pause, dann wiederholte sich das Klatschen. »Zwei!«

Ihre rechte Hand, von einem knapp sitzenden Handschuh umhüllt, war so weit wie möglich ausgestreckt und ertastete den dünnen Holzstreifen, der den Rand des Bühnenbilds markierte. Dahinter sollte die Wand sein, und Leitern, Sprossen, Gerüste, vielleicht auch nur Seile, irgendetwas, das ihr die Flucht ermöglichte. Zum dritten Mal klatschte es, und ein Echo kam aus der Finsternis des Bühnenhauses. »Drei!«

Lededje versuchte, sich an die Größe der Opernbühne zu erinnern. Sie war einige Male mit Veppers und seinem Gefolge hier gewesen, von ihm wie eine Trophäe präsentiert, ein Hinweis auf seine geschäftlichen Siege. Eigentlich sollte sie sich erinnern können. Aber in ihrem Gedächtnis war vor allem eines haften geblieben: Die Größe von allem hatte sie zutiefst beeindruckt. Helligkeit, Tiefe und funktionierende Komplexität der Kulissen; die Spezialeffekte, geschaffen von Falltüren, verborgenen Kabeln, Nebelmaschinen und Feuerwerk; die gewaltige Menge an Geräuschen, die das verborgene Orchester und die umherschreitenden, schrill gekleideten Sänger und ihre integrierten Mikrofone erzeugen konnten.

Es war wie ein besonders großer und sehr echt wirkender Holoschirm gewesen, aber einer, der auf diese spezielle Breite, Tiefe und Höhe beschränkt war, ohne zu den plötzlichen Szene- und Maßstabwechseln eines Schirms in der Lage zu sein. Es gab versteckte Kameras, auf die Hauptdarsteller gerichtet, und Seitenschirme am Rand der Bühne zeigten dreidimensionale Nahaufnahmen von ihnen, aber es war doch ein wenig erbärmlich, wenn man bedachte, wie viel Mühe, Zeit und Geld dafür aufgewendet wurde. Enorm reich und mächtig zu sein schien zu bedeuten, dass man keinen Film wirklich genießen konnte– oder zumindest nicht zugeben durfte, dass einem Filme gefielen– und versuchen musste, ihn auf der Bühne nachzuspielen. Lededje hatte keinen Sinn darin gesehen. Veppers war davon begeistert gewesen.

»Vier!«

Erst nachher– nach dem Bad in der Menge, nach dem Stolzieren und Zur-Schau-Stellen– hatte Lededje begriffen, dass die Oper nur ein Vorwand war, die Nebenvorstellung. Das wahre Schauspiel des Abends fand immer im üppig ausgestatteten Foyer statt, zwischen glitzernden Treppen und in hellen, hohen Fluren, unter prächtigen Kronleuchtern in luxuriösen Vorzimmern, an mit Köstlichkeiten beladenen Tischen in großartig dekorierten Salons, in absurd prachtvollen Toiletten sowie den Logen und den vorderen Sitzreihen des Zuschauersaals anstatt auf der Bühne. Die Superreichen und Ultramächtigen hielten sich für die wahren Stars, und ihr Auftritt und Abgang, ihr Tratsch und Klatsch, ihre Vorschläge und Empfehlungen, ihre Angebote, Tipps und Anregungen– das war die Attraktion des Abends.

»Schluss mit diesem Melodram, junge Dame!«, rief Veppers.

Es waren nur sie drei– Veppers, Jasken und Sulbazghi–, und wenn es dabei blieb, hatte Lededje vielleicht eine Chance. Sie hatte Veppers blamiert, und bestimmt wollte er nicht, dass noch mehr Leute davon erfuhren. Jasken und Dr. S. zählten nicht; er konnte sich darauf verlassen, dass sie nichts verrieten. Bei anderen wäre das nicht der Fall. Wenn Außenstehende beteiligt werden mussten, würden sie erfahren, dass sie ihm nicht gehorcht hatte und entwischt war. Das musste ihm sehr peinlich sein, gerade in Verbindung mit seiner grotesken Eitelkeit. Dieser maßlose Dünkel, die Unfähigkeit, auch nur den Gedanken an eine Blamage zu ertragen, mochte ihr Gelegenheit geben, tatsächlich zu entkommen.

»Fünf!«

Lededje zögerte und schluckte, als das letzte Klatschen in der Dunkelheit um sie herum verhallte.

»Also schön! Willst du es nicht anders?«, rief Veppers, und wieder hörte sie den Zorn in seiner Stimme. »Du hattest deine Chance, Lededje. Jetzt…«

»Herr!«, rief sie, nicht zu laut und ohne den Kopf in seine Richtung zu drehen. Sie sah noch immer in die Richtung ihrer Flucht.

»Was?«

»War sie das?«

»Led?«, rief Jasken.

»Herr!« Lededje dämpfte die Stimme, aber gleichzeitig modulierte sie sie, als riefe sie aus vollem Halse. »Ich bin hier! Ich habe genug und entschuldige mich. Welche Strafe auch immer du für mich wählst, ich nehme sie entgegen.«

»Oh, und ob du sie entgegennehmen wirst«, hörte sie Veppers brummen. Und lauter: »Wo ist ›hier‹? Wo steckst du?«

Sie hob den Kopf und projizierte ihre Stimme in den großen dunklen Raum weiter oben, der Bühnenbilder wie aufgestapelte Karten enthielt. »Im Bühnenhaus, Herr. Fast ganz oben, glaube ich.«

»Sie ist da oben?«, fragte Jasken ungläubig.

»Können Sie sie sehen?«

»Nein, Sir.«

»Kannst du dich zeigen, kleine Lededje?«, rief Veppers. »Lass uns sehen, wo du bist! Hast du Licht?«

»Äh, einen Moment, Herr«, erwiderte sie halblaut und neigte den Kopf erneut nach oben.

Inzwischen schob sie sich etwas schneller über die Leiste. In ihrem Kopf hatte sie ein ungefähres Bild von der Größe der Bühne, von den Bühnenbildern und Kulissen, die abgesenkt wurden, um den Hintergrund für bestimmte Szenen zu bilden. Sie waren riesig, enorm breit. Lededje vermutete, dass sie noch nicht einmal die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatte. »Ich habe…«, begann sie und ließ ihre Stimme dann verklingen. Das gab ihr vielleicht etwas mehr Zeit und bewahrte Veppers davor, den Verstand zu verlieren.

»Der Generaldirektor ist jetzt bei Dr. Sulbazghi, Sir«, hörte sie Jasken sagen.

»Tatsächlich?«, entgegnete Veppers verärgert.

»Der Generaldirektor ist aufgebracht, Sir. Offenbar möchte er wissen, was in seinem Opernhaus vorgeht.«

»Es ist mein verdammtes Opernhaus!«, sagte Veppers laut. »Na schön. Sagen Sie ihm, dass wir jemanden suchen. Und Sulbazghi soll die Lampen einschalten. Es spielt jetzt keine Rolle mehr.« Es folgte eine kurze Pause, und dann fügte er unwirsch hinzu: »Ja, alle Lampen!«

»Mist!«, hauchte Lededje. Sie versuchte, noch schneller zu werden, und fühlte, wie sich die Leiste unter ihr bewegte.

»Lededje!«, rief Veppers. »Kannst du mich hören?« Sie antwortete nicht. »Lededje, bleib, wo du bist. Rühr dich nicht von der Stelle. Wir schalten das Licht ein.«

Und das Licht kam, von weniger Lampen als erwartet. Es war matt und nicht strahlend hell, wie befürchtet. Natürlich– die meisten Lampen waren auf die Bühne gerichtet, nicht nach oben ins Karussell des Bühnenhauses. Dennoch, das Licht genügte, einen besseren Eindruck von ihrer Umgebung zu gewinnen. Lededje sah die grauen, blauen, schwarzen und weißen Töne des Bühnenbilds, an dem sie stand, konnte aber noch immer nicht erkennen, welche Szene das riesige Bild darstellte. Weiter oben bemerkte sie Dutzende von hängenden Kulissen, einige von ihnen dreidimensional, meterdick; sie stellten Hafenszenen dar, Stadtplätze, Bauerndörfer, Berghänge und Wälder. Wie die Seiten eines riesigen illustrierten Buchs steckten sie in der Trommel des Karussells und lösten sich beim Absenken von den anderen. Lededje hatte etwa die Hälfte des Bühnenbilds hinter sich gebracht und befand sich fast genau in der Mitte über der Bühne. Ungefähr fünfzehn Meter lagen noch vor ihr. Zu weit. Sie würde es nicht schaffen. Sie konnte jetzt auch nach unten sehen. Die in helles Licht getauchte Bühne erstreckte sich zwanzig Meter unter ihr. Rasch wandte sie den Blick ab. Was konnte sie tun? Welchen anderen Ausweg gab es? Sie dachte an die Messer.

»Ich kann sie noch immer nicht…«, begann Veppers.

»Sir! Die Kulisse dort! Sie bewegt sich. Sehen Sie.«

»Mist, Mist, Mist!«, hauchte Lededje und versuchte, noch schneller zu werden.

»Lededje, bist du…«

Sie hörte Schritte. »Sir! Sie ist dort! Ich sehe sie!«

Ihr blieb noch Zeit genug, »Verdammter Scheiß« zu sagen. Dann hörte sie, wie das Knacken unter ihr zu einem brechenden, splitternden Geräusch wurde, und fühlte, wie sie sank, erst langsam. Lededje senkte die Hände und zog beide Messer aus den Scheiden. Ein anderes Geräusch erklang, wie ein Gewehrschuss. Die Leiste unter ihr gab ganz nach, und sie begann zu fallen.

Jasken rief etwas.

Sie drehte sich, stieß beide Klingen in die Leinwand des Bühnenbilds, hielt sich an den Griffen fest und zog sich so nahe wie möglich an das Bild heran, die in Handschuhen steckenden Hände an den Schultern. Die Leinwand riss, direkt vor ihren Augen, die beiden Messer schnitten schnell hindurch und näherten sich dabei den Resten der zerbrochenen Leiste.

Sie würden gleich den unteren Rand des Bühnenbilds erreichen! Lededje glaubte, eine solche Szene in einem Film beobachtet zu haben, und dort hatte alles ganz einfach ausgesehen. Mit einem leisen Zischen drehte sie beide Klingen von vertikal auf horizontal, woraufhin sie nicht mehr nach unten rutschte. Sie blieb hängen, mit über der Leere baumelnden Beinen, und begriff, dass sie nur einen kleinen Aufschub gewonnen hatte. Die Arme taten ihr weh und begannen bereits zu zittern.

»Was macht sie da?«, hörte sie Veppers fragen, und dann: »O mein Gott! Sie…«

»Lassen Sie das Karussell drehen, Sir«, sagte Jasken schnell. »Wenn es in der richtigen Position ist, können wir Lededje zur Bühne hinablassen.«

»Natürlich! Sulbazghi!«

Lededje hörte kaum, was die beiden Männer sagten– sie atmete schwer, und das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie sah zur Seite. Die zerbrochene Leiste, die ihr bis eben Halt geboten hatte, war mit großen Klammern am unteren, doppelt gefalteten Leinwandrand des Bühnenbilds befestigt gewesen, und einige der Klammern hielten noch. Lededje schwang sich von einer Seite zur anderen und schnaufte, als sie die Arme zwang, in ihrer Position zu bleiben, während sich Beine und Rumpf wie ein Pendel bewegten. Sie glaubte, zwei Männer zu hören, die ihr etwas zuriefen, aber ganz sicher war sie nicht. Immer weiter schwang sie von einer Seite zur anderen, kam dem Rand der Leinwand dabei näher. Nicht mehr viel…

Sie hakte den rechten Fuß hinter die Leiste, fand Halt, löste ein Messer und stieß es weiter oben in die Leinwand. Es hielt, mit horizontal stehender Klinge und hinter der Leinwand nach unten geneigt. Lededje zog sich nach oben, hing schief am Bühnenbild, löste das zweite Messer und bohrte es über dem ersten in die Leinwand.

»Was macht sie jetzt?«

»Lededje!«, rief Jasken. »Hör auf! Du bringst dich um!«

Sie befand sich jetzt wieder in der Senkrechten und hielt sich an den beiden Messern fest. Die Muskeln in ihren Armen schienen in Flammen zu stehen, aber sie zog sich weiter nach oben. Woher sie die Kraft dafür nahm, blieb ihr ein Rätsel. Ihre Verfolger kontrollierten natürlich die Mechanismen; sie konnten das Karussell des Bühnenhauses drehen und sie herablassen, wenn sie wollten, aber Lededje war entschlossen, bis zum Schluss Widerstand zu leisten. Veppers hatte keine Ahnung. Er war derjenige, der dies noch immer für ein Spiel hielt. Lededje wusste, dass es um Leben und Tod ging.

Plötzlich hörte sie ein dumpfes Summen, und dann, mit einem leisen Stöhnen, gerieten das Bühnenbild mit der zerbrochenen Leiste und auch die anderen Kulissen über Lededje in Bewegung. Sie glitten nach oben, den düsteren Höhen des gewaltigen Karussells entgegen. Nach oben! Am liebsten hätte Lededje laut gelacht, aber dafür fehlte ihr der Atem. Mit den Füßen suchte sie nach den Messerlöchern, fand sie, stützte sich an ihnen ab und entlastete so die schmerzenden Arme.

»Das ist verdammt noch mal die falsche Richtung!«, heulte Veppers. Auch Jasken rief etwas. »Es ist die falsche Richtung, verdammt!«, wiederholte Veppers. »Aufhören! Nach unten, nicht nach oben! Nach unten! Sulbazghi! Womit spielen Sie da herum? Sulbazghi!«

Das riesige Karussell rotierte und drehte die Kulissen wie Fleischstücke an einem Spieß. Lededje warf einen Blick über die Schulter und sah, dass die Drehung der ganzen Vorrichtung die Leinwand, an der sie hing, nach hinten trug, von der Bühne weg und dem nächsten Bühnenbild entgegen, den anderen aufgereiht hängenden Kulissen, die sich nun enger aneinanderdrängten. Das Bild, dem sie sich näherte, wirkte schlicht und glatt und wies keine besonderen Merkmale auf. Es war nur eine weitere bemalte Leinwand mit ein paar Holzleisten, die zur Stabilisierung dienten, ebenso schwer zu erklettern wie diese. Weiter oben sah Lededje komplexere, dreidimensionale Kulissen, einige von ihnen mit Lampen ausgestattet, die zusammen mit den anderen eingeschaltet worden waren. Sie drückte das Gesicht ans Bild und spähte durchs letzte Messerloch.

Eine sehr überzeugende Dachszene begrüßte sie: seltsam verwinkelte Regenrinnen, anheimelnde Mansardenfenster, schiefe Schindeln, wackelige Schornsteinaufsätze– aus einigen von ihnen begann sich gerade scheinbar Rauch zu kräuseln– und ein Netz, ein Maßwerk aus kleinen blauen Lichtern, das sich über die ganze Breite des Bilds hinter und über den vermeintlichen Dächern erstreckte, die Nachbildung von Sternen am Nachthimmel. Das Bühnenbild kam langsam näher und nach unten, während das Karussell seine Rotation fortsetzte.

Lededje achtete nicht auf die immer noch rufenden Männer und schnitt ein Loch in die Leinwand, groß genug, um hindurchzuschlüpfen; von der anderen Seite sprang sie zur Dachszene. Ihr Sprung stieß die Leinwand mit den Messerlöchern von ihr fort, und beim Fall hörte sie sich selbst schreien. Dann prallte sie mit dem Oberkörper gegen die gemalten Schindeln und stellte atemlos fest, dass sie beide Messer verloren hatte. Mit den Händen hielt sie sich an der dünnen, zerbrechlichen Brüstung vor einem hohen Fenster fest. Tief unten klapperte etwas, vermutlich die Messer.

Die beiden Männer riefen noch immer, und die Rufe schienen sowohl ihr als auch Dr. Sulbazghi zu gelten. Lededje hörte nicht hin. Veppers und Jasken konnten sie jetzt nicht mehr sehen, denn ein Teil des Daches verbarg sie vor ihnen. Sie zog sich an der wie Gusseisen wirkenden Brüstung hoch, die in Wirklichkeit aus Kunststoff bestand, der sich unter ihrem Griff bog und zu brechen drohte. Weiteren Halt fand sie an falschen Dachrinnen, Fenstersimsen und Schornsteinen.

Sie war ganz oben und suchte sich einen Weg durch den kalten unechten Rauch, der aus den Schornsteinaufsätzen kam, als das Karussell knirschend verharrte. Das Bühnenbild, auf dem sich Lededje befand, erbebte, und sie verlor das Gleichgewicht, rutschte und fiel mit einem Schrei.

Das Netz aus kleinen Lichtern, die angeblichen Sterne, fing sie auf und hüllte sie in eine kalte blaue Umarmung. Es wölbte und streckte sich, riss aber nicht. Die dünnen Kabel zwischen den kleinen blauen Lampen schienen sich um Lededje zu wickeln und enger zu ziehen, als sie zappelte.

»Jetzt!«, hörte sie Veppers rufen.

Ein Schuss fiel, ein einzelner Knall. Einen Augenblick später fühlte Lededje einen stechenden Schmerz an der rechten Hüfte, und dann, einige Momente später, kippten die kleinen falschen Sterne und der Rauch, der kein richtiger Rauch war, und das ganze verrückte Gebäude von ihr fort.

Getragen. Sie wurde getragen, und zwar recht grob.

Jetzt legte man sie auf eine harte Fläche.

Ihre Gliedmaßen bewegten sich wie schlaffe Anhängsel, die gar nicht zu ihrem Körper gehörten. Wenn sie hätte raten müssen, wäre sie vielleicht davon ausgegangen, dass man sie vorsichtig hinlegte, anstatt sie einfach hinzuwerfen. Das war ein gutes Zeichen. Hoffte sie jedenfalls. Mit ihrem Kopf schien so weit alles in Ordnung zu sein. Er fühlte sich nicht annähernd so schlimm an wie beim letzten Mal.

Lededje fragte sich, wie viel Zeit vergangen war. Vermutlich hatte man sie zum Stadthaus zurückgebracht, nur einige Segmente von der Oper entfernt. Vielleicht war sie sogar wieder im Espersium; Ausreißer wurden für gewöhnlich zu dem großen Anwesen gebracht, wo sie darauf warteten, dass Veppers über sie befand. Manchmal dauerte es Wochen, bis sie das ganze Ausmaß ihrer Strafe erfuhren. Einer von Jaskens Betäubungspfeilen hatte Lededje für einige Stunden außer Gefecht gesetzt. Zeit genug, um sie zu jedem beliebigen Ort auf dem Planeten zu bringen, oder ins All.

Als sie dalag und gedämpfte Stimmen in der Nähe hörte, fiel ihr auf, dass sie viel klarer dachte, als sie erwartet hätte. Sie stellte fest, Kontrolle über ihre Augen zu haben, und vorsichtig öffnete sie sie einen Spaltbreit und spähte durch die Wimpern, um einen Eindruck von der Umgebung zu gewinnen. Wo war sie? Im Stadthaus? Auf dem Anwesen? Es wäre interessant gewesen, es herauszufinden.

Halbdunkel umgab sie. Veppers stand dort, die Zähne perfekt, das Gesicht überaus elegant, mit weißer Mähne, goldener Haut, breiten Schultern und protzigem Mantel. Es war noch jemand da, den Lededje mehr fühlte als sah, und er machte etwas an ihrer Hüfte.

Dr. Sulbazghi– grauhaarig und braunhäutig, Gesicht und Gestalt quadratisch– trat in ihr Blickfeld und gab Veppers etwas. »Ihre Messer, Sir«, sagte er.

Veppers nahm sie, warf einen prüfenden Blick darauf und schüttelte den Kopf. »Kleines Miststück«, sagte er leise. »Ausgerechnet diese zu nehmen! Sie gehörten…«

»Ihrem Großvater«, sagte Sulbazghi mit polternder Stimme. »Ja, das wissen wir.«

Dr. Sulbazghi ging links von Lededje in die Hocke und sah sie an. Er hob eine Hand zu ihrem Gesicht und wischte etwas von dem hellen, millimeterdicken Make-up weg, das sie aufgetragen hatte. Er wischte die Hand an der Jacke ab, hinterließ dabei einen blassen Streifen. Es war recht dunkel um Lededje herum, und auch über Dr. S. Und die Stimmen der Männer hallten kaum, als wären sie von riesiger Leere umgeben.

Etwas stimmte nicht. Lededje fühlte ein Ziehen an der Hüfte, aber keinen Schmerz, nicht den geringsten. Jaskens bleiches, schmales Gesicht geriet in Sicht, und die Okulinsen gaben ihm etwas Insektenhaftes. Er hockte rechts von ihr, in der einen Hand das Gewehr, in der anderen den Betäubungspfeil. Im Halbdunkel und mit Linsen, die das halbe Gesicht bedeckten, konnte man nicht sicher sein, aber er schien einen finsteren Blick auf den Pfeil zu richten. Hinter ihm ragte ein Gerüstturm zu einer riesigen Dachlandschaft empor, die in der Düsternis hing, ihre Dächer seltsam schief und kurz. Noch immer kam künstlicher Rauch aus den krummen, wackligen Schornsteinen.

Lieber Himmel, sie befand sich nach wie vor im Opernhaus! Wie durch ein Wunder war sie schon nach kurzer Zeit zu sich gekommen, mit nur ein bisschen Benommenheit.

»Ich glaube, ihre Lider haben gerade gezuckt«, sagte Veppers und beugte sich mit wogendem Mantel vor. Lededje schloss rasch die Augen und spürte ein Zittern, das durch ihren ganzen Körper ging. Sie krümmte halb ihre Finger und merkte, dass sie sich bewegen konnte, wenn sie wollte.

»Unmöglich«, sagte der Doktor. »Sie müsste noch Stunden bewusstlos sein, nicht wahr, Jasken?«

»Moment mal«, sagte Jasken. »Der Pfeil hat den Knochen getroffen. Vielleicht hat sie nicht die volle Dosis erhalten.«

»Welch eine absurde Schönheit«, kommentierte Veppers leise. Seine tiefe, endlos verführerische Stimme war ihr ganz, ganz nahe. Sie fühlte, wie auch er ihr übers Gesicht strich und etwas von dem Make-up entfernte, unter dem sie ihre Zeichen versteckt hatte. »Ist es nicht seltsam? Normalerweise sehe ich sie mir nicht aus solcher Nähe an.« Aus gutem Grund, dachte Lededje ruhig. Denn wenn du mich vergewaltigst, Herr, nimmst du mich für gewöhnlich von hinten. Sie spürte seinen Atem, ein warmer Hauch auf der Wange.

Sulbazghi nahm ihr Handgelenk und suchte nach dem Puls.

»Sir, vielleicht ist sie nicht ganz…«, begann Jasken.

Lededje hob die Lider und starrte in Veppers’ Gesicht, das sich direkt vor ihr befand und ihr ganzes Blickfeld ausfüllte. Er riss erschrocken die Augen auf, und Sorge verzerrte seine sonst so glatten, perfekten Züge. Lededje stieß sich nach oben, drehte den Kopf, öffnete den Mund, fletschte die Zähne und schnappte nach Veppers’ Kehle.

Sie musste die Augen im letzten Moment geschlossen haben, spürte aber, wie er zurückwich. Ihre Zähne packten etwas, und Veppers schrie. Lededjes Kopf wurde hin und her geschüttelt, als ihre Zähne um das geschlossen blieben, in das sie gebissen hatte, und Veppers verzweifelt versuchte, sich zu befreien. »Nehmt sie weg!«, kreischte er, mit erstickt und nasal klingender Stimme. Mit dem Rest ihrer Kraft biss Lededje noch fester zu, und ein weiterer schmerzerfüllter Schrei kam von Veppers, als sich etwas löste. Dann packte eine Hand ihren Mund, von unten, mit einem eisernen, überraschend schmerzvollen Griff, und ihre Zähne mussten loslassen. Sie schmeckte Blut. Ihr Kopf wurde nach hinten gedrückt und prallte mit einem dumpfen Pochen auf den Boden. Als Lededje erneut die Augen öffnete, sah sie Veppers, wie er von ihr forttaumelte, die Hand vor Mund und Nase; Blut rann ihm übers Kinn und tropfte aufs Hemd. Jasken hielt ihren Kopf unten, und sie fühlte seine Hände an Mund und Hals. Dr. Sulbazghi wandte sich von ihr ab, um seinem Herrn zu helfen.

Lededje hatte etwas Hartes und Knorpeliges im Mund, fast zu groß, um es zu schlucken. Trotzdem zwang sie es hinunter, würgte und keuchte. Was auch immer es war, es verharrte, als es Jaskins Hand an der Kehle erreichte. Er hätte sie am Schlucken hindern können, aber das tat er nicht. Lededje würgte noch einmal und schnappte dann nach Luft.

»Hat sie…« Veppers schluchzte, als Sulbazghi ihn erreichte und seine Hände vom Gesicht löste. Er sah nach unten, verdrehte die Augen und versuchte zu erkennen, was mit ihm geschehen war. »Sie hat es tatsächlich, verdammt! Sie hat mir die Nase abgebissen!«, heulte Veppers. Er stieß Sulbazghi beiseite– der ältere Mann taumelte– und war mit zwei Schritten dort, wo Lededje lag, festgehalten von Jasken. Sie sah die Messer in seinen Händen.

»Sir…!«, sagte Jasken, löste eine Hand von ihrer Kehle und streckte sie seinem Herrn entgegen. Veppers stieß ihn beiseite, setzte sich rittlings auf Lededje, bevor sie auch nur versuchen konnte, sich aufzurichten, und drückte ihre Arme auf den Boden. Blut strömte ihm aus der Nase, spritzte ihr auf Gesicht, Hals und Bluse.

Oh, nicht einmal die ganze Nase, dachte sie noch. Nur die Spitze. Aber es sieht scheußlich genug aus. Versuch mal, das beim nächsten Empfang mit einem Lachen abzutun, Hauptmanager Veppers.

Er stieß ihr das erste Messer in die Kehle und schnitt zur Seite, und das zweite bohrte er in die Brust, wo es jedoch gegen eine Rippe stieß. Lededjes Oberarme blieben an den Boden gepresst, und sie versuchte, die Hände zu heben, als der Atem aus ihrer Kehle zischte und blubberte. Der Geschmack von Blut war sehr stark, und sie musste atmen und husten, konnte aber weder das eine noch das andere. Veppers schlug ihre Hände beiseite, sah nach unten und zielte mit der zweiten Klinge einen Fingerbreit unter die Stelle, an der sie auf eine Rippe getroffen war. Er senkte kurz den Kopf und schrie: »Du miese kleine Schlampe!« Etwas von seinem Blut tropfte in ihren offenen Mund. »Ich sollte heute Abend in der Öffentlichkeit erscheinen!«

Er drückte fest zu, und die Klinge glitt zwischen den Rippen ins Herz.

Lededje blickte hoch in die Dunkelheit, als ihr Herz zuckte, als wollte es die Klinge packen. Dann verkrampfte sich ihr Herz ein letztes Mal, fiel für einen Moment in eine zitternde, pulslose Ruhe, und selbst die hörte auf, als Veppers das Messer herauszog. Ein Gewicht unendlich viel größer als das eines einzelnen Mannes senkte sich auf Lededje. Sie war jetzt zu müde, um zu atmen; die letzte Atemluft entwich wie ein sich fortstehlender Liebhaber aus ihrer aufgeschnittenen Kehle. Irgendwie schien um sie herum alles ganz ruhig und still geworden zu sein, obwohl sie Rufe hörte und fühlte, wie sich Veppers aufrichtete und von ihr abließ, allerdings nicht ohne einen letzten Schlag ins Gesicht, gewissermaßen als Zugabe. Sie spürte, wie die beiden anderen Männer an ihre Seite eilten, wie sie sie berührten und betasteten und versuchten, die Blutung zu stillen.

Zu spät, dachte sie. Es ist vorbei…

Die Dunkelheit kam erbarmungslos, kroch vom Rand ihres Blickfelds heran. Lededje starrte in die Finsternis und konnte nicht einmal mehr blinzeln. Sie wartete auf einen profunden Gedanken, auf eine wichtige Erkenntnis, aber nichts dergleichen kam.

Hoch über ihr schwangen die Bühnenbilder und Kulissen des riesigen Karussells langsam hin und her. Vor der hängenden Dachlandschaft direkt über ihr sah sie eine flache, recht mitgenommen wirkende Bergszene aus weit aufragenden, schneebedeckten Gipfeln und romantischen Felswänden unter einem mit Wolken gesprenkelten blauen Himmel. Die Risse in der Leinwand und eine gebrochene Leiste am unteren Bildrand verdarben den guten Eindruck ein wenig.

Daran hatte sie sich also entlanggeschoben. An Bergen und Himmel.

Perspektive, dachte sie langsam und benommen, als sie starb. Was für eine wunderbare Sache.

2

Rekrut Vatueil, zuvor bei Ihrer Hoheiten Ersten Kavallerie und jetzt abkommandiert zum Dritten Pionier-Expeditionskorps, wischte sich mit einer schmutzigen, schwieligen Hand Schweiß von der Stirn. Er rutschte mit den Knien auf dem steinigen Boden des Tunnels einige Zentimeter nach vorn, was ihm neue Pfeile des Schmerzes in die Beine bohrte, und stieß den Spaten mit dem kurzen Griff in die von Steinen durchsetzte dunkle Erdwand direkt vor ihm. Die Anstrengung bescherte ihm noch mehr Schmerzen, die durch Rücken und Schultern stachen. Das stumpf gewordene Metall des Spatens biss in die dichte Masse aus Erde und Steinen, und seine Spitze fand darin einen größeren Stein, vielleicht einen Felsen.

Der Aufprall erschütterte Hände, Arme und Schultern, ließ Vatueils Zähne klappern und seinen Rücken vibrieren. Fast hätte er geschrien. Stattdessen saugte er sich die verbrauchte, warme, feuchte, von seinen Körpergerüchen und denen der anderen schuftenden Arbeiter erfüllte Luft tief in die Lunge. Er zog den Spaten zur Seite, stocherte damit in der Erde und versuchte, den Rand des Felsbrockens zu finden. Immer wieder stieß er ihn in die Wand, auf der Suche nach einem Ansatzpunkt, wo er den Spaten als Hebel verwenden konnte. Und immer wieder prallte sein Werkzeug auf festen Stein, was neuen Schmerz durch gepeinigte Muskeln schickte. Vatueil ließ den Atem entweichen, legte den Spaten neben seinen rechten Oberschenkel und tastete nach hinten, nach der Spitzhacke. Seit ihrer letzten Benutzung war er ein ganzes Stück nach vorn gerutscht, und deshalb musste er sich umdrehen, was eine neue Belastung für seine strapazierten Muskeln bedeutete.

Er wandte sich vorsichtig um, darauf bedacht, dem Mann rechts von ihm, der bereits seine eigene Spitzhacke schwang und ständig fluchte, nicht in die Quere zu kommen. Der neue Junge auf der anderen Seite– Vatueil hatte seinen Namen vergessen– kratzte noch immer mit dem Spaten an der Wand vor ihnen und richtete kaum etwas aus. Er war groß und kräftig, hatte sich aber noch nicht an die Schufterei gewöhnt. Er musste bald abgelöst werden, wenn sie die Zielvorgabe erreichen sollten, und bestimmt würde er für den vermeintlichen Mangel an Einsatz bezahlen.

Hinter Vatueil reichte der Tunnel, in dem hier und dort das Licht von Lampen flackerte, in die Dunkelheit. Halb nackte Männer, einige auf Knien, andere tief gebückt, arbeiteten mit Spaten, Schaufeln, Spitzhacken und Brechstangen in der Enge. Irgendwo hinter ihnen, jenseits des Hustens, Schnaufens und der knappen Worte, hörte Vatueil das dumpfe Poltern des heranrollenden Schuttwagens. Er sah, wie er gegen den Prellbock am Ende der Gleise stieß.

»Wird dir wieder anders, Vatueil?«, fragte der Junior-Hauptmann und kam gebückt näher. Der Junior-Hauptmann war der einzige Mann im Tunnel, der noch immer die obere Hälfte seiner Uniform trug. Er grinste spöttisch und hatte versucht, seine Stimme sarkastisch klingen zu lassen, aber er war so jung, dass Vatueil ihn noch für ein Kind hielt und kaum ernst nehmen konnte. Die Frage bezog sich auf einen Vorfall, zu dem es vor einer Stunde gekommen war, kurz nach dem Beginn von Vatueils Schicht. Er hatte sich schlecht gefühlt, übergeben und dadurch der Ladung des Schuttwagens eine weitere Schaufel voll Dreck hinzugefügt.

Er hatte es schon kurz nach dem Frühstück an der Oberfläche und auf dem Weg zum Tunnel gefühlt. Der letzte Teil des Weges, tief gebückt, war ein Albtraum aus zunehmender Übelkeit gewesen. Für ihn war es wegen seiner Größe besonders schlimm, denn es bedeutete, dass er sich tiefer bücken musste und trotzdem immer wieder mit dem Rücken an die Deckenbalken stieß. Vatueil entwickelte etwas, das die altgedienten Pioniere »Rückenknöpfe« nannten: Beulen aus gehärteter Haut über jedem Wirbel des Rückgrats, wie große Warzen. Seit dem Kotzen hatte er ein flaues Gefühl im Magen und brennenden Durst, gegen den die karge stündliche Wasserration kaum etwas ausgerichtet hatte.

Stimmen ertönten weiter hinten im Tunnel, und hinzu kam ein rumpelndes Geräusch. Im ersten Augenblick dachte Vatueil, dass es der Beginn eines Einsturzes war, und jähe Furcht packte ihn, während ein anderer Teil seines Gehirns dachte: Wenigstens wird es schnell gehen, und dann habe ich es hinter mir. Ein weiterer Schuttwagen donnerte durch den Tunnel und schmetterte gegen den ersten. Staub stieg von beiden Wagen auf, und die Vorderräder des ersten sprangen aus den Gleisen. Es gab jede Menge Geschrei und Gefluche: Den Schienenlegern warf man vor, die Gleise weiter hinten nicht ausreichend gesichert zu haben; die Entleerer wurden verdammt, weil sie den Wagen nicht richtig geleert hatten; und alle anderen weiter oben im Tunnel bekamen Flüche ab, weil keine rechtzeitige Warnung von ihnen gekommen war. Der Junior-Hauptmann beorderte alle vom Ende des Tunnels zurück, damit der Wagen wieder auf die Gleise gestellt werden konnte. »Du nicht, Vatueil«, fügte er hinzu. »Arbeite weiter.«

»Sir.« Vatueil hob die Spitzhacke. Wenigstens konnte er richtig ausholen, weil niemand mehr an seiner Seite weilte. Er schwang die Hacke, zielte auf die Stelle, wo der Spaten auf ein Hindernis gestoßen war, und stellte sich kurz vor, es auf den Hinterkopf des jungen Offiziers abgesehen zu haben. Dann schlug er zu, zog die Spitzhacke aus der Wand, drehte sie und holte erneut aus.

Man entwickelte ein Gefühl für das, was am Ende der Schaufel oder Spitzhacke geschah; nach einer Weile begann man zu ahnen, was die verborgenen Tiefen der Wand enthielten. Der Schlag fügte den vielen Erschütterungen, die Vatueils Körper seit einem Jahr Tag für Tag schüttelten, eine weitere hinzu, aber diesmal fühlte er auch noch etwas anderes, als sich das Metall der Hacke in die Wand bohrte. Es glitt in die schmale Lücke zwischen zwei Steinen oder in den Spalt eines größeren Felsens. Vatueil fand, dass es sich hohl anfühlte, aber er schob diesen Gedanken beiseite.

Er hatte jetzt den gesuchten Ansatzpunkt gefunden und benutzte die Spitzhacke wie einen Hebel. Etwas knirschte in der Wand vor ihm, und im schwachen Licht seiner Helmlampe sah er, wie sich ihm ein Teil der Wand– so lang wie sein Unterarm und so hoch wie sein Kopf– entgegenwölbte. Erde und kleine Steine fielen ihm auf die Knie. Was schließlich aus dem Loch kam, war ein Stück verputztes Mauerwerk, und dahinter zeigten sich ein rechteckiges Loch und feuchte Dunkelheit, eine tintenschwarze Leere, aus der nach alten Mauern riechender kalter Wind kam.

Die große Burg, die belagerte Festung, erhob sich auf einem Teppich aus Bodennebel über die weite Ebene und wirkte irgendwie irreal.

Vatueil erinnerte sich an seine Träume. In seinen Träumen war die Burg tatsächlich nicht real oder nicht da oder sie schwebte wirklich über der Ebene, getragen von Magie oder einer ihm unbekannten Technik, und so gruben sie endlos, ohne jemals das Fundament zu finden. Unermüdlich gruben sie sich in die dunkle, feuchte Wärme, im Dampf ihrer eigenen Ausdünstungen, in einer ewigen Agonie sinnloser Schufterei. Er hatte nie mit jemandem über diese Träume gesprochen, weil er nicht wusste, wem unter seinen Kameraden er trauen konnte, und weil er dachte: Wenn seine Vorgesetzten von den Träumen erfuhren, hielt man sie vielleicht für verräterisch, weil sie andeuteten, dass all die Arbeit vergebens war und nie zum Erfolg führen würde.

Die Burg saß auf einem Felsvorsprung, auf einer steinernen Insel, die aus dem Überschwemmungsgebiet des großen, schlängelnden Flusses ragte. Die Burg selbst war schon eindrucksvoll genug, und die hohen Felswände auf allen Seiten machten sie uneinnehmbar. Aber sie musste eingenommen werden, hieß es. Nachdem sie fast ein Jahr lang versucht hatten, die Garnison hinter jenen Mauern auszuhungern und auf diese Weise zur Kapitulation zu zwingen, war vor gut zwei Jahren entschieden worden, dass ein Sieg nur dann errungen werden konnte, wenn es gelang, eine große Belagerungsmaschine nahe genug an die Felseninsel heranzubringen. Riesige Apparate wurden aus Holz und Metall gebaut und auf einer extra dafür angelegten Straße zur Burg gebracht. Sie konnten Felsbrocken oder zischende Metallbomben mit dem Gewicht von zehn Männern werfen, viele hundert Schritte weit, aber das Problem war: Wenn diese Apparate in Reichweite der Burg gebracht wurden, gerieten sie ihrerseits in Reichweite der Kriegsmaschine, über die die Verteidiger verfügten, einer großen Blide, die auf dem einen runden Turm der Burg stand.

Wegen der hohen Position konnte die Blide auch weiter entfernte Ziele unter Beschuss nehmen– ihre Reichweite betrug etwa zweitausend Schritte. Alle Versuche, Belagerungsmaschinen nahe genug an die Burg heranzubringen, hatten zu einem Hagel aus Steinen von der Blide geführt, einem Hagel, der die Belagerungsmaschinen zerschmetterte und die Soldaten tötete. Die Techniker hatten eingestehen müssen, dass der Bau einer Maschine, die außerhalb der Reichweite der Blide bleiben, aber die Burg treffen konnte, praktisch unmöglich war.

Und so gruben sie einen Tunnel zum Felsvorsprung, mit der Absicht, dort direkt vor der Nase der Garnison– und im toten Winkel der Blide– eine ausreichend starke Belagerungsmaschine zu bauen. Gerüchten zufolge sollte besagte Maschine eine Art selbstzündende Bombe sein, ein explosiver Apparat, der an der Felseninsel hochspringen und an den Burgmauern explodieren sollte. Eigentlich glaubte niemand diesen Gerüchten, obwohl die etwas plausiblere Vorstellung von einem mächtigen Katapult aus Holz, in einer Grube am Ende des Tunnels errichtet, ebenso abstrus und idiotisch erschien.

Vielleicht war vorgesehen, den Tunnel durch den Fels zu treiben, auf dem die Burg stand, durch massives Gestein. Oder die Planer wollten eine riesige Bombe an den Fundamenten der Zitadelle platzieren. Beide Möglichkeiten schienen nicht minder absurd und sinnlos zu sein. Vielleicht war das unermesslich weit von diesem Ort (der, so wollten es andere Gerüchte, immer mehr an Bedeutung verlor) entfernte Oberkommando in Hinsicht auf das Fundament der Burg falsch informiert worden. Vielleicht glaubte es, dass die Mauern der Festung auf der Ebene ruhten und sie schließlich untergraben werden konnten. Vielleicht hatte niemand mit einer besseren Verbindung zur Realität auf die Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens hingewiesen. Aber wer wusste schon, wie die Oberkommandierenden dachten?

Vatueil drückte sich eine Faust ans Kreuz, als er dastand und zur fernen Burg sah. Er versuchte, gerade zu stehen, und das fiel ihm mit jedem Tag schwerer, was unvorteilhaft für ihn war, da die Offiziere nicht viel für krumme Haltungen übrighatten. Das galt insbesondere für den jungen Junior-Hauptmann, der ihn offenbar nicht mochte.

Vatueil blickte über die grauen Zelte hinweg, aus denen das Lager bestand. Die Wolken am Himmel wirkten wie ausgewaschen, und die Sonne hing hinter einem grauen Fetzen über dem ferneren von zwei Höhenzügen, die die weite Ebene begrenzten.

»Steh gerade, Vatueil«, sagte der Junior-Hauptmann, als er aus dem Zelt des Majors kam. Er trug seine beste Uniform und hatte Vatueil aufgefordert, ebenfalls seine besten Sachen zu tragen, obwohl selbst seine besten nicht viel taugten. »Stell dich hier nicht den ganzen Tag krank. Geh da hinein, und lass dir nicht zu viel Zeit. Glaub nur nicht, dass dich dies von irgendwelchen Pflichten befreit; deine Schicht ist noch nicht zu Ende. Also los!« Der Junior-Hauptmann gab Vatueil einen Klaps an den Kopf, wodurch die Feldmütze verrutschte und fiel. Vatueil bückte sich, um sie aufzuheben, woraufhin der junge Hauptmann ihm einen Tritt in den Hintern gab. Was dazu führte, dass Vatueil ins Zelt stolperte.

Drinnen fasste er sich, nahm Haltung an und trat vor die Offiziere.

»Rekrut Vatueil, Nummer…«, begann er.

»Ihre Nummer müssen wir nicht wissen, Rekrut«, sagte einer der beiden Majore. Außer ihnen waren auch noch drei Senior-Hauptleute und ein Oberst da. Es schien ein wichtiges Treffen zu sein. »Sagen Sie uns, was passiert ist.«

Vatueil beschrieb, wie er den großen Stein aus der Wand gelöst, den Kopf durch die Öffnung gestreckt, die seltsame, höhlenartige Dunkelheit gerochen, das Wasser durch den Kanal fließen sehen und dann dem Junior-Hauptmann und den anderen davon erzählt hatte. Er richtete den Blick auf eine Stelle über dem Kopf des Obersten und senkte ihn nur einmal. Die Offiziere nickten und wirkten gelangweilt. Ein Subalterner machte sich Notizen auf einem Block. »Wegtreten«, sagte schließlich der Senior-Major.

Vatueil drehte sich halb um, zögerte und wandte sich dann erneut den Offizieren zu. »Bitte um Erlaubnis, noch etwas hinzufügen zu dürfen, Sir«, sagte er und sah dabei erst den Oberst und dann den Major an, von dem die Worte stammten.

Der Major musterte ihn. »Was ist?«

Vatueil stand so stramm und gerade wie möglich und hielt den Blick erneut auf die Stelle über dem Kopf des Obersten gerichtet. »Ich habe an die Möglichkeit gedacht, dass der Kanal vielleicht zur Wasserversorgung der Burg beiträgt, Sir.«

»Sie sind nicht hier, um zu denken«, erwiderte der Major, aber es klang nicht unfreundlich.

»Nein«, sagte der Oberst und sprach zum ersten Mal. »An die Möglichkeit habe ich ebenfalls gedacht.«

»Es ist noch immer ein weiter Weg, Sir«, sagte der Junior-Major.

»Wir haben alle Quellen in der Umgebung vergiftet«, erwiderte der Oberst. »Ohne sichtbaren Erfolg. Und das Wasser kommt offenbar von den näheren Hügeln.«

Vatueil riskierte ein Nicken, um darauf hinzuweisen, dass auch ihm dieser Gedanke durch den Kopf gegangen war.

»Ihre vielen Quellen«, sagte der Senior-Major zum Oberst, wobei es sich um einen privaten Scherz zu handeln schien.

Der Oberst kniff die Augen zusammen und sah Vatueil an. »Sie waren einmal bei der Kavallerie, nicht wahr, Rekrut?«

»Ja, Sir.«

»Rang?«

»Hauptmann, Sir.«

Stille folgte. Nach einigen Sekunden fragte der Oberst: »Und?«

»Insubordination, Sir.«

»Und deswegen sind Sie zum Tunnelgräber degradiert worden? Ihre Insubordination muss recht spektakulär gewesen sein.«

»So hat man darüber geurteilt, Sir.«

Es folgte ein Brummen, das vielleicht ein kurzes Lachen war. Der Oberst winkte, und die Offiziere steckten ihre Offiziershäupter zusammen. Es wurde gemurmelt, und dann sagte der Senior-Major: »In Kürze schicken wir eine Erkundungsgruppe durch den Wassertunnel, Rekrut. Vielleicht möchten Sie daran teilnehmen.«

»Ich führe meine Befehle aus, Sir.«

»Die Männer werden sorgfältig ausgesucht. Natürlich alles Freiwillige.«

Vatueil versuchte, so gerade wie möglich zu stehen, obwohl sich sein Rücken beschwerte. »Ich melde mich freiwillig, Sir.«

»Guter Mann. Vielleicht brauchen Sie nicht nur eine Schaufel, sondern auch eine Armbrust.«

»Ich kann mit beidem umgehen, Sir.«

»Melden Sie sich beim Diensthabenden. Wegtreten.«

Das wadenhohe Wasser war kalt, schwappte um die Stiefel und sickerte in sie hinein. Vatueil war der vierte Mann von vorn und ging mit ausgeschalteter Lampe. Nur die Lampe des ersten Mannes war eingeschaltet und leuchtete auf niedrigster Stufe. Der Wassertunnel hatte eine ovale Form und war gerade breit genug, dass man mit zur Seite gestreckten Armen nicht gleichzeitig beide Wände berühren konnte. Die Höhe entsprach fast der eines Mannes. Man musste mit gesenktem Kopf gehen, aber das war leicht nach dem Tunnel, in dem man nur gebückt vorankam.

Die Luft war gut, besser als im Tunnel. Sie hatte ihnen sanft über die Gesichter gestrichen, als sie an der Öffnung aufgebrochen waren. Aus zwanzig Männern bestand die Gruppe, und sie stapften so leise wie möglich durch den teilweise mit Wasser gefüllten Kanal, weil sie Fallen und Wächter befürchteten. Ein recht alter, vernünftig wirkender Hauptmann und ein eifriger junger Subalterner führten die Gruppe an. Abgesehen von Vatueil gehörten noch zwei andere Tunnelbauer dazu, beide kräftiger als er, aber mit weniger Kampferfahrung. Wie er trugen sie Spitzhacke, Spaten, Bögen und Kurzschwerter; der größere der beiden hatte sich auch noch eine Brechstange auf den Rücken gebunden.

Der junge Junior-Hauptmann hatte diese beiden Männer ausgesucht. Er war nicht begeistert davon gewesen, dass Vatueil im Gegensatz zu ihm die Erlaubnis erhalten hatte, an der Erkundung des Wasserkanals teilzunehmen. Vatueil rechnete bei seiner Rückkehr mit weiteren, gar nicht so subtilen Schikanen. Falls er zurückkehrte.

Sie erreichten eine Stelle, wo es schmaler wurde und horizontale Eisenstäbe quer durch den Tunnel verliefen; sie mussten einzeln darüber hinwegklettern. Dann kam ein Bereich, in dem sich der Boden des Tunnels nach unten neigte. Dort mussten sie zu zweit nebeneinander gehen und sich an den Wänden abstützen, um nicht auf dem glitschigen Boden unter dem Wasser auszurutschen. Anschließend kehrte der Kanal in die Waagerechte zurück, und an einer weiteren schmalen Stelle erschien ein zweites Gitter, dem ein zweiter schräger Abschnitt folgte.

Unterwegs dachte Vatueil daran, dass er hiervon nicht geträumt hatte. Dies war leichter als alles, was er in seinen Albträumen befürchtet hatte. Vielleicht konnten sie den Rest des Weges zur Burg gehen, ohne sich noch einmal mit Spaten und Spitzhacken abrackern zu müssen. Andererseits, vielleicht war der Tunnel weiter vorn blockiert oder bewacht, oder er führte gar nicht zu der Festung. Und doch, es floss Wasser in diesem sorgfältig konstruierten Kanal, und wohin in dieser weiten, leeren Ebene sollte es fließen, wenn nicht zur Burg? Wächter oder Fallen waren wahrscheinlicher, obwohl die Festung so alt war, dass die Verteidiger vielleicht das Wasser aus einem Brunnen holten, der offenbar nicht vergiftet werden konnte, ohne etwas von einem Kanalsystem zu wissen. Aber es war besser, davon auszugehen, dass die Verteidiger sehr wohl Bescheid wussten, und dass sie oder die Erbauer des Kanals Maßnahmen zur Abwehr von Feinden ergriffen hatten. Vatueil fragte sich, was er getan hätte, wenn er dafür verantwortlich gewesen wäre.

Seine Überlegungen wurden unterbrochen, als er gegen den Rücken des Mannes vor ihm stieß. Der nächste Mann stieß gegen ihn, und so weiter, bis die ganze Kolonne fast geräuschlos zum Stehen kam.

»Ein Tor?«, raunte der Subalterne. Vatueil sah über die Schulter des nächsten Mannes hinweg nach vorn und erkannte ein breites Gitter im Tunnel. Der erste Mann erhöhte die Leuchtkraft seiner Lampe ein wenig, und in ihrem Licht war zu sehen, wie das Wasser durch die Lücken zwischen Stäben strömte, die aus Eisen zu bestehen schienen. Hauptmann und Subalterner flüsterten miteinander.

Die Tunnelbauer wurden nach vorn beordert, damit sie sich das Gitter aus der Nähe ansahen, das an einem dicken vertikalen Pfosten direkt dahinter verankert war. Es schien so konstruiert zu sein, dass es sich zu ihnen hin öffnete und dann nach oben schwang. Eine seltsame Anordnung, fand Vatueil. Alle drei Tunnelbauer bekamen die Anweisung, ihre Lampen einzuschalten und das Schloss zu überprüfen. Es war so groß wie eine geballte Faust, und seine Kette bestand aus Gliedern so dick wie ein kleiner Finger. Es hatte Rost angesetzt, aber nur ein wenig.

Einer der anderen Tunnelbauer hob seine Spitzhacke und schwang sie versuchsweise, um festzustellen, wo die Spitze aufs Schloss treffen würde.

»Das wäre sehr laut, Sir«, flüsterte Vatueil. »Der Tunnel trägt das Geräusch ziemlich weit.«

»Willst du vielleicht hineinbeißen?«, fragte der junge Offizier.

»Wir könnten versuchen, das Schloss mit der Brechstange zu knacken, Sir«, sagte er.

Der ältere Offizier nickte. »In Ordnung.«

Der entsprechende Tunnelbauer nahm die Brechstange vom Rücken und schob sie unters Schloss, das Vatueil für ihn hob. Als die Stange richtig darunter verkeilt war, drückten sie mit vereinten Kräften, mit dem einzigen Ergebnis, dass es leise knirschte. Sie verschnauften kurz und versuchten es erneut, und kurz darauf knackte es laut. Die Brechstange gab plötzlich nach, sodass Vatueil und die beiden anderen Tunnelbauer das Gleichgewicht verloren und ins Wasser fielen, gefolgt von der rasselnden Kette.

»Das war nicht gerade leise«, murmelte der Subalterne.

Klatschnass standen sie wieder auf. »Keine Stangen oder Stöcke«, sagte einer der beiden anderen Männer und deutete auf den unteren Teil des Gitters.

»Keine erkennbaren Fallen«, fügte der zweite hinzu.

Durchs Gitter beobachtete Vatueil etwas, das nach Steinblöcken im Kanal aussah, wie quadratische Trittsteine. Welchen Zweck erfüllen sie?, dachte er.

»Seid ihr bereit, das Gitter zu heben?«, fragte der Hauptmann.

»Sir«, antworteten die beiden Tunnelbauer wie aus einem Mund. Sie bezogen zu beiden Seiten Aufstellung und streckten die Arme ins dunkle Wasser, um das Gitter zu heben.

»Also los, Jungs«, sagte der Offizier.

Sie zogen, und mit einem dumpfen Kratzen kam das Gitter langsam nach oben. Die Männer schoben es zur Decke hoch.

Vatueil sah, wie sich dort etwas bewegte, direkt hinter dem Gitter. Abgesehen von ihm schien es niemand zu bemerken.

Objekte fielen von der Decke, jedes von ihnen groß wie der Kopf eines Mannes, und eins von ihnen glänzte im Lampenschein. Sie zerbrachen an den Kanten der wie Trittsteine aussehenden Blöcke, und dunkle Flüssigkeit strömte aus ihnen ins Wasser des Kanals. Erst jetzt hielten die Männer, die das Gitter gehoben hatten, inne.

»Was war das?«, fragte jemand. Bei den Blöcken, dort, wo das Wasser die dunkle Flüssigkeit aufgenommen hatte, stiegen große graue Blasen auf, zerplatzten und gaben weißen Dampf frei. Das Gas wurde schnell dichter und nahm den Männern die Sicht auf das, was sich weiter hinten im Tunnel befand.

»Es ist nur…«, begann jemand, sprach aber nicht weiter.

»Zurück, Jungs«, wies der Hauptmann die Männer an, als der Dampf näher kam.

Vatueil hörte es platschen, als einige seiner Kameraden zurückwichen.

Der blasse Dunst erfüllte inzwischen fast den ganzen Tunnel, dort, wo das Gitter gewesen war. Die Männer, die ihm am nächsten waren, die beiden Tunnelbauer, traten zurück und ließen das Gitter los, das daraufhin ins Wasser fiel. Einer von ihnen machte noch einen Schritt nach hinten. Der andere blieb wie gebannt stehen, in unmittelbarer Nähe der grauweißen Wolke. Nur einen Moment später begann er zu husten, krümmte sich und stützte die Hände auf die Knie. Sein gesenkter Kopf kam mit einem langen, seidenen Ausläufer des Gases in Kontakt, etwa in Hüfthöhe, und er keuchte plötzlich, richtete sich auf und hustete erneut. Er drehte sich um, wankte durch den Tunnel und schien einen Anfall zu erleiden. Schnaufend sank er auf die Knie, riss die Augen auf, griff nach seinem Hals und röchelte. Der andere Tunnelbauer wollte ihm zu Hilfe kommen, wurde aber zurückgewinkt. Der röchelnde Mann sackte an der Tunnelwand in sich zusammen und schloss die Augen. Zwei andere Burschen, fast vom näher kommenden Nebel erreicht, begannen ebenfalls zu husten.

Auf einmal drehten sich alle um, liefen durch den Tunnel, rutschten aus und fielen. Der glitschige Boden unter dem Wasser hatte langsame, vorsichtige Schritte zugelassen, schien sich aber in Eis zu verwandeln, als die Männer flohen. Zwei von ihnen eilten an Vatueil vorbei, der sich noch nicht bewegt hatte.

Wir kommen auf keinen Fall an den schmalen Stellen mit den Stangen vorbei, dachte er. Wir schaffen es nicht einmal über die steilen Bereiche davor, begriff er. Die Wolke breitete sich mit Gehgeschwindigkeit im Tunnel aus. Sie hatte bereits Vatueils Knie erreicht und stieg seinen Leisten entgegen. Er hatte tief Luft geholt, als die Blasen aufgestiegen und an der Wasseroberfläche zerplatzt waren. Jetzt ließ er den Atem entweichen und holte noch einmal Luft.

Einige der anderen Männer riefen und schrien, als sie durch den Tunnel liefen, doch das Platschen übertönte alle anderen Geräusche. Die Gaswolke umgab Vatueil. Er hielt sich die Hand vor Mund und Nase, nahm aber trotzdem einen scharfen, stechenden Geruch wahr. Die Augen begannen zu tränen, die Nase zu laufen.

Das Gitter war bestimmt zu schwer, dachte Vatueil. Er bückte sich und tastete danach, hob es dann mit einer Kraft an, von deren Existenz er gar nichts gewusst hatte, duckte sich darunter hindurch zur anderen Seite, ließ das Gitter wieder los und wankte durch den Kanal. Glassplitter knirschten unter seinen Stiefeln im Wasser. Er dachte an die im Dunkeln verborgenen Blöcke, an denen die Flaschen zerbrochen waren, und hob die Füße, um nicht gegen sie zu stoßen.

Irgendwie gelang es ihm, den Atem anzuhalten, bis er weder Spuren des Nebels in der Luft noch im Wasser aufsteigende Gasblasen sah. Der erste neue Atemzug brannte in Mund, Kehle und Lunge, und beim Ausatmen erfasste das Brennen auch die Nase. Er stand vornübergebeugt, die Hände auf den Knien, und atmete erneut, tief und ruhig. Jeder Atemzug tat weh, stach aber weniger als der vorhergehende. Aus dem Tunnel kamen keine Geräusche mehr.

Schließlich konnte Vatueil frei genug atmen, um beim Gehen nicht zu keuchen. Er sah in die Dunkelheit zurück und versuchte sich vorzustellen, was ihn dort erwartete, wenn er zurückkehrte, sobald sich das Gas verzogen hatte. Wie lange mochte das dauern? Schließlich drehte er sich um und ging in die andere Richtung, zur Burg.

Wächter fanden ihn rufend am fernen Ende des Kanals, wo ein vertikaler Schacht in ein tiefes Becken mündete. Man brachte ihn zu den Obrigkeiten der Burg, und er teilte ihnen mit, dass er ihnen alles sagen würde, was sie wissen wollten. Er sei nur ein einfacher Tunnelbauer, betonte er, durch Glück der Falle entkommen, die seine Kameraden getötet hatte, und mit dem Plan vertraut, einen Tunnel bis in die Nähe der Festung zu graben und dort eine mächtige Belagerungsmaschine zu bauen. Er erklärte sich auch bereit, sein Wissen über Aufstellung, Größe und Beschaffenheit der Streitkräfte in der Ebene preiszugeben, wenn man ihn am Leben ließ.

Man brachte ihn fort und stellte ihm viele Fragen, die er alle wahrheitsgemäß beantwortete. Sie folterten ihn, um sicherzustellen, dass er tatsächlich die Wahrheit sagte. Und schließlich: Da sie nicht wussten, wo seine Loyalitäten lagen, und da er, der Körper von der Folter zerbrochen, nur ein nutzloses Maul gewesen wäre, das gestopft werden musste, fesselte man Vatueil und verwendete ihn als Geschoss für die große Blide auf dem runden Turm.

Der Zufall wollte es, dass er nicht weit vom Tunnel entfernt, in dem er gegraben hatte, auf den Boden fiel, mit einem Pochen, das einige seiner alten Kameraden über sich hörten, als sie nach einer weiteren zermürbenden Schicht zum Lager zurückkehrten.

Vatueils letzter Gedanke war, dass er einst vom Fliegen geträumt hatte.

3

Es dauerte eine Weile, bis Yime Nsokyi begriff, dass außer ihr niemand mehr feuerte.

Die Nabe des Orbitals war zuerst vernichtet worden, von einer blendend hellen CAM-Entladung, in nur einem Augenblick, ohne jede Vorwarnung. Unmittelbar darauf hatten Scatter-Kanonen mit einer synchronisierten Salve die rund hundert großen Schiffe zerstört, die sich in Andock-Reichweite befanden oder sich dem Orbital näherten beziehungsweise es verließen. Extrem gebündelte Line-Loci löschten mit exquisiter Präzision Gehirne aus: Ihre bereits hochverdichteten Substrate kollabierten zu Partikeln, dichter als die Materie von Neutronensternen, verwandelten unschätzbare Weisheit, überragende Intelligenz und fast unbegrenztes Wissen in kaum sichtbare ultradichte Asche, noch bevor die Gehirne überhaupt begriffen, was mit ihnen geschah.

Die Schockwellen von den kollabierten Gravitationspunkten breiteten sich noch in den internen Strukturen und Rümpfen der Opferschiffe aus, als sie zur Zielscheibe von weiterer, sorgfältig abgestufter Vernichtung wurden. Jene Schiffe, die sich in der Nähe des Orbitals befanden, bekamen es mit kleinen Atomraketen und thermonuklearen Sprengköpfen zu tun, ausreichend stark, um die Schiffe zu zerstören, ohne die strategische Struktur des Orbitals in Gefahr zu bringen. Megatonnen große Antimaterie-Geschosse zerfetzten die Schiffe weiter draußen; ihr gleißendes Licht zuckte über den Orbitalhimmel und warf gezackte Schatten auf die gewaltige Oberfläche der Innenwelt.

All das geschah in wenigen Sekunden. Einen Herzschlag später hatten zielgenaue Plasma-Dislokatoren die unabhängigen High-KI-Verteidigungsknoten der ursprünglichen Orbital-Platten eliminiert. Gleichzeitig wurden einige tausend Schiffe der interstellaren Klasse angegriffen, und dabei fand eine groteske, auf Größe basierende Parodie von Vorrecht und Priorität statt. Die größten und besonders leistungsfähigen Raumschiffe vergingen in thermonuklearen Explosionen, gefolgt von immer kleineren, bis sie schließlich alle verschwunden waren und die Welle der Vernichtung zu den kleinsten, systeminternen Schiffen schwappte.

Schließlich stellten die überall im Armband der Welt verstreuten peripheren KI