Das stumme Tal - Sophie Reyer - E-Book

Das stumme Tal E-Book

Sophie Reyer

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Beschreibung

Die schaurige Welt des Alpenlandes Tirol, 1889: Die dreijährige Amelia ist die einzige Überlebende eines verheerenden Brandes, der den Bergbauernhof in Stumm beinahe ganz zerstört. Bald stellt sich jedoch heraus, dass ihre Familie nicht den Flammen, sondern einem grauenhaften Raubüberfall zum Opfer fiel. Sind die Täter tatsächlich die zwei jungen Männer, die vagabundierend durch das Tal zogen? Oder verbirgt sich hinter dem Verbrechen ein viel dunkleres Geheimnis?

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Sophie Reyer, geboren 1984 in Wien, erlangte nach Abschlüssen in Komposition/Musiktheater, Szenisch Schreiben sowie dem Studium Drehbuch und Filmregie den Doktor der Philosophie in Wien. Sie hat bereits zahlreiche Theaterstücke und Romane geschrieben und gibt Lehrgänge an verschiedenen Universitäten.

Dieses Buch ist ein Roman. Er basiert jedoch auf einer wahren Begebenheit: So hat es zur geschilderten Zeit in Stumm tatsächlich einen grausigen Raubmord gegeben. Die beteiligten Figuren und insbesondere deren Handlungen sind jedoch in weiten Teilen frei erfunden.

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©2020 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: davjan/photocase.de, Lumamarin/photocase.de Umschlaggestaltung: Nina Schäfer eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-634-0 Roman Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literarische Agentur KossackGbR, Hamburg.

Für Roland und Moritz– ihren inhaltlichen Beitrag,

Teil 1

Brennen

Feuer

Früher

Überall war Feuer. Es loderte.

Amelia war gerade aus dem Wald gekommen, um ihre Puppe zu holen, die sie daheim vergessen hatte, da stand der Hof in Flammen. Sie konnte eben noch einen Arm des Püppchens erhaschen, das auf der brennenden Holzbank vor der Eingangstür lag. In der Bewegung sah sie, dass der linke Ärmel der Puppe verkohlt war.

Wo war Mutter? Und wo war Theres? Und die Großmutter? Für einen Moment starrte sie in die Flammen, doch die Hitze, die ihr entgegenschlug, war unerträglich. Nahm ihr den Atem.

Amelia drückte die Puppe gegen ihre Brust und drehte sich um. Sie lief. Lief, als brennte nicht nur die Welt, in der sie aufgewachsen war, sondern auch ihre Sohlen. Ihr Kleid wehte ihr um die Füße, rutschte in die Höhe, die Gräser stachen an den Fesseln, an den Knien. Egal. Amelia musste entkommen.

Sie kannte den Weg, sie war ihn oft schon mit der Mutter gegangen. Die Mutter. Wo sie nur war?, dachte sie fiebrig, während sie hinabhastete in Richtung Tal. Dumpf, dunkel lag der Wald um sie herum. Sie spürte einen scharfen Schmerz in der Lunge, so schnell lief sie.

Wenn nur die Mutter nicht in den Flammen wär! Wenn nur die Mutter im Dorf bei den anderen wäre und in Sicherheit.

Doch Amelia wusste, dass dies nur eine Wunschvorstellung war. Sie wusste, dass es zu spät war für die Menschen, die sie liebte. Es war ein tiefes und eindringliches Erkennen, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Der Wald war voller Geräusche. Es schien, als kauerten bösartige Figuren, Monster und Dämonen in jeder Ecke. Amelia vermeinte, eine schattige Gestalt husche im Wald vorbei, eine Art dunkler Engel vielleicht.

Entsetzt hastete sie, barfuß inzwischen, durch die Dunkelheit den Bergweg entlang, in der Hand fest umklammert die verkohlte, noch leicht qualmende Puppe. Ein letztes Mal blickte Amelia sich um, hielt inne: Hinter ihr zeichnete sich das Glühen eines großen Feuers gegen den Himmel ab.

Fort, dachte sie und rang nach Atem. Sie lief weiter, als gelte es das Leben. Da vollzog der Fußweg eine Krümmung, und sie stolperte, rappelte sich jedoch sofort wieder hoch und rannte weiter. Durch die Wildnis, das Gestrüpp des Stummer Bergwaldes, zwischen Föhren und Kiefern hindurch. Amelia wusste, wohin. Sie musste ins Dorf. Im Dorf waren die Großen, und die Großen wussten, was zu tun war. Sie hatten Worte, hatten eine Ahnung von der Welt. Sie konnten sie in ihren Armen wiegen, sie hochheben, sie mit Milch versorgen, mit Eiern und Brot. Konnten sie weich auf Strohsäcke betten, wenn sie sie denn liebten. So lief sie. Lief und lief. Der Arm der Puppe, die sie umklammert hielt, war ausgeleiert, im Stoff begann sich ein Abdruck von Schweiß abzuzeichnen.

Mutter, dachte Amelia keuchend, Mutter.

Es war das gütigste aller Worte, das größte, einfachste und schönste.

Mutter!

Sie wiederholte das Wort im raschen Tempo ihrer Schritte, die auf dem Waldweg aufschlugen. Und wenig später, als das Dickicht des Waldes sie ausspie, dachte Amelia noch: Theres. Liebste Theres. Die großen Augen der Halbschwester, die so blau waren wie der Bergsee neben dem Hofe der Müllernagls.

Und dann: Großmutter! Großmutter mit den faltigen Händen.

Und: geliebter winziger Max.

So ging sie die Gesichter der Menschen durch, die ihr nahestanden und von denen sie nicht wusste, ob sie nun vom Feuer verzehrt wurden oder entkommen waren.

Amelia verlor sich in ihren Gedanken, während sie den Waldsaum erreichte.

Der Atem hatte zu stechen begonnen, und so verlangsamte sie ihre Schritte, ging ruhiger die grünen, baumreichen Fluren entlang in Richtung Dorf. Sie wusste, dass es nun nicht mehr weit war. Gleich würde das Weideland beginnen, dann hatte sie ihr Ziel erreicht.

Und tatsächlich, wenig später sah sie auch schon, dass das Gras hier viel kürzer gewachsen war. Die kräftigen Kräuter dufteten ihr entgegen. Sie begann wieder schneller zu laufen.

Die Verhandlung

Später

»Erheben Sie sich!«

Die Worte des Hauptverwalters dröhnten durch den Saal. Das Rücken von Stühlen auf dem Boden war zu hören. Dann herrschte für einen Moment Stille.

Karl musterte die Menschen. In der ersten Reihe saßen die Angeklagten– kaum mehr als zwei Knaben, der eine hager und schwarzhaarig, der andere feist, klein und mit einem Ausdruck von Furcht im Gesicht.

Ein kurzes Raunen ging durch die wenigen anwesenden Leute. Richter Nischkauer klopfte mit dem Hammer auf den Tisch. Karl ließ den Blick weiterschweifen. Da war ein Mann mit braunem Haar und großen dunklen Augen, der neben einem Priester stand und nervös mit den Füßen wippte. Ein einfacher Bauer, wie man an dem grobschlächtigen Körperbau und dem dumpfen Ausdruck im Gesicht sehen konnte. Auch seine Hände waren breit und rau, gewohnt an harte Arbeit.

Karls Blick bewegte sich weiter– und er stutzte. Das konnte doch nicht sein! Das war die Zeugin? Das kleine Mädchen, das da an die Hand des Bauern geklammert in die Luft blickte, konnte kaum vier Jahre alt sein. Ein heller Haarkranz lag über dem engelsgleichen Gesicht, das ein wenig schien, als wäre es aus einem Botticelli-Gemälde herausgefallen. Es passte nicht in sein Bild einer bäuerlichen Atmosphäre, so wie auch der Rest nicht passte. Denn dieses Gesicht war edel, von reinen Zügen, und es trug einen Ausdruck tiefer Weisheit in den Augen. Er räusperte sich und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Richter zu. Für einen Moment herrschte Stille.

Die Verhandlung schien zu beginnen.

Richter Nischkauer setzte sich umständlich auf seinen Platz, wobei sich sein Talar ein wenig aufbauschte. Karl musterte wieder das Mädchen. Es schien die Hand des Bauern gar nicht loslassen zu wollen, und auch dieser sah aus, als fühle er sich mit seinen Fingern in ihren wohler. Fast so, als würden zwei Ertrinkende sich aneinanderklammern.

Zunächst wurden die Angeklagten befragt. Die Polizeibeamten postierten sich in der Nähe des Ausgangs. Dann drang Nischkauers Stimme erneut durch den Raum, während Karl nach dem Papier griff und die Feder in das Tintenfass tauchte.

»Fuchs Georg von München«, begann Nischkauer, und wie immer klang seine Stimme machtvoll und klar, »sitzt hier wegen Raubmord im Zillertal.«

Nischkauer legte ein Tuch auf den Tisch. Der Junge erbleichte, und er begann zu stottern.

»Ja, das war bei mir, und ich habe das Tuch von der Martha. Ja. Aber das ist kein Beweis! Oder?«

Karl überlegte. Warum der Mord an vier fremden Menschen, warum auf so eine gewaltvolle Art und Weise?

Nischkauer hämmerte wieder auf den Holztisch, räusperte sich kurz, reckte dann den Hals und fuhr fort.

»Haas Alois von München, mutmaßlicher Mörder und Krimineller aus München«, sagte er und wandte sich an den größeren der Löter, der in sich selbst zusammengesunken auf seinem Stuhl hockte.

Der Junge schwieg und blickte wie paralysiert in die Luft. Karl sah keinen Lidschlag. Ihn schauderte.

»Angeblich hat man auch das Pinzgermesser bei Ihnen gefunden. Dies wurde neben dem Kopftuch bei Ihnen, Alois Haas, entdeckt.«

Für einen Moment herrschte Schweigen im Gerichtssaal. Karl ließ seinen Blick erneut umherschweifen und vermeinte, eine Spur von Anspannung im Gesicht des Bauern wahrzunehmen. Doch er war sich nicht sicher, denn seine Augen waren von der vielen Schreibarbeit schon in jungen Tagen nicht mehr die besten. Er hob die Feder für einen Moment, sah dann den Alois Haas an. Der saß immer noch in sich zusammengesunken neben seinem gockelartig wirkenden sommersprossigen Freund und blickte ins Leere.

»Ja, ich hab das Pinzgermesser gestohlen«, sagte er schließlich.

»Ist nicht wahr!«, rief Fuchs aus, und kleine Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn, begannen rasch herunterzurinnen. Todesangst stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er fuhr herum, seine weißen Hände zitterten, sein Kehlkopf hüpfte auf und ab in der Erregung. Er wandte sich an seinen Kumpanen. »Warum zur Hölle lügst?«, rief er aus.

Karl stutzte. Log er tatsächlich? Es sollte nicht das erste Mal sein, dass der Wille eines Angeklagten nach der Haft im Kerker gebrochen war und dieser fälschlicherweise eine Tat gestand. Er betrachtete den Richter. Nischkauer behielt die Kontrolle.

»Ich bitte um Ruhe«, sagte er. »Wir wollen sehen, was die restlichen Zeugen zu sagen haben. Hans Erl und Amelia Baumgartner aus Stumm, erheben Sie sich!«

In dem Moment stand der Bauer auf, das Mädchen ein wenig hinter sich herziehend, und stapfte mit schweren Schritten in Richtung Nischkauer. Die beiden waren ein eigenartiges Duo, genauso seltsam, ja konträr wie die beiden Löter, fand Karl. Zwei, die das Schicksal miteinander verbunden hatte. Ob sie sich sonst wohl so aneinanderklammern würden?

Das kleine Mädchen mit dem blond gelockten Kopf setzte sich auf den Stuhl neben Erl, der sie aufmunternd anblickte.

»Was ist denn da gewesen in dieser Nacht?«, wollte nun Nischkauer wissen.

Karl tauchte seine Feder wieder ins Glas. Die Spitze kratzte kurz auf dem Papier. Eine helle Stimme war im Saal zu hören, leise, vorsichtig.

»Es hat gebrennt«, tönte es.

Nischkauer nickte. »Wo hast du das gesehen?«

Artig hob das Kind den Blick und sah Erl an. »In der Küche, Herr Präsident«, antwortete es.

Schweigen. Karl merkte, wie der Bauer, der links von dem Kind saß, nervös wurde, ein wenig mit den Beinen hin und her ruckte. Das Mädchen hatte nur ihn, diesen Hans Erl, fixiert, mit leicht bebenden Lippen und einem bemüht artigen Ausdruck.

»Was ist denn da gewesen?«, fuhr Nischkauer fort.

Aus großen Augen blickte das Kind noch immer Hans Erl an, während es mit heller, aber mechanischer Stimme sagte: »Die Löter haben die Mutter verbrannt.«

Schweigen. Karl sah, wie das Mädchen die Augen schloss. Stoßweise schien sein Atem zu gehen. Doch Richter Nischkauer hatte kein Mitleid mit dem Kind.

»Hast du die Mutter früher schreien hören?«, drang er in es.

Amelia nickte und sagte, wieder nur Hans Erl anblickend: »Die Mutter hat geschrien: ›Helfts mir!‹«

Der Bauer sah zu Boden.

Kurz war es still. Doch Nischkauer fuhr unbarmherzig fort: »Was ist denn da oben auf dem Hofe gewesen?«

Wieder senkte das Kind die Lider, während es sprach: »Da haben sie die Schränke aufgemacht.«

Amelia seufzte, sie schien fest nachzudenken.

»Im Bett geblieben bin ich und habe mich unter dem Leintuch versteckt; dann bin ich eingeschlafen, bis ich Rauch gespürt habe«, sagte sie schließlich leise.

Stille. Nur Karls Schreibgeräusche waren zu hören, Feder auf Papier, ein wenig kratzend. Ihn schauderte bei dem Geräusch. Was für eine brutale Welt, dachte er.

»Was hast du dann getan?«, fragte Nischkauer weiter.

Die Lippen des Mädchens bebten kurz, dann sagte es, mit einem Mal wieder gefasst und klar: »Ein Röckchen angelegt, beim Fenster hinausgestiegen und hin zum Tale.«

»Und das ist alles?«

Amelia nickte. Nischkauer schob sich die Brille zurecht und sah langsam von einem zum anderen.

»In Ordnung«, erklärte er.

»Seltsam«, sagte Karl später zu Richter Nischkauer, »das Mädchen war noch dermaßen klein. Außerdem klangen ihre Sätze wie einstudiert. Sie kann ja kaum selbst einen sinnvollen Satz bilden. In ihrem Alter!«

Nischkauer nickte, während er das Barett abnahm, unter dem er sichtlich schwitzte. »Sie haben recht«, gab er zu und legte das Barett sorgfältig auf den Schreibtisch. »Noch nie wurde in der Geschichte des Innsbrucker Landesgerichtes ein so junger Zeuge verhört. Auch das Geständnis des Fuchs weicht leicht von den Tatsachen ab, die die Sachverständigen gefunden und ausgewertet haben. Und schauen Sie…« Er griff nach einem Tellerchen aus Holz, das auf seinem Tisch lag. »Dies hier fand man in der Zelle der Löter.«

Karl nahm den Teller in die Hände, wog ihn kurz und drehte ihn.

Sepp

Früher

Als Amelia das Dorf erreichte, waren ihr die Tränen ausgegangen. Sie griff sich an die Wangen. Ob auch diese glühten? Ob auch sie zu Feuer geworden waren?

Wo sollte sie denn bloß hin jetzt? Sie atmete tief ein und aus. Den Weg ins Dorf allein zu beschreiten war ihr bis jetzt verboten gewesen.

»Runter gehst mir nicht ohne einen Großen, ist das klar?«, hatte die Mutter stets zu ihr gesagt, und Amelia hatte genickt. Sie erinnerte sich: Bis jetzt waren alle Wege weg von der Mutter große Überwindungen gewesen, die sie nur mit viel Mut auf sich genommen hatte. Nachts aus der Stube hinaus beispielsweise, wenn sie sich entleeren musste.

Amelia fiel es wieder ein, wie sie das erste Mal die Holztreppen vom Hof hinab und die paar Schritte weiter zu der geliebten Birke gegangen war, die in der Mitte des Hofes stand. Die Steine waren Hindernisse gewesen, der Loden hatte ihre bloßen Füße umweht, das Gras und auch die Sonne hatten gestochen. Stolz hatte Amelia damals mit ihren Fingern die Rinde berührt, die an das Gesicht der Großmutter erinnert hatte, und hatte die roten Mistkäfer beobachtet, die auf und ab krochen. Sie hatten schwarze Punkte gehabt, und es war Amelia vorgekommen, als ob es sie in tausendfacher Ausfertigung gab. Immer wieder hatte sie zugedrückt, doch es hatte nichts geholfen, die Käfer waren mehr und mehr geworden, egal, wie viele sie auch von der Rinde gelöst hatte.

Aber das war damals gewesen. Und weit weg. Dazwischen war Feuer gewesen und sie ohne Begleitung gelaufen. Den ganzen Weg alleine in das Dorf hinunter. Amelia begriff nicht, und doch begriff etwas in ihr, dass ihr jetzt nur die Puppe blieb, die halb zerfressen von den Flammen in ihren Händen hing, durchgeschwitzt, ausgeleiert.

Amelia atmete schwer. In der Mitte des Dorfplatzes blieb sie schließlich stehen, denn alle Kraft schien sie zu verlassen. Sie setzte sich auf den Boden und zog die Beine an den Bauch. Da begegnete ihr Blick einem bekannten, vertrauten Menschen. Amelia lächelte. Es war der Sepp, den manche auch »Depp« nannten. Sepp war allen als Dorfidiot bekannt. Man munkelte, er sei über einem seiner Bücher verrückt geworden, einfach so. Sepp sprach hin und wieder in seltsamen, für Amelia unverständlichen Sätzen. Jetzt ruhte er, den schwarzen Haarschopf auf die Unterarme gebettet, neben einer Pferdetränke. Wie friedlich er dalag. Wie sanft sich sein Brustkorb hob und senkte. Mit einem Mal konnte Amelia nicht mehr an sich halten und brach in Schluchzen aus. Die Traurigkeit rüttelte nur so an ihr. Sie durchzuckte ihren kleinen Körper in an- und abklingenden Wellen. Irgendwann wachte Sepp von ihrem Schluchzen auf. Er stand auf und ging rasch zu ihr.

»Amelia!«, rief er. »Amelia!«

Doch das Mädchen klammerte sich nur verzweifelt an seine eigenen Beine.

Da begann Sepp das zu tun, was er immer tat, wenn ihn etwas bedrückte: Er wippte mit dem Oberkörper sprunghaft hin und her und fing an, Worte auszustoßen, in einem langen und rastlosen, hastigen Schwall. »Am Anfang, da war er wie der Wind. Flog mit Papa in der Hand als Sohn, getragen vom Geist. Wir sprachen. Wir waren eins mit der Sprache, in der wir sprachen. Wir lagen beim Wort.«

Amelia sah ihn aus verheulten Augen an. Sepp setzte sich neben sie und zog seinerseits die Beine an den Bauch.

»Weißt du, Amelia, einer, der wurde von einem Wal verschluckt, jedoch lebte er weiter. Im Bauch des Tieres. Ja, glaub mir. Der Wal spuckte ihn wieder aus irgendwann. Hab keine Angst. Nichts ist ewig. Und nichts geht verloren.«

Amelia sah ihn an. Wie wirr und doch weise er sprach!

»Es hat… gebrennt!«, stotterte sie, doch Sepp fuhr fort:

»Man wird geboren, man stirbt. Bröckelt wieder in den Schoß der Erde hinein. So wird man zum Stein, zur Pflanze, zum Tier, zum Menschen. Wird gefressen vom Boden, wächst als Blume und Gras, wird verzehrt vom Tier, geht ins Tier ein, erfriert, sedimentiert, verkalkt, wird alt, wird neu, lernt zu sein. Stein, Pflanze, Tier, Mensch und zurück, die Wege sind verschieden. Die Liebe allein ist ewig.«

Amelia verstand nicht. Doch sie blickte auf. Blickte den schmalen Mann an und rückte nahe an ihn heran, begann, sich seinen Wippbewegungen anzuschließen. Mit einem Mal schien alles um sie herum ruhiger zu werden. Sie spürte, wie sich ein wohliges Gefühl in ihrer Bauchnabelgegend ausbreitete.

»Man möchte zerspringen«, sprach Sepp weiter, ohne sie anzusehen, »man möchte die Zeit sprengen, aber man bleibt immer nur in diesem Kreislauf, es tut weh, geht weiter. Fühlt sich gar nicht so schlecht an. Fühlt sich sehr schlecht an. Ist unsicher. Tut wieder weh. Jeder muss ein Tier werden, bevor er ein Mensch wird. Zuerst ist er Stein, dann Pflanze. Alles geschieht, damit man danach ein ganzer Mensch sein kann. Um sich still zum Wort zu legen, wenn es Nacht wird. So geht nichts verloren. Wir gehen durch alle Gefühle, weißt, Amelia?«

Amelia verstand nichts von dem, was der Sepp redete. Aber nach all den Bildern, die ihr im Kopf umherspukten, waren seine Sätze beruhigend, die Worte wie Halteseile, die sie an den Tag banden, der so verstörend begonnen hatte. Ihr Atem ging weniger ruckartig, sie umschlang ihre Beine erneut und bewegte sich auf und ab, jedoch langsamer und als wäre sie ein Engel, der Flügelchen an den Schultern hatte, deren Gewicht ihn nach hinten zog.

Nach einer Weile wachten die Leute des Dorfes auf und kamen verschlafen aus ihren Häusern. Stimmen drangen an Amelias Ohren, noch bevor sie sich umdrehen konnte.

»Nervt der Depp dich schon wieder?«, fragte die eine Stimme.

Amelia wollte etwas erwidern, doch sie war nicht schnell genug. Zwei Männer stießen Sepp brutal beiseite.

»Was hast wieder angestellt, Sepp?«, fragten sie.

Doch Sepp schüttelte nur den Kopf und begann seinerseits, seinen Oberkörper immer intensiver vor- und zurückzuwiegen.

Ein Tumult war entstanden. Immer mehr Menschen stoben aus ihren Stuben, viele noch im Nachtgewand. Im Gerangel um Sepp wiederholte Amelia immer wieder: »Es hat gebrennt, es hat gebrennt! Die Mutter liegt im Feuer und die Großmutter auch. Die Theres ist erschlagen. Max hat geweint, da wurde er auch erschlagen!«

Die Reise

Danach

Es ist Sommer. Einer jener Sommer im Jahre 1920, in dem eine Schwere sich auf die Landschaft senkt. Amelia atmet schwer. Es ist ein Sommer, um Abschied zu nehmen. Eben hat der Bote ihr die Nachricht überbracht, dass Anna gestorben sei.

Der arme Vater, denkt sie, er war immer so verloren gewesen ohne die einfache, weiche Anna mit den dunklen Augen und dem hellen Gemüt. Ob er noch griesgrämiger würde, noch öfter still vor dem Hof sitzen und an seiner Pfeife ziehen würde? Amelia seufzt, während sie ihren Koffer zur Kutsche trägt. Die Kutsche würde sie direkt zum Zug bringen. Amelia erinnert sich dunkel, wie sie als kleines Kind das erste Mal in die Stadt gefahren ist. Wie besonders es gewesen ist. Und sie erinnert sich an die vorbeisausenden Landschaftsbilder, das Tempo, den Geruch. Wie ihr Körper durchgerüttelt wurde, immer wieder. Sie hat gelacht, ihre Freude gehabt. Auch wenn der Anlass eigentlich kein besonders angenehmer war, damals, als sie zum ersten Mal in die Stadt gefahren ist. Aber Näheres weiß Amelia auch schon nicht mehr darüber, sie muss noch klein gewesen sein.

»Amelia Erl?«, fragt der Kutscher und schält seine Hände aus den Handschuhen.

»Ja.«

»Stets zu Diensten«, ertönt es als Antwort.

Amelia nickt und reicht ihm kurz die Hand, die er ergreift, um gleich danach nach ihrem Gepäck zu sehen.

»Schwer ist Ihr Koffer aber nicht«, sagt der Kutscher, während er Amelias Hab und Gut in den Wagen hievt.

»Nun ja«, entgegnet sie und schiebt sich eine der hellen Strähnen hinter das linke Ohr, »die Kochschürze hab ich fein hiergelassen.«

Der Kutscher lacht und hält ihr die Tür auf. Amelia senkt den Blick und steigt ein. Ein wenig kribbelig ist ihr nun doch zumute und heiß an den Wangen und in den Handtellern. Kaum spürt sie, wie die Kutsche sich in Bewegung setzt, kaum hört sie das Geräusch vorbeitrabender Pferde.

Dann sind sie am Bahnhof angekommen, und Amelia steigt von der Kutsche. Sie nickt dem Kutscher zu, bezahlt ihn mit einem ihrer letzten Scheine und trägt den Koffer mit vorsichtigen Schritten an die Gleise. Dort muss sie für kurze Zeit den Blick beschirmen. Die Sonne scheint hell vom Himmel und sticht ihr in den Augen. Mit klopfendem Herzen erwartet Amelia die Ankunft des Zuges. Es pocht ein wenig in ihrem Kopf. Beim lauten Tuten der Lok zuckt sie zusammen. Ist sie überspannt? Jeder hat mit dem Verlust ihrer Ziehmutter gerechnet, der Schock kann es nicht sein, denkt sie und schließt für einen Moment die Augen. Es flackert hinter den Lidern. Kurz hat sie das Gefühl, niederzusinken.

Da ist ein Bild vor ihren Augen. Es lodert. Feuer? Amelia reißt die Augen wieder auf. Die Lok ist zum Halten gekommen.

Ob es am gestrigen Abend liegt? Es ist spät geworden in der Oper. Und die Stimmen, die Bilder haben Amelia lange Zeit noch beschäftigt. Sie haben sich Richard Strauss’ »Salome« angesehen, die Schwarzenbergs und sie. Zugegeben, denkt Amelia, was versteht sie schon von diesen großen Stoffen, sie als Köchin, sie, ein einfaches Landmädchen? Kein Wunder also, dass der Abend ihr zu viel gewesen ist.

Schwarzenberg hatte sie mitgenommen, er kümmert sich immer rührend um seine Bediensteten. Sie sollten auch etwas sehen von der Welt. Doch das Stück hat Amelia nicht nur begeistert, sondern auch verstört. Obwohl sie bereits über dreißig ist, weiß sie wenig bis nichts von der Liebe. Zumindest nichts von einer, die auf diese Art und Weise in einem Weibe zu lodern scheint, wie das bei der Figur Salome der Fall war. Lodern, bei dem Wort bleibt Amelia hängen. Sie schließt die Augen ein weiteres Mal. Es flackert wieder vor ihrem Blick.

»Sind Sie in Ordnung?«, ertönt eine Stimme.

Amelia dreht sich um und blickt in ein freundliches Gesicht. Es ist der Kutscher, der ihr gefolgt ist– offenbar hat er gemerkt, dass sie sich nicht besonders gut fühlt– und sie nun mit besorgter Miene ansieht. Sie lächelt.

»Ja«, antwortet sie matt, »nur der Kreislauf. Sorgen Sie sich nicht.«

»Sind Sie sicher?«, fragt der Mann.

»Aber ja, machen Sie sich keine Mühe!«

Amelia schließt noch einmal kurz die Augen und streift dann die hellen Schatten, die ihr eben in die Wahrnehmung gestochen haben, weg, streift sie aus ihrem Kopf heraus, so gut sie kann.

»Nun, dann kann die Reise losgehen«, sagt der Kutscher und öffnet galant die Waggontür.

Amelia seufzt. Zeit, wieder nach Hause zu kommen, denkt sie. Hans Erl würde sich freuen, sie wieder in die Arme zu schließen. Vor allem jetzt, da seine liebste Anna tot ist.

Amelia lächelt dem Mann zu.

»Was schulde ich Ihnen, da Sie mir so sorgenvoll gefolgt sind?«, fragt sie.

Der Kutscher winkt ab. »Ich bitte Sie, gnädige Frau«, sagt er freundlich und sieht zu Boden.

Amelia denkt für einen Moment nach, ob sie ihn lieben könnte. Was das wohl ist, Liebe, also diese Liebe zwischen Mann und Frau. Hans Erl jedenfalls, ihr Ziehvater, hat Anna, ihre Ziehmutter, geliebt, das weiß Amelia.

»Sind Sie sicher, dass Sie kein Trinkgeld annehmen wollen?«, fragt sie den Kutscher erneut. Dieser lächelt und wird ein wenig rot.

»Ja.«

Der Erlkönig

Früher

»Der Erlkönig! Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?«, rief Sepp plötzlich aus.

Ob er ihn hatte kommen hören? Geritten war der Bauer jedenfalls nicht. Er ging mit schweren Schritten auf die Menge zu. Rußverschmiert war sein Gesicht, die Stirn zwischen den Augen wurde von einer riesigen Falte gekerbt. Ruppig zog er die Leute auseinander, die sich nach einiger Zeit nun doch um die weinende Amelia und den Idioten versammelt hatten und versuchten, den beiden gut zuzureden.

»Lasst mich durch!«, schrie er, und seine breiten Hände griffen brutal zu, brutaler, als es seine Art war. In seinem Blick lag etwas Stummes, etwas, das an eine erloschene Flamme erinnerte. Stumm, so hieß auch das Dorf, in dem sie sich befanden. Und stumm waren die Leut auch, wenn es darum ging, Dinge beim Namen zu nennen. Alle bis auf einen. Doch der war ein Idiot.

»Das Baumgartnerhaus steht in Flammen, lasst mich durch!«, rief der Bauer indes.

Er schob die alte Magda vom Gerberhaus brüsk zur Seite und kämpfte sich an einer Reihe von Ministranten zu Amelia durch.

Immer noch saß sie, beide Beine fest an den Bauch gezogen, da und blickte jetzt Hans Erl aus großen Augen an, in denen das gleiche stumme Entsetzen lag wie in seinem Blick. War es der Schock, in dem die beiden einander erkannten?

»Amelia!«, sagte Erl.

Schweigend sah das Mädchen ihn an.

»Bist stumm, Kind?«

Er bückte sich mit leicht bebender Unterlippe und nahm sie schützend auf den Arm.

»Komm, meine Kleine, alles gut, alles gut«, wisperte er in das lange gelockte Haar des Mädchens, das nach Ruß und Verzweiflung roch. Aber da war noch ein anderer Geruch: der eines Kindes. Er stimmte Erl milder. Sein Atem beruhigte sich. Und so richtete er sich auf und sprach sanfter zu den Männern des Dorfes: »Stellt einen Löschtrupp zusammen und lauft los! Das Baumgartnerhaus brennt.«

»Was? Ja wie?«

»Nun fragt nicht. Eilt. Ich komm gleich nach!«

Die Ministranten und drei weitere Knaben, einer aus dem Naglerhaus und zwei aus dem Birberhaus, setzten sich sogleich in Bewegung, gefolgt von zwei Knechten und der alten Kathl, die wie schlafwandlerisch hinter ihnen hertorkelte.

Für einen Moment stand Erl nur schwer atmend da und blickte, immer noch fassungslos, in die leeren, weit aufgerissenen Augen des Mädchens. Da ergriff Sepp das Wort.

»Was ist schwer zu verbergen? Das Feuer! Denn bei Tage verrät’s der Rauch, bei Nacht die Flamme, das Ungeheuer«, rief er und erhob sich, ohne mit den Wippbewegungen seines Oberkörpers innezuhalten.

»Schweige er!«, herrschte Erl ihn an.

Sepp aber sah nur auf den Boden, als er an dem Bauern vorbeistreifte.

Erl beschoss, ihn zu ignorieren. Was war es schon anderes als Worte, die der Idiot unter die Menschen streute, Worte ohne Zusammenhang oder Gehalt, die er irgendwo aufgeschnappt und gesammelt hatte und die nun sein wirres Hirn durchzuckten. Zugegeben, früher, da musste er klug gewesen sein. Als ganz junger Mann. Da hatte er viel gelesen. Aber dann war er in eine Art Wahn verfallen und völlig versandet.

Langsam verschwand der Dorfidiot, jedoch in die entgegengesetzte Richtung wie der Rest der Gemeinde, die sich zum brennenden Hof aufmachte, die Schultern hochgezogen. Von hinten war er nur noch eine wackelnde, zarte, in sich selbst hineingebeugte Gestalt, für die es niemals Hoffnung geben würde.

Hans Erl seufzte. Dann aber sah er wiederum in die Augen des Mädchens. Amelias Unterlippe bebte, während der Blick keinen regelmäßigen Lidschlag aufwies.

»Kind, komm zu dir!«, wisperte Erl und rüttelte sie ein wenig.

Doch das Mädchen sah ihn nicht an.

»Mutter tot«, sagte Amelia, die offenbar nach Worten suchte. Und: »Blut, brennen.«

Totenglocken

Früher

Kurz darauf eilte Pfarrer Simon in die kleine Dorfkirche. Die Glocken läuteten. Der Klang schallte über den Marktplatz, drang in die Luft ein, setzte sich fort, fort in die Höhen, drang durch die grünen, baumumwucherten Fluren, stieg weiter hinauf und breitete sich übers Weideland hinweg aus.

»Es brennt, es brennt! Rasch, hinauf zum Baumgartnerhaus!«

Ob der Ruf gemeinsam mit dem Läuten da oben ankommen würde, bei dem Haus, das wie verrückt loderte?, fragte sich Amelia, als sie von Erl in die Kirche getragen wurde.

Die starken Hände der Mutter fielen ihr ein, wie sie den Brotteig geknetet hatten, wie sie die Laibe in den Ofen geschoben hatten, weiche, schützende Hände. Sie, Amelia, hatte das Brot dann mit den kräftig duftenden Bergkräutern gewürzt. Auch Hans Erls Hände waren stark, noch kerbiger und auf gewisse Art und Weise kompakter als die der Mutter.

»Ich bring dich unters Dach«, murmelte Erl.

Sie betraten die Kirche. Bei einer anderen Gelegenheit hätte Amelia beim Anblick der Kuppel die Augen weit aufgerissen und begeistert gestaunt, sich gefreut an dem bunten Schimmern, das durch die Mosaikflächen der Kirchenfenster drang. Sie kannte die Dorfkirche, und doch war sie immer wieder beglückt über die Farben der Glasfenster.

Vor dem Kruzifix mit dem heiligen toten Jesulein hätte Amelia in allen anderen Fällen ihren Rücken gebeugt und zwei Ave-Maria gebetet, innerlich, wie die Mutter ihr das beigebracht hatte. Aber heute war nicht der Tag, um zu staunen. Etwas hatte die Gegenwart eingehüllt. Alles war dumpf, und es schien, als bewegte sie sich unter Wasser.

»Ich muss zum Priester, warte hier«, sagte der Bauer.

Er setzte sie ab und eilte auf Pfarrer Simon zu, der dem Diakon befohlen hatte, die Glocken zu läuten.

»Sie sind unterwegs«, sagte Erl.

Simon nickte.

Es tönte laut und dröhnend über Stumm.

»Was für ein Wahnsinn«, wisperte der Dorfpriester.

Während ein Teil der Männer sich aufmachte, den Brand zu löschen, versammelten sich nach und nach die Mitglieder der Gemeinde in der Kirche. Die Schritte hallten, das Schiff begann sich zu füllen. Ein Leichtes für ein Kind, zu entwischen. Erl, der so damit beschäftigt war, Simon vom Ernst der Lage zu unterrichten, merkte zunächst nicht, wie das Mädchen hinter einem der Schreine verschwand und sich klein machte, so klein, wie sie es schon auf dem Dorfplatz neben dem schlafenden Sepp getan hatte.

Wie viel heute geschehen war!, dachte Amelia. Von Sepp hatte sie eben das Wiegen gelernt, die Macht über den eigenen Körper, die Möglichkeit, sich selbst zu schaukeln. Das würde sie in Zukunft noch oft anwenden müssen. Denn die Reste der Mutter lagen in einem brennenden Haus, und für sie würde es keine Wiederkehr geben. Sie spürte, dass die Kunst des Wiegens das Einzige war, was sie angesichts dieser Katastrophe noch retten konnte. Und was passte besser zum Sich-Wiegen als das Summen? Ihr fiel auf einmal eine Melodie ein.

»Still, still, still«, summte Amelia in sich hinein.

Es war ein Lied, das die Mutter ihr vorgesungen hatte– und nicht nur ihr, auch der Schwester und eben noch dem kleinen Max, der noch nichts gekonnt hatte, nicht einmal die Augen öffnen, der ein Würmchen gewesen war, das Amelia insgeheim ein wenig beneidet hatte. Sie spürte, wie die Töne ihre Tränen zurückholten, wie sie aber gleichzeitig auch halfen, das Stumpfe um sie herum wegzuschieben. Das Gefühl der Taubheit wurde weniger.

»Still, still, still«, sang sie leise.

Annas Liebe

Früher

»Feuer!«, schallte es währenddessen weiterhin über den Dorfplatz. »Das Baumgartnerhaus brennt, das Baumgartnerhaus!«

Aufgeregt eilten einige Menschen durch die Gassen. Auch Anna verließ schnellen Schrittes das Haus, um zu sehen, was geschehen war.

Sie wusste, dass das Baumgartnerhaus von jeher eines war, über das man nicht gerne sprach.