Rhythmus, Intuition und Liebe - Hans-Peter Kolb - E-Book

Rhythmus, Intuition und Liebe E-Book

Hans-Peter Kolb

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Beschreibung

Diese Fortsetzung von "Dasein, um zu lieben" (Kolb, 2018) stellt unsere Körperlichkeit in den Mittelpunkt der Betrachtung und klärt ihr Verhältnis zu Seele und Geist. Einerseits spiegelt unser Körper die Beziehung zwischen Seele und Geist, andererseits prägt der Umgang mit ihm, insbesondere, wenn wir missbraucht oder misshandelt worden sind, unsere Psyche (Neurose) und unseren Geist (Psychose). Wer mit anderen Menschen umgeht, sollte stets beachten, dass Körper, Geist und Seele gleichwertig sind und gleichermaßen Unterstützung in ihren Schwächen und Anerkennung in ihren Stärken brauchen.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Im Anfang war der Rhythmus

Körperlichkeit und Erkenntnis: Intuition und Wissenschaft

Liebe und Liebeserklärung in zweifachem Sinn

Die Bedeutung des Rhythmus für unsere Liebesfähigkeit

Die Entwicklung des Körpers und die Rolle des Atemrhythmus

Die Begegnung mit anderen

Selbst, Ich und Persönlichkeit

Emotionen und Repräsentationen

Struktur und deren Wirken bei Raum und Zeit

Körper, Seele und Geist im alltäglichen Sprachgebrauch

Zum Verhältnis von Körper zu Seele und Geist

Körper und Mensch-Sein

Literaturverzeichnis

Vorwort

Diese Fortsetzung von „Dasein, um zu lieben“ (Kolb, 2017) stellt unsere Körperlichkeit in den Mittelpunkt der Betrachtung und klärt ihr Verhältnis zu Seele und Geist. Einerseits spiegelt unser Körper die Beziehung zwischen Seele und Geist, andererseits prägt der Umgang mit ihm, insbesondere, wenn wir missbraucht oder misshandelt worden sind, unsere Psyche (Neurose) und unseren Geist (Psychose). Wer mit anderen Menschen umgeht, sollte stets beachten, dass Körper, Geist und Seele gleichwertig sind und gleichermaßen Unterstützung in ihren Schwächen und Anerkennung in ihren Stärken brauchen.

Zuerst wird die Bedeutung von Rhythmus, Intuition und Liebe geklärt, sowie ihre Beziehungen untereinander. Die beiden hauptsächlichen Wahrnehmungsweisen unseres Körpers als Konstellation von Teilen und als lebendige Ganzheit werden als grob- und feinstofflich bezeichnet, und es wird die Rolle des Atemrhythmus beschrieben. Der Körper spiegelt die Art der Begegnung mit anderen wieder, die man den drei Körperregionen Gesicht, Becken und Brust zuordnen kann. Wenn Betroffenheit in Selbst-Betroffenheit übergeht, entwickelt sich das Selbst und das Ich, und die Repräsentationen, die wir uns von allem machen, bilden eine Art Hülle um uns, was uns erst zur Person macht. Diese Hülle kann Schutz oder Hindernis sein, und nur durch einen guten Umgang mit unseren Emotionen können wir verhindern, dass sie uns auf dem Weg zur vollkommenen Liebe behindert. Jede Struktur besitzt einen Aufforderungscharakter, und so wirken Raum und Zeit als Räumlichkeit und Zeitlichkeit, sowie die Rhythmik als Aufforderung zu leben, als Lebendigkeit. Zum Schluss werden Körper, Seele und Geist im alltäglichen Sprachgebrauch betrachtet sowie die Auswirkungen von deren Über- und Unterbewertungen, und es wird die Bedeutung unseres Mensch-Seins beleuchtet.

Beim Lesen des Titels samt Untertitel stellt sich als erstes die Frage: Was haben Rhythmus, Intuition und Liebe gemeinsam und was mit dem menschlichen Dasein und mit unserer Körperlichkeit zu tun? Bei Intuition und Liebe mag es noch einleuchtend sein, dass sie etwas miteinander und mit dem Menschsein zu tun haben, aber was ist mit Rhythmus? Aufgrund verschiedener Körperrhythmen (Atem und Puls) besteht zumindest eine engere Beziehung mit unserer Körperlichkeit und Lebendigkeit. Ferner gibt es im Griechischen die von Rhythmus abgeleitete poetische Form Rhysmôs, die auch Charakter bedeutet, wie jemand tickt, und insofern hat Rhythmus doch sehr viel mit dem menschlichen Dasein und somit auch mit Intuition und Liebe zu tun.

In den ersten Kapiteln habe ich den Begriff des Rhythmus, den der Intuition im Unterschied zum wissenschaftlichen Diskurs und den der Liebe näher erläutert und den Bezug dieser verschiedenen Begriffe zueinander geklärt. Ein Rhythmus ist eine Struktur, und für Strukturen gilt allgemein, je wichtiger für uns ihre Bedeutung ist, desto mehr zwingen sie uns zu einem bestimmten Vollzug und erhalten dadurch eine eigene Dynamik. Damit ist jede Art von Rhythmik grundlegend für alle Trance- und Hypnosephänomene. Insgesamt zeigt sich, dass die Rhythmik von Anfang bis Ende unseres Daseins allgegenwärtig ist. Ferner zeige ich auf, wie Intuition und Wissenschaft einander ergänzen können und so im Zwischenmenschlichen erforscht werden kann, was uns trennt und was uns vereint. Schließlich ergibt sich, dass meine Erklärung der Liebe gleichzeitig auch eine Liebeserklärung an uns alle ist. Was Rhythmus, Intuition und Liebesfähigkeit gemeinsam ist, ist ihre Eigenart, ekstatisch zu sein, d.h. uns aus uns selbst herauszubringen. Der Unterschied zwischen Intuition und Liebesfähigkeit ist derselbe wie zwischen Klugheit und Weisheit bei Aristoteles (Nikomachische Ethik). Entsprechend kann auch ein wissenschaftlicher Diskurs nur klug aber niemals weise sein.

Die Bedeutung des Rhythmus für unsere Liebesfähigkeit führt zu der Erkenntnis, dass der Doppelnatur des Rhythmus die Doppelnatur der vollkommenen Liebe entspricht. In der liebevollen Kombination bzw. im entsprechenden Rhythmus von Hingabe und Entschlossenheit, Begleitung und Leitung, sowie Gelassenheit und Mut zeigt sich jeweils diese Doppelnatur. Unser Selbst, welches wir nur aufgrund von Selbst-Betroffenheit erkennen können, ist in unserer Körperlichkeit verankert, ein Aspekt unseres Körpers, den ich feinstoffliche Struktur des Körpers genannt habe. Diese Struktur lässt sich durch unseren Atemrhythmus relativ gut charakterisieren. Bei der Begegnung mit anderen lassen sich drei Kontaktebenen identifizieren, die der Augen, die des Beckens und die der Brust. Nur auf der Ebene der Brust gibt es kein Machtgefälle, nur hier können Menschen sich frei und gleichberechtigt begegnen. In dem Kapitel über Selbst, Ich und Persönlichkeit habe ich noch einmal die Entwicklung des Kindes nachgezeichnet, wie sich auf den verschiedenen Entwicklungsebenen des Selbst seine Betroffenheit in Selbst-Betroffenheit umwandelt, sodass es selbst sein Selbst immer mehr entdeckt und schließlich auf der Kontaktebene der Brust als eigenständige Persönlichkeit anderen immer freier und gleichberechtigter begegnen kann und sich so auf dem Weg zur vollkommenen Liebe befindet. Der Zusammenhang von Emotionen und Repräsentationen zeigt sich insbesondere darin, dass wir dann bestimmte Selbst-Repräsentationen vergessen und uns dadurch von uns selbst abkehren, wenn wir bestimmte Emotionen verdrängen, und auf diese Weise kommen wir vom Weg zur vollkommenen Liebe ab.

Je wichtiger für uns die Bedeutung einer Struktur ist, desto stärker ist ihre Suggestivkraft bzw. Wirkung. Wenn wir die Entwicklung des Kindes betrachten, welche Strukturen es nach und nach dem Raum und der Zeit geben kann, dann entwickelt sich beim Raum mathematisch betrachtet erst eine Mengentheorie, danach ein dreidimensionaler Vektorraum und schließlich eine affine Geometrie, und bei der Zeit wird ein Zahlenverständnis erschlossen, welches bei den beiden natürlichen Zahlen 0 und 1 beginnt und bei den komplexen Zahlen endet. Schließlich zeigt sich als wirksame Struktur des Raumes bzw. als Räumlichkeit, also die Wirkung des Raums, wozu er uns auffordert, die Art der Entschlossenheit, sich einzulassen. Die Aufgabe, sich zu entschließen, stellt sich immer wieder und ist daher niemals vollständig lösbar außer in der Zeitlosigkeit der Utopie der vollkommenen Liebe, also in der Ewigkeit. Auch die wirksame Struktur der Zeit, die Zeitlichkeit, also die Wirkung der Zeit, wozu sie uns auffordert, nämlich, dass und wie wir uns entrücken lassen in die drei zeitlichen Ekstasen der Herkunft, Zukunft und Ankunft, stellt uns vor das prinzipiell nicht lösbare Problem, den wirklichen Zeitverlauf und uns selbst in ihm genau zu bestimmen. Wir können die Dauer unseres Daseins nur abschätzen und auch die Frage nach unserer Identität, wie ich im wirklichen Zeitverlauf derselbe sein kann, obwohl ich mich ständig ändere, nicht richtig beantworten. Auch dies gelingt nur in der Utopie der vollkommenen Liebe, wenn ich mich zu nichts mehr wirklich entschließe, nichts mehr festhalte, mich mit nichts mehr identifiziere und an nichts mehr hafte, also in der Raumlosigkeit des Nirwana. Raumlosigkeit und Zeitlosigkeit spannen dann die absolute Unendlichkeit bzw. das absolute Nichts auf.

Die letzten drei Kapitel beschäftigen sich zum einen mit der Körperlichkeit und dem Verhältnis von Körper, Seele und Geist zueinander, wie es sich in unserem sprachlichen Verständnis wiederspiegelt. Cavell führt hier Beispiele an, in denen meines Erachtens die Themen körperlicher Misshandlung und Missbrauch enthalten sind. Zum anderen geht es um das Problem des Mensch-Seins, dessen vollständige Bedeutung ich erst beim Erreichen des utopischen Ziels der vollkommenen Liebe erfassen würde. Auch wenn ich nicht vollkommen weiß, was Mensch-Sein bedeutet, kann ich doch so tun, als ob ich es wüsste, und von anderen und mir selbst anerkennen, dass wir Menschen sind, und das beinhaltet auch, dass ich mich selbst als Mensch zeige und gebe. Besonders schwer ist es, Menschen als solche anzuerkennen, die andere missbrauchen und misshandeln. Mit offenen Augen trotz aller Enttäuschungen sich immer mehr zu bemühen, das Menschliche echt und unmittelbar zu verstehen, ist der Weg zur vollkommenen Liebe.

1. Im Anfang war der Rhythmus

Bei der regelmäßigen Wiederkehr vieler alltäglicher Dinge wird eine meines Erachtens ganz wichtige Eigenart des Daseins deutlich, nämlich der Rhythmus als kontinuierliche Periodizität des Zeit- und Prozessablaufs – man spricht auch vom „Puls der Zeit“. Rhythmus ist eine räumlich-zeitliche, also prozesshafte Ausdrucks- und Wirkungsweise und damit eine Wahrnehmungsstruktur mit der besonderen Eigenart der Periodizität. Die drei Wahrnehmungsstrukturen Rhythmik, Zeit und Raum stehen in einem absolut dialektischen Verhältnis zueinander, d.h. zwei von ihnen vermitteln jeweils das dritte und dieses vermittelt zwischen den beiden anderen. Aus diesen Wahrnehmungsstrukturen ergeben sich die drei Daseinsstrukturen Zeitlichkeit, Räumlichkeit und Wirklichkeit (Kolb, 2017, S. 18) als Wirkungen bzw. Aufforderungen der Wahrnehmungsstrukturen bezüglich des Daseins. Vom Wort her bedeutet Rhythmus Gleichmaß und Fließen, also eine kontinuierlich und gleichmäßig ähnlich oder identisch wiederkehrende Gestalt (im Sinne von Ehrenfels (Weinhandl, 1960)), die ich Rhythmus-Gestalt nennen möchte. Eine Gestalt ist ein Ganzes, das mehr als die Summe seiner Einzelteile ist und über die Eigenschaft der Transponierbarkeit verfügt, wenn beispielsweise eine Melodie in eine andere Tonart transponiert wird. „Gestalt“ ist etwas, was das Dasein zuerst gemeinschaftlich, später manchmal auch allein entfalten, was aber von ihm in der Welt auch erst gemeinschaftlich oder allein entdeckt werden kann. Insofern ist eine eigene Rhythmik genauso wie eine eigene Wirkung beim Dasein im Verhältnis zu seiner Gemeinschaft wählbar, sobald sie als solche von ihm wahrgenommen wird, also interexistenzial, bei nichtdaseinsmäßig Seiendem aber nicht wählbar, also kategorial (ich verwende hier die Ausdrucksweise von Heidegger (Heidegger, 2006), der daseinsmäßig nur für Menschen verwendet).

Rhythmus ist eine kreative Form der Auslegung des Daseins, mit der es sich oder anderen etwas eindrücklich an- bzw. zueignet. Etymologisch wird Rhythmus meistens hergeleitet aus dem indogermanischen Wort „ri“, „die Zahl“, „der Verlauf“, woher auch die griechischen Wörter „arithmos“ für „Zahl“ und „rhein“ für „fließen“ oder im Englischen „River“ für „Fluss“ kommen, sowie das Wort „Ritual“ als Handeln nach einer vorgegebenen, sich ähnlich oder identisch wiederholenden Ordnung. Die poetische Form Rhysmôs von Rhythmus wird im Griechischen auch in der Bedeutung von Charakter verwendet. Im Deutschen sagen wir auch: „wie jemand tickt“. „Ticken“ kommt von „Takt“, und das wiederum von lateinisch „tangere“, „berühren“. Der Charakter eines anderen kann uns berühren, wodurch die interexistenziale Eigenart des Charakters eines daseinsmäßig Seienden sich deutlich zeigt. Typischerweise „entdeckt“ (ohne zu registrieren, dass es dabei entwirft und strukturiert bzw. konstruiert und gestaltet) das Dasein die Rhythmik, genauso wie Zeit und Raum oder Zeitlichkeit, Räumlichkeit und Wirklichkeit, zunächst und zumeist bei anderem innerweltlich begegnendem Seienden und erst danach auch an sich selbst, zum Beispiel zunächst den Tagesrhythmus Hell-Dunkel und dann erst den eigenen Wach-Schlaf-Rhythmus. Das Dasein kann seine Rhythmen teils selbst beeinflussen, teils wird es von ihnen beeinflusst. In seiner Existenz zeigen sich viele verschiedene Rhythmen: zum Beispiel Herzrhythmus, Atemrhythmus, Wach-Schlaf-Rhythmus und die sogenannten Bio-Rhythmen, die natürlicherweise vorgegeben und in der Regel nicht oder nur sehr schwer zu beeinflussen sind.

Die folgenden beiden Zitate mögen die Bedeutung des Rhythmus unterstreichen: „Der Rhythmus ist die Architektur des Seins, ist die innere Dynamik, die ihm Form gibt, ist das Wellensystem, welches das Sein Anderen entgegensendet, ist der eine Ausdruck der Lebenskraft.“ (Léopold Sédar Senghor, 1967) „Alle ganzzahligen Gesetze der Spektrallinien und der Atomistik fließen letzten Endes aus der Quantentheorie. Sie ist das geheimnisvolle Organon, auf dem die Natur die Spektralmusik spielt und nach dessen Rhythmus sie den Bau der Atome und der Kerne regelt.“ (Arnold Sommerfeld, 1978, Vorwort der 1. Auflage 1919)

Die Entfaltung der Wirksamkeit des Daseins folgt einer Periodizität und erzeugt so ein Wellensystem, welches das Dasein nicht nur anderen entgegensendet, wie Senghor sagt, sondern welches qua Reflexion (in doppeltem Sinne als Feedback von anderen und als „Nachdenken“ über sich selbst) auf das Dasein selbst zurückwirkt, sodass es aus dieser Periodizität einen Eindruck des Rhythmus seines Seins bekommt, wodurch es sich selbst immer besser in seinem Worumwillen befindlich verstehen kann. Hier zeigen sich als Daseinsstruktur die Wirklichkeit bzw. die Wirksamkeit des Rhythmus und dessen Aspekt des Psychisch-Motivationalen, denn was uns beeindruckt aufgrund seiner Wirksamkeit, motiviert bzw. bewegt uns auch entsprechend. Ein Rhythmus fordert uns auf, lebendig zu sein. Ferner ist die Selbsterkenntnis über die Wirklichkeit des Rhythmus eine Parallele zu Einsteins Sichtweise, dass das physikalische Gesamtfeld eines Gegenstandes diesen erzeugt.

Wenn ich alle möglichen Wirkungen von mir auf meine Umwelt erkannt habe, erkenne ich mich selbst. Rhythmik scheint ein besonderes Schema des Entwerfens des Daseins zu sein. Das Dasein hat wohl schon immer ein Vorverständnis davon, es erwartet, dass alles früher oder später in ähnlicher Form wiederkehrt, es hat die Tendenz, allem Seienden, das sich bewegt, einen ihm eigenen Rhythmus zu geben. Von manchen Rhythmen kann das Dasein so ergriffen sein, dass es ihm schwerfällt, einem solchen Rhythmus zu widerstehen bzw. sich ihm zu entziehen. Hieraus ergibt sich, dass Rhythmik etwas mit Ergriffenheit und Erwartung zu tun hat, also mit der so verstandenen Sorge, der Substanz des menschlichen Lebens (Heidegger, 2006). Mit Hilfe von Rhythmus und Reflexion als Rückwirkung bewegt sich das Dasein beliebig durch den Raum, die Zeit und das Wirken bzw. die Wirklichkeit, indem es sich aus seiner Herkunft durch Wieder-Holen früher Geschehenes, von dem es ergriffen worden war, zurückruft, durch Aufstellen von Erwartungen sich aus der Zukunft entgegenkommt und in seiner jeweiligen Situation derart angekommen (Ankunft) nach entsprechenden Handlungen oder Unterlassungen Auskunft darüber erhält, inwieweit seine Erwartungen erfüllt sind, d.h. inwieweit es Gegensätzlichkeiten oder Übereinstimmungen mit seinen Erwartungen gibt. Ergriffenheit, Erwartung und Gegensätzlichkeit bzw. Übereinstimmung sind ja die wesentlichen Aspekte unseres Daseins (Kolb, 2017, S. 18). Da Herkunft, Zukunft, Ankunft und Auskunft jeweils Ekstasen sind (Kolb, 2017, S. 55 ff.), ist der Rhythmus ekstatisch, er kann uns lebendig machen und so aus uns selbst herausholen.

Ein bestimmter Rhythmus gründet auf einer bestimmten Bezogenheit der Ereignisse, auf die hin das Dasein die entsprechende Rhythmus-Gestalt als Individuum entworfen hat, nachdem es im Modus des Genus diese Bezogenheit – unter Umständen auch mit anderen – affektiv begriffen hat, d.h. der Rhythmus gründet im befindlichen Verstehen des Daseins dieses begriffenen Zusammenhangs der Ereignisse, und er legt diesen Zusammenhang, die Bezogenheit, als Spezies in entsprechenden Handlungen ausdrücklich aus. Der hermeneutische Zirkel des Verstehens bzw. der zirkuläre Prozess, wenn das Dasein sich zuerst im Modus des Genus, im Modus des Individuums und schließlich der Spezies befindet und dabei jeweils die Aspekte Materie, Psyche und Geist berührt werden (Kolb, 2017, S. 279, Grafik), ergibt ebenfalls einen Rhythmus, und im Handlungsabschnitt seiner Periode bzw. seiner Rhythmus-Gestalt im Modus der Spezies, wird das kreative Potenzial jeglicher Rhythmik deutlich. Erst der Rhythmus eines Prozesses macht diesen Prozess vergleichbar und damit mitteilbar. Daraus ableitbar ist die Messbarkeit eines Prozesses, zum Beispiel indem man seine Periodenlänge bzw. -dauer mit denen anderer Prozesse vergleicht.

In der Messbarkeit zeigen sich der körperlich-materielle Aspekt des Rhythmus und damit seine Räumlichkeit. Durch den Rhythmus kann ein Prozess ausdrücklich ausgelegt und damit sich selbst angeeignet und anderen vermittelt werden.

Der jeweilige Rhythmus eines Prozesses gibt unter anderem dessen Zeit-Maß, sodass man auch verschiedene Abschnitte oder Teilprozesse anhand ihrer verschiedenen Rhythmen miteinander vergleichen kann. Hier zeigen sich die Zeitlichkeit des Rhythmus und der Aspekt des Geistig-Idealen, denn jeder Vergleich impliziert ein Ideal bzw. wirft früher oder später die Frage auf, was denn ideal wäre. Ganz wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass der Rhythmus das ursprünglichere Phänomen ist, von dem die Messbarkeit, also die Metrik, erst abgeleitet wird. Das Dasein entwirft mit dem Rhythmus eine Struktur, in der es verschiedene Phänomene einordnet und so Zusammenhänge befindlich verstehend gestaltet und auslegt. Diese Struktur ist sowohl zeitlich als auch räumlich und damit wirklich bzw. wirkungsvoll und weist eine Besonderheit auf, nämlich eine gewisse Periodizität, d.h. die Wiederkehr von ähnlichen Substrukturen. Diese Wiederkehr hat für das Dasein folgende Bedeutsamkeit: Kontinuität von Ähnlichem erzeugt eine Stimmung von Vertrautheit, sowie Gelassenheit und gibt dem Dasein Anhaltspunkte für sein weiteres Begreifen, Verstehen und Handeln. Affektives Begreifen, befindliches Verstehen und dessen erwartungsvollgefühlsbehaftete Umsetzung im Handeln sind nur dann möglich, wenn ein ausreichendes Maß dieser Kontinuität gegeben ist. Dies deckt sich auch mit der Tatsache, dass kleine Kinder für ihre Entwicklung möglichst viel Kontinuität brauchen, sowohl was die Umwelt, als auch was die sozialen Beziehungen betrifft. Daher entwirft das Dasein für alles, von dem es beeindruckt und ergriffen ist, einen Rhythmus. Solange der rhythmische Ausdruck mit dem zusammenpasst, wofür das Dasein ihn entworfen hat, wenn das Dasein also das, was es ausdrücken will, einigermaßen echt und unmittelbar verstanden hat, so lange ist das Dasein beruhigt, denn alles scheint seine Ordnung zu haben.

Der Rhythmus ist die Grundlage, auf der das Dasein als Individuum mathematische Modelle der Welt entwirft, er ist also die Basis des berechnenden und technischen Begreifens, welches sich allein auf die Wahrnehmung ohne die Affekte konzentriert. Hier zeigt sich die indogermanische Wurzel „ri“, Zahl, von Rhythmus. Die Doppelnatur des Rhythmus wird nun darin offenbar, dass er außerdem auch die Grundlage des affektiven Begreifens als Genus und des befindlichen Verstehens als Individuum ist. In der Kunst führt der Rhythmus im Modus der Spezies zum praktischen Verstehen und kunstfertigen Ausdruck des individuell geplanten Entwurfs und ist damit ein Modus von dessen Mitteilung.

Bei jedem Prozess, von dem das Dasein beeindruckt und ergriffen ist, erhofft oder befürchtet es eine Wiederholung, d.h. der Prozess wird von ihm als Rhythmus entworfen, und dieser Rhythmus rhythmisiert sich. In jeder ausdrücklichen Auslegung des Daseins von einem Prozess sind mindestens ein, meistens mehrere Rhythmen enthalten. Andererseits aber sind ein Prozess und ein Rhythmus nichts Seiendes, weder Subjekt noch Objekt. Um dies angemessen auszudrücken, hat Heidegger schon in „Sein und Zeit“ sogenannte Impersonalsätze geprägt, wie zum Beispiel: „Die Zeitlichkeit „ist“ überhaupt kein Seiendes. Sie ist nicht, sondern zeitigt sich.“ (Heidegger, 2006, S. 328). Entsprechend muss es bei mir heißen: ein Prozess ist nicht, er prozessiert sich. Neben den grundlegenden Daseinsstrukturen Zeitlichkeit, Räumlichkeit und Wirklichkeit gibt es noch die Wahrnehmungsstrukturen der Prozesshaftigkeit bzw. des Prozesses (Raum und Zeit) und die des Rhythmus.

Jede Struktur ist ein Aspekt, der nur teilweise eine Eigenschaft von einem Objekt oder einem Geschehen ist: Einerseits kennzeichnet sie die Beziehungen zwischen verschiedenen Teilen des Ganzen, andererseits beeinflusst sie die Beziehung zu anderen Objekten oder anderem Geschehen, beschreibt also die Beziehungsdynamik mit anderem. Damit hat jede Struktur eine Doppelnatur: Einerseits ist sie statisch, indem sie die „innere“ Organisation eines Objekts oder eines Geschehens betrifft, andererseits ist sie dynamisch, indem sie die Möglichkeiten der „äußeren“ Beziehungen mit anderem aufzeigt. Dadurch sind Strukturen immer bedeutungsvoll. Strukturen sind nicht, sie strukturieren sich, indem das Dasein affektiv wahrnimmt und begreift, befindlich versteht und plant und erwartungsvoll entscheidet und handelt, und so entsteht die Bedeutung der Struktur. Rhythmisches Geschehen bekommt allein dadurch schon eine Struktur, dass sich hier Ähnliches wiederholt. Damit ist jeder Rhythmus bedeutungsvoll, er löst bei uns Affekte, Empfindungen und Erwartungen aus.

Durch Rhythmik, z.B. das Atem-Zählen bei der Zen-Meditation, das Pendel des Hypnotiseurs und seine rhythmische Sprechweise oder die Trommelrhythmen eines Schamanen, kann das Dasein in eine impersonal-strukturell bestimmte Seinsweise der Trance oder Hypnose kommen und sagt dann zum Beispiel: „Es atmet mich, es durchpulst mich, o.ä.“ Wenn Nietzsche in „Die fröhliche Wissenschaft“, 2. Buch, „84. Vom Ursprung der Poesie“ (Nietzsche, 2000) sagt, „durch den Vers wurde man beinahe Gott. Ein solches Grundgefühl lässt sich nicht mehr völlig ausrotten – und noch jetzt [...] wird auch der Weiseste von uns gelegentlich zum Narren des Rhythmus, sei es auch nur darin, dass er einen Gedanken als wahrer empfindet, wenn er eine metrische Form hat und mit einem göttlichen Hopsasa daherkommt“, so spricht er damit das Trance-Phänomen der Suggestibilität an. Strukturen besitzen also eine suggestive Kraft, die Struktur der Buchstaben zwingt zum Lesen, das ist ein in der wichtigen Bedeutung von Buchstaben liegender suggestiver Vollzugszwang. In Gemeinschaften kann man dies auch als ein Resonanz-Phänomen bezeichnen. Jeder rhythmische Ausdruck des Daseins kann jemand anderen, der ihm begegnet, verändern und umgekehrt. Diese wechselseitige Beeinflussung ist aufgrund der Transponierbarkeit der jeweiligen Rhythmus-Gestalten sehr weitreichend, variationsreich und flexibel. Rhythmische Ausdrucksweisen wie auch Prozesse überlagern und beeinflussen sich wie zum Beispiel zwei Wellen, die ein Interferenzmuster bilden. Dabei kann der eine Rhythmus oder Prozess den anderen im Ausdruck verändern, manchmal scheinbar nur einseitig, im Grunde aber immer wechselseitig.

Wenn ein rhythmischer Ausdruck der Seinsweise des Daseins und der eines anderen Seienden (daseinsmäßig oder nicht) sich gegenseitig verändern und dabei stärken, dann nennen wir dies auch Resonanz. Wenn sich dagegen die beiden rhythmischen Ausdrucksweisen gegenseitig verändern und dabei schwächen, so bezeichnen wir dieses Phänomen als Dissonanz. Im Zustand der Trance oder Hypnose sind die Rhythmen des Daseins derart, dass sie mit wesentlich mehr Rhythmen resonant sind, als dies bei anderen Seinsweisen des Daseins der Fall ist. Je langsamer ein Rhythmus ist, desto mehr Rhythmen gibt es, die mit ihm resonant sind, und je schneller er ist, desto weniger resonante Rhythmen kann es geben. Aufgrund der Entspannung sind die Rhythmen des Daseins im Zustand der Trance oder Hypnose relativ langsam. Wenn das Dasein sehr aufgeregt ist, dann sind seine Rhythmen relativ schnell, sodass es für andere schwieriger ist, eine Resonanz mit ihm herzustellen. Je nachdem wie entschlossen das Dasein ist, kompensiert es Resonanz und Dissonanz durch entsprechenden Ausdruck und steuert so den Grad der Beeinflussung von sich und anderen.

Diese Prozesse sind vom Dasein zwar erschlossen, was sich in Redewendungen wiederspiegelt wie „auf einer Wellenlänge sein“ oder im Begriff der Stimmung oder Gestimmtheit, aber nicht unbedingt entdeckt und verstanden. In der Abkehr von ihm selbst konstruiert das Dasein abergläubische bis paranoide Erklärungen, wobei es sich damit in eine Opferposition begibt und nicht wahrhaben will, dass es für sich selbst die Verantwortung hat, derartiger Beeinflussung entgegenzusteuern. Wenn es dann in der Folge Feindbilder in seiner Weltlichkeit bzw. Gemeinschaftlichkeit entwirft und sich befindlich im Recht wähnt (Wahn!) „zurückzuschlagen“, geht es in die Täterposition und kehrt sich noch weiter von ihm selbst ab. Strukturen besitzen einerseits eine statische Eigenschaft, entwickeln aber andererseits, nachdem wir ihnen eine Bedeutung gegeben haben (was wir in verschiedenen Situationen auf verschiedene Weise tun), aufgrund der dadurch in ihnen liegenden suggestiven Kraft, die umso größer ist bis hin zum Vollzugszwang, je wichtiger ihre Bedeutung und/oder stärker ihre Verankerung im Gedächtnis ist, eine eigene Dynamik, und das ist ganz allgemein die Doppelnatur von Strukturen (s.o.).

So ist es nicht verwunderlich, dass der Begriff Rhythmus in der griechischen Philosophie eine Doppelnatur (Buchheim, 1994, S. 184 ff.) besitzt: Einerseits ist Rhythmus (zum Beispiel bei Demokrit) etwas Dynamisches, ein Fließen mit einem Anschwellen und Abklingen, das Verschmelzen und Eins-Werden, andererseits fasst Heidegger in der Tradition von Aristoteles und dessen Metaphysik Rhythmus als etwas Statisches auf wie das Skhêma als Fügung oder ein Sich-Fügen. Aristoteles hat den Rhythmus (Rhysmôs, die poetische Form von Rhythmus, die auch Charakter bedeutet), die zweiseitige, also interferierende Berührung (Diathigê) und die Wendung, den Drall oder den Effet (Tropê) der griechischen Atomisten (Leukipp und Demokrit) als das, worin sich Seiendes unterscheide, entsprechend umgedeutet in Form (Skhêma), Anordnung (Taxis) und Lage (Thesis). Rhysmôs meint bei den Atomisten den anschwellenden und wieder abklingenden Andrang oder Verlauf, der auf Seiendes eindringt (die o.e. Möglichkeiten der „äußeren“ Beziehungen), ein bestimmtes akzentuiertes und artikuliertes Drängen, während Heidegger und Aristoteles das Wort als Synonym für „ruhende Gestalt“ zu verwenden scheinen, die Bewegtes zusammenfügt und so Ruhe verleiht (die o.e. „innere“ Organisation eines Objektes oder Geschehens). In beiden Fällen wird übrigens neben dem zeitlichen Aspekt die Räumlichkeit von Rhysmôs herausgestellt: Drängen und Eindringen sind dynamische räumliche Begriffe, und Gestalt ist als begrenzter Raum auffassbar, der nach bestimmten Gesetzen gefüllt ist, also eine „innere“ Organisation, frei nach Jaucourt (Rhythme, in Diderot et d´Alembert, 1756, Seite 267, linke Kolumne): „[...] um etwas Substanzielles zu sagen, der Rhythmus ist nichts anderes als ein durch bestimmte Gesetze begrenzter Raum.“ (Naumann, 2005, S. 50) Bei Heidegger und Aristoteles ist die ruhende Gestalt aber als Schema und Form, als Idee bzw. Entwurf, was zeitlich erst noch umgesetzt werden muss, und nicht als etwas Räumliches gemeint, obwohl man Form auch als räumliche Idee auffassen kann.

Dieser Gegensatz zwischen Demokrit und Aristoteles erinnert mich an den Streit um das Wesen des Lichts in der Physik: Einerseits gibt es von Newton die sogenannte Korpuskeltheorie des Lichts, wonach Licht aus winzig kleinen körperlichen Elementen besteht, während die Wellentheorie des Lichtes davon ausgeht, dass Licht aus Wellen besteht. Die erste Theorie kann beim Doppelspaltexperiment von Young (1802) nicht die Bildung von Interferenzmustern erklären, was die Wellentheorie kann, und beim photoelektrischen Effekt (Licht erzeugt Elektronenemission unabhängig von der Frequenz aber abhängig von der Amplitudenstärke, also Leuchtkraft) versagt die Wellentheorie, wie Einstein 1905 nachwies, und legt nahe, dass das Licht einen Teilchencharakter besitzt (Einstein bezeichnete diese Teilchen als Lichtquanten oder Photonen). Indem Einstein Masse und Energie (Teilchen als Quanten von Energie) ins Verhältnis setzte, konnte er die Energie des Lichtes als Teilchen mit einer Masse interpretieren, sodass die Dynamik des Lichts zum Tragen kommt, während die Interferenzmuster des Wellenmodells des Lichts etwas Statisches an sich haben.

Der Begriff Energie hat insofern auch eine Doppelnatur, als er einerseits einen inneren Zusammenhalt (als Teilchen) betrifft, dessen Energie zum Beispiel bei einer Atomspaltung frei wird, als auch eine dynamische Wirkung auf die Umwelt. Energie hat somit etwas Vereinnahmendes und Eroberndes, indem sie mit der Zeit immer mehr Raum umfasst und organisiert. Energie kann stärken und erdrücken. Beim Rhythmus haben wir es in gewisser Weise mit Energie als pulsierendes Drängen und als wellenförmige Überlagerung zu tun, die auf einen umgrenzten Raum beschränkt ist. Die wellenförmige Überlagerung als in sich ruhende Fügung des Rhythmus ist das entschlossene Sich-Zurückbringen (Herkunft), Vorlaufen (Zukunft) und Im-Augenblick-Halten (Ankunft) der ekstatischen Zeitlichkeit, bei der Vor-Habe, Vor-Sicht und Vor-Griff aneinandergefügt werden, also ein umgrenzter Raum der Weltlichkeit angefüllt wird, während die pulsierende Dynamik der Ergriffenheit und der ausdrücklichen Auslegung und des Austauschs in der ekstatischen Auskunft (Kolb, 2017, S. 56) auf Seiendes in durchaus drängender Weise sich ausbreitend Eindruck machen kann.

Hier zeigt sich bei Heidegger das Fehlen des wichtigen Aspekts der Räumlichkeit, sodass sich ihm in der Fügung der ekstatischen Zeitlichkeit lediglich das Ruhende des Rhythmus zeigt, nicht aber seine dynamische Ausdrücklichkeit und Eindringlichkeit, die erst in der ekstatischen, sich räumlich ausbreitenden Auskunft hervortritt. Dadurch entfaltet der Rhythmus seine Wirkung, sodass wir alle drei grundlegenden Daseinsstrukturen, die Zeitlichkeit, die Räumlichkeit und die Wirklichkeit (Kolb, 2017, S. 18), hier gleichermaßen vorfinden.

Wenn bei Demokrit beim Rhythmus vom Anschwellen, Abklingen und Verschmelzen die Rede ist, so sehe ich darin einen Hinweis auf etwas Konflikthaftes, zumindest auf Gegensätze, die sich u.U. auflösen. Wenn etwas anschwillt, dann will sich etwas ausdehnen, wird aber durch etwas anderes davon abgehalten. Beim Anschwellen erhöhen sich entsprechend Spannung und Druck, im Abklingen werden sie geringer und verschwinden, wenn die gegensätzlichen Tendenzen miteinander verschmelzen. Das rhythmische Anschwellen und Abklingen hat aber noch einen weiteren Effekt: Es wird dabei etwas angesammelt, z.B. Sauerstoff beim Atmen, und etwas abgegeben, das CO2. Dadurch kann es Wachstum geben, oder es wird Energie in einen bestimmten Bereich hineingepumpt, die sich nach einer Weile, wenn genug zusammengekommen ist, entweder von selbst entlädt oder die gezielt für etwas eingesetzt werden kann, z.B. mehrmals tiefes Ein- und Ausatmen vor einer größeren Anstrengung oder vor dem Apnoe-Tauchen. In der gesammelten Energie einerseits und im Wachstum andererseits zeigt sich wieder die Doppelnatur des Rhythmus. Je größer das Wachstum ist und je mehr Energie wir ansammeln können bzw. angesammelt haben, desto vitaler sind wir. Rhythmus hat also viel mit Vitalität oder Lebendigkeit zu tun, abgesehen davon, dass wir an bestimmten Rhythmen wie dem Herzrhythmus erkennen können, ob jemand lebt oder tot ist.

Den Rahmen, in welchem der Sinn des Daseins verständlich wird, können wir Prozesshaftigkeit nennen, denn alle Daseinsprozesse lassen sich durch zirkuläre Abläufe beschreiben, wie in einer Grafik von „Dasein, um zu lieben“ (Kolb, 2017, S. 279) dargestellt. In der Prozesshaftigkeit werden räumlich-zeitliche Bewegung und Fügung in wirkliche Beziehung gesetzt und vereint, sodass sich der Gegensatz zwischen Demokrit und Leukipp einerseits und Aristoteles und Heidegger andererseits bezüglich des Rhythmus auflöst. Die Doppelnatur des Rhythmus vereint nicht nur diesen Gegensatz von Bewegung und Fügung, sondern mit dem Rhythmus hat sich das Dasein generell eine Möglichkeit geschaffen, Gegensätze und Extreme zu integrieren. Dabei findet keine Nivellierung oder Gleichschaltung statt, sondern das Dasein entwirft eine Einheit für die Vielheit, nämlich einen Rhythmus. Um Interessenkonflikte z.B. bei der Urlaubsplanung zu lösen, wird teilweise ein Rhythmus eingeführt, dass im einen Jahr die einen und im nächsten Jahr die anderen sich den Termin für ihren Jahresurlaub aussuchen dürfen.

Alles Seiende kann so in einem Prozess rhythmischer Überlagerungen, Übergänge oder Fügungen, deren Ineinander-Fließen nicht genau, aber ähnlich einer Periode sein muss, miteinander verbunden werden. Rhythmik wird so zur Freiheit eines nur vom affektiven Begreifen und befindlichen Verstehen der Zeit- und Raumfülle kontrollierten wirkungsvollen Spiels auf der Handlungsebene. Andererseits kann Rhythmik aber auch zu Unterdrückung, Zerstörung und Vernichtung führen, wenn einer der Gegensätze quasi überrollt wird (Soldaten im Gleichschritt zerstören eine Brücke, das Aktive vernichtet das Passive). Diese Wirkung kann aber nur zeitweise sein, denn früher oder später erzeugt der eine Gegensatz wieder den anderen, er muss ihm wieder Raum geben (um beweglich, schnell und aktiv eine Schlucht oder einen Fluss überqueren zu können, braucht man früher oder später eine statische und passive Brücke). In diesem Phänomen ist auch ein Rhythmus verborgen: Ungelöste Konflikte bzw. nicht überwundene Gegensätze tauchen immer wieder auf.

In der Physik gibt es theoretische Ansätze, in denen die Zeit als Raum aufgespannt wird, um eine Superposition verschiedener Möglichkeiten darstellen und erfassen zu können. Als entsprechende Zustandsgleichung wählt man dann eine Wellengleichung von der Art der Schrödinger-Gleichung aus der Quantenmechanik. Bei der Zeitlichkeit spannt auch Heidegger einen Raum auf, in welchem verschiedene Möglichkeiten des Seinkönnens des Daseins sich überlagern oder nebeneinandergestellt sind. An die Stelle einer Wellengleichung, um den jeweiligen Zustand des Daseins zu beschreiben, also welchen Ausdruck seines Seins das Dasein gerade gewählt hat, lässt sich dann die Rhythmik einführen.

Ich will nun versuchen aufzuzeigen, dass die Rhythmik am Anfang des menschlichen Lebens steht, also am Anfang der Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt. Zur Bewährung dieser existenzialen Interpretation der Rhythmik als Anfang des menschlichen Lebens1 möchte ich drei Bibelstellen heranziehen, in denen das Dasein die Rhythmik vorontologisch als Anfang der Schöpfung auslegt, was ich als paradigmatische Darstellung des Anfangs der Beziehung des Daseins zum Sein überhaupt verstehe (siehe Thomas Strässle (Naumann, 2005, S. 191 ff.)). Es sind dies die Eingangssätze zum Buch Genesis und zum Johannesevangelium: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ (Gen 1,1) und „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh. 1,1), sowie aus dem apokryphen Buch Weisheit Salomonis: „Aber Du hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet.“ (Weish 11,21). Dies bedeutet, dass im Anfang ein Gesetz in einem gesetzlosen Raum eingeführt wird, im Buch Genesis das Gesetz der Tat, im Johannesevangelium das Gesetz des Wortes, wodurch jeweils alles so geordnet ist, dass es einander nach Maß, Zahl und Gewicht ähnlich und vergleichbar ist, d.h. dass sich Ähnliches wiederholt. Somit erhalten wir den Satz: Im Anfang war der Rhythmus. Dies ist übrigens der Titel einer Komposition von Sofia Gubaidulina, die Thomas Strässle ab Seite 191 (ebenda) interpretiert. Die Tat schafft Gegensätze (Himmel und Erde), die auf diese Weise erschlossen sind und die vom Dasein dann begriffen und in der Rede (im Wort) gegliedert werden können. Damit kreiert die Tat die Materie, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie aus allem Vergleichbaren besteht, sodass Gegensätze und Übereinstimmungen erkannt werden können. Die schöpferische Tat erschließt die Welt, sie teilt und macht unteilbar, und in einem bestimmten Rhythmus erschafft und zerstört, gibt und nimmt sie so die Individualität, die Unteilbarkeit und Unverfügbarkeit des Daseins, sie gibt sie am Anfang und nimmt sie am Ende seiner Existenz. Das Erschlossene kann dabei vom unteil- und unverfügbaren Dasein im Rhythmus affektiv begriffen, befindlich verstanden und durch rhythmischen Ausdruck und Akzentuierung ausgelegt, sich selbst angeeignet und anderen mitgeteilt werden. Im Entwicklungsprozess des Daseins ist also die Rhythmik von Anfang bis Ende allgegenwärtig.

Bei den Emotionen habe ich zwischen allgemeinen Affekten verknüpft mit der momentanen Wahrnehmung im Modus des Genus als Objekt der Materie, individuellen Empfindungen verknüpft mit dem Begreifen der Herkunft der Selbst-Betroffenheit im Modus des Individuums als Objekt der Psyche und den spezifischen Gefühlen verknüpft mit dem erwartungsvollen befindlichen Verstehen der zukünftigen Möglichkeiten des Seinkönnens im Modus des Spezies als Objekt des Geistes unterschieden (Kolb, 2017, S. 25). Mithilfe des Rhythmus lässt sich nun die Intensität und Dauer von Emotionen beschreiben, wobei wir die länger dauernden Emotionen bei Affekten als Haltungen, bei Empfindungen als Einstellungen und bei Gefühlen als Stimmungen des Daseins bezeichnen, die alle Wahrnehmungen, Meinungen und Handlungen überlagern und mit ihnen interferieren (wie Wellen): Der alltagssprachliche Begriff Stimmung legt schon nahe, dass es sich um Schwingungen, also um Rhythmen handelt. Jeder Affekt, jede Empfindung und jedes Gefühl wird jeweils angestoßen durch bestimmte Wahrnehmungen, durch ein Begreifen einer bestimmten Selbst-Betroffenheit (Meinung) und durch das Verstehen einer bestimmten Möglichkeit des Seinkönnens. Nachdem die entsprechende Emotion angeregt worden ist, schwingt sie in einem gewissen Rhythmus nach und verlischt erst, wenn das damit zusammenhängende Problem oder die entsprechende Aufgabe befriedigend gelöst wurde, oder nach einer gewissen Zeit von selbst, wenn die betreffende Emotion nicht wieder hervorgerufen wird. Wiederholte Anregungen verlängern die Zeit des Verlöschens umso mehr, je kürzer die Abstände und/oder je häufiger die betreffende Emotion angestoßen wird. Je länger die rhythmische Dauer einer Emotion (Affekt, Empfindungen oder Gefühle), desto eher spricht man von einer Haltung, Einstellung oder Stimmung und insgesamt von einer Disposition, im Extremfall sogar von einer Grundhaltung, -einstellung oder -stimmung bzw. grundlegenden Disposition. Aufgrund wiederholter Anregungen kann eine Desensibilisierung stattfinden, sodass Dispositionen vom Erregungsniveau nicht so ausgeprägt sind wie Emotionen. Beruht die Disposition auf einem Affekt, so hat das Dasein als psychisches Subjekt entweder den Affekt selbst begriffen oder aber affektiv ergreifend verstanden, dass es, warum auch immer, durch bestimmte Wahrnehmungen immer wieder derart affiziert wird, wenn die Disposition sich aus einer Empfindung entwickelt hat, dann beruht das Ganze auf einer entsprechend langanhaltenden Empfindung, die durch keine Handlung und kein Geschehen verändert werden konnte, und wenn die Disposition sich aus einem Gefühl entwickelt hat, dann beruht das Ganze auf einer entsprechend langanhaltenden Täuschung oder Übereinstimmung und Enttäuschung bzw. Erfüllung, die durch keine Überlegung und Planung verändert werden konnte oder die man nicht verändern wollte (vor allem bei positiven Gefühlen). Insgesamt kann man eine Disposition daher als eine chronifizierte Emotion bezeichnen.

Da das Dasein sich immer in irgendeiner Disposition mit einem entsprechenden Rhythmus befindet, wird hieraus noch einmal ersichtlich, dass Rhythmik von Anfang bis Ende unseres Daseins allgegenwärtig ist.

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