Vor einem dunklen Hintergrund - Iain Banks - E-Book

Vor einem dunklen Hintergrund E-Book

Iain Banks

4,3
6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Gnadenlose Jagd

Sharrow war einst Anführerin einer schlagkräftigen Kampftruppe in einem kleinen Handelskrieg. Sie lebt auf dem Planeten Golter im Exil, wo ein Glasstrand noch von älteren Kämpfen zeugt. An diesem Strand bemerkt sie, dass sie von den Huhsz verfolgt wird, einer fanatischen religiösen Gruppe, die ihren Tod fordert. Vorerst bleibt ihr allein die Flucht. Aber sie macht sich auf die Suche nach einer der legendären, verfemten apokalyptischen Waffen der Vergangenheit: einer Lazy Gun. Ihre abenteuerliche Reise, die sie durch das ganze Golter-System führt, wird zu einem Wettlauf mit den Fundamentalisten, die gnadenlos Jagd auf sie machen und bereit sind, die Apokalypse zu entfesseln.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 998

Bewertungen
4,3 (18 Bewertungen)
12
0
6
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



IAIN BANKS

VOR EINEM DUNKLEN HINTERGRUND

Roman

Das Buch

Sharrow war einst Anführerin einer schlagkräftigen Kampftruppe in einem kleinen Handelskrieg. Sie lebt auf dem Planeten Golter im Exil, wo ein Glasstrand noch von älteren Kämpfen zeugt. An diesem Strand bemerkt sie, dass sie von den Huhsz verfolgt wird, einer fanatischen religiösen Gruppe, die ihren Tod fordert. Vorerst bleibt ihr allein die Flucht. Aber sie macht sich auf die Suche nach einer der legendären, verfemten apokalyptischen Waffen der Vergangenheit: einer Lazy Gun. Ihre abenteuerliche Reise, die sie durch das ganze Golter-System führt, wird zu einem Wettlauf mit den Fundamentalisten, die gnadenlos Jagd auf sie machen und bereit sind, die Apokalypse zu entfesseln.

Der Autor

Titel der Originalausgabe

AGAINST A DARK BACKGROUND

Aus dem Englischen von Horst Pukallus

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1993 by Iain Banks

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat

INHALT

Prolog

Erster TeilVon gläsernem Gestade

1 Ouvertüre

2 Die Kettengalerie

3 Echostraße

4 Schwimmstadt

5 Fischzug

6 Solo

7 Prophylaxis

8 Tödliche Botschaft

Zweiter TeilDie Zeichen des Verfalls, die Waffen des Betrugs

9 Wiedersehen

10 Intervention

11 Tiefland

12 Schneefall

13 Am Hof der nutzlosen Könige

14 Verzögerte Wirkung

15 Hintertürchen

16 Nachtels Geist

Dritter TeilTrophäe eines alten Zwists

17 Landpartie

18 Stadt der Dunkelheit

19 Störfaktor

20 Stilles Ufer

21 Kurzer Spaziergang

22 Turm des Schweigens

23 Alle Schlösser sind auf Sand gebaut

24 Finale am Meer

PROLOG

Sie stützte das Kinn auf den Holzrahmen des Fensters. Das kalte Holz glänzte und hatte einen eigentümlichen Geruch. Sie kniete auf dem Sitz; er roch auch, aber anders. Der Sitz war breit und rot wie ein Sonnenaufgang und hatte kleine Knöpfe, die ihm tiefe Falten machten, so dass er wie jemandes Bauch aussah. Draußen war es düster, so dass in der Seilbahnkabine das Licht brannte. Auf den steilen Hängen unter der Seilbahn fuhren Leute Ski. Sie sah, wie im Fensterglas ihr eigenes Gesicht sie anguckte; sie schnitt sich selbst Fratzen.

Nach einem Weilchen beschlug sich das Glas vor ihrer Nase. Sie hob die Hand und wischte es sauber. Fremde in einer anderen Seilbahnkabine, die sich auf dem Weg nach unten befand, winkten ihr zu. Sie achtete nicht auf sie. Die Anhöhen und die weißen Bäume schienen langsam hin- und herzuzuckeln.

Sanft schaukelte die Seilbahn, während sie durch die Gebirgsluft wolkenwärts emporstieg. Die Bäume und Pisten an den Abhängen hatten dasselbe Weiß; frischer Schneefall und kalter Nebel, der über Nacht aus dem Tal heraufgeweht war, hatten die Zweige und Nadeln der Bäume in raue Schichten weißer Flocken gehüllt. Skifahrer sausten und fegten durch die Wehen des Neuschnees, schrieben auf dem üppig-jungfräulichen Blatt des Schnees einen Text blauweißer Zeilen.

Einen Moment lang musterte sie das Kind. Es kniete auf der mit Knöpfen garnierten Ledersitzbank und schaute hinaus. Das Mädchen trug einen fellbesetzten Skianzug in grellem Pink. An den Handgelenken baumelten Handschuhe in knalliger Malvenfarbe. Die kleinen Stiefel waren orange. Diese Kombination sah grässlich aus (vor allem musste sie hier in Frelle so wirken, Nord-Caltasps angeblich exklusivstem, auf alle Fälle jedoch snobistischstem Skiparadies), aber schädigte wahrscheinlich, wie sie annahm, das Gemüt des Kinds weniger als der Zank und die Schmollerei, zu denen es unweigerlich gekommen wäre, hätte sie ihrer Tochter nicht erlaubt, ihre Skikleidung selbst zusammenzustellen. Das Mädchen wischte mit trübsinniger Miene das Fenster.

Sie fragte sich nach dem Grund und drehte den Kopf, sah eine andere Seilbahnkabine, etwa zwanzig Meter entfernt, sie in Abwärtsrichtung passieren. Sie hob die Hand und strich dem Mädchen durchs schwarze Haar, ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Man hätte meinen können, es bemerkte gar nichts; es blickte nur unverwandt aus dem Fenster. Für ein so kleines Mädchen zog es ein sehr ernstes Gesicht.

Sie lächelte, erinnerte sich daran, wie sie gewesen war in dem Alter. Sie konnte sich darauf besinnen, fünf gewesen zu sein; manche Erinnerungen reichten zurück bis ins Alter von drei Jahren, aber blieben verschwommen und unvollständig; lediglich flüchtige Schlaglichter in der dunklen Landschaft einer vergessenen Vergangenheit.

Doch mit fünf ein bewusst denkender Mensch gewesen zu sein, daran entsann sie sich; erinnerte sich sogar an ihre Feier zum fünften Geburtstag und das Feuerwerk überm See.

Wie sehnlich sie es sich damals gewünscht hatte, älter zu sein: eine Erwachsene, die tanzen und spät ins Bett gehen durfte. Sie hatte es verabscheut, jung zu sein, es hatte sie angewidert, dass man ihr andauernd sagte, was sie tun sollte, und ihr war die Art und Weise verhasst gewesen, wie Erwachsene ihr alles vorschrieben. Und auch einige der blöden Redensarten, die sie von sich gaben, hatten sie enorm angeödet, zum Beispiel: »Jetzt ist die schönste Zeit deines Lebens.« Sie hatte einfach nicht glauben können, dass Erwachsene irgendeinen Schimmer davon hatten – außer sie verulkten sie –, wovon sie quasselten. Man musste erst Erwachsener sein, mitsamt all den Sorgen und Pflichten, die damit auftraten, bevor man die mühevolle Unwissenheit richtig einzuschätzen verstand, die Erwachsene als Unschuld bezeichneten, indem sie gleichzeitig – und dabei vergaßen sie meistens, wie sie sich einmal gefühlt hatten – das vielleicht fürsorglich gestaltete, aber allemal beschränkte Gefangenendasein der Kindheit Freiheit nannten.

Eine ganz alltägliche Tragödie, vermutete sie, allerdings wegen ihrer Verbreitetheit kein geringerer Anlass zum Kummer. So wie ein Vorzeichen, ein Vorgeschmack der Trauer, bedeutete sie für jeden, der sie durchlebte, eine authentische, ja einmalige Erfahrung, egal wie häufig sie in der Vergangenheit schon von anderen Menschen erlebt worden sein mochte.

Und wodurch vermied man so etwas? Sie hatte sich sehr angestrengt, um an ihrer Tochter nicht die gleichen Fehler zu begehen, die ihren Eltern, wie sie glaubte, bei ihr unterlaufen waren, doch manchmal dachte sie, wenn sie das Mädchen schalt: Genauso hat meine Mutter mit mir geredet.

Ihr Mann nahm einen anderen Standpunkt ein, aber schließlich war er auch in anderen Verhältnissen herangewachsen, und zudem hatte er mit der Kindererziehung kaum zu schaffen. Diese alten Familien … Sie stammte aus einer wohlhabenden, einflussreichen und in ihrem Machtwahn wohl ziemlich unerträglichen Familie, doch trotzdem hatte sie nie das Maß nahezu mutwilliger Exzentrizität an den Tag gelegt, deren sich im Laufe der Generationen die Verwandten Kryfs befleißigt hatten.

Sie schaute auf den Armbandmonitor und verminderte die Beheizung ihrer Stiefel, die ihre Beine inzwischen behaglich wärmten. Mittag. Wahrscheinlich stand Kryf gerade auf, läutete nach dem Frühstück und ließ sich vom Butler die Nachrichten vorlesen, während ein Lakai ihm eine Auswahl von Kleidungsstücken zeigte, damit er sich seine Nachmittagsgarderobe zusammensuchen konnte. Sie lächelte, als sie an Kryf dachte, und plötzlich fiel ihr auf, dass sie dabei Xellpher ansah, der auf der anderen Seite der Seilbahnkabine saß. Der Leibwächter – der einzige weitere Fahrgast in dieser Kabine – glich in seiner Stämmigkeit und wegen seines dunklen Typs einem altmodischen Ofen und lächelte gleichfalls ein wenig.

Sie lachte gedämpft auf und legte die Hand an den Mund.

»Madame?«, fragte Xellpher.

Sie schüttelte den Kopf. Hinter Xellpher ragte im Freien ein Felsrücken über die Bäume empor, ein Ausläufer des Gebirges, zuckerweiß vom Schnee, aber durchzogen von Streifen kahlen, schwarzen Gesteins, einem dunklen, fremden Leib inmitten der Laken und Kissen des Schnees ähnlich. Die Seilbahnkabine erreichte die Wolken und wurde von ihnen umhüllt.

Ein grauer Pfeiler schien vor dem Fenster rasch vorüberzuwandern, das Laufwerk der Seilbahnkabine surrte und holperte für etwa eine Sekunde, dann setzte sie das lautlose, geschmeidig-schnurrende Hinaufschweben fort, und man hatte den Eindruck, als nickte sie vor sich hin, während der Zugseilantrieb sie an Reihen von Bäumen, die den Geistern eines großen, im Herabsteigen vom Berg begriffenen Heers glichen, nach oben zog.

Die Aussicht wurde ganz grau. Ein grauer Mast glitt vorbei, und die Fahrgastkabine wackelte. Die Aussicht blieb grau. Ein paar Bäume und die andere Seilbahngondel konnte sie sehen, aber mehr nicht. Verdrossen blickte sie sich um. Xellpher lächelte ihr zu. Sie lächelte nicht zurück. Hinter ihm stand ein Kliff, das aussah, als hätte jemand schwarze Löcher in den weißen Schnee gebissen.

Sie drehte sich dem Fenster zu, rieb an der Scheibe und hoffte, anschließend wieder besser sehen zu können. Aus dem Dunst in der Höhe erschien eine weitere Gondel, schwebte ihnen am benachbarten Zugseil abwärts entgegen.

Die Kabine bewegte sich langsamer.

Die Fahrgastgondel verlangsamte das Tempo und stoppte.

»Ach je«, sagte sie, hob den Blick an die lackierte Decke der Kabine.

Finsteren Gesichts schwang Xellpher vom Sitz hoch. Er spähte zu der Gondel hinüber, die ihnen von oben entgegengekommen war und auf beinahe gleicher Höhe ebenfalls angehalten hatte. Auch sie sah sich die andere Seilbahnkabine an. Sie hing unterm Zugseil und schaukelte leicht, genau wie diese Gondel. Anscheinend war sie leer. Xellpher wandte sich um und beobachtete das auf der anderen Seite, dreißig oder vierzig Meter entfernt, durch die Nebelschwaden sichtbare Kliff. Sie sah, wie er die Lider verkniff, und als ihre Augen seinem Blick in die Richtung der Felswand folgten, spürte sie eine erste, schwache Regung der Furcht.

Sie hatte den Eindruck – bildete es sich vielleicht nur ein –, dass sich zwischen den Bäumen auf dem Kamm des Felsrückens etwas bewegte. Xellpher schaute sich nach der Seilbahngondel um, die neben ihnen hing, und holte ein Multiskop aus der Skijacke. Aber er behielt, so wie sie, hauptsächlich das Kliff im Augenmerk. Es rührte sich tatsächlich etwas zwischen den Bäumen, und zwar ungefähr in gleicher Höhe mit den beiden Gondeln. Xellpher justierte die Kontrollen an der Seite des Multiskops.

Sie presste die Nase ans Fenster. Die Scheibe war sehr kalt. Mami hatte ihr einmal erzählt, eines Tages hätte ein unartiges kleines Mädchen die Nase an ein sehr kaltes Fenster gepresst und hätte sie nicht mehr wegziehen können; sie sei festgefroren. So ein dummes Mädchen. Die andere Gondel hatte zu schaukeln aufgehört. Sie war nicht leer, denn jetzt linsten Leute über den Unterrand des Fensters, hatten lange, dunkle Gegenstände in den Fäusten; dann duckten sie sich wieder, so dass sie sie nicht mehr sehen konnte.

Xellpher ging in die Hocke, steckte das Multiskop ein, fasste sie an beiden Händen und nötigte sie zu sich herab. »Ich bin sicher, dass kein Grund zur Beunruhigung besteht, Madame«, sagte er, betrachtete währenddessen das Kind, »aber es könnte empfehlenswert sein, wir setzen uns für eine Weile auf den Boden.«

Sie kauerte sich auf den verschlissenen Bretterboden der Seilbahngondel, hielt den Kopf unterhalb der Fensterrahmen. Indem sie die Arme ausstreckte, zog sie das Kind behutsam vom Sitz. »Nicht, Mami …«, sagte es mit der Quengelstimme, wehrte sich eine Sekunde lang.

»Pscht«, machte sie, drückte das Kind an die Brust.

Im Entengang watschelte Xellpher zur Kabinentür, zückte unterwegs aus der Tasche den Kommunikator.

Sämtliche Fenster zersprangen gleichzeitig, überschütteten sie mit Glasscherben. Die Fahrgastgondel erbebte.

Sie hörte sich schreien, fiel der Länge nach, das Kind umklammert, auf den Boden der Kabine. Sie erstickte den Schrei. Die Gondel zitterte, als noch mehr Schüsse sie trafen. In unvermittelter Stille raunte Xellpher etwas; dann folgte mehrmaliges scharfes Knallen. Sie blickte auf und sah, dass Xellpher aus seiner Handfeuerwaffe durchs zerschmetterte Fenster in die Richtung der Steilwand feuerte. Neue Geschosse schlugen in die Gondel, so dass Holzsplitter durch die Luft spritzten, Staub und kleine Stückchen Schaumstoff aus den Sitzbezügen stoben.

Xellpher duckte sich, sprang auf, schoss einige Augenblicke lang und warf sich dann zu Boden, um das Magazin der Waffe zu wechseln. Wieder hagelte es Projektile in die Gondel, sie schmetterten gegen das Metall und brachten es zum Klingen. Sie konnte im Gaumen den Geruch schmecken, den Xellphers Waffe verströmte, die Schärfe brannte bis tief in die Kehle. Sie sah das Kind an, das mit weit aufgerissenen Augen, aber unverletzt, unter ihr lag.

»Code Null, ich wiederhole, Code Null«, sagte Xellpher während einer kurzen Feuerpause in den Kommunikator. Er schob den Apparat in die Tasche zurück. »Ich öffne die Tür an der Innenseite«, kündete er mit lauter, aber ruhiger Stimme durch den Lärm der Treffer an, die ins Metall krachten, das Jaulen der Querschläger. »Hinunter zum Schnee sind es nur zehn Meter. Abzuspringen dürfte sicherer sein, als hier zu bleiben.« Beschuss prasselte in die Gondel, schüttelte sie. Xellpher senkte den Kopf und verzog das Gesicht, als neben einem zerborstenen Fenster eine Wolke von Holzsplittern aus der Kabinenwand sprühte. »Wenn die Tür offen ist«, fügte er hinzu, »werfen sie zuerst das Kind hinaus und springen dann hinterdrein. Haben Sie verstanden?«

Sie nickte, hatte zuviel Furcht, um zu sprechen. Der Geschmack in der Kehle stammte nicht vom Qualm der Waffe; vielmehr erzeugte ihn ihre Furcht.

Xellpher robbte über die Holzdielen zur Tür; das Feuer hielt an, eine unregelmäßige Folge heftiger Einschläge erschütterte die Passagiergondel. Der Leibwächter zerdrosch etwas, packte zu, zerrte; die Tür schwang einwärts zur Wand. Sie erkannte in den Halterungen an der Außenseite der Gondel die Skier, Geschosse hatten sie in Fensterhöhe gekappt. Xellpher blickte hinaus.

Sein Schädel platzte; es schien, als träfe eine unsichtbare Kanonenkugel seinen Körper, würfe ihn von der offenen Kabinentür zurück und gegen die Seitenwand.

Sie konnte nicht mehr richtig sehen. Doch sie schrie erst, als sie begriff, die warme, klebrige Flüssigkeit in ihren Augen war Blut.

Ein weiterer Schuss aus der gleichen Richtung zertrümmerte mehrere Sitze, kippte sie auf den Boden; die ganze Gondel bebte und schwankte. Sie barg das Kind in den Armen, hörte es und auch sich selbst schreien. Dann hob sie ruckartig den Kopf, als ein neuer Einschlag die Gondel nochmals zum Schlingern brachte. Sie kroch zur Tür.

Die Wucht des Treffers war erstaunlich, geradezu unfassbar. Als hätte eine Lokomotive sie gerammt, ein Dampfhammer sie getroffen, ein Komet. Irgendwo unterhalb der Brust, wo genau, davon hatte sie keine Vorstellung. Sie vermochte sich nicht mehr zu regen. Sie wusste sofort, das war der Tod; sie hätte glauben können, sie wäre entzweigerissen worden.

Unter ihr schrie das Kind. Fast an der Tür. Sie hörte nichts mehr, aber sah an Gesicht und Mund, dass das Mädchen schrie. Ringsum schien alles sehr düster zu werden. So nah war die Tür, und sie konnte sich nicht rühren. Das Kind krauchte unter ihr hervor, und es kostete sie alle Mühe, den Kopf hochzuhalten, sich mit einem Arm abzustützen.

Das Kind stand da und schrie irgendetwas, das Gesicht aus Erregung gerötet und voller Tränen. So dicht an der Tür, und ihr war keine Bewegung mehr möglich. Das Ende kam. Das war nun wirklich keine Weise, wie man ein Kind aufzog. Was für einfältige, dumme, grausame Menschen: wie Kinder, armselige Kinder. Man musste ihnen verzeihen. Keine Ahnung, was werden soll. Und die anderen auch nicht. Arme Kinder. Wir alle sind arme, furchtsame Kinder. Schicksal. Nichts in euren schmierigen Weltanschauungen rechtfertigt so etwas …

Die Granate flog zur offenen Tür herein, plumpste auf Xellphers Leichnam und fiel mit einem Klacken hinter dem Kind auf den Bretterboden. Das Kind hatte sie nicht bemerkt. Sie wollte dem Mädchen zurufen, die Granate zu nehmen und hinauszuwerfen, doch ihr Mund gehorchte nicht. Fortgesetzt schrie das Kind, vorgebeugt schrie es auf sie ein.

Mit letzter Kraft streckte sie den Arm und schubste das Kind trotz allen Geschreis zur Tür hinaus – eine Sekunde, bevor die Granate explodierte.

Erster Teil 

1Ouvertüre

La la la la-la

Kannst du von gläsernem Gestade besser seeehn?

Hmm hmm hmm hmm-hmm …

Nur an diese eine Zeile erinnerte sie sich. Sie stand mit verschränkten Armen an einem Schmelzglasstrand, ihre Stiefelabsätze schabten die körnige, durch Verkratzen stumpfe Oberfläche, ihr Blick schweifte am flachen Horizont entlang, und halb sang, halb flüsterte sie die einzige im Gedächtnis gebliebene Zeile.

Gegenwärtig herrschte die Flautenphase der Atmosphäre, die Zeitspanne, nachdem der Tagwind, der übers Land wehte, verebbt war, und der Nachtwind, dessen Aufkommen der warme Deckel der Wolkenschicht verzögerte, erst noch aus der Trägheit der Luftmassen des Archipels entstehen musste.

Auf dem Meer, am Rande des dunklen Baldachins der Wolkendecke, sank die Sonne. Rötlich verfärbte Wogen wallten auf den Glasstrand zu, Gischt schäumte gegen die zerscheuerte Böschung und wurde längs des krummschwertförmigen Verlaufs der Küste auf die fernen Umrisse mattglänzender Dünen zugeweht. Schwefelgeruch durchzog die Luft. Sie atmete tief ein, dann trat sie eine Strandwanderung an.

Sie hatte eine leicht überdurchschnittliche Körpergröße. Die Beine in der Hose, die sie zu dem dünnen Jäckchen trug, wirkten schlank; schwarzes Haar fiel ihr dicht und üppig auf den Rücken. Als sie ein wenig den Kopf drehte, sah die eine Hälfte ihres Gesichts im roten Sonnenschein errötet aus. Ihre schweren, kniehohen Stiefel verursachten beim Laufen Scharrgeräusche. Und sie hinkte beim Gehen; ihr Gang litt unter einer leichten Behinderung, als hätte sie eine Muskelschwäche.

»… besser seeehn …« Leise sang sie vor sich hin, während sie an Issiers Glasufer entlangspazierte, sich fragte, warum sie herbestellt worden war, weshalb sie sich darauf eingelassen hatte.

Sie holte eine antiquarische Uhr hervor und sah nach der Uhrzeit, dann gab sie ein Tz-tz-tz von sich und schob die Uhr zurück in die Tasche. Warten war ihr zuwider.

Sie blieb in Bewegung, strebte schließlich über den abschüssigen Küstenstreifen aus verschmolzenem Sand zurück zum Tragflügel-Motorboot. Zirka hundert Schritte entfernt hatte sie das alternde Gebrauchtgefährt an einem unkenntlichen Stück Schrott dieses beispiellosen Strands festgebunden – eine eventuell etwas unzuverlässige Methode des Festmachens, befand sie, als sie jetzt daran dachte. Das Tragflügelboot, dessen Pfeilspitzendesign in der Trübnis nur einem Klecks glich, glitzerte plötzlich, als es in den flachen Wellen, die an den Strand schwallten, zu dümpeln anfing, die Chromkonturen spiegelten das rötliche Leuchten des letzten Tageslichts wider.

Sie blieb stehen und betrachtete die fleckige, rotbraune Glasfläche, fragte sich, wie dick die Schicht verbackener Silikate sein mochte. Mit einer Stiefelspitze versetzte sie dem Untergrund einen Tritt. Die Zehen schmerzten, das Glas sah unverändert aus. Sie zuckte die Achseln, wandte sich um und schlenderte wieder in die andere Richtung.

Aus einigem Abstand erweckte ihr Gesicht einen ruhigen Eindruck: nur jemand, der sie gut kannte, hätte an dieser Gelassenheit eine gewisse unheilschwangere Erwartung bemerken können. Abgesehen vom Widerschein des Sonnenlichts war ihre Haut blass. Ihre Brauen saßen als schwarze Halbrundungen unter einer breiten Stirn und dem fülligen Ansatz des nach hinten gebürsteten Haars, die Augen waren groß und dunkel, die Nase ragte lang und gerade aus dem Gesicht, als wäre sie eine Säule, die die düsteren Wölbungen der Brauen stützte. Ihr Mund, zu einem straffen Strich zusammengepresst, war schmal. Starke Wangenknochen bildeten einen Gegenpart zu dem ausgeprägten Kinn.

Sie seufzte abermals und sang die Zeile des Lieds verhalten noch einmal. Dabei lockerte sich die straffe Linie ihres Munds, die kleinen Lippen wurden voller.

Voraus konnte sie in einer Entfernung von mehreren Hundert Schritten die große Kastenform eines alten, automatischen Strandsäuberers erkennen. Sie spazierte darauf zu und musterte den altmodischen Apparat argwöhnisch. Still und finster stand er auf seinen Gummiraupen, wartete darauf, anscheinend mangels Treibgut auf Sparbetrieb geschaltet, dass die nächste Flut ihm neue Anreize zur Aktivität bot. Kot von Seevögeln hatte das verbeulte, klapprige Gehäuse bekleckert, das in der Helligkeit des Sonnenuntergangs rosa schimmerte. Kurz ließ sich, sah sie, ein gischtweißer Vogel auf der flachen Oberseite der Maschine nieder, flatterte jedoch gleich darauf empor und flog landeinwärts.

Noch einmal holte sie die alte Uhr heraus, warf einen Blick darauf und stieß tief aus der Kehle ein gedämpftes missmutiges Brummen aus. Die Wellen brandeten gegen die Küstenlinie des Festlands, fauchten wie Statik.

Sie fasste den Vorsatz, bis zu dem Strandsäuberer zu wandern, dann kehrtzumachen, das Tragflügelboot zu besteigen und zu verschwinden. Voraussichtlich erschien derjenige, der dieses Treffen mit ihr verabredet hatte, nicht mehr. Es könnte sogar eine Falle sein, überlegte sie, spähte in die Dünen, gepackt von alter Furcht. Oder ein Jux; womöglich erachtete irgendjemand dergleichen als spaßig.

Bis auf zwanzig Schritt näherte sie sich dem Strandsäuberungsautomaten, dann drehte sie um und machte sich mit ihrem leicht behinderten Gang auf den Rückweg, sang unterdessen die eintönig-schlichte Melodie, ein Relikt dieser oder jener postatomaren Ära.

Fünfzig Meter rechts von ihr erreichte unversehens ein Reiter die Höhe einer Düne. Sie blieb stehen und blickte hinüber.

An den breiten, muskulösen Schultern hatte das sandfarbene Reittier die Höhe eines Menschen; um die schmale Taille war ein glänzender Sattel geschnallt, der wuchtige Rumpf mit silbrigem Stoff bekleidet. Es bog den großen, gelbbräunlichen Kopf zurück, das Zaumzeug klirrte; es schnaubte und stampfte mit den Vorderpfoten. Der Reiter, der sich grau-in-grau gegen die dumpfe Schwere des Wolkenhimmels abzeichnete, trieb das riesige Tier vorwärts. Es senkte den Schädel und schnaubte ein zweites Mal, betastete das Gelände an dem schartigen Rand, wo auf dem Scheitel der Düne der Sand in Glas überging. Das Tier wackelte mit dem Kopf, ehe es vorsichtig, angetrieben vom Reiter, längs der Glasschicht in die Mulde zwischen zwei Dünen hinabstapfte; hinter dem Mann blähte sich sein Mantel im Wind, als wäre er kaum schwerer als die Luft, durch die er sich bewegte.

Unterdrückt brummelte der Mann etwas, trat dem Reittier die Fersen in die Flanken; es zuckte zusammen, als die Sporenelektroden kontaktierten und in seinen großen Hinterkeulen unwillkürliches Muskelzittern hervorriefen. Achtsam setzte es eine breite Pranke aufs Glas, dann eine zweite Pfote; der Reiter stieß Laute der Ermunterung aus. Während es nervös vor sich hinschnaubte, tat das Tier ein paar Schritte auf die schräge Kruste des Strands, geriet jedoch plötzlich ins Rutschen, winselte laut, torkelte, sackte schwerfällig auf den Bauch und warf den Reiter beinahe aus dem Sattel. Es reckte den Kopf empor und brüllte.

Behände sprang der Mann ab; sein langer Mantel verfing sich kurz an dem hohen Sattel, so dass er recht ungünstig auf der harten Glasfläche aufkam, fast stürzte. Sein Reittier unternahm krampfhafte Anstrengungen zum Aufstehen, die Pfoten aber glitten auf der schlüpfrigen Böschung aus. Der Mann raffte den Mantel um sich und hielt zielstrebig auf die Frau zu, die eine Hand in die Achselhöhle der anderen Körperseite geschoben, die andere Hand an die Stirn gelegt hatte, als überschattete sie, während sie das Ufer beobachtete, die Augen. Sie schüttelte den Kopf.

Unter der Reithose und dem engen Jackett hatte der Ankömmling eine hochaufgeschossene, hagere Statur, sein Gesicht war schmal und blass, gekrönt von schwarzen Locken und umrahmt mit einem adrett gestutzten, schwarzen Bart. Er näherte sich. Dem Aussehen nach mochte er einige Jahre älter als die Frau sein.

»Sharrow, liebe Kusine«, sagte er und lächelte, »ich danke dir für dein Erscheinen.« Er sprach mit kultivierter Gebildetenstimme, mit ruhigem, selbstsicherem Klang. Er ergriff ihre Hände und drückte sie für einen Augenblick, ließ sie los.

»Geis«, fragte sie, indem sie sich über die Schulter nach dem Reittier umblickte, dem es endlich gelungen war, sich zittrig wieder auf die Beine hochzuraffen, aber das noch immer laut vor sich hinblökte, »was stellst du denn mit dem Vieh da an?«

Geis schaute sich nach dem Tier um. »Ich zähme es«, antwortete er mit einem Grinsen, das nur langsam aus seiner Miene wich. »Eigentlich brauchte ich es bloß, um herzugelangen und dich zu informieren …« Er hob die Schultern, lachte leise und versonnen auf. »Mensch, Sharrow, ich habe eine wahrlich melodramatische Neuigkeit für dich. Du schwebst in Gefahr.«

»Also hättest du mich vielleicht mit einem Anruf schneller warnen können.«

»Ich musste mich mit dir treffen, Sharrow, das war mir wichtiger als Telefonate.«

Sharrow betrachtete das gesattelte Tier, das versuchsweise am Strandgras rings um die benachbarte Düne schnupperte. »Dann hättest du ein Taxi nehmen sollen«, meinte sie. Ihre leise Stimme war von außerordentlicher Geschmeidigkeit.

Geis lächelte. »Taxis sind so … so vulgär, findest du nicht?«, entgegnete er mit einer Andeutung von Ironie.

»Hmm, aber warum muss es ausgerechnet dieses …« Sharrow deutete auf das Tier.

»Das ist ein Bandamyion. Tolles Tier.«

»Na schön, und warum ausgerechnet so ein Bandamyion?«

Geis hob die Schultern. »Ich habe es eben erst gekauft. Wie erwähnt, ich bin noch dabei, es zu zähmen.« Seine mit einem Handschuh bekleidete Rechte winkte ab. »Hör zu, reden wir nicht über das Tier. Die Sache ist ziemlich dringend.«

Sharrow seufzte. »Na gut. Worum geht’s?«

Geis schöpfte tief Atem. »Um die Huhsz«, gab er halblaut zur Antwort.

Für einen Moment schwieg Sharrow, dann zuckte sie die Achseln und lenkte den Blick zur Seite. »Ach, um die.« Mit der Stiefelspitze schabte sie auf dem gläsernen Strand.

»Ja, um sie«, bekräftigte Geis in gefasstem Ton. »Meine Leute beim Globalen Tribunal sagen, es ist eine Mauschelei in Gang, die ihnen zu … zu Freibrief-Pässen verhelfen soll, und wahrscheinlich sehr bald. Vielleicht binnen weniger Tage.«

Ohne ihren Verwandten anzuschauen, nickte Sharrow. Sie verschränkte die Arme und schlenderte langsam ein paar Schritte am Strand entlang. Geis zog die Handschuhe aus, und nachdem er dem inzwischen zum Mampfen übergegangenen Bandamyion nochmals einen Blick zugeworfen hatte, schloss er sich ihr an.

»Es tut mir leid, dass ich es bin, der es dir erzählen muss, Sharrow.«

»Schon gut«, sagte sie. »Macht nichts.«

»Ich bezweifle, dass wir noch etwas ändern können. Ich habe die Familienanwälte mit der Einlegung einer Rechtsbeschwerde beauftragt, und mein Firmenpersonal hilft, so gut es kann – es besteht eine gewisse Aussicht, dass ein Verbotsantrag wegen unterbliebener Vorankündigung des Antrags auf Freibrief-Pässe bei Gericht Erfolg hat –, aber allem Anschein nach haben die Stehrins ihre Einwände zurückgezogen, und wie es heißt, hat der Nul-Kirchenrat seine Verzögerungstaktik aufgegeben. Gerüchten zufolge sollen die Huhsz in Stehrin Land erworben, Grundbesitz gekauft haben, und dabei soll die Kirche von ihnen bestochen worden sein, entweder glattweg mit Kredits oder durchs Anbieten eines Relikts.«

Sharrow schwieg; gesenkten Blicks spazierte sie am Ufer entlang. Geis vollführte mit der Hand eine resignierte Gebärde. »Mit einem Schlag holt das ganze Unheil uns ein. Ich dachte, wir hätten dafür gesorgt, dass diese Arschlöcher jahrelang beschäftigt bleiben, aber das Gericht hat die Angelegenheit beschleunigt aufgearbeitet, seit Generationen anhängige Nebenklagen.« Er stöhnte auf. »Und natürlich ist gerade jetzt Llocaran damit an der Reihe, in dieser Legislaturperiode den Gerichtspräsidenten zu stellen. Obendrein stammt ihr Kandidat aus Lip City.«

»Ach ja, Lip City«, äußerte Sharrow. »Ich kann mir denken, dass sie dort wegen der Chaoswaffe noch heute sauer sind.« Sie spähte voraus, in die Richtung des Tragflügel-Motorboots, das weiter hinten am Ufer schwach glänzte.

(Und in Gedanken sah sie wieder die Reihe von Wüstenhügeln vor sich, wie sie sich ihrem Blick durchs Steingeländer des Hotelbalkons dargeboten hatten – mit einem schwachen Vorglühen der Morgenfrühe auf den Kuppen – und urplötzlich von stoßweisem Pulsieren lautlosen Feuers von jenseits des Horizonts erstrahlt waren; verblüfft und benommen, außer sich vor Entgeisterung, hatte sie hinübergestarrt, während das ferne Eruptieren zerstörerischer Kräfte die Miene ihres Liebhabers erhellte.)

»Meines Erachtens müssen die Huhsz tatsächlich einen der Richter auf ihre Seite gezogen haben.« Geis’ Stimme klang müde. »Es wird darüber gemunkelt, man hätte vor einigen Tagen einen dieser alten Knaben in einer Schnüffelhöhle aufgefunden. Die Huhsz stehen bestimmt nicht darüber, so etwas planmäßig zu inszenieren, um einen Richter unter Druck zu setzen.«

»Du meine Güte«, sagte Sharrow, strich sich mit der Hand durchs dichte Haar. Geis beobachtete die Geste, sah den weißen Fingern zu, während sie das schwarze Feld pflügten. »Was für einen Aufwand und welche Umstände diese Huhsz-Typen betreiben.«

Geis nickte. »Hinsichtlich ihrer Personalpolitik und der Investitionen haben sie in letzter Zeit auch Glück gehabt«, erklärte er. »Bei ihnen läuft es bestens. Wahrscheinlich sind sie zur Zeit Golters profitabelster Orden. Das alles hat ihnen zu einer gutgefüllten Kriegskasse verholfen.« Er furchte die Stirn. »Ich bedaure die Situation sehr, Sharrow. Ich kann mich nicht des Gefühls erwehren, dich im Stich gelassen zu haben.«

Sharrow zuckte die Achseln. »Früher oder später musste es ohnehin so kommen. Du hast getan, was in deiner Macht stand. Danke.« Nun blickte sie ihn an, fasste mit einer Hand kurz seinen Unterarm. »Ich weiß es zu schätzen, Geis.«

»Gestatte mir, dich zu verstecken, Sharrow«, schlug er unvermittelt vor.

Sharrow schüttelte den Kopf. »Geis …«

»Ich habe Beteiligungen, von denen sie unmöglich …«

»Nein, Geis. Ich …«

»Nicht doch, hör erst einmal zu. Ich kann dir Verstecke bieten, die sie auf gar keinen Fall …«

»Ausgeschlossen, Geis, ich …«

»Sichere Häuser, Büros, ganze Liegenschaften da und dort auf anderen Planeten, die in keiner Bilanz verzeichnet stehen. Ableger von Tochterfirmen, von denen selbst meine Geschäftsführer nichts ahnen …«

»Ich weiß dein Angebot zu würdigen, Geis, aber …«

»Habitate, komplette Asteroiden, Minen auf Fian und Speyr. Schwimminseln auf Trontsephori …«

»Geis«, unterbrach sie ihn, blieb stehen und wandte sich ihm zu, ergriff für einen Moment seine Hände. »Geis, darauf kann ich nicht eingehen.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Dir muss einfach klar sein, dass sie mich irgendwann doch aufspürten, und dann bekämst du Ärger wegen Schutzgewährung. Sie werden ihre Freibrief-Pässe verwenden. Wenn sie es wollten – falls sie es zum Vorwand nähmen, dass sie Anlass zu dem Verdacht sähen, du deckst mich –, könnten sie dich in die Knie zwingen, Geis.«

»Ich bin durchaus dazu imstande, auf mich achtzugeben.«

»Dich persönlich meine ich nicht, Geis. Ich spreche von dem Wirtschaftsimperium, an dessen Aufbau du derartig emsig arbeitest. Ich verfolge die Nachrichten. Du wirst schon von Anti-Kartell-Inspektoren umlauert.«

Mit einem Wink tat Geis die Warnung ab. »Das sind nur Bürokraten. Mit denen werde ich fertig.«

»Nicht wenn die Huhsz die Freibrief-Pässe benutzen, um deine Datenbanken zu knacken und die Dateien zu durchstöbern. Dann könnten diese sämtlichen wertvollen Firmen, diese ganzen Beteiligungen … Alles könnte dir genommen werden.«

Geis blieb stehen, musterte sie. »Das würde ich riskieren«, lautete seine ruhige Antwort.

Erneut schüttelte Sharrow den Kopf.

»Doch, dazu bin ich bereit«, beharrte Geis auf seiner Zusicherung. »Deinetwegen. Wenn du mich lässt, tu ich für dich alles, was ich …«

»Geis, bitte«, ermahnte Sharrow ihn, drehte sich um und strebte in Gegenrichtung, auf die in einigem Abstand sichtbaren Umrisse des alten Strandsäuberers zu. Geis folgte ihr.

»Sharrow, du weißt, was ich für dich empfinde. Lass mich doch einfach …«

»Geis!«, fuhr sie ihn in scharfem Ton an, wandte ruckartig und nur kurz den Kopf.

Er hielt an, senkte den Blick auf die Füße; dann eilte er ihr schnell nach.

»Also gut«, sagte er, sobald er aufgeholt hatte. »Entschuldige, ich hätte davon nicht reden sollen. Ich hatte nicht die Absicht, dich in Verlegenheit zu bringen.« Er atmete durch. »Aber ich werde nicht zusehen, während man dich hetzt und in die Enge treibt. Ich kann auch mit schmutzigen Methoden arbeiten. Ich habe Leute, wo du sie nie erwarten würdest, wo niemand damit rechnet. Auf keinen Fall dulde ich, dass diese religiösen Fanatiker dich erwischen.«

»Ich gedenke nicht zuzulassen, dass sie mich erwischen«, beteuerte Sharrow. »Mach dir keine Sorge.«

Geis lachte bitter. »Wie könnte ich mir keine Sorgen machen?«

Sharrow verhielt und blickte ihm ins Gesicht. »Versuch’s einfach. Und unternimm nichts, was uns beide in zusätzliche Scherereien bringen könnte.« Sie neigte den Kopf, betrachtete Geis.

Zu guter Letzt schaute er zur Seite. »Gut, wie du willst«, antwortete er.

Gemeinsam setzten sie den Weg fort.

»So, und wie wirst du dich verhalten?«, erkundigte sich Geis.

Sharrow hob die Schultern. »Ich gehe stiften«, sagte sie. »Sie haben bloß ein Jahr lang Zeit, und …«

»Ein Jahr und einen Tag, um genau zu sein.«

»Ja. Na, ich muss mich eben bemühen, ihnen ein Jahr und einen Tag hindurch immer um ein, zwei Schritte voraus zu bleiben …« Sie trampelte auf die Glasfläche unter ihren Füßen. »Und wahrscheinlich muss ich auch versuchen, die letzte Chaoswaffe zu finden. Das Exemplar, das die Huhsz haben wollen. Um einen Schlussstrich zu ziehen, ist das die einzige andere Alternative.«

»Hast du vor«, fragte Geis mit neutraler Stimme, »das SNA-Team wieder zusammenzustellen?«

»Wenn ich diese verfluchte Chaoswaffe ausfindig machen will, brauche ich Unterstützung«, räumte Sharrow ein. »Außerdem muss ich es auf alle Fälle versuchen. Sollten die Huhsz jemanden vom Team zu packen kriegen … Es fiele ihnen dann leichter, mich aufzuspüren.«

»Aha. Dann schwindet der Effekt wirklich nicht?«

»Die SNA? Nein, Geis, sie wird nicht schwächer. Wie gewisse exotische Krankheiten und im Gegensatz zur Liebe ist die Synchroneuroassoziation eine Sache fürs Leben.«

Geis schaute auf den Glasuntergrund hinab. »Du bist in Bezug auf Liebe nicht immer so zynisch gewesen.«

»Es heißt ja auch, dass man für Dummheit büßen muss.«

Geis wirkte, als hätte er die Neigung, darauf etwas zu erwidern, doch schließlich schüttelte er den Kopf. »Jedenfalls brauchst du Geld«, konstatierte er. »Du musst mir erlauben, dir …«

»Ich bin keineswegs mittellos, Geis«, fiel Sharrow ihm von neuem ins Wort. »Und wer weiß, vielleicht stehen noch Antiquitätenbeschaffungsverträge an.« Sie faltete die Hände, knetete sie, ohne sich dessen bewusst zu werden. »Wenn die Überlieferung der Familie zutrifft, muss man, um an die Chaoswaffe zu gelangen, erst die Universellen Prinzipien finden.«

»Ja, falls die Überlieferung stimmt«, meinte Geis skeptisch. »Diesem Gerücht bin ich selbst schon nachgegangen, und niemand weiß, wie es überhaupt entstanden ist.«

»Es ist der einzige Anhaltspunkt, Geis.«

»Tja, wenn du bei der Suche nach den übrigen Teamangehörigen irgendwie Beistand brauchst …«

»Meinen letzten Informationen zufolge soll Miz unternehmerisch in Schwimmstadt tätig sein, die Francks züchten angeblich in Regioner Sarflet-Welpen, und Cenuij soll sich irgendwo in Caltasp Minor niedergelassen haben, kann sein, in Udeste. Ich stöbere ihn schon auf.«

Geis holte tief Atem. »Tja, nach meinen Informationsquellen ist Cenuij Mu in Caltasp, ja, aber ein Stück weiter nördlich als Udeste.«

Sharrow blickte auf und hob die Brauen. »Mm-hmm?«

Bekümmert lächelte Geis. »Er dürfte wohl in Lip City stecken, liebe Cousine.«

Sharrow nickte, knirschte beim Weitergehen mit den Zähnen. Sie schaute hinaus aufs Meer, wo der letzte Glanz der Sonne rasch hinterm kahlen Rund des Horizonts verschwand. »Oh, prachtvoll«, sagte sie.

Geis betrachtete seine Handrücken. »Ich habe eine Wachdienstfirma, die Schutzverträge mit Kunden über die Beaufsichtigung von Einrichtungen in Lip City unterhält. Es wäre nicht unvorstellbar, dass Mu … eine unbeabsichtigte Reise aus der Stadt unternimmt …«

»Nein, Geis«, erwiderte Sharrow. »Das ginge nicht gut. Eine Entführung würde ihn bloß feindselig stimmen. Ich finde Cenuij. Eventuell kann ich meine liebe Halbschwester dazu überreden, mir behilflich zu sein. Ich glaube, die beiden stehen noch in Kontakt.«

»Breyguhn?« Geis’ Gesichtsausdruck bezeugte Zweifel. »Ich bin nicht sicher, ob sie überhaupt mit dir spricht.«

»Einen Versuch ist es wert.« Sharrow schnitt eine nachdenkliche Miene. »Es könnte sogar sein, dass sie eine Ahnung hat, wo die Universellen Prinzipien abgeblieben sind.«

Geis forschte in Sharrows Gesicht. »Das war es, wonach sie im Strandhaus gesucht hat, nicht wahr?«

Sharrow nickte. »Vergangenes Jahr hatte sie mir einen völlig konfusen Brief mit dem Inhalt geschickt, sie hätte zu klären vor, wie man das Buch finden kann.«

Geis wirkte überrascht. »Wahrhaftig?«, fragte er.

Sharrow wölbte die Brauen. »Ja, und außerdem hat sie behauptet, wenn ich mich recht erinnere, den Sinn des Lebens entdeckt zu haben.«

»Ach«, machte Geis.

Beide blieben sie unweit der dunklen Konturen des alten Strandsäuberungsautomaten stehen. Sharrow atmete tief ein, ließ den Blick an der schwachen Biegung des Strands entlangschweifen: mittlerweile war es dunkel genug, so dass die Phosphoreszenz in den Wellen sich als geisterhaft grünes Gekräusel zeigte, das strandwärts heranflimmerte. »So, Geis, hast du noch mehr erfreuliche Neuigkeiten für mich, oder war’s das?«

»Oh, ich glaube, fürs erste reicht es, oder?«, meinte er mit andeutungsweisem, traurigem Lächeln im Gesicht.

»Ja, ich bin dir sehr dafür verbunden, dass du mich gewarnt hast, Geis. Aber von nun an muss ich in ziemlich zügiger Bewegung bleiben. Es dürfte für dich und die übrige Familie am günstigsten sein, ihr haltet im Laufe des nächsten Jahres von mir Abstand. Ich benötige Handlungsspielraum. Verstehst du, was ich sagen will?«

»Wenn es dein Wunsch ist …« Geis’ Tonfall hörte sich an, als wäre er gekränkt.

»Es wird schon gutgehen«, versicherte Sharrow, reichte ihm die Hand. Er sah die Hand an, dann schüttelte er sie. »Wirklich, Geis, ich komme zurecht. Ich weiß, wie ich mich zu verhalten habe. Nochmals vielen Dank.« Sie beugte sich vor und küsste ihn flüchtig auf die Wange.

Sie trat zurück und ließ seine Hand los. Geis’ Lächeln fiel fahl aus. Er nickte, schluckte.

»Wie stets bin ich dein treuer Diener, liebe Cousine.«

Geis schaffte es, der gestelzten Äußerung einen sowohl aufrichtigen wie auch kummervollen Klang zu verleihen. Er tat gleichfalls einen Schritt rückwärts, geriet näher ans Wasser; eine Welle spülte über einen seiner Stiefel, und aus der Sporenelektrode schoss ein schwacher, blauer Blitz, als sie einen Kurzschluss erlitt. Geis zuckte zusammen und wich den Wellen flink aus. Sharrow musste halblaut lachen.

Versonnen schmunzelte Geis und kratzte sich seitlich am Kopf. »In deiner Gegenwart gelingen mir anscheinend keine dramatischen Abgänge«, sagte er mit einem Seufzer. »Tja, falls du mich brauchst, ich irgendwann noch etwas für dich tun kann … Dann gib mir einfach Bescheid.«

»Mach ich. Leb wohl.«

»Auf Wiedersehen, Sharrow.« Ruckartig wandte Geis sich ab und kehrte raschen Schritts zurück zu dem Bandamyion.

Sharrow blickte ihm nach, während er die Dünen erklomm, sie hörte ihn das Reittier rufen und lachte gedämpft, als sie ihn dem Geschöpf hinterdreinlaufen sah, das über den Kamm einer Düne landeinwärts stapfte.

Schließlich schüttelte sie ein letztes Mal den Kopf und drehte sich in der Absicht um, zu dem hundert Meter entfernt am menschenleeren Ufer vertäuten Tragflügelboot umzukehren.

»Hallo«, ertönte plötzlich unmittelbar hinter ihr eine Stimme.

Sharrow verharrte, dann wirbelte sie gelenkig herum, ihre Linke huschte in die Jackentasche.

An dem zehn Meter entfernten Strandsäuberer glommen jetzt hoch oben an der Vorderseite zwei kleine rote Lämpchen; langsam blinkten sie, gingen aus und an. Vor einigen Augenblicken waren sie noch nicht in Betrieb gewesen.

»Ja?«, stieß Sharrow hervor.

»Spreche ich mit Lady Sharrow?«, fragte die Maschine. Sie hatte eine tiefe Stimme mit dem charakteristischen melodischen Anklang am Anfang jedes Worts, der sicherstellen sollte, dass die Leute merkten, sie führten eine Unterhaltung mit einer Apparatur.

Sharrow kniff die Lider zusammen. Zweifellos bemerkte der Automat die Muskelspannung ihres linken Arms. »Ich glaube«, sagte sie, »du weißt, wer ich bin.«

»Es ist mir tatsächlich bekannt. Erlauben Sie mir, mich vorzustellen …« Aus der Maschine drang ein Brummen, sie fuhr an und walzte auf Sharrow zu, die linke Gummiraupe spritzte durch die flachen Wellen.

Sharrow wich um zwei schnelle, große Schritte zurück. Sofort hielt der Automat an. »Verzeihen Sie bitte, ich wollte Sie nicht erschrecken. Einen Moment.« Die Maschine zuckelte einige Meter weit rückwärts an ihren vorherigen Standort. »So. Wie ich schon sagte: Erlauben Sie mir, mich vorzustellen. Ich bin ein …«

»Wer du bist, ist mir schnuppe. Ich will wissen, wieso du mich und meinen Vetter ausspionierst.«

»Das Erfordernis meiner Tarnung war unumgänglich, Madame, um zu gewährleisten, dass ich die relevanten Personen, namentlich Sie und Graf Geis, richtig identifiziere. Und da ich unabsichtlich in unmittelbarer Nähe zum Zeugen Ihrer Erörterungen geworden bin, erachtete ich es als lediglich höflich und angebracht, mit meiner Annäherung zu warten, bis der besagte Gentleman sich von Ihnen verabschiedet hatte, zumal meine Instruktionen, abgesehen von der Frage der guten Manieren, mir vorschreiben, mich ausschließlich Ihnen allein zu erkennen zu geben, das heißt, wenigstens bei der ersten Kontaktaufnahme.«

»Für einen Strandsäuberer bist du ganz schön beredt.«

»Lassen Sie sich bitte durch mein rohes Äußeres nicht täuschen, Madame. Unter meiner schäbigen Verkleidung verbergen sich mehrere brand- und nagelneue Komponenten eines bezüglich dieser Bezeichnung gesetzlich geschützten Suprotektor-Personeneskortgarnitur Typ drei, Klasse fünf, mit amtlicher Einsatzgenehmigung im Zivilkosmos, ausgenommen einige wenige Jurisdiktion-Geltungsbereiche, und mit Einsatzbeschränkung auf Gefechtsfeldzonen im übrigen Kosmos. Und ich – also vorerwähntes System als Gesamtheit, kombiniert mit der Tüchtigkeit diverser hochqualifiziert ausgebildeter menschlicher Mitarbeiter – stehe vollkommen zu Ihren Diensten, Madame, solange Sie es wünschen.«

»Wahrhaftig?« Sharrow fühlte sich leicht belustigt.

»Wirklich und wahrhaftig«, bekräftigte das Suprotektor-System. »Ein gewöhnlicher Strandsäuberungsautomat wäre nicht dazu fähig, um ein beweiskräftiges Beispiel anzuführen, Ihnen zu sagen, dass die Schusswaffe, die Sie gegenwärtig in der linken Tasche Ihrer Jacke in der Faust halten – den linken Zeigefinger am Abzug, den Daumen bereit zum Umlegen des Sicherungshebels – eine Zehn-Millimeter-HandBalliste der Frint-Ballistik mit Schalldämpfer sowie elf koaxial angeordneten Vollmantel-Uran-Quecksilber-Allzweckprojektilen der Marke zehn sieben im Magazin sowie einem weiteren derartigen Projektil im Lauf ist, und dass Sie ein beidseitig einführbares Ersatzmagazin, in dem sich fünf Stück panzerbrechende Munition und sechs Funklenk-Explosivgeschosse befinden, in der anderen Jackentasche haben.«

Sharrow lachte schallend, nahm die Hand aus der Tasche und macht auf dem Absatz kehrt. Die Maschine rollte ihr den Strand entlang nach, wobei sie einige Schritte Abstand von ihr hielt.

»Ich bin der Ansicht«, fügte der Automat hinzu, »Sie darauf hinweisen zu müssen, dass die Frint-Ballistik AG nachdrücklich davon abrät, ihre Faustfeuerwaffen mit einem Geschoss im Lauf zu führen.«

»Die Pistole hat eine Sicherungsvorrichtung«, sagte Sharrow patzig, schaute sich beim Gehen um.

»Ja, aber ich glaube, wenn Sie die Gebrauchsanweisung lesen …«

»So«, unterbrach Sharrow den Automaten, »du stehst mir zu Diensten, ja?«

»Vollkommen.«

»Wunderbar. Und für wen bist du tätig?«

»Selbstverständlich für Sie, Madame.«

»Ja, aber wer hat dich eingestellt?«

»Ach, Madame, es bereitet mir die größte Verlegenheit, dass ich Ihnen hinsichtlich dieser Frage gestehen muss – mit so tiefem Kummer, dass Sie mir seine nähere Beschreibung kaum glauben könnten –, meine vollkommene Unterwerfung unter Ihre Wünsche ist leider doch ein ganz klein wenig eingeschränkt. Kurz und klar ausgesprochen, es steht mir nicht frei, Ihnen diese Information zu nennen. So, jetzt ist es gesagt. Lassen Sie uns rasch von diesem unglückseligen Quäntchen der Dissonanz in die grundsätzliche Stimmung der Harmonie überwechseln, die nach meiner Überzeugung unsere künftige Beziehung prägen wird.«

»Du verrätst es mir also nicht.« Sharrow nickte.

»Ehrenwerte Lady«, antwortete die Maschine, die ihr beharrlich folgte, »um uns lange Diskussionen zu ersparen, muss ich sagen … Sie haben recht.«

»Na gut …«

»Darf ich davon ausgehen, dass Sie meine Dienste wünschen?«

»Danke, aber um auf mich achtzugeben, brauche ich eigentlich keine Hilfe.«

»Indessen trifft es zu«, entgegnete der Automat mit einem Anklang robotischer Belustigung in der Stimme, »dass Sie bei Ihrem letzten Aufenthalt in der Stadt Arkosseur einen Eskortdroiden gemietet hatten und einen Vertrag mit einem Kontraktmilitär-Konzern unterhalten, der Ihren Wohnsitz auf Jorve bewacht.«

Ein zweites Mal blickte sich Sharrow nach dem Apparat um. »Na, sind wir nicht gut informiert.«

»Vielen Dank. Ich bin gerne stolz auf mein Gutinformiertsein.«

»Was ist denn meine Lieblingsfarbe?«

»Ultraviolett, haben Sie einmal einem Ihrer Lehrer gesagt.«

Sharrow blieb stehen; der Automat ebenfalls. Sie drehte sich um und besah sich das beulige Gehäuse des Strandsäuberers. Dann schüttelte sie den Kopf. »Scheiße, ich selbst hatte vergessen, dass ich so etwas dahergeredet habe.« Sie betrachtete den Glasstrand. »Ultraviolett, hm? Ja, ich hab’s gesagt.« Sie hob die Schultern. »Beinahe geistreich.«

Sie wandte dem Automaten wieder den Rücken zu und ging weiter. Der Strandsäuberer schloss sich von neuem an. »Man könnte meinen, du kennst mich besser, als ich mich kenne, Suprotektor«, äußerte sie. »Gibt es sonst irgendwelche Informationen über mich, die ich auch wissen sollte? Nur für den Fall, dass ich noch mehr vergessen habe.«

»Ihr Name lautet Sharrow …«

»Na, das vergesse ich selten.«

»… vom Ersten Hause zu Dascen Major, Golterian. Sie sind neuntausendneunhundertfünfundsechzig in der Villa Tzant auf dem Besitztum gleichen Namens geboren. Selbiges ist schon vor langem mit dem Großteil der Dascen-Major-Besitztümer im Rahmen des Vergleichs verkauft worden, den das Globale Tribunal nach der Zerschlagung und Abwicklung des bedauerlicherweise gesetzwidrigen Trusts Ihres Großvaters Gorko, den Gerüchten zufolge des größten Wirtschaftsimperiums seiner Zeit, angeordnet hatte.«

»Als Familie haben wir immer in großem Maßstab gedacht. Vor allem, was unsere Pleiten betrifft.«

»Nach dem traurigen Ableben Ihrer Mutter …«

»So etwas nennt man Mord, glaube ich.« Sharrow verlangsamte ihre Schritte und faltete die Hände auf dem Rücken.

»… das heißt, ihrer Ermordung durch Huhsz-Zeloten, wurden Sie von Ihrem Vater unter … unsteten Verhältnissen aufgezogen, wie man wohl gerechtfertigt behaupten kann.«

»Wenn wir uns nicht bei reichen Verwandten unbeliebt gemacht haben, sind wir in der restlichen Zeit zu gleichen Teilen entweder in Spielkasinos oder auf Rennplätzen gewesen. Vater war von der Idee besessen, bei einem davon einmal eine Riesensumme einzuheimsen. Aber meistens hat er sein Geld bei ihnen gelassen.«

»Sie hatten … eine Reihe von Lehrern …«

»Alle zeichneten sich durch die gemeinsame Eigenschaft vollständiger Humorlosigkeit aus.«

»… und durchliefen an den Schulen eine Entwicklung, die man wohlwollend als wechselhaft einstufen könnte.«

»Überwiegend kann man den Schulakten eigentlich gar nicht trauen.«

»Ja, es ist eine recht bemerkenswerte Diskrepanz zwischen den schriftlichen Aufzeichnungen und der Mehrzahl aller korrespondierenden Computerdateien festzustellen. An mehreren der von Ihnen besuchten Lehrinstituten hatte man anscheinend den Eindruck, es bestünde ein ursächlicher Zusammenhang zwischen diesem Phänomen und Ihrem ungewöhnlichen Eifer auf dem Gebiet der Computerkunde.«

»Purer Zufall. Mir war überhaupt nichts nachzuweisen.«

»Ich glaube, ich habe nie vorher davon erfahren, dass jemand gegen das Jahrbuch einer Schule geklagt hätte.«

»Lediglich eine Sache des Prinzips. Die Familienehre stand auf dem Spiel. Unsere Familie war seit jeher prozessfreudig. Gorko hat als Fünfjähriger eine Klage gegen seinen Vater um höheres Taschengeld erhoben, und Geis hätte mehrmals fast gegen sich selbst prozessiert.«

»Nach dem Abgang von der Schule in Claäv zeigten Sie Interesse an Politik und … fanden bei den örtlichen jungen Männern beträchtlichen Anklang.«

Sharrow zuckte die Achseln. »Ich bin ein schwieriges Kind gewesen, zum Ausgleich wurde ich eine sorglose Jugendliche.«

»Zum allgemeinen, außer offenbar Ihrem eigenen Erstaunen erlangten Sie Zulassung zur Diplomatischen Fakultät der Universität Yadayeypon, verließen sie jedoch vorzeitig, nämlich zwei Jahre später, zu dem Zeitpunkt, als der Fünfprozentkrieg ausbrach.«

»Auch bloß Zufall. Der Professor, mit dem ich gebumst habe, um mir gute Noten zu sichern, starb auf mir, und ich hatte keine Lust, wieder von vorn anzufangen.«

»Anschließend heuerten Sie als Crewmitglied auf einem Raumkreuzer der AntiFiskusUnion an, der von TP einhundertfünf aus operierte, einem Mond Roavals, dann zählten Sie – gemeinsam mit einer Gruppe anderer junger Offizierinnen und Offiziere – zu einem der ersten Menschen seit dreihundert Jahren, die sich das damals ganz neu freigegebene Symbiovirus SNAv drei inkorporierten. Mit Ihnen als Staffelkapitänin flogen Sie und die übrigen Synchroneuroassoziierten eine auf Etappe, einem militärkommerziellen Habitat in engem Miykenns-Orbit, stationierte Einheit modifizierter, einsitziger Präventivschlag-InterplanetJabos, und diese Staffel stieg zur erfolgreichsten aller im Mittelsystem eingesetzten Einheiten auf.«

»Ich bitte dich, bei soviel Lob werde ich ja rot.«

»Drei Mitglieder Ihres SNA-Teams fielen beim letzten Einsatz gegen Kriegsende, während man schon die Kapitulationsbedingungen aushandelte. Ihr Präventivschlag-InterplanetJabo wurde schwer beschädigt, so dass Sie zur Bruchlandung auf Nachtels Geist gezwungen waren und dabei über schon im vorangegangenen Gefecht davongetragene, ernste Verwundungen und eine erhebliche Verstrahlung hinaus lebensbedrohliche Verletzungen erlitten.«

»Keine halben Sachen, hätte die Devise unserer Familie sein können.«

»Sie sind aus dem Wrack geborgen und nach Maßgabe der Kriegsinternierungsregelung auf Nachtels Geist in der steuerneutralen Klinik eines Bergbaukonzerns behandelt worden …«

»Der Fraß war abscheulich.«

»… wo Sie bei dieser Gelegenheit auch den Fötus des Kindes verloren, das Sie zusammen mit einem Angehörigen Ihres Teams, Miz Gattse Ensil Kuma, gezeugt hatten.«

Für einen Moment hielt Sharrow an und sah, als sie aufblickte, das nur noch zwanzig Meter entfernte Tragflügelboot. Sie spitzte die Lippen, atmete tief durch und strebte langsam weiter. »Ja, ein schrecklich umständliches Vorgehen, um eine Abtreibung vorzunehmen. Aber man hat mich gleichzeitig sterilisiert, also war es an sich ein gutes Geschäft.«

»Die ersten Nachkriegsmonate haben Sie im Tenaus-Gefängnislazarett auf Nachtel zugebracht. An Ihrem zwanzigsten Geburtstag erfolgte gemäß der Vorschriften des sogenannten Imbissstuben-Abkommens Ihre Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft. Sie und die vier anderen Überlebenden des SNA-Teams gründeten eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung und führten gelegentlich legale kommerzielle Überwachungs- und Industriespionageaufträge aus. Zum Schluss haben Sie die geschäftlichen Aktivitäten auf die Antiquitätenrecherche und -beschaffung ausgeweitet, eine Erwerbstätigkeit, die Sie gemeinschaftlich mit Ihrer Schwester Breyguhn ausübten.«

»Halbschwester. Und wir sind nie ertappt worden.«

»Der letzte erfolgreich erledigte Auftrag Ihres Teams betraf das Auffinden und die Beseitigung der mutmaßlich vorletzten Chaoswaffe, dessen Ergebnis aus der Autoannihilation der Chaoswaffe im Laufe ihrer Demontage in der Physikabteilung der Universität Lip City bestand.«

»Deren Methoden schon jahrelang als fragwürdig gegolten hatten.«

»Die daraus resultierende Detonation zerstörte schätzungsweise zwanzig Prozent der Stadt und führte zum Tod von nahezu einer halben Million Menschen.«

Sharrow blieb stehen. Sie waren an dem grob walzenförmigen Stück Schrott angelangt, das aus den verschmolzenen Silikaten der Küste aufragte; daran lag das Tragflügel-Motorboot vertäut. Sharrow starrte den dunklen Brocken halb zerlaufenen Metalls an.

»Unmittelbar im Anschluss an diesen Vorfall hat Ihr Team sich getrennt«, kam der Strandsäuberer zum Ende der Litanei. »Gegenwärtig gehört Ihnen ein Drittel einer Zucht- und Vertriebsfirma für tropische Fische auf der Insel Jorve.«

»Hmm, das letzte klingt aber banal«, kommentierte Sharrow versonnen. »Nach Älterwerden. Als schwände mir der Drang zum Höheren.«

Mit einem Achselzucken watete sie ins Wasser. Wellen umplätscherten ihre Stiefel. Sie löste die Fangleine des Tragflügelboots und ließ sie in ihren Stauraum innerhalb des Vorderstevens zurückschnellen.

»Tja, also vielen Dank.« Sie musterte den Strandsäuberer. »Aber ich halte davon nichts.«

»Wovon halten Sie nichts?«

Sharrow schwang sich ins Tragflügelboot, schob die Beine unter die Armaturen und klappte das Steuerrad herab. »Ich glaube, mir liegt nichts an deinen Diensten, Suprotektor.«

»Bitte warten Sie einen Moment, Lady Sharrow …«

Sie kippte mehrere Schalter; die Bordsysteme des Tragflügelboots nahmen den Betrieb auf, Lichter leuchteten auf, Signalgeber piepsten. »Nein danke.«

»Haben Sie doch bitte etwas Geduld.« Die Stimme des Automaten hörte sich beinahe nach Verärgerung an.

»Also nein«, sagte Sharrow, startete den Motor des Boots und ließ ihn aufheulen. »Sag Geis herzlichen Dank … Aber ich halte davon einfach nichts.«

»Geis? Hören Sie, Madame, offenbar ziehen Sie gewisse voreilige Schlussfolgerungen in Bezug auf die Identität meines …«

»Ach, nun lass das Gesabber und stoß mich ab, ja?« Sharrow warf den Motor zum zweiten Mal an, so dass am Heck des kleinen Boots Gischt aufschäumte. Am Bug senkten sich die Schwimmkufen, teilten die Brandung.

Der Strandsäuberungsautomat bugsierte das Tragflügelboot ins Wasser. »Madame, ich muss Ihnen etwas gestehen …«

»So genügt es.« Flüchtig lächelte Sharrow dem Apparat zu. »Besten Dank.« Sie schaltete die Scheinwerfer an und schuf auf den Wellen eine Art von glitzernd-heller Fahrrinne.

»Warten Sie! Können Sie denn nicht wenigstens einen Augenblick lang warten?!«

Irgendetwas am Tonfall der Maschine bewog Sharrow zum Umschauen.

Am Strandsäuberer öffnete sich an der Vorderseite des beuligen Gehäuses eine Klappe und gab den Blick in ein rötlich beleuchtetes Inneres mit Monitoren und Anzeigen frei. Sharrow zog eine böse Miene; ihre Hand fuhr wieder in die Jackentasche, als ein Mann Kopf und Schultern aus dem Innenraum beugte.

Er trug ein dunkles T-Shirt und sah ziemlich muskulös aus, war jung, aber gänzlich kahl; die rote Innenbeleuchtung hinterließ in seinem Gesicht und auf den Augen, die im Zwielicht goldgelb wirkten, dunkle Schatten. Seine glatte, spiegelblanke Kopfhaut glänzte kupferrot.

»Wir müssen …«, fing er einen Satz an, und Sharrow hörte gleichzeitig seine Stimme und die mechanische Stimme des Strandsäuberers.

Er riss sich eine kleine Kugel von der Oberlippe.

»Wir müssen uns unterhalten«, sagte er. Er hatte eine gefällige Bass-Stimme, und Sharrow merkte sofort, dass sie sie in jüngeren Jahren als ungeheuer attraktiv empfunden hätte.

»Verdammt noch mal, wer sind Sie denn überhaupt?«, fragte sie, betätigte einige weitere Schalter an den Armaturen des Boots, ohne den Blick von dem Mann zu wenden oder die andere Hand von der Schusswaffe in der Jackentasche zu nehmen.

»Ich bin jemand, der mit Ihnen reden muss«, erklärte der junge Mann nochmals und entblößte die Zähne zu einem sogenannten gewinnenden Lächeln. Er deutete auf das Gehäuse des Strandsäuberungsautomaten. »Ich bedaure diese Tarnung«, sagte er mit einer Gebärde leichter Verlegenheit und Unterwürfigkeit. »Aber man hatte den Eindruck, dass …«

»Nein«, stellte Sharrow klar, indem sie den Kopf schüttelte. »Nein, ich mag nicht mit Ihnen reden. Leben Sie wohl.«

Sie justierte die Kontrollen, wendete das Tragflügelboot auf einem Schaumschwall und überschüttete die Frontseite des Strandsäuberers mit Wasser; Nässe spritzte durch die Lukenöffnung ins Innere des Automaten.

»Vorsicht!«, schrie der junge Mann, sprang zurück und schaute zu Boden. »Aber Lady Sharrow«, rief er verzweifelt, »ich habe Ihnen ein Angebot zu …«

Sharrow drückte den Antriebshebel durch; der Tragflügelboot-Motor röhrte auf, das kleine Wasserfahrzeug sauste fort vom Glasstrand. »So?«, rief sie zurück. »Ach, stecken Sie sich’s doch in …«

Das Rauschen der Fluten und das Jaulen der Turbine übertönten ihre unfeine Empfehlung. Das Boot brummte hinaus aufs Meer, erhob sich rasch auf die Tragflächen und raste davon.

2Die Kettengalerie

Issier war die Hauptinsel des Mittmeer-Archipels, der rund eintausend Kilometer abseits jedes anderen Lands fast in der Mitte Phirars lag, Golters drittgrößtem Ozean.

Das kleine, pfeilförmige Tragflügel-Motorboot kurvte vom westlichen Glasstrand der Insel weg und bog nordwärts ab, in Richtung Jorve, des nächsten Eilands der Inselgruppe. Eine halbe Stunde später machte es in einem Jachthafen bei Lokation Issier II fest, der größten Stadt mit dem Verwaltungszentrum des Archipels.

Sharrow weckte im Yachthafenbüro einen Nachtwächter, der sich für seine Dösigkeit entschuldigte, und hinterließ für den Hafenmeister einen Zettel, auf dem sie ihm mitteilte, er sollte das Tragflügelboot zum Verkauf ausschreiben. Dann bestieg sie ihr Motorrad und fuhr auf der Ostküstenstraße nach Norden. Den Helm setzte sie nicht auf, trug lediglich die schlichte Schutzbrille und ließ sich vom Wind wild das Haar zausen; die Wolkendecke zerfranste, Mondschein und Schrottlicht drangen durch, breiteten graublauen Helligkeitsschein über die Felder und Obstgärten außerhalb der Stadt.

Sharrow schaltete den Scheinwerfer ab, fuhr trotzdem schnell und legte sich steil in die offenen, gewundenen Kurven der allmählich ansteigenden Straße, deren Belag vor ihr einem schwach sichtbaren, stahlblauen Geschlängel glich. Abgründe hinter den Leitplanken boten kurze Ausblicke auf die zerklüftete Felsküste, vor der man die See als glänzendweißes Strichmuster gischtiger Brandung erkennen konnte. Sharrow machte den Scheinwerfer nur an, wenn ihr andere Fahrzeuge begegneten, und jedesmal, wenn sie die Lichter des alten Motorrads wieder abschaltete, erlebte sie in der folgenden Sekunde den atemberaubenden Nervenkitzel vollständiger Dunkelheit.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!