Dasein, um zu lieben - Hans-Peter Kolb - E-Book

Dasein, um zu lieben E-Book

Hans-Peter Kolb

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Beschreibung

Bisherige philosophische Daseinsanalysen betonen zu stark das Individuelle, das Gemeinschaftliche oder das Handeln, so dass sie für Psychologie und Psychotherapie unbrauchbar sind. Indem hier eine Daseinsanalyse entworfen wird, bei der die Aspekte des Körperlich-Materiellen, des Psychisch-Motivationalen und des Geistig-Idealen gleich wichtig sind, und indem diese Daseinsanalyse die Liebesfähigkeit propagiert, hilft sie diesem Mangel ab. Damit ist dieses Buch für alle geeignet, die tiefer nachdenken und mit Menschen arbeiten, die sie noch besser verstehen möchten.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Allgemeine Grundlagen der Daseinsanalyse

Die absolute Dialektik des Daseins

Die Fundierung der Daseinsanalyse in der Entwicklung des Einzelnen

3.1. Das physische Selbst

3.2. Das soziale Selbst

3.3. Das teleologische Selbst

3.4. Das intentionale Selbst

3.5. Das repräsentationale Selbst

3.6. Einschub: Entwicklung und Funktion der Sprache

3.7. Fortsetzung: Das repräsentationale Selbst

3.8. Das geschlechtliche Selbst

Das Transzendenzproblem aus praktischer Sicht. Das gemeinschaftliche Selbst

Die Logik der Sprache

Die Strukturen von Gemeinschaften und Einzelnen

Daseinsanalyse und philosophische Anthropologie

Daseinsanalyse und Ethik

Daseinsanalyse und kritische Religionsphilosophie

Daseinsanalyse und philosophische Ästhetik

Schaubilder und Tabellen

Nachwort

Literaturverzeichnis

Vorwort

Bisherige philosophische Daseinsanalysen betonen zu stark das Individuelle, das Gemeinschaftliche oder das Handeln, so dass sie für Psychologie und Psychotherapie unbrauchbar sind. Indem hier eine Daseinsanalyse entworfen wird, bei der die Aspekte des Körperlich-Materiellen, des Psychisch-Motivationalen und des Geistig-Idealen gleich wichtig sind, und indem diese Daseinsanalyse die Liebesfähigkeit propagiert, hilft sie diesem Mangel ab. Damit ist dieses Buch für alle geeignet, die tiefer nachdenken und mit Menschen arbeiten, die sie noch besser verstehen möchten.

In den ersten beiden Kapiteln werden die grundlegenden Modi, Aspekte und Strukturen des Daseins beschrieben. Als naheliegendes Ziel, um das Dasein zu verbessern, wird der Weg zur Utopie der vollkommenen Liebe beschrieben, und es werden notwendige wie auch hinreichende Bedingungen erschlossen, um diesem Ziel immer näher zu kommen. Im nächsten Kapitel geht es um die Fundierung der vollkommenen Liebe als Ziel, dass sie eine vom Dasein selbst bezeugte Erfüllungsgestalt ist. Dazu wird die Entwicklung in der Kindheit analysiert und die Bedeutung der Kommunikation mit ihren vielfältigen Funktionen herausgestellt. Die zu Grunde liegende Logik entspricht nicht unserer üblichen Logik, sie ist zirkulär, und es ergeben sich so Parallelen zur Quantenphysik. Das mit Liebe verknüpfte Transzendenzproblem wird nicht nur theoretisch, sondern auch aus praktischer Sicht behandelt. Die auffallende Parallele von Strukturen des Selbst und Strukturen menschlicher Gemeinschaften betont noch einmal die Transzendenz und die Besonderheit des Daseins als Gemeinschaftswesen. Die letzten Kapitel befassen sich mit Anthropologie, Ethik, Religion und Ästhetik und zeigen jeweils auf, was für eine wichtige Rolle die Liebesfähigkeit und ihre Förderung dabei spielen.

Das von Hegel stammende dialektische Schema das Allgemeine, das Einzelne und das Besondere habe ich, angeregt durch Tanabe (Tanabe, Versuch, die Bedeutung der Logik der Spezies zu klären, 2011), der diese Gedanken zur absoluten Dialektik weiterentwickelt hat, für die Daseinsanalyse aufgegriffen und auch diese Schrift hier einigermaßen danach gegliedert, indem ich in den ersten beiden Kapiteln die Daseinsanalyse ganz allgemein in ihren Grundlagen entworfen und ähnlich wie Tanabe die Struktur der absoluten Vermittlung und damit der absoluten Dialektik aufgezeigt und das nächste Kapitel der Entwicklung des einzelnen Daseins gewidmet habe mit besonderer Betonung der Sprachentwicklung, um dann das strukturelle Moment des Daseins als das Besondere in weiteren Kapiteln abzuhandeln.

Bei den Grundlagen war es wichtig, überhaupt ein Ziel für die Analyse und gleichzeitig auch für das Dasein zu finden bzw. festzulegen. Sodann galt es, notwendige und hinreichende Bedingungen für das Erreichen dieses Ziels zu finden, wobei einerseits von vorneherein klar war, dass dieses Ziel, nämlich die vollkommene Liebe, utopisch, andererseits aber der Weg dorthin als Ziel durchaus sinnvoll ist. Als notwendige und hinreichende Bedingung dafür, diesen Weg voranzugehen, ergab sich das entschlossene Bemühen um echte Auskunft über Herkunft, Zukunft und Ankunft der bzw. in der augenblicklichen Situation. Das ähnelt zwar Heideggers Zeitlichkeit mit den drei Ekstasen Gewesenheit, Zukunft und Gegenwart, unterscheidet sich aber in dem wesentlichen Punkt, dass die Auskunft bzw. die Kommunikation von Heidegger nicht befriedigend in der Zeitlichkeit enthalten aufgezeigt werden konnte. Zum einen betrachtete er nur die Rede und nicht die Unterredung, zum andern ist selbst die Rede nicht durch die Zeitlichkeit allein erfassbar. Als wesentliche Daseinsstrukturen habe ich schon im 1. Kapitel neben der Zeitlichkeit noch die Räumlichkeit und die Wirklichkeit aufzeigen können. Die eigentliche Räumlichkeit des Daseins besteht in dem bedingungslosen Sich-Einlassen auf die Wirklichkeit, und dazu bedarf es des entschlossenen Bemühens um echte Auskunft über die aktuelle Situation des Daseins.

Die Reflexivität des Daseins habe ich ebenfalls bei den Grundlagen thematisiert und die damit zusammenhängenden Phänomene des Selbst, des Gedächtnisses, welches in ein autobiografisches und ein emotionales unterteilt werden kann, und der Emotionen, die als allgemeine Affekte, als individuelle Empfindungen und als spezifische Gefühle differenzierbar sind und so mit Hilfe des Schemas Allgemeines-Einzelnes-Besonderes analysiert werden können. Dabei erschlossen sich die in der psychoanalytischen Theorie beleuchteten Phänomene des Abspaltens von Affekten, der Abwehr von Empfindungen und der Bewältigung (teilweise sollte man besser von der Überwältigung sprechen) von Gefühlen. Alle drei Verdrängungsmechanismen werden zu Hemmnissen auf dem Weg zur vollkommenen Liebe, weil die Emotionen in ihren verschiedenen Modi nicht verarbeitet und die entsprechenden Erfahrungen deswegen nicht im autobiografischen Gedächtnis integriert werden.

Obwohl ich mich bei der Entwicklungsanalyse des Daseins vielfach auf ein entwicklungspsychologisches Fachbuch (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008) beziehe, bleibt meine Analyse philosophisch und ist weder empirisch noch psychologisch. Sie verwendet daher auch keine ungeklärten Begriffe. Die aufgeführten Beobachtungen und ihre Deutungen dienen nicht dazu, irgendwelche Theorien zu begründen, sondern lediglich dazu, „gemeinsame Erinnerungen an das Selbstverständliche“ (Rentsch, 1999, S. 275) zu wecken, wobei »gemeinsam« nicht nur Erinnerungen an die eigene Kindheit meint, sondern vor allem Erinnerungen an den eigenen Umgang mit kleinen Kindern. Eigene kontinuierliche Kindheitserinnerungen liegen erst ab einem Alter von etwa vier Jahren vor, und meine Analyse beginnt bei der Geburt.

Die Analyse der Entwicklung des einzelnen Daseins in Kapitel 3 brachte konkretere Ergebnisse und insbesondere eine Fundierung in der Hinsicht, dass das Dasein selbst das Ziel der vollkommenen Liebe erreichen will, und wie es tatsächlich möglich ist, auf den Weg zur vollkommenen Liebe zu gelangen und dort zu bleiben. Die bei den Grundlagen formulierten notwendigen und hinreichenden Bedingungen dafür, dass das Dasein sich auf diesem Weg befindet, konnten bei der konkreten Entwicklung des Kindes und des Jugendlichen bis zum Erwachsenenalter nämlich ausgewiesen und aufgezeigt werden.

Im nächsten Kapitel konnte ich aufzeigen, dass die von Rentsch (Rentsch, 1999) benannten dianoietischen Termini »Autonomie«, ergänzt durch Effektivität, und »kommunikative Solidarität« und mein Terminus des ganzheitlichen Selbstverständnisses als Individuum die drei wesentlichen Modalitäten der Liebe sind, die sich in einem absolut dialektischen Verhältnis befinden, in ihrer Vollkommenheit zusammen vollkommene Liebe ergeben und damit etwas bezeichnen, das nicht nur die Grundlage jeder Moralität, sondern auch eine notwendige und hinreichende Bedingung dafür ist, dass wir uns auf dem Weg zur vollkommenen Liebe befinden.

Der Logik der Sprache, die bereits eine Besonderheit des Daseins darstellt, habe ich ein eigenes Kapitel gewidmet, um ihre Einzigartigkeit herauszustellen, dass sie nicht mit unserer üblichen Logik, die sich nur mit Ursachen und Konsequenzen beschäftigt, zu verwechseln ist, da sie weder Anfang noch Ende kennt und sich in Zirkeln bewegt. Dabei weise ich auch auf Heidegger und Wittgenstein hin, die sich mit dieser Problematik in jeweils besonderer Weise beschäftigt haben und dabei zu ähnlichen Auffassungen gekommen sind. Daher ist der Vorwurf der Zirkularität einer Daseinsanalyse nicht stichhaltig, denn jede derartige Analyse muss dem Dasein und daher auch der Logik der Sprache folgen, kann also nur zirkulär sein. Die Zirkularität des Daseins und der Logik der Sprache liegt an der permanenten Überlagerung von Sinnlichem und Affektivem bzw. Reiz und Disposition bei jeder menschlichen Wahrnehmung, wobei sich hier verschiedene Parallelen zur Quantenmechanik der Physik ergeben, die ich in diesem Kapitel aufgezeigt habe.

Was die Strukturen betrifft, die es beim Dasein selbst gibt, so konnte ich hier eine auffallende Parallele feststellen mit Strukturen von menschlichen Gemeinschaften. Dies betont noch einmal die Transzendenz und die Besonderheit des Daseins, dass es ursprünglich vor allem Genus, also ein Gemeinschaftswesen mit wenig Individualität und Besonderheit gewesen ist. Dies gilt nicht nur im biologischen Sinn, weil das Dasein am Anfang nur eine befruchtete Eizelle im Uterus der Mutter gewesen ist.

Die letzten vier Kapitel befassen sich jeweils mit Anwendungen der hier vorgestellten Daseinsanalytik auf die philosophische Anthropologie, auf die Ethik, auf eine kritische Religionsphilosophie und auf die philosophische Ästhetik. Bei der philosophischen Anthropologie habe ich mich zuerst mit dem Thema des Skeptizismus befasst und bin darauf gekommen, dass ein tiefer Zusammenhang von Sprache und Freiheit darin ersichtlich wird, dass wir die Freiheit haben, unsere Zweifel sprachlich auszudrücken. Die Gedanken sind frei, und ich denke, also zweifle ich. Das Paradoxe dabei ist, dass unsere Freiheit im Skeptizismus gefangen ist und erst in der Utopie der vollkommenen Liebe davon befreit wäre. Mit der vollkommenen Liebe bzw. dem Weg dorthin ist das anthropologisch Imaginäre ins Zentrum der Analyse gerückt, da Vorstellungs- und Vorbilder sowie die Vorstellungskraft für Ideales und Reales und der Mut, sich mit der Realität auseinanderzusetzen, unabdingbar notwendig sind zur Entwicklung in Richtung der vollkommenen Liebe. Da die vollkommene Selbst-Liebe und die vollkommene Fremd-Liebe ein und dasselbe sind, ist damit auch schon die „konstitutiv interexistentielle Verfassung der menschlichen Selbstbezüglichkeit“ (Rentsch, 1999, S. 337) ausgearbeitet. Zum Schluss dieses Kapitels habe ich kurz umrissen, wie die wichtigsten Existenziale von Heidegger als kommunikative Interexistenziale gesehen werden können.

Das Wort Ethik kommt aus dem Griechischen von éthiké épistémé, was sittliches Verständnis bedeutet und oft mit Sittenlehre übersetzt wird. Es geht dabei um »gutes Handeln« bzw. um die Antwort auf die Frage »Was soll ich tun?«, wobei »gut« immer jeweils die Bedeutung hat, in der dieses Wort gerade gebraucht wird. Meine Daseinsanalyse setzt hier an und zeigt auf, dass es ein universalanthropologisch Gutes gibt, das utopische Ziel der vollkommenen Liebe, so dass alles das »gut« genannt werden kann, was uns diesem Ziel näherbringt. Dadurch wird verständlich, wieso »gut« so viele Bedeutungen haben kann: je nachdem, wo wir uns auf dem Weg zu diesem utopischen Ziel befinden, ist etwas anderes »gut«. Für die Ethik bedeutet dies, dass es um die Frage geht: Was ist das (bezeugte) Gute des Menschen, und wie kann es gefördert werden? Für eine ressourcenorientierte Psychotherapie ist dies ebenfalls eine wichtige, wenn nicht sogar die wichtigste Frage, mit deren Beantwortung jeder Therapieerfolg steht und fällt. Die Hauptfrage der Ethik wird daher zu der Frage, wie der Mensch darin gefördert werden kann, seine Liebesfähigkeit immer weiter zu entwickeln. In diesem Zusammenhang habe ich die Nikomachische Ethik von Aristoteles interpretiert und seine Begriffe mit meiner Terminologie verglichen. Dabei wird klar, dass die Entwicklung dauerhafter Freundschaften eine notwendige und hinreichende Bedingung dafür ist, dass wir auf dem Weg zur vollkommenen Liebe vorankommen. Damit ist das wichtige und insbesondere in der Psychotherapie entscheidende Thema menschlicher Beziehungen angesprochen, denn der Erfolg jeder Psychotherapie steht und fällt mit der Qualität der therapeutischen Beziehung.

Mithilfe der ethischen Tugenden nach Aristoteles konnte ich die psychoanalytische Persönlichkeitsstruktur des Über-Ich beschreiben und erklären, und mit der Lust bezogen auf die dianoetischen Tugenden nach Aristoteles konnte ich den psychoanalytischen Begriff der Sublimation genauer einordnen und mithilfe meines Begriffes der Liebesfähigkeit auf eine neue Weise mit dem Begriff des Über-Ichs verknüpfen. Menschen, bei denen die Grundlagen sowohl für die ethischen wie auch für die dianoetischen Tugenden und damit auch für ein reifes Über-Ich und Fähigkeiten zur Sublimation fehlen, die also überhaupt nicht ihre Liebesfähigkeit richtig entwickeln können, können nach Aristoteles nur durch Strafen und eine vernünftige Gesetzgebung geleitet werden. In einer kritischen Rechtsphilosophie sollte aufgrund der neuen Fragestellung der Ethik immer beachtet werden, wie das Recht dazu beitragen kann, die Liebesfähigkeit zu fördern. Wie die juristische Urteilskraft auf diesem Grundsatz aufbauen kann, habe ich deswegen am Thema des Strafens aufgezeigt, wobei hier nur positive Sanktionen helfen können, was wiederum ein absolut psychologisches Thema ist. Als Problem der politischen Philosophie habe ich den Gegensatz von Freiheit und Gleichheit herausgegriffen, der nicht nur bei der Gesetzgebung eine Rolle spielt, und bin dabei zu dem Schluss gekommen, dass es keine allgemeine Formel zur vollständigen Lösung dieses Problems gibt, sodass der Politik hier deutliche Grenzen gesetzt sind, und dass fortwährend auf die beiden Gefahren des Totalitarismus und der Anarchie geachtet werden muss. Wir haben es hier nämlich mit einem Beziehungsproblem (und damit mit Psychologie) zu tun, das nur durch entsprechendes Verständnis, das sich in dauerhaften Freundschaften entwickelt, gelöst werden kann und nicht durch die Politik.

Bei meinen Ausführungen zu einer kritischen Religionsphilosophie bin ich zum einen auf das Thema des Mittlers und Religionsstifters eingegangen, und habe dann aufgezeigt, dass die vollkommene Liebe sich selbst vermittelt in einer dreieinheitlichen Vermittlung. Eine grobe Analyse der vier Religionsstiftungen von Moses, Jesus, Buddha und Mohammed konnte deren primäre Themen herausarbeiten, welche Probleme sie aufgreifen, und begreifen helfen, welche Lösungsmöglichkeiten sie jeweils anbieten, und wie sie diese konkret in Taten umgesetzt haben. In diesen vier und vermutlich in allen Religionen, auch wenn wie im Buddhismus Gott nicht erwähnt oder als das Absolute Nichts bezeichnet wird, ist die Rede von Gott die Rede von der vollkommenen Liebe als Rede von der „Totalität der unverfügbaren Sinnbedingungen all unserer Praxis“ (Rentsch, 1999, S. 337).

Auch die Ästhetik konnte ich in der vollkommenen Liebe fundieren und nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Wissenschaft finden. In der Kunst „versinkt“ die Wirklichkeit in der fantasierten Möglichkeit, in der Wissenschaft die Möglichkeit in der begriffenen Wirklichkeit. Das künstlerische Schaffen konnte ich mit dem kommunikativen Interexistenzial des hingebungsvollen Gestaltungsaktes erfassen und die Rezeption von Kunstwerken mithilfe einer praktischen Übung veranschaulichen, wobei deren Erläuterung deutlich aufzeigt, was das Streben nach vollkommener Liebe in der Praxis bedeutet, und dass man die Grundfrage der Philosophie auch als die Frage formulieren kann, was Lieben ist. Damit begründet die philosophische Daseinsanalyse eine ganz konkrete psychologische Praxis, nämlich eine gruppentherapeutische Übung, die ich selbst erfahren und mit eigenen Patienten schon durchgeführt habe.

1. Allgemeine Grundlagen der Daseinsanalyse

Wenn wir etwas untersuchen, dann verschaffen wir uns erst einen Überblick, betrachten also das Allgemeine, konzentrieren uns dann auf verschiedene Einzelheiten und versuchen anschließend, Strukturen des Ganzen und Beziehungen zwischen den Einzelheiten zu erkennen. Wir haben es also hier, um mit Hegel zu sprechen, mit dem Allgemeinen, dem Einzelnen und dem Besonderen zu tun. Man kann das Ganze auch als System auffassen, bei dem das Gesamt von allem, was definitionsgemäß zu dem betreffenden System gehören soll, dem Allgemeinen entspricht, die einzelnen Elemente des Systems dem Einzelnen, und das Besondere an jedem System ist, was für Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen und innerhalb des gesamten Systems bestehen, die sowohl den Einzelnen als auch das gesamte System beeinflussen. In Bezug auf das menschliche Dasein, um das es sich hier handelt, entspricht das Allgemeine der Gemeinschaft aller Menschen, wobei zunächst einmal zu definieren ist, wer ein Mensch ist. Philosophisch kann ich dies nur rekursiv bestimmen: irgendwann in der jeweiligen historischen Zeit einer Kultur stand fest, wer ein Mensch war, und wer nicht. Seitdem sind alle diejenigen Menschen, die einen Menschen als Elternteil haben, wobei die Erfahrung gelehrt hat, dass ein Mensch sich nur mit einem Menschen fortpflanzen kann. Zum einen ist das unsere Praxis, indem wir z.B. Geburtsurkunden ausstellen und Stammbücher führen, zum anderen entspricht es dem, dass wir von Anfang an unhintergehbar Gemeinschaftswesen sind und bis an unser Lebensende unüberholbar bleiben. Diese Definition kann man auch eine sprachphilosophische Bestimmung im Sinne Wittgensteins nennen, denn hier wird die Bedeutung des Wortes Mensch, wie wir es gebrauchen, in einem hermeneutischen Zirkel à la Heidegger umrissen: als Vor-Habe dient ein früheres Verständnis dieses Wortes, die Vor-Sicht besteht darin, dass alle Nachkommen von Menschen auch Menschen sein müssen, sodass der Vor-Griff für alle späteren Bedeutungen des Wortes Mensch darin besteht, dass ein Mensch bis zu einer weit zurückliegenden Zeit Vorfahren haben muss, die immer nur Menschen sind oder gewesen sind. Wenn nun zwei verschiedene Kulturen aufeinandertreffen, so sollen deren derartige Bedeutungen des Begriffes Mensch (ich setze hier allerdings voraus, dass alle Kulturen einen derartig rekursiv bestimmten Begriff Mensch besitzen, meist in Form von Schöpfungsmythen) genau dann als vollkommen übereinstimmend bezeichnet und akzeptiert werden, wenn diese Bedeutungen in mindestens einem Fall positiv übereinstimmen, denn dann stimmen sie zumindest bei allen gegenwärtig lebenden Menschen überein. Wenn es mit der Zeit zu gemischten Partnerverbindungen kommt, aus denen jeweils Kinder hervorgehen, die später ebenfalls wieder Kinder bekommen, sodass eine Mischpopulation entsteht, besteht Klarheit darüber, dass die Definitionen in beiden Kulturen darüber, wer momentan gerade ein Mensch ist, vollkommen übereinstimmen, da sie bei der Mischpopulation identisch sind. Wenn zwei Kulturen in ihren derartigen Definitionen vollkommen übereinstimmen und eine der beiden mit einer dritten, dann stimmen alle drei Kulturen in ihren Definitionen des Menschseins überein. Da sich inzwischen alle Kulturen derart gemischt haben, dass es heute eine allgemeine Übereinstimmung darin gibt, wer ein Mensch ist, ist die hier getroffene Konvention darüber, wer ein Mensch ist, wohlbestimmt und eindeutig und wir können daher von der Gesamtheit aller Menschen reden, die bestimmte Gemeinsamkeiten haben.

Der Einzelne ist jeder derart konkret bestimmte Mensch, und das Besondere ist die Art und Weise, wie gehandelt wird in den verschiedenen Beziehungen zwischen den einzelnen Menschen und aufgrund der verschiedenen Strukturen innerhalb verschiedener Gemeinschaften von Menschen, und das Allgemeine sind die Gemeinsamkeiten aller Menschen, die sich u.a. in der gegenseitigen Akzeptanz als Menschen niederschlägt. Unser Dasein als Mensch hat also zum einen den Modus als allgemein menschliches Gattungswesen, welches immer auf andere bezogen ist (schon von obiger rekursiver Definition her) mit der Tendenz, sich mit diesen zusammen zu verbinden, gegen sie zu kämpfen oder sich ihnen gegenüber abzuschotten. Diesen Modus will ich Genus nennen in Anlehnung an Tanabe (Tanabe, Versuch, die Bedeutung der Logik der Spezies zu klären, 2011). Zum anderen gibt es den Modus als Individuum und schließlich noch den als Spezies (ebenda), wenn wir uns in bestimmten Positionen befinden und bestimmte Funktionen ausüben, also in bestimmten Beziehungen zu anderen und als Teil bestimmter Strukturen innerhalb bestimmter Gemeinschaften handeln.

Im Modus des Genus ist das Dasein auf andere bezogen und es findet ein wechselseitiger Vergleich statt, welcher die sinnlichaffektive Wahrnehmung, die Aufmerksamkeitslenkung und das Einordnen und affektiv ergreifende Verstehen – also das Begreifen aufgrund von negativen und positiven Affekten und Sich-Aneignen des Begriffenen – der verschiedenen Eindrücke durch die sinnlich-affektive Wahrnehmung betrifft und zwischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden differenziert. Dabei entstehen bestimmte Einstellungen und Konzepte bzw. Repräsentationen der Realität, wo etwas herkommt, wodurch indirekt erschließbar wird, was auf einen zukommen kann, wenn man etwas Bestimmtes tut, und woran man dann gerade ist. Wie ich in Kapitel 3 zeigen werde, kann das Dasein nur dann etwas affektiv Wahrgenommenes begreifen, wenn es sich irgendwann einmal mit anderen verglichen und ausgetauscht hat.

Im Modus des Individuums ist das Dasein mit sich selbst beschäftigt, es empfindet und plant Handlungen, damit etwas Bestimmtes auf es zukommt, ohne dass andere etwas davon mitbekommen, sodass sie es zumindest direkt nicht durch Vergleich und Austausch beeinflussen können. Indirekt ist das Entwerfen und Planen allerdings schon von anderen beeinflusst, da die Repräsentationen der Realität Einfluss auf die Pläne des Individuums haben, und jene bildet das Dasein als Genus im oder aufgrund des Vergleichs und Austauschs mit anderen.

Im Modus der Spezies kommt das Dasein aus sich heraus, drückt im Handeln etwas aus, was dann andere beeindrucken kann. Dadurch kann das Dasein dann etwas Besonderes sein. In der durch sein Handeln beeinflussten Situation kommt es dann an. Was unter einer Situation zu verstehen ist, werde ich genauer auf Seite → erklären. Vorläufig sollte unser Alltagsverständnis ausreichen.

Wenn wir also unser Dasein analysieren wollen, müssen wir diese drei verschiedenen Modi näher untersuchen. Als erstes möchte ich dazu genauer betrachten, wie sie ineinander übergehen. Im Modus als Spezies, wenn ich in einer bestimmten Position bestimmte Funktionen ausübe, kann ich erfolgreich sein oder auch nicht, als Handelnder kann ich mich dadurch anderen immer mehr annähern bzw. mich in das System integrieren, oder aber mich den anderen entfremden bzw. mich innerhalb des Systems immer mehr isolieren. Wenn ich mich entfremdet habe, bin ich etwas mehr im Modus des Individuums und plane Wege, wie ich mich vielleicht den anderen wieder annähern kann, vorausgesetzt natürlich, mir liegt etwas an der Nähe zu den anderen. Auch im Fall der stärkeren Annäherung, wodurch der Modus des Genus stärker betont ist, weil ich stärker in die Gemeinschaft integriert bin, kann mir das zu viel sein, so dass ich Schritte plane, wie ich wieder eine größere Distanz erreiche. Hier gibt es also eine Dynamik, ein Kräftespiel zwischen verschiedenen Motiven, sowohl bei mir als auch bei anderen. Da es bei der Annäherung an oder Entfremdung von anderen darum geht, mich mehr oder weniger zu vergleichen oder auszutauschen mit anderen, d.h. da es um Gegensätzlichkeiten1 im Zusammenleben mit anderen in der Welt geht, will ich diesen Aspekt des Daseins Materie oder das Körperlich-Materielle nennen. In dem Wort „Materie“ steckt die indogermanische Wurzel ma, mad, aus der im Lateinischen metiri und im Deutschen messen wurde, und die natürlich auch in „Mama“, „Madka“, „Mater“ und „Mutter“ zu finden ist. In der Materie werden Unterschiede und Übereinstimmungen daher nicht nur gemessen, sondern zuerst nur affektiv wahrgenommen wie ein Kind die Mutter im Unterschied zu anderen Menschen (die Mutter als Maß von allem). Materie ist alles, was sich mit etwas vergleichen lässt, mit Ideen, Idealen bzw. Erwartungen und Erinnerungen. Das Messen ist vom Vergleich erst abgeleitet und löst ihn vom Affekt. Die Planung, etwas an der Distanz zu ändern, also die Materie zu verändern, diesen Aspekt des Daseins will ich mit Geist oder mit Geistig-Idealem bezeichnen. Das Kräftespiel der verschiedenen Motive, die mich beeinflussen, soll Psyche oder Psychisch-Motivationales heißen. Mit den drei Modi Genus, Individuum und Spezies haben wir allgemeine Grund-Arten des Daseins gefunden, die drei Aspekte Psyche, Geist und Materie beleuchten einzelne, grundlegende Phänomene des Daseins, und nun will ich Ausschau halten nach spezifischen Daseinsstrukturen. Der Aspekt der Materie bzw. der Entfremdung und Distanz setzt voraus, dass es den Raum gibt; der Aspekt des Geistes bzw. der Planung bedeutet, dass es die Zeit gibt, denn ein Plan kann nur zeitlich umgesetzt werden, und Änderungen brauchen Zeit; und der Aspekt der Psyche bzw. von dem, was mich motiviert bzw. bewegt, bedeutet, dass es Bewegt-Bewegendes bzw. Rhythmisches und Wirkungen gibt. DerRaum, die Zeit, das Rhythmische sind die spezifischen Wahrnehmungsstrukturen, denen Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Wirklichkeit als drei fundamentale Daseinsstrukturen entsprechen.

Wenn mich etwas bewegt, dann bin ich davon ergriffen. Ergriffenheit ist also etwas Psychisch-Motivationales. Wenn ich etwas plane und mich entscheide, dann erwarte ich ein entsprechend positives Ergebnis. Erwartung ist also etwas Geistig-Ideales. Wenn ich dann handle und damit das erwünschte Ergebnis erziele oder nicht, dann stelle ich fest, dass ich mich getäuscht habe oder nicht, dass eine Gegensätzlichkeit oder eine Übereinstimmung zwischen meiner Erwartung und dem Ergebnis besteht. Täuschung bzw. Gegensätzlichkeit oder Übereinstimmung sind also etwas Körperlich-Materielles. Da meine Ergriffenheit auf etwas Faktischem beruht, also Faktizität, meine Erwartung auf etwas Möglichem, einem möglichen Seinkönnen bzw. Existieren, also Existenzialität (Heidegger, Sein und Zeit, 2006), und Täuschung bzw. Gegensätzlichkeit Verfallen bedeutet (ebenda), habe ich mit den Aspekten Psyche, Geist und Materie bzw. Ergriffenheit, Erwartung und Gegensätzlichkeit die wesentlichen Aspekte unseres Daseins nach Heidegger getroffen. Bei Ergriffenheit, Erwartung und Gegensätzlichkeit bin ich jeweils passiv bzw. Objekt, nämlich Objekt der Psyche, die mich ergreift – ich bin sozusagen in einen bestimmten psychischen Zustand hineingeworfen –, Objekt des Geistes, der erwartungsvoll die Durchführung des Plans bzw. Entwurfs fordert, für den er sich entschieden hat, und Objekt der Materie, wenn ich die Konsequenzen meines Handelns und eventuell deren Gegensätzlichkeit zu meinen Erwartungen oder allgemein meine Lebenssituation sinnlich-affektiv wahrnehme und je nach Erfüllung oder Frustration positive oder negative Affekte bekomme. Als Objekt bin ich zwar von der Welt beeinflusst, faktisch aber von meiner Ergriffenheit, Erwartung und meinen Affekten von „innen“ heraus bewegt, also emotional in der eigentlichen Bedeutung dieses Wortes. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille: (1) wenn ich im interaktiven und kommunikativen Austausch meine Aufmerksamkeit lenke, indem ich bestimmte Dinge der Materie nicht beachte und andere stärker betone – in der entsprechenden Akzentuierung liegt eine Rhythmik, die mir die Wirklichkeit vermittelt – und das so in den Fokus Genommene entsprechend einordne, wenn ich affektiv ergreifend verstehe – affektiv, denn etwas affiziert mich positiv oder negativ, „macht mich an“ –, welche Phänomene was bedingen, indem ich mir Repräsentationen der Realität kreiere, bin ich psychisches Subjekt und beeinflusse, was mich wie bewegt bzw. was mich wie ergreift; (2) durch entsprechendes befindliches Verstehen meiner Ergriffenheit, die auf bestimmten Einstellungen bzw. Repräsentationen der Realität beruht, kann ich aufgrund der Möglichkeiten meines Seinkönnens als geistiges Subjekt entsprechend planen und meine Zukunft erwartungsvoll entwerfen bzw. mich für eine Möglichkeit entscheiden; (3) und als handelndes bzw. körperlich-materielles Subjekt kann ich Pläne praktisch ergreifend bzw. gefühlsmäßig-erwartungsvoll verstehen und ausführen – ich verstehe mich geschickt darauf, mit praktischen Schwierigkeiten umzugehen – und jederzeit eine Handlung modifizieren, unterbrechen, verschieben oder gänzlich aufgeben. Als Subjekt verarbeite ich also das, was mich als Objekt jeweils bewegt hat, und zeichne so alles gedächtnismäßig auf, bewege mich also in diesem Sinne wieder nach „innen“ auf meine Ergriffenheit, Erwartung und meine Affekte zu. Das Aufgezeichnete kann mich dann als Objekt wieder bewegen, mich wieder emotional machen und vermittelt so zwischen den beiden Bewegungen von „innen“ heraus und nach „innen“ zurück.

Als Individuum und quasi Verwalter und theoretischer Nutzer seines Gedächtnisses ist das Dasein einerseits Objekt der Psyche – das ist seine Bürde –, andererseits geistiges Subjekt – das ist seine Würde. Als Spezies und praktischer Nutzer des im Gedächtnis Aufgezeichneten ist es Objekt des Geistes – der Geist ist sozusagen wie ein Auftraggeber – und materielles Subjekt, also mehr oder weniger geschickt ausführendes Organ. Als Genus und Architekt des Gedächtnisses ist das Dasein Objekt der Materie und damit ihren Einflüssen, seiner Lebenssituation, wozu auch andere gehören, ausgeliefert und zugleich psychisches Subjekt, indem es sein mit Lust oder Unlust verbundenes Bedingt-Sein aufgrund der Kommunikation mit anderen versteht, sich ein Bild bzw. eine Repräsentation von der Realität macht und bestimmte Haltungen gegenüber der Welt und anderen einnimmt und sich dies alles gedächtnismäßig aneignet. Je nach Haltung setzt es sich aufgrund dessen bei Gegensätzlichkeiten entweder konstruktiv in seiner Gemeinschaft mit anderen und mit der Welt auseinander oder aber kehrt sich von diesen Gegensätzlichkeiten ab, indem es verdrängt, abspaltet bzw. sich auf etwas Anderes fixiert, sich in bestimmten Bereichen isoliert, von anderen absondert oder ihnen etwas vormacht. Die in diesem und im folgenden Kapitel geschilderten Zusammenhänge sind schematisch dargestellt im Schaubild auf Seite 283.

Nehmen wir ein Beispiel: angenommen, ich sitze mit meiner Frau im Wohnzimmer und sehe eine bestimmte Ecke des Raumes, die mir nicht gefällt. Ich spreche darüber mit meiner Frau, und wir begreifen gemeinsam, was uns an dieser Ecke unangenehm ist. Bis jetzt bin ich ganz im Modus des Genus, ich nehme affektiv als Objekt der Materie eine bestimmte Stelle des Wohnzimmers mit Aggression/Widerwillen wahr, kommuniziere mit meiner Frau, und begreife gemeinsam mit ihr, was meinen unangenehmen Affekt ausgelöst hat. Dadurch finde ich etwas in mir, nämlich die Empfindung einer leichten Wut/Ekel, dass ich etwas ungehalten bin, die das Begreifen meiner Wahrnehmung in mir bewirkt. Damit bin ich im Modus des Individuums und als Objekt der Psyche in die Situation mit dem unvollkommenen Wohnzimmer geworfen. Meine Ungehaltenheit fordert mich auf, darüber nachzudenken und zu planen, wie ich das so aufgeworfene Problem als geistiges Subjekt lösen kann. Dabei kommt mir vielleicht die Idee, einen Eckschrank zu basteln, der in der besagten Ecke seinen Platz finden könnte. Bei der Vorstellung der Ecke ohne den Schrank fühle ich mich schlecht, die Vorstellung der Ecke mit dem Schrank fühlt sich wesentlich besser an. Dieser Idee mit der Erwartung einer schöneren Wohnzimmerecke bin ich nun als Objekt des Geistes im Modus der Spezies ausgesetzt, ich habe mir sozusagen selbst den Auftrag gegeben, erste Schritte zur Umsetzung dieses Plans zu gehen, und fertige als körperlich-materielles Subjekt eine Zeichnung an, wie das Ganze in der Ecke des Wohnzimmers aussehen könnte. Diese Skizze betrachte ich dann zusammen mit meiner Frau, was bei uns beiden positive Affekte auslöst, weil uns gefällt, was wir sehen. Damit sind wir wieder im Modus des Genus als Objekte der Materie und können im weiteren Verlauf begreifend erörtern, was genau uns bei der Betrachtung der Skizze gefallen hat, wodurch dann wieder bestimmte Empfindungen bei mir im Modus des Individuums als Objekt der Psyche ausgelöst werden. Es kann natürlich auch passieren, dass meiner Frau mein Entwurf nicht gefällt, so dass sie als Individuum und geistiges Subjekt eine Alternative entwickelt und als Spezies eine neue Skizze anfertigt, auf die wir uns dann im Modus des Genus einigen können, nachdem ich meine Täuschung als Genus begriffen, und meine Enttäuschung als geistiges Subjekt mithilfe des Gedankens überwinde, dass meine Frau einen besseren Geschmack hat als ich, den ich als Spezies so umsetze, dass ich erwartungsvoll beobachte, wie sie ihre Idee zu Papier bringt. So kann dann dieser Prozess schrittweise immer weitergehen, bis schließlich der Schrank fertig in der Ecke steht und meiner Frau und mir unser Wohnzimmer wieder gefällt. Wenn ich allerdings nicht einsehen will oder kann, dass ich mich in der Erwartung getäuscht habe, dass mein Entwurf meiner Frau zusagt, dann ziehe ich mich beleidigt zurück, breche einen Streit vom Zaun oder tue so, als sei alles in Ordnung und fresse meinen Ärger in mich hinein oder sinne insgeheim auf Rache. Dadurch wird unsere Beziehung belastet, und wenn weitere Belastungen dazukommen, kann dies zu einer Trennung führen, und wenn ich derart mit jeder Beziehungspartnerin verfahre, bin ich bald isoliert und ohne Frau. Wenn ich eine derartige Entwicklung nicht will, dann bleibt mir nichts Anderes übrig, als nach Lösungen zu suchen, wie ich besser damit umgehe, wenn derartige Erwartungen nicht erfüllt werden. Dieses relativ einfache Beispiel demonstriert die Komplexität, wie eine Aufgabe sich stellt und allmählich gelöst werden kann, und an welchen Stellen sich Probleme ergeben können, für die sich allein durch diese differenzierte Betrachtungsweise neue Lösungen ergeben, die aus einer anderen Perspektive möglicherweise nicht gesehen werden.

Das Dasein ist in jedem der drei Modi als Individuum, als Spezies oder als Genus reflexiv, also auf sich selbst bezogen. Ergriffenheit, Erwartung und Täuschung sind jeweils die des Daseins selbst, so dass sie das Phänomen des Selbst schon in sich bergen, d.h. das Selbst und damit die Selbstbezogenheit sind phänomenal schon in Psyche, Geist und Körper enthalten und zeigen sich durch Täuschung in oder Erfüllung der Erwartung im Körperlich-Materiellen.

Als Subjekt sind wir einerseits aktiv, andererseits aber wissen wir darum wegen unserer Selbstbezogenheit, dass wir aktiv gewesen sind, wodurch uns erschlossen ist, dass und wie wir aktiv sein können. Dafür ist einerseits ein Gedächtnis nötig und andererseits die Fähigkeit, etwas in diesem Gedächtnis zu speichern und abzurufen. Für die drei Möglichkeiten, ein Subjekt zu sein, muss es daher drei verschiedene Formen von Gedächtnis geben und drei verschiedene Fähigkeiten, dort etwas abzulegen oder wieder aufzurufen.

Als Spezies und körperlich-materielles Subjekt brauchen wir ein Gedächtnis für unsere Handlungen, und dass wir selbst sie ausgeführt haben. Dies geschieht dadurch, dass wir unsere Handlungen, die wir aufgrund bestimmter Erwartungen ausführen, mit den entsprechenden Plänen und spezifischen Gefühlen, die sich auf etwas Bestimmtes in der Welt beziehen, verknüpfen und sie mit deren Hilfe auch wieder abrufen. Speicherung und Zugriff für dieses spezifische Handlungsgedächtnis erfolgt mithilfe unserer Fähigkeit, uns Katastrophen oder einen Idealzustand vorzustellen, beruht also auf der Vorstellungskraft für Katastrophen und Ideale.

Als Genus und psychisches Subjekt benötigen wir ein Gedächtnis für das, was wir affektiv ergreifend aufgrund des Vergleichens und des Austauschs mit anderen verstanden haben, und dass wir selbst dies affektiv begriffen haben. Wenn wir uns etwas begrifflich angeeignet haben, verbinden wir aufgrund der mehr oder weniger großen Gegensätzlichkeiten zwischen unseren Handlungsergebnissen und unseren Erwartungen das Begriffene mit den mit dem Wahrgenommenen verbundenen generellen Affekten. Damit können wir diese Gedächtnisinhalte, diese Repräsentationen der Realität wieder abrufen. Speicherung und Zugriff für dieses allgemeine Begriffs- oder Weltanschauungsgedächtnis der Einstellungen und Überzeugungen u.ä. funktioniert aufgrund unserer Fähigkeit, uns die Realität vorzustellen, die uns affiziert, beruht also auf der Vorstellungskraft von der Realität.

Als Individuum und geistiges Subjekt brauchen wir ein Gedächtnis für das, was wir aufgrund unseres erwartungsvoll befindlichen Verstehens als Möglichkeit unseres Seinkönnens entworfen und geplant haben, und dass wir selbst uns für den entsprechenden Entwurf und Plan entschieden haben. Unseren Plan verknüpfen wir mit dem, was uns von der Psyche her motiviert und ergriffen hat, also mit unseren individuellen Empfindungen, die sich auf unser individuelles In-der-Welt-Sein beziehen, und können damit unseren Entwurf auch wieder aus dem Gedächtnis abrufen. Speicherung und Zugriff für dieses individuelle Planungsgedächtnis erfolgt mithilfe unserer Fähigkeit, uns von Problemen und Aufgaben ansprechen zu lassen, beruht also auf der psychischen Kraft bzw. dem Mut, uns mit der Realität auseinanderzusetzen.

Planungsgedächtnis und Handlungsgedächtnis werden durch das Weltanschauungsgedächtnis vermittelt und vermitteln beide zusammen dieses. Entsprechend werden Handlungsgedächtnis und Weltanschauungsgedächtnis durch das Planungsgedächtnis vermittelt und vermitteln beide zusammen dieses. Auch Weltanschauungsgedächtnis und Planungsgedächtnis werden durch das Handlungsgedächtnis vermittelt und vermitteln beide zusammen dieses. Es herrscht also eine absolute Vermittlung (Tanabe, Versuch, die Bedeutung der Logik der Spezies zu klären, 2011, S. 170) zwischen diesen drei Arten des Gedächtnisses, und wir können sie zusammenfassen zum so genannten autobiografischen Gedächtnis – autobiografisch deswegen, weil sich durch die Aufzeichnung all dieser Gedächtnisinhalte unser ganzes Leben und Erleben, d.h. unsere Beziehung zu uns selbst und zu unserer Umwelt nachvollziehen lässt, nämlich Ergriffenheit, Erwartung und deren Enttäuschung oder Erfüllung. Dann und nur dann lebt etwas (so will ich es definieren), wenn es einen Bezug zu sich selbst und zu seiner Umwelt hat, und durch Ergriffenheit, Erwartung und deren Enttäuschung oder Erfüllung ist die Beziehung des menschlichen Daseins zu seinem Selbst und zu seinem In-der-Welt-Sein gekennzeichnet. Diese Definition passt zu der der Biologie, dass etwas lebt, wenn es einen Stoffwechsel haben kann.

Da das Dasein insgesamt reflexiv ist, ist es dies auch als Objekt, so dass es auch hier drei Arten des Gedächtnisses geben muss. Als Individuum und Objekt der Psyche brauchen wir ein Gedächtnis für die jeweilige Ergriffenheit bzw. die jeweiligen individuellen Empfindungen. Diese sind verknüpft mit dem affektiv ergreifenden Verstehen der jeweiligen Situation und dadurch aus diesem Gedächtnis der Empfindungen abrufbar. Durch entsprechende Überzeugungen aus unserem allgemeinen Weltanschauungsgedächtnis können wir uns an das erinnern, was uns ergriffen hat.

Als Spezies und Objekt des Geistes benötigen wir ein Gedächtnis für die jeweilige Erwartung bzw. die jeweiligen spezifischen Gefühle. Diese sind verbunden mit dem Planen und dem Entwurf eines Seinkönnens des Daseins und dadurch aus dem Gedächtnis der Gefühle abrufbar. Entsprechende Pläne, Entwürfe und Entscheidungen unseres individuellen Planungsgedächtnisses können uns an unsere Erwartungen und Gefühle erinnern.

Als Genus und Objekt der Materie benötigen wir ein Gedächtnis für die jeweilige Wahrnehmung und die damit verknüpften generellen Affekte, je nachdem wie sehr unsere Erwartungen enttäuscht oder erfüllt wurden. Diese sind verbunden mit den jeweiligen Handlungen und Geschehnissen in der jeweiligen Situation und dadurch aus diesem Wahrnehmungs- und Affektgedächtnis abrufbar. Durch entsprechende Handlungen und deren Wirkungen, die wir in unserem spezifischen Handlungsgedächtnis gespeichert haben, können wir uns dann daran wieder erinnern.

Wie man leicht nachvollziehen kann, gibt es auch hier eine absolute Vermittlung zwischen diesen drei Gedächtnisformen, sodass wir sie zusammenfassen können zu einem sogenannten emotionalen Gedächtnis – emotional deswegen, weil Ergriffenheit uns aufgrund entsprechender individueller Empfindungen, Erwartung uns aufgrund entsprechender spezifischer Gefühle und Wahrnehmungen uns aufgrund genereller Affekte jeweils von „innen“ heraus bewegen, also emotional sind. Im Emotionalen haben wir also ebenfalls drei Modi: die allgemeinen Affekte als Objekt der Materie beim sinnlichen Wahrnehmen, die individuellen Empfindungen als Objekt der Psyche bei der entsprechenden Ergriffenheit bzw. dem psychischen Begreifen und die spezifischen Gefühle als Objekt des Geistes bei den jeweiligen Erwartungen bzw. dem geistigen Planen und Verstehen. Ich nenne die individuellen Empfindungen deswegen Empfindungen, weil sie dem Dasein als Individuum dabei helfen, sich selbst als In-der-Welt-Sein zu finden, die spezifischen Gefühle deswegen so, weil sie dem Dasein als Spezies dabei helfen, die konkrete Situation, in der es handeln will, und deren verschiedene Möglichkeiten spezifisch zu „erfühlen“, „erfüllen“ bzw. „vorzufühlen“, und die allgemeinen Affekte deswegen so, weil das Dasein als Genus durch die jeweilige Wahrnehmung allgemein affiziert bzw. „angemacht“ wird.

Durch unsere jeweiligen Aktivitäten als Subjekt werden die Inhalte des emotionalen Gedächtnisses weiterverarbeitet und in das autobiografische Gedächtnis integriert, indem sie mit der entsprechenden Aktivität, die mithilfe dieser Inhalte wieder aufgerufen werden kann, verbunden werden. Dann können wir uns sowohl vom Geist her mithilfe der Vorstellungskraft für Katastrophen und Ideale, als auch vom Körperlich-Materiellen her durch die Vorstellungskraft von der Realität, als auch von der Psyche her mittels des Mutes, es mit der Realität aufzunehmen, an alles erinnern, was vorher nur im emotionalen Gedächtnis gespeichert war. Solange ein Inhalt des emotionalen Gedächtnisses noch nicht im autobiografischen Gedächtnis integriert ist, ist er nur abrufbar (1) durch entsprechend einschlägige Handlungen, und zwar, dass wir diese Handlungen ausführen oder uns irgendwie vom autobiografischen Gedächtnis her daran erinnern, z.B. weil wir eine ähnliche Handlung ausführen oder sie uns nur vorstellen, wenn es die Erinnerung an eine noch nicht begriffene Wahrnehmung mit einem entsprechenden Affekt ist, den wir also als psychisches Subjekt noch nicht begriffen haben, (2) durch entsprechend einschlägiges Planen und Entwerfen, weil wir dasselbe planen oder etwas ähnliches, wodurch uns vom autobiografischen Gedächtnis her der ursprüngliche Entwurf einfällt, wenn es die Erinnerung an eine noch nicht realisierte Erwartung mit einem entsprechenden spezifischen Gefühl betrifft, bei dem wir den zu Grunde liegenden Plan als körperlich-materielles Subjekt noch nicht in Handlung umgesetzt haben, und (3) durch entsprechend einschlägige Repräsentationen der Realität, die durch irgendeine Assoziation aus dem autobiografischen Gedächtnis auftauchen, wenn es um die Erinnerung an eine noch nicht befindlich verstandene Ergriffenheit mit einer entsprechenden individuellen Empfindung geht, die wir als geistiges Subjekt noch nicht befindlich verstanden und entsprechende Möglichkeiten unseres Seinkönnens noch nicht entworfen haben.

Hier ein paar Beispiele zur Veranschaulichung: (1) Wenn jemand z.B. das Haus verlässt, dann überfallen wird und dieses traumatische Geschehen (seine Wahrnehmung und seine Affekte dabei) noch nicht als psychisches Subjekt verarbeitet, also affektiv begriffen hat, dann kann er sich nur dann wieder daran erinnern, und zwar vollständig mit Wahrgenommenem und Affekten, wenn er noch einmal das Haus verlässt oder sich vorstellt, dass er das macht. Das erzeugt dann oft einen Flashback, denn er hat das Wahrgenommenemit dem oder vom Affekt abgespalten, um die generelle tödliche Bedrohung nicht begreifen zu müssen, die ihn in seinen Empfindungen zu sehr erschüttern und damit handlungsunfähig machen würde – im Augenblick einer realen Gefahr kann das lebensrettend sein.

(2) Wenn jemand eine wichtige Prüfung machen soll, von der sein künftiges Leben seiner Meinung nach abhängt, aber als körperlich-materielles Subjekt aus Furcht vor einem Scheitern nicht dafür lernt, sondern sich mit anderen Aktivitäten ablenkt oder ganz apathisch wird, dann erinnert er sich nur dann an seine Furcht wegen seiner schlimmen Erwartung, wenn ihn etwas mit seinem Lebensplan wieder konfrontiert. Die Erwartung seines Scheiterns, was also das spezifische Verhältnis des Daseins mit der Welt betrifft, und die damit zusammenhängende Furcht hat er durch Apathie oder die Konzentration auf andere Aktivitäten bewältigt, um nicht womöglich vergeblich sich anzustrengen und so wahrnehmen zu müssen, dass er in seiner Planung sich falsche Hoffnungen gemacht hat. Das Gefühl ist bewältigt, nicht aber die Aufgabe, und die Integration in das autobiografische Gedächtnis wurde abgebrochen.

(3) Wenn jemand zu der Ansicht gekommen ist, dass sein Inder-Welt-Sein für ihn gefährlich werden kann (er ist z.B. alkoholabhängig und der Konsum von Alkohol zerstört sein Leben) und er entsprechende Angst hat, aber als geistiges Subjekt keine Vorkehrungen trifft, wie er sich schützen kann, sondern nur sich selbst einredet und evtl. anderen gegenüber versichert, er habe alles im Griff, dann kann er sich nur dann an diese Angst vor seinem In-der Welt-Sein mit den verschiedenen Gefahren erinnern, wenn er durch irgendetwas an seine Einsicht erinnert wird, was allerdings dann meistens zu spät ist. Seine Angst und die damit verbundene individuelle Anspannung hat er insofern abgewehrt, dass er sich und evtl. andere durch falsche Versprechen oder allgemeiner durch das Erzeugen falscher Erwartungen beruhigt hat, um nicht verstehen zu müssen, dass er auch versagen und schuldig werden kann und daher auf andere angewiesen ist. Die Formen der Abwehr reichen von Beschwichtigung bis zu falschem Stolz.

Durch derartige Abspaltungen (generell), Bewältigungs-(spezifisch) und Abwehrstrategien (individuell) verhindert das Dasein, dass entsprechende Inhalte des emotionalen Gedächtnisses verarbeitet und die dazugehörigen Erlebnisse im autobiografischen Gedächtnis integriert werden. In der Grafik auf Seite → ist dies alles noch einmal schematisch dargestellt.

An dieser Stelle wäre ich beinahe einem kulturellen bzw. ethnozentrischen Vorurteil erlegen: in unserer Leistungsgesellschaft sind wir vor allem auf die Zukunft hin orientiert, so dass alle Emotionen, die mit Hilflosigkeit zu tun haben (der Affekt des Schreckens, die Befindlichkeit der Angst und das Gefühl der Furcht), uns besonders wichtig erscheinen. Daher haben die eben angeführten Beispiele, die mir zur Erläuterung als erstes eingefallen sind, alle mit diesen Emotionen zu tun. In der islamischen Kultur geht es vor allem um solche, die mit Gerechtigkeit und ungerechter Überforderung zu tun haben (Affekt von Aggression/Widerwillen, Befindlichkeit der Wut/Ekel und Gefühl von Zorn/Abscheu), und im traditionellen Japan vor allem um solche, die mit dem Ausschluss aus der Gesellschaft und Hoffnungslosigkeit zusammenhängen (Affekt des Schmerzes, Befindlichkeit des Leids und Gefühl der Trauer). In Japan gilt Hilflosigkeit als unehrenhaft – lieber begeht man rituellen Selbstmord (Harakiri) – und im Islam als mangelndes Vertrauen in Allah – daher die häufigen Selbstmordattentate. In diesen Kulturen müssten zur Veranschaulichung meiner Gedanken entsprechend andere Beispiele herangezogen werden. Wenn Heidegger so sehr die Zukunft betont und hauptsächlich Angst und Furcht analysiert (Heidegger, Sein und Zeit, 2006), dann meine ich, darin ein ebensolches ethnozentrisches Vorurteil zu entdecken.

Als Individuum ist das Dasein ganz im Für-Sich, ganz auf sich allein gestellt, denn die Bürde seiner Befindlichkeit als Objekt der Psyche kann ihm niemand abnehmen („Jeder hat sein eigenes Kreuz zu tragen“), und seine Würde als Entwerfender, als geistiges Subjekt, kann ihm auch niemand streitig machen („Die Gedanken sind frei“). Als Individuum bestimmt sich das Dasein ganz und gar selbst und entwickelt für sich entsprechende Einstellungen, es ist ganz und gar ein Einzelnes, erwartungsvoll entwerfende und befindlich ergriffene Geworfenheit (Heidegger, Sein und Zeit, 2006). Mit seiner Bürde und Würde ist dem Dasein als Individuum sein ganzheitliches Selbstverständnis erschlossen, wenn auch nicht unbedingt verständlich. Das ganzheitliche Selbstverständnis ist das, was den Modus des Individuums idealerweise auszeichnet.

Als Spezies ist das Dasein ganz im An-Sich, es kommt aus dem Für-Sich heraus und tritt als etwas Besonderes an seine Umwelt heran, mit seiner Umwelt, die es dann an sich hat, in Kontakt, denn mit seiner Absicht, als Objekt des Geistes eine bestimmte Möglichkeit seines Seinkönnens in die Tat umzusetzen, trägt es etwas Besonderes in besonderer Weise bzw. besonders gestimmt an seine Umwelt heran, und in der tatsächlichen Umsetzung als materielles Subjekt entstehen Wechselwirkungen, entsteht Kontakt, und das Dasein bekommt etwas an sich heran, seine Stimmung wird dadurch beeinflusst. War der Entwurf seines Seinkönnens noch ein Teil von ihm selbst, so ist das, was im Kontakt mit seiner Umwelt entsteht, dem Dasein fremd, die Tat erzeugt also die Bewegung der Selbstentfremdung, wenn man den anderen oder die Umwelt als fremd bezeichnet. Als Spezies bestimmt das Dasein in entsprechender Stimmung ganz und gar seine Umwelt und handelt im Idealfall effektiv und nur aufgrund von eigenen Erwartungen, oft aber auch aufgrund von Erwartungen anderer. Autonomie und Effektivität sind das, was den Modus der Spezies idealerweise auszeichnet.

Als Genus ist das Dasein in einer Bewegung vom Fremden zurück zu sich selbst, indem es das Fremde, das Ergebnis des Kontakts, mit seinen Sinnen als Objekt der Materie wahrnimmt und dabei positiv reagiert, wenn die Erwartungen erfüllt sind, negativ, wenn nicht, oder mit mehr oder weniger neutralem oder ambivalentem Affekt, wenn sie teils erfüllt, teils nicht erfüllt sind, um das Wahrgenommene dann selektiv als psychisches Subjekt u.U. zusammen mit anderen zu betrachten, zu begreifen (das Wahrgenommene also in seiner Bedingtheit zu verstehen) und so als das affektiv Begriffene in Form einer Repräsentation der Realität und Haltung gegenüber der Welt und anderen wieder zu einem Teil von sich selbst zu machen. Ich nenne dieses Begreifen deswegen affektiv ergreifendes Verstehen, weil das Dasein als Objekt der Materie mit der Wahrnehmung von etwas immer auch angenehme oder unangenehme Affekte bekommt, wodurch es bereits unmittelbare Kontingenzen auf sein Verhalten und seine Handlungen entdecken kann und so ein erstes Begreifen ermöglicht wird. Damit ist das Dasein als Genus sowohl im An-Sich als auch im Für-Sich, also im An-und-Für-Sich. Es befindet sich ganz und gar im interaktiven und kommunikativen Austausch mit der Welt und anderen, im affektiv ergreifenden Verstehen, und ist damit ganz und gar ein Allgemeines, es ist im ausdrücklich-eindrücklich Sich-Aneignen der Realität in Form bestimmter Repräsentationen. Nach einer entsprechenden Tat als Spezies kann das Dasein als Genus begreifen, ob und wie weit die Überwindung von Täuschungen bzw. Gegensätzlichkeiten der Materie sowohl für sich selbst, als auch im Idealfall gleichermaßen solidarisch mit anderen gelungen ist. Die kommunikative Solidarität (Rentsch, 1999, S. 258) ist das, was den Modus des Genus idealerweise auszeichnet. Inwiefern ich hier jeweils von einem Ideal reden kann, sollen folgende Überlegungen klären:

Wenn wir etwas analysieren, dann beabsichtigten wir etwas damit, wir wollen etwas in irgendeiner Hinsicht verbessern. Eine Daseinsanalyse kann nicht ohne ein Ziel durchgeführt werden, genauso wie „eine philosophische (nicht empirische) Anthropologie nicht vor- oder außerethisch konzipiert werden kann“ (Rentsch, 1999, S. I). Um unser menschliches Dasein zu verbessern, bietet sich als Ziel bzw. als Ideal die vollkommene Überwindung von Täuschungen bzw. Gegensätzlichkeiten der Materie an, denn genau dann sind unsere Ergriffenheit und unsere Erwartung kongruent, und wir empfinden unser Dasein als erfüllt. Psyche und Geist befinden sich in absoluter Harmonie, d.h. als Individuum verstehen wir echt und unmittelbar unsere jeweilige Ergriffenheit, das Worumwillen unseres Daseins. »Echt« bedeutet, dass es keine Täuschung gibt, und »unmittelbar«, dass die Befindlichkeit der Ergriffenheit einfach so ohne jede Vermittlung von etwas anderem als der Ergriffenheit selbst verstanden wird, also ohne irgendwelche Konzepte, Stimmungen, Haltungen, Einstellungen oder sonstige Repräsentationen der Realität. Genau dann sind die Täuschungen vollkommen überwunden, d.h. nur das echte und unmittelbare Verstehen der Ergriffenheit ist gleichbedeutend mit der vollkommenen Überwindung von Täuschungen, denn ein durch irgendetwas vermitteltes Verstehen und daher eine vermittelte Überwindung von Täuschungen ist abhängig von der Vermittlung und daher womöglich instabil, auf jeden Fall aber unvollkommen. Wenn Ergriffenheit und Erwartung kongruent sind, dann ist der Affekt des Daseins als Objekt der Materie reine Lust, und als psychisches Subjekt ist es derart erfüllt, dass es keine Repräsentationen der Realität mehr kreiert, da es sich auch mit allen anderen in vollkommener Harmonie befindet. Damit sind ganzheitliches Selbstverständnis und kommunikative Solidarität in absolutem Einklang, denn unsere Ergriffenheit kommt von dem, was wir als Genus und psychisches Subjekt in der kommunikativen Solidarität mit anderen begriffen haben.

Echt bedeutet, dass das Verstehen zu keinem Entwurf und damit das Dasein auch zu keiner Handlung gelangt, die zu einer Täuschung führt. Da keine Tat oder Handlung als Spezies zur Überwindung einer Täuschung oder Enttäuschung (das ist eine Empfindung aufgrund des Begreifens der Wahrnehmung einer Täuschung als nicht erfüllte Erwartung) benötigt wird, ist jede Tat weder technisch nützlich noch hypothetisch angenehm sondern kategorisch im Sinne von Kant oder absichtslos im Sinne des Taoismus (Wu wei, Tun im Sein, ohne etwas regeln zu müssen), und damit auch absolut autonom und effektiv, und das Dasein versteht sich selbst insgesamt, ist also im ganzheitlichen Selbstverständnis, d.h. Autonomie und Effektivität und ganzheitliches Selbstverständnis sind in absolutem Einklang.

Da es keine Gegensätzlichkeiten der Materie mehr gibt, gibt es keine Selbstentfremdung und auch keine Konflikte mehr mit anderen als Genus, d.h. es herrscht vollkommene Harmonie mit sich selbst und anderen Menschen. Dies ist genau dann der Fall, wenn in allen Beziehungen mit anderen von mir eine absolute Gleichheit zwischen uns und eine absolute Freiheit jedes einzelnen in der jeweiligen Beziehung besteht. Absolute Gleichheit soll hier bedeuten, dass ich den anderen und mich selbst gleichermaßen im jeweiligen Worumwillen echt und unmittelbar verstehe, sonst gäbe es keine Harmonie, und absolute Freiheit meint hier, dass jeder absolut freiwillig und damit autonom und effektiv handelt, sonst wäre die Harmonie instabil und nicht vollkommen. Autonomie und Effektivität und kommunikative Solidarität befinden sich im absoluten Einklang.

Damit ist klar, dass beim Erreichen dieses utopischen Ziels ich das Worumwillen meines individuellen Daseins und das vom Dasein aller anderen, die mir begegnen, echt und unmittelbar verstehe. Dieses Ziel möchte ich vollkommene Liebe nennen. Es beinhaltet vollkommene Selbst-Liebe und vollkommene Fremd-Liebe gleichermaßen. Utopische Ziele sind nur dann sinnvoll, wenn stetige Fortschritte und entsprechende Verbesserungen auf dem Weg dorthin möglich und im eigenen Sein verankert bzw. im Dasein bezeugt sind, auch wenn das Ziel selbst unerreichbar bleibt. Dann ist eben der Weg das Ziel. Wie der Weg zur vollkommenen Liebe aussehen kann, und dass dieses utopische Ziel im Dasein bezeugt und sinnvoll ist, soll später aufgezeigt werden.

Da nur in der Materie die Täuschungen und Gegensätzlichkeiten wahrnehmbar sind, zeigt sich dort also die Entfernung zur vollkommenen Liebe bzw. die Entfremdung von der vollkommenen Liebe als das materielle Moment der vollkommenen Liebe. Wenn man formal davon ausgeht, dass Vollkommenheit geherrscht hat, als noch kein Dasein existiert hat, und wenn man die vollkommene Liebe als Ideal akzeptiert, dann ist der Geist der Aspekt der Rückkehr zur vollkommenen Liebe, das geistige Moment der vollkommenen Liebe. Die Psyche kann man dann als die Dynamik bzw. das dynamische Moment der vollkommenen Liebe bezeichnen. Damit sind Psyche, Geist und Materie die drei Momente oder Aspekte der vollkommenen Liebe, und das Dasein mit seinen grundlegenden Aspekten Psyche, Geist und Körper ist infolgedessen ein Abbild der vollkommenen Liebe.

Der Geist als Aspekt der Rückkehr zur vollkommenen Liebe, also das erwartungsvoll befindliche Verstehen, Entwerfen, Planen und Entscheiden erweist sich bei entsprechender Entschlossenheit als Ansatz- oder Wirkpunkt der ethischen Tugenden im aristotelischen Sinn, denn diese Art von Tugenden leiten – genauso wie der Geist – jeweils als Habitus bzw. Einstellung, die sich das Dasein als psychisches Subjekt gebildet hat, das verständnisvoll-ethische und entschlossene Handeln (Aristoteles, 1985, S. 27 ff., II. Buch). Laut Aristoteles entsteht Tugend durch Gewöhnung bzw. Erziehung, d.h. in meiner Terminologie auf den verschiedenen Entwicklungsebenen des Selbst (s. hier 3. Kapitel über die Fundierung der Daseinsanalyse in der Entwicklung des Einzelnen), auf denen das Dasein die Möglichkeiten seines Seinkönnens verstehen und damit befindlich verständnisvoll Handlungspläne entwerfen lernt.

Dagegen ist die Psyche der Ansatz- oder Wirkpunkt der dianoetischen Tugenden im aristotelischen Sinn, denn diese Art von Tugenden leiten – genauso wie die Psyche – das Begreifen, das affektiv ergreifende Verstehen aufgrund von Erfahrung und damit auch die Bildung der ethischen Tugenden. Insofern befinden sich diese Tugenden – nämlich Verstand, Kunst, Wissenschaft, Klugheit und Weisheit – durch den Vergleich und den Austausch mit anderen bzw. die Wohlberatenheit (Aristoteles, 1985, S. 130 ff., vor allem VI., 3.-10. Kapitel) eine Ebene über den ethischen Tugenden. Damit ist dieTugend das Zusammenspiel von Geist und Psyche, die sich in der Tätigkeit (Energeia) zeigt, sich also in der Materie wiederspiegelt. Dabei liefern die Psyche durch die Motivation zu tugendhaftem Handeln die Kraft und der Geist die Richtung des jeweiligen Handelns. Je weniger gegensätzlich Geist und Psyche sind bzw. je weniger Spannung zwischen beiden besteht, desto größer die Tugend.

Was bedeutet dann, „das menschliche Gut ist der Tugend gemäße Tätigkeit der Seele“ (ebenda, S. 12, 1098a, 17 ff.)? Wenn das Dasein als Individuum und geistiges Subjekt ein tugendhaftes Seinkönnen entwirft bei gleichzeitigem Verstehen der Befindlichkeit, die es aufgrund seines ethisch tugendhaften Begreifens in Form einer entsprechend tugendhaft ausgerichteten Repräsentation der Realität als psychisches Subjekt hat, so dass es insgesamt als tugendhaftes körperlich-materielles Subjekt das so entworfene Seinkönnen in Handlung umsetzt, deren Ergebnis das Dasein als Genus und Objekt der Materie aufgrund tugendhafter Erwartungen affektiv wahrnimmt und sich mit anderen darüber austauscht, um dann als psychisches Subjekt mit anderen zusammen das Geschehene entsprechend tugendhaft affektiv ergreifend zu verstehen und sich das Verstandene durch entsprechende Repräsentationen der Wirklichkeit anzueignen, so ist diese Auseinandersetzung mit dem tugendhaft bewirkten Geschehen und das Sich-Aneignen des auf diese Weise affektiv ergreifend Verstandenen eine „der Tugend gemäße Tätigkeit der Seele“, die dann neue Kraft gibt für tugendhaftes Handeln, und es ist gleichzeitig auch das, was uns auf den Weg zur vollkommenen Liebe bringt und dort hält, da die Tugend der Weisheit dies gebietet, so dass »das menschliche Gut« unsere Liebesfähigkeit bzw. deren Entfaltung ist, wozu „aber noch kommen [muss], dass dies ein volles Leben hindurch dauert“ (ebenda). Die Tugend entwickelt sich jeweils immer weiter auf dem Weg zur vollkommenen Liebe, und so entwickelt sich auch »das menschliche Gut«.

Die Tugend, was man auch mit Entschlossenheit, seine Liebesfähigkeit zu entfalten, übersetzen könnte, prägt das Dasein als psychisches Subjekt, so dass es das sinnlich-affektiv Wahrgenommene immer tugendhafter affektiv ergreifend verstehen kann mithilfe der dianoietischen Tugenden. Andererseits prägt die Tugend auch das Dasein als geistiges Subjekt, welches sich durch die Tugend erwartungsvoll befindlich immer besser darauf versteht, entsprechende Möglichkeiten des tugendhaften Seinkönnens (ethische Tugenden) des Daseins zu entwerfen, so dass die tugendhaften Ziele immer besser durch die tugendhaft geschickt ausgeführten Entwürfe erreicht werden. Dass Aristoteles die Tugend auf Seelenvermögen bezieht, das sich auf diese Weise wie die Tugend entwickelt, erklärt sich daraus, dass Tugend für ihn hauptsächlich ein Habitus ist, und dergleichen kreiert das Dasein im Austausch mit anderen als Genus und psychisches Subjekt. In der tugendhaften Ausführung wird das Dasein als körperlich-materielles Subjekt ebenfalls durch die Tugend gefördert, indem es immer kunstfertiger und geschickter handelt. Jede faktisch-normative und damit starre Beschreibung der Tugend bzw. Liebesfähigkeit ist Versessenheit und endet in Verblendung.

Auch Aristoteles gibt keine starre Beschreibung der Tugend, er führt lediglich Beispiele seiner Zeit zur Veranschaulichung an, und meint, dass die Verstandestugenden sich mit der Zeit entwickeln müssen durch Erfahrung, sodass die in der Erziehung entstandenen ethischen Tugenden sich entsprechend weiterentwickeln. Das einzig Durchgängige bei den ethischen Tugenden ist ihre Konsequenz und Entschlossenheit im Handeln, und diese Haltung ist nicht erlernbar, man muss sie sich angewöhnen. Damit ist die