Liebe, Macht und Sexualität - Hans-Peter Kolb - E-Book

Liebe, Macht und Sexualität E-Book

Hans-Peter Kolb

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Beschreibung

Beginnend mit einer Rekapitulation meiner Daseinsanalyse wende ich mich den Themen Macht und Sexualität zu, die ich mithilfe der Unterscheidung weiblich-männlich analysiere. Indem ich die philosophischen Themen der Willensfreiheit, des Leib-Seele-Problems und der Bewusstseinsproblematik mit den drei Problemen des gesellschaftlichen Zerfalls, der Sterblichkeit und der Einsamkeit verknüpfe, gelange ich zu einer Ethik der Liebe mit entsprechenden Konsequenzen für die Praxis von Macht und Sexualität, sodass wir zwar nicht immer glücklich sein, aber am Ende auf ein geglücktes Leben zurückblicken können.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Entwicklung einer Orthosprache der Daseinsanalyse

Die kindliche Entwicklung:

2.1. Das physische Selbst

2.2. Das soziale Selbst

2.3. Das teleologische Selbst

2.4. Das intentionale Selbst

2.5. Das repräsentationale Selbst (1)

2.6. Einschub: Verdrängung

2.7. Das repräsentationale Selbst (2)

2.8. Einschub: Erscheinungswelten

2.9. Einschub: Sprechen und Denken

2.10. Das geschlechtliche Selbst

Weibliche und männliche Ausübung der Macht

Sexualität vom männlichen Standpunkt aus betrachtet

Sexualität vom weiblichen Standpunkt aus betrachtet

Das Problem des freien Willens

Das Leib-Seele-Problem

Das Problem mit dem Bewusstsein

Die Existenz des Selbst

Ethische Konsequenzen für Macht und Sexualität

Vom Unglücklich-Sein zu einem geglückten Leben

Nachwort

Abbildungen und Tabellen

Literaturverzeichnis

Vorwort

Beginnend mit einer Rekapitulation meiner Daseinsanalyse wende ich mich den Themen Macht und Sexualität zu, die ich mithilfe der Unterscheidung weiblich-männlich analysiere. Indem ich die philosophischen Themen der Willensfreiheit, des Leib-Seele-Problems und der Bewusstseinsproblematik mit den drei Problemen des gesellschaftlichen Zerfalls, der Sterblichkeit und der Einsamkeit verknüpfe, gelange ich zu einer Ethik der Liebe mit entsprechenden Konsequenzen für die Praxis von Macht und Sexualität, sodass wir zwar nicht immer glücklich sein, aber am Ende auf ein geglücktes Leben zurückblicken können.

Bei der Darstellung der Wissenschaftlichkeit meiner interexistenzialen Daseinsanalyse aus „Dasein, um zu lieben“ (Kolb, 2018a (überarbeitete Fassung)) habe ich die Erfüllung bestimmter Kriterien der Wissenschaftlichkeit aufgezeigt und die wichtigsten Begriffe und Theorien meiner Daseinsanalyse reformuliert, soweit es mir für deren Wissenschaftlichkeit nötig erschien. Bei der Beschreibung der Entwicklung des menschlichen Daseins verbinde ich die fünf Entwicklungsebenen der englischen Psychoanalytiker Fonagy et al. mit der aristotelischen Theorie der fünf dianoietischen Tugenden, mit den fünf Gegensätzlichkeiten im Umgang mit der Realität aus einem Artikel von Nishida, einem der beiden Gründer der Kyôto-Schule in Japan, und mit dem Gebrauch der fünf Sinne in alltagssprachlichen Redewendungen. Dabei veranschaulichen der anhand der Gedächtnisbildung entwickelte Kreis des klugen Handelns und der umgekehrte Kreis des verantwortlich-reflektierten Handelns einen prinzipiellen Unterschied zwischen Mensch und Tier und erklären die verschiedenen Verdrängungsmechanismen bei Menschen, sowie das Phänomen, dass diese unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden können, Tiere aber nie.

Ausgehend von der Entwicklung des Daseins, bei dem sich in der Pubertät ein männliches und ein weibliches Daseinsprinzip herauskristallisiert, geht es mir dann um das Thema der Machtausübung mit den beiden entsprechenden Formen weiblich und männlich und darum, wie in einer Gemeinschaft Entscheidungen getroffen werden, wenn entweder das männliche oder das weibliche Prinzip der Machtausübung vorherrschen. In der Anwendung auf den Einzelnen wird das Problem der Akrasia (Unbeherrschtheit, Machtlosigkeit über sich selbst) genauer beleuchtet. Schließlich betrachte ich spezifische Beispiele männlicher und weiblicher Machtausübung beim Strafen, beim Militär und bei der Erziehung. Beide Formen der Machtausübung prägen insbesondere die sexuelle Praxis, so dass man von einer weiblichen und einer männlichen Sexualität jeweils im Sinne eines Umgangs mit sexuellen Bedürfnissen sprechen kann.

In einer Gemeinschaft mischen sich jeweils beide Formen der Praxis von Macht und Sexualität, wobei meist eine der beiden Praxisformen, die männliche oder die weibliche, dominiert, in Athen zur Zeit von Platon und Aristoteles z.B. die männliche, aber mit der Tendenz zur weiblichen Machtausübung und Sexualität, im Urchristentum der ersten 2-3 Jahrhunderte die weibliche, was allerdings ausschließlich für die Familie galt, während sich nach dem Konzil von Nicäa in der klerikalen Führung die männliche Art der Machtausübung so stark etablierte, dass man meiner Meinung nach hier von einem Sündenfall reden kann, weil in der Folge Menschen aus religiös-ideologischen Gründen von Menschen aus derselben Gemeinschaft, die sich als „Brüder und Schwestern im Herrn“ verstanden, getötet wurden wie Abel von Kain, beide ebenfalls Brüder.

Die folgenden vier Kapitel behandeln (1) das Problem der Willensfreiheit, nicht nur als philosophisches, sondern auch als soziales Problem, verknüpft mit dem Problem des Umgangs mit aggressiven Emotionen, (2) das Leib-Seele-Problem, auch als individuelles Problem der Sterblichkeit und dem des Umgangs mit Emotionen von Angst und Furcht, (3) das Problem des Bewusstseins und (4) das der Existenz des Selbst, beides, (3) und (4) zusammen, auch als spezifisches Problem der Einsamkeit und dem des Umgangs mit Emotionen von Schmerz, Leid und Trauer. Meine methodische Herangehensweise an diese vier Probleme zeichnet sich dadurch aus, dass ich nicht von Einzelheiten ausgehe, deren Konstellationen analysiere, um dann das Ganze zu erklären und womöglich noch zu rekonstruieren, wie es das Ziel und die Vorgehensweise in den Naturwissenschaften ist, sondern dass ich das Gesamtphänomen des menschlichen Daseins betrachte, von da aus die einzelnen Phänomene analysiere und verschiedene spezifische Zusammenhänge aufzeige. Gegenüber bestimmten als materialistisch zu bezeichnenden Positionen wird die Behauptung, der Mensch sei eine Maschine, widerlegt und die Existenz des Selbst als Phänomen verteidigt, welches dem menschlichen Dasein erst Grund und Sinn gibt, und analog, dass der Natur als Phänomen ebenfalls etwas wesentlich zu Grunde liegt und ihr Sinn gibt, nämlich eine Höhere Macht bzw. Gott. Die Lösung der oben aufgeführten drei emotionalen Problemkomplexe führt dann zu meiner Definition von Spiritualität und meiner Interpretation der christlichen Dreieinigkeit.

In den beiden abschließenden Kapiteln werden die Grundzüge einer Ethik und Wege in ein geglücktes Leben entworfen, die einen entsprechenden Umgang mit den zuletzt genannten Problembereichen empfehlen, woraus sich dann auch entsprechende Konsequenzen für die Machtausübung und den Umgang mit sexuellen Bedürfnissen ergeben. Der letzte Abschnitt des Kapitels über die Ethik umreißt und begründet noch einmal die drei wichtigsten Bedingungen für eine Ethik, in der Liebe, Macht und Sexualität weise und menschlich verbunden sind, und im vorletzten Abschnitt des Kapitels über ein geglücktes Leben werden die diesen drei Bedingungen entsprechenden notwendigen und hinreichenden Voraussetzungen genannt, um immer mehr aus dem Unglücklich-Sein herauszukommen.

In einem Nachwort konnte ich dann aufzeigen, wie im Leben von Etty Hillesum eine ethische Praxis und ein entsprechend geglücktes Leben verwirklicht wurden, was diesen drei Bedingungen genügte bzw. wobei diese Voraussetzungen erfüllt wurden und, was Etty Hillesum durch die Liebe eines anderen, nämlich Julius Spier, vermittelt wurde, so dass sie mit Macht und Sexualität immer liebevoller und damit immer menschlicher und weiser umgehen konnte. Liebe kann eben nur durch Liebe vermittelt werden.

Die Abbildungen und Tabellen am Ende veranschaulichen die wichtigsten Zusammenhänge meiner Daseinsanalyse, sodass die vorangegangenen Inhalte in ihrer Komplexität besser erfasst werden können.

1. Entwicklung einer Orthosprache der Daseinsanalyse

Den Begriff Orthosprache habe ich dem Buch von Dirk Hartmann entnommen (Hartmann, 1998, S. 14). Es geht dabei um die Rekonstruktion von Begriffen und Ausdrücken, die in der Alltagssprache nicht so klar und eindeutig verwendet werden, um einem produktiven wissenschaftlichen Diskurs zu genügen. Die Alltagssprache wird in allen Bereichen des menschlichen Lebens verwendet, sodass ihre Begriffe und Ausdrücke oft ganz verschieden gebraucht werden. Der freie Raum in der Mitte der Wendel eines Korkenziehers wird beispielsweise Seele genannt, was aber kaum etwas mit demselben Begriff zu tun hat, wie er in der Philosophie oder der Psychologie verwendet wird. Es kommt also auf den Bereich an, in dem wir eine Sprache verwenden, und auf die Ziele, die wir dort verfolgen.

Für mich und bei meiner Daseinsanalyse geht es darum, was Lieben ist, wie sich das menschliche Dasein immer mehr der vollkommenen Liebe nähern kann und wie wir unsere Liebesfähigkeit immer vollkommener machen können (Kolb, 2018a (überarbeitete Fassung)). In „Dasein, um zu lieben“ habe ich als Grundfrage der Philosophie die Seinsfrage von Heidegger (Heidegger, 2006, S. 2 ff.) oder die von Rentsch umformulierte Grundfrage »Wie ist eine menschliche Welt überhaupt möglich?« (Rentsch, 1999, S. 61) entsprechend gefasst als »Was ist Lieben?« (Kolb, 2018a (überarbeitete Fassung), S. 274). Was ich mit dem Begriff der vollkommenen Liebe meine, habe ich dort dargestellt (ebenda, S. 30 f.) als das Ideal, wenn alle Täuschungen vollkommen überwunden sind. Als Individuum würden wir dann echt und unmittelbar unsere jeweilige Ergriffenheit, das Worumwillen unseres Daseins verstehen, hätten also ein vollkommenes und ganzheitliches Selbstverständnis, als Spezies (handelnde Subjekte) wären wir absolut autonom und effektiv, wobei jede Tat kategorisch im Sinne von Kant bzw. absichtslos (Tun im Sein) im Sinne des Taoismus wäre, und als Genus (Gemeinschaftswesen) würde vollkommene Harmonie mit uns selbst und mit anderen herrschen, es bestünde eine absolute Gleichheit mit allen anderen und die absolute Freiheit jedes einzelnen, sodass die kommunikative Solidarität (Brüderlichkeit) vollkommen wäre (ebenda).

Wie wir uns diesem wenn auch utopischen Ziel bzw. seinen spezifizierten Momenten (Selbstverständnis, Autonomie und Solidarität), deren einzelne allmähliche Verwirklichung sich jeweils entsprechend positiv auf die Verwirklichung aller anderen Momente und damit auf die der vollkommenen Liebe auswirkt, immer mehr nähern können, ist daher die Formulierung des erkenntnisleitenden Interesses meiner Daseinsanalyse, und als entsprechende Unterdisziplinen lassen sich anhand der drei Momente jeweils eine Daseinsanalyse des Individuums, der Spezies und des Genus begründen. Hier gibt es entsprechende Überschneidungen mit den Wissenschaften der Philosophie, Psychologie, Soziologie, Politologie, Medizin und Neurobiologie, wie in „Dasein, um zu lieben“ (Kolb, 2018a (überarbeitete Fassung)) und „Rhythmus, Intuition und Liebe“ (Kolb, 2018b (überarbeitete Fassung)) zum großen Teil schon ausgeführt, sodass sich die in diesen Wissenschaften schon etablierten Forschungsmethoden auch für die Daseinsanalyse rechtfertigen lassen. Da die Daseinsanalyse sämtliche Aspekte des menschlichen Daseins sowohl im Einzelnen als auch im Zusammenhang analysieren will, kann man sie von der Systematik her sowohl als Geistes- als auch als Naturwissenschaft bezeichnen. Damit diese Daseinsanalyse die Anforderungen an eine exakte Wissenschaft (Hartmann, 1998, S. 19) erfüllen kann, gilt es noch, eine adäquate rationale Rekonstruktion ihrer Grundbegriffe und der bisher schon entwickelten Theorien zu leisten, d.h. es geht um die Entwicklung einer Orthosprache für die menschliche Daseinsanalyse.

So wie ich die Konstruktion bzw. die Rekonstruktion anhand einer Orthosprache verstehe, geht es darum, durch eine Bündelung von Begriffen und Ausdrücken der Alltagssprache deren Verwendungsweise etwas schärfer zu bestimmen, damit möglichst für jeden klar ist, was ich meine. Dies kann aus zwei Gründen nur näherungsweise gelingen, sodass eine ideale Orthosprache immer eine Utopie bleiben wird. Zum einen können wir die Realität niemals vollkommen genau und vollständig erfassen, zum anderen können wir selbst das, was wir näherungsweise erfassen, niemals vollkommen exakt sprachlich abbilden. Als Beispiel für eine derartige Bündelung möchte ich die Begriffe »Leben« und »lebendig« anführen. Lebendig soll alles das heißen, was eine Beziehung zu sich selbst und zu seiner Umwelt hat, und diese Beziehung soll sein Leben genannt werden. Hier werden diese Begriffe mit dem Ausdruck »eine Beziehung zu sich selbst und zu seiner Umwelt« gebündelt.

Eine weitere Strategie der Rekonstruktion der Alltagssprache, um eine Orthosprache zu bekommen, ist die Bildung einer Hierarchie, bei der man von allgemeineren und somit grundlegenderen Begriffen und Ausdrücken ausgeht, die in der Alltagssprache in möglichst vielen Bereichen einheitlich verwendet werden, um dann davon ausgehend weitere Begriffe und Ausdrücke zu definieren. In dem Beispiel ist »eine Beziehung zu sich selbst« und »eine Beziehung zu seiner Umwelt« hierarchisch betrachtet grundlegender bzw. allgemeiner als die spezifischeren Begriffe »Leben« und »lebendig«. Man könnte diesen grundlegenderen Ausdruck in seiner Bedeutung etwa so beschreiben, dass etwas dann eine Beziehung zu sich selbst und zu seiner Umwelt habe, wenn es mit seiner Umgebung derart in Wechselwirkungen tritt, dass es dabei in ähnlicher Weise weiter existiert, d.h. dass es in ähnlicher Weise erhalten bleibt, u.U. auch als Abkömmlinge. Wenn man davon ausgeht, dass das Sein von allem immer auch ein in seiner Umgebung Sein ist, ist jede Beziehung zu sich selbst und zu seiner Umwelt eine Beziehung zu seinem Sein, sodass man abkürzend sagen kann, lebendig ist alles, was eine Beziehung zu seinem Sein hat.

Wenn etwas als lebendig von Nichtlebendigem unterschieden worden ist, dann sollen alle seine Bewegungen als Regungen bezeichnet werden. Wählbare Regungen bezeichne ich als Aktivitäten, alle anderen als Verhalten. Der Ausdruck »Es regt sich« ist dann äquivalent mit dem Ausdruck »Es ist lebendig«. Damit, dass Lebendiges eine Beziehung zu seinem Sein hat, ist allerdings nicht ausgesagt, dass es allem Lebendigen auch um sein Sein geht (Heidegger behält dies ausschließlich für unser menschliches Dasein vor (Heidegger, 2006)). Wenn wir davon ausgehen, dass die Begriffe »Umgebung«, »in Wechselwirkungen treten«, »in ähnlicher Weise«, »existieren«, »Sein« und »erhalten bleiben« in der Alltagssprache hinreichend einheitlich gebraucht werden, können wir mit unserer Rekonstruktion zufrieden sein. Wir können natürlich diesen Prozess der Rekonstruktion unendlich weiterführen, denn eine vollkommene Begriffsklärung wird aus den beiden oben genannten Gründen nie erreichbar sein.

Eine besondere Form der Begriffsbestimmung ist die rekursive, wenn man z.B. den Begriff »Mensch« folgendermaßen definiert (Kolb, 2018a (überarbeitete Fassung), S. 14, dort etwas ausführlicher): Irgendwann einmal stand fest, wer ein Mensch war und wer nicht, und seitdem sind alle diejenigen Menschen, die Menschen als Vorfahren haben. Der bei dem Begriff der Lebendigkeit verwendete Ausdruck des Seins muss als Entwicklung in Raum und Zeit verstanden werden, sodass darin eine Rekursivität enthalten ist. Wenn man Lebendigkeit und »eine Beziehung zu seinem Sein« genau bestimmen will, muss man eine rekursive Abgrenzung hinzunehmen. Wenn man von der Evolution aller Lebewesen ausgeht, muss man fordern, nur das lebendig zu nennen, was von Lebewesen abstammt. Da Lebewesen mit ihrer Umgebung derart in Wechselwirkungen treten, dass sie bzw. ihr Sein dabei jeweils in ähnlicher Weise erhalten bleibt, können wir durch die Bündelung beider Definitionen noch mehr Klarheit erreichen, wobei in dieser Bündelung die Evolutionstheorie implizit enthalten ist. Prinzipiell steckt in jeder rekursiven Begriffsbestimmung eine Entwicklungs- oder Abstammungstheorie. Da wir es bei Lebewesen immer mit verschiedenen Entwicklungen zu tun haben, denn keines bleibt auf Dauer unverändert, muss jede Wissenschaft, die sich mit Lebewesen beschäftigt, bestimmte Annahmen über deren Entwicklung als Einzelne, als Spezies und als Gesamtheit zu Grunde legen. In der heutigen Wissenschaft der Psychologie haben sich an dieser Stelle verschiedene Lerntheorien etabliert. Man unterscheidet normalerweise die Lernformen Habituation, Prägung, klassische Konditionierung, operante Konditionierung und Modellernen (Hartmann, 1998, S. 53 ff.).

Weil diese Art des Lernens ursprünglich an Tieren erforscht wurde, halte ich diese Entwicklungstheorien für das menschliche Dasein nicht für ausreichend, obwohl viele Forschungsergebnisse, die dadurch gewonnen wurden, durchaus nutzbringend für uns Menschen angewandt werden können. Diese tierischen Lernformen kann man weitgehend auch als implizite Lernformen bezeichnen im Unterschied zu expliziten, bei denen der Lernende explizit alle seine Bewegungen mit anderen Bewegungen vergleicht, seien es eigene Bewegungen oder solche von anderen. Wie ich im 8. Kapitel ausführen werde, ist Bewusstsein ein Zustand ständigen Vergleichen-Könnens, so dass man explizites Lernen auch bewusstes Lernen nennen kann. Explizites Lernen findet bei Tieren in deutlich geringerem Maße als bei Menschen statt. Insbesondere gibt es keinen Austausch, kein gemeinschaftliches bzw. kommunikatives Lernen oder Unterricht mit Lehrenden, die etwas vermitteln wollen, und Lernenden, die etwas vermittelt bekommen wollen, jedes Tier lernt nur für sich, ob explizit bzw. bewusst oder implizit.

Meiner Meinung nach sollte zur Fundierung der von mir vorgestellten Daseinsanalyse (Kolb, 2018a (überarbeitete Fassung)) die Entwicklung des Menschen von Geburt an betrachtet werden, und dazu habe ich mich an einem Buch von Fonagy et al. (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008) orientiert. Ausgehend von der Beobachtung, dass schon sehr kleine Kinder praktisch von Geburt an ein großes Interesse an sozialem Spiegeln zeigen, also daran, wenn andere irgendwelche Regungen des Kindes kontingent nachahmen, nehmen die Verfasser dieses Buches an, dass ein Kind praktisch von Anfang an eine Kontingenzentdeckungsfähigkeit mitbringt. Im Laufe seiner Entwicklung bezieht ein Kind dann immer mehr auf sich, sodass sich diese Fähigkeit immer weiterentwickelt. Eine gewisse Eigenständigkeit bzw. ein Bewusstsein seiner selbst lässt sich schon nach drei Monaten feststellen, Eigenes und Fremdes wird unterschieden und das Fremde wird immer interessanter, was daran erkennbar wird, „dass bei einem normalen menschlichen Säugling nach etwa drei Lebensmonaten der Kontingenzentdeckungsmechanismus auf ein anderes Zielsetting »umgeschaltet« wird, so dass er fortan nach hohen, aber unvollkommenen [statt perfekten] Kontingenzgraden sucht.“ (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008, S. 195) Wie sich das Lernen eines Kindes in der Regel weiterentwickelt bzw. welche Lernformen jeweils erkennbar werden, soll weiter unten dargestellt werden, wenn ich mich auf die fünf Entwicklungsebenen des Selbst nach Fonagy et al. beziehe. Dabei will ich mich von dem Interesse leiten lassen, wie man sich immer mehr dem utopischen Ziel der vollkommenen Liebe annähern oder seine Liebesfähigkeit immer mehr vervollkommnen kann bzw. wie man immer mehr ein ganzheitliches Selbstverständnis für sich selbst bekommt, immer mehr Autonomie und Effektivität im Umgang mit seiner Umwelt und immer mehr kommunikative Solidarität mit immer mehr anderen Menschen.

Wie ich in „Dasein, um zu lieben“ bereits zeigen konnte, ist dies gleichbedeutend damit, dass man sich immer wieder entschlossen bemüht um eine möglichst echte und unmittelbare Auskunft über die Herkunft der augenblicklichen Situation, über die Zukunft, was bei den Möglichkeiten des Seinkönnens in der augenblicklichen Situation auf einen zukommen bzw. wohin man kommen kann, und über die Ankunft, bei was man in der augenblicklichen Situation bzw. welche Situation gerade angekommen ist (Kolb, 2018a (überarbeitete Fassung), S. 64). Eine Situation, in der etwas Lebendiges sich in einem bestimmten Moment befindet, ist ein raumzeitlich bezüglich eines Zieles begriffener Zusammenhang, in dem dieses Lebewesen innerhalb bestimmter räumlicher und zeitlicher Grenzen bzw. Horizonte materielle Gegensätze unterscheiden bzw. wahrnehmen, Aussichten beurteilen (was auf es zukommen kann) und praktische Zusammenhänge sowohl induktiv als auch deduktiv als auch conduktiv schlussfolgernd sich erschließen kann, wo etwas im Allgemeinen herkommt, wo etwas im Speziellen hinführen bzw. was speziell auf einen zukommen kann und womit man im Einzelnen gerade zusammengekommen ist.

Je mehr man sich der vollkommenen Liebe annähert, desto unwichtiger wird die eigene frühere Existenz, es entsteht immer mehr die Bereitschaft, seine zukünftige Existenz hinzugeben und die momentane dankbar anzunehmen (ebenda). Diese zugegebenermaßen noch recht abstrakten und philosophischen Formulierungen, Ausdrücke und Begriffe, die in „Dasein, um zu lieben“ zwar schon klar umrissen sind, sollen anhand der Betrachtung der kindlichen Entwicklung anschaulicher und noch deutlicher gefasst werden.

Da jede Wissenschaft ein erkenntnisleitendes Interesse hat, will sie etwas bewirken, d.h. ihre Begriffe und Ausdrücke müssen sich auf Unterschiede beziehen, sodass man in dem für die betreffende Wissenschaft interessanten Bereich Unterscheidungen treffen kann. In diesem Sinne geht es jeder Wissenschaft um die Wirklichkeit, nämlich um Unterschiede von Wirkungen. Dass wir überhaupt unterscheiden können, dass wir nach der Definition von Hartmann (Hartmann, 1998, S. 82) überhaupt wahrnehmen können, habe ich als den körperlichmateriellen Aspekt unseres Daseins bzw. als die Materie bezeichnet (Kolb, 2018a (überarbeitete Fassung), S. 17). Von daher ist von allen Begriffen und Ausdrücken zu fordern, dass wir damit etwas Unterscheidbares bezeichnen. Wir müssen nur entscheiden können, ob der betreffende Begriff bei einer bestimmten Wahrnehmung uns hilft, Unterscheidungen zu treffen, oder nicht. Wir müssen dazu sonst nichts weiter darüber wissen oder in besonderer Weise mit dem umgehen können, was wir wahrnehmen bzw. unterscheiden. Dieses methodische Kriterium der Unterscheidbarkeit kann man als materielle Verankerung bezeichnen.

Wahrnehmung ist ein grundlegender materieller Begriff. Wenn wir etwas wahrnehmen, also etwas von etwas anderem unterscheiden, dann ist dies immer mit einer Regung bzw. Erregung verbunden. Regungen sind, wie oben bereits ausgeführt, Bewegungen von Lebewesen. Wenn sich bei uns etwas regt, dann kann man sagen, es macht uns an, es ist ein Affekt (von lat. afficere, anmachen). Eine Wahrnehmung ist also immer mit einem Affekt verbunden, macht uns an bzw. erregt uns und versetzt uns dadurch in einen anderen Zustand. Der Affekt bzw. die Erregung kann uns sogar in einen deutlich anderen Zustand bringen, z.B. vom Schlaf- in den Wachzustand.

Wenn wir bei uns irgendeine Zustandsänderung wahrnehmen, nehmen wir etwas von uns wahr, finden etwas von uns und empfinden. Der Affekt bzw. die Regung wird bei dieser Art der Wahrnehmung zur Empfindung. Neurobiologisch betrachtet wird der Affekt der Sinneserregung oder der vegetativen Erregung aufgrund eines weiteren Verarbeitungsschrittes in unserem Gehirn (genauer in den subkortikalen Schichten in Verbindung mit kortikalen Bereichen unseres Gehirns) zur Sinnesempfindung oder vegetativen Empfindung. Die Erregung des Affekts wird zur Betroffenheit bzw. zur Ergriffenheit, wir unterscheiden verschiedene Regungen bei uns selbst, nehmen etwas an oder bei uns selbst wahr und werden dadurch bewegt bzw. in irgendeiner Weise motiviert (von lat. movere, bewegen), wie ich es nennen möchte. Dass wir überhaupt motiviert werden können, habe ich den psychisch-motivationalen Aspekt unseres Daseins bzw. die Psyche oder die Seele genannt (Kolb, 2018a (überarbeitete Fassung), S. 18). Empfindung, Betroffenheit und Ergriffenheit sind also grundlegende psychische Begriffe.

Da sich das menschliche Dasein niemals allein entwickelt, können wir nur aufgrund des Zusammenseins mit anderen unterscheiden bzw. wahrnehmen und herausfinden, ob unsere Unterscheidungen adäquat sind oder nicht, d.h. ob wir uns täuschen oder nicht. Hartmann bezeichnet Täuschungen als inadäquate Wahrnehmungen (Hartmann, 1998, S. 110) und führt aus, dass sie letztlich auf inadäquaten Sinnesempfindungen beruhen (ebenda, S. 117 f.). Nur durch die Praxis und durch die Kommunikation (wird weiter unten jeweils genauer spezifiziert) mit anderen können wir Täuschungen von adäquaten Wahrnehmungen unterscheiden. Damit erweisen sich der Begriff der Wahrnehmung und alle oben davon abgeleiteten Begriffe als interexistenzial. Was wir bei allen Begriffen und Ausdrücken der Daseinsanalyse daher beachten müssen, ist ihre Interexistenzialität. Der Empfindung auf der psychischen Ebene, d.h. unter dem psychischen Aspekt unseres Daseins betrachtet, entspricht der Affekt, während dem Wahrnehmen und Unterscheiden auf der materiellen Ebene das im Austausch mit anderen wurzelnde Begreifen auf der psychischen Ebene entspricht, was dann zur eigenen Meinung (es ist meins) des Individuums führt. Wenn wir etwas wahrnehmen und dabei zusätzlich noch unterscheiden, dass das Wahrgenommene uns ergriffen hat, dass unsere jeweilige Empfindung etwas damit zu tun hat, indem wir z.B. unterscheiden, ob es auf uns eine Wirkung hat bzw. uns betrifft oder nicht, dann will ich dies Begreifen nennen. So wie das Wahrnehmen immer mit einem Affekt verbunden ist, so ist das Begreifen immer mit einer Empfindung verknüpft.

Da wir als Lebewesen im Kontakt mit unserer Umwelt erhalten bleiben wollen (Seinserhaltung, s.o.), bleiben wir beim Begreifen einer Situation nicht stehen, sondern entwickeln spezifische Aktivitäten (wählbare Regungen, wird unten gleich genauer aus der Entwicklung des Kindes hergeleitet), die diesen Kontakt mit der Umwelt beeinflussen, um die Absicht der Seinserhaltung zu erfüllen. Dazu werden wir aktiv, indem wir entweder spezifisch agieren (spezifische Aktivitäten werden weiter unten genauer erklärt), oder aber indem wir zuerst Möglichkeiten unseres Seinkönnens entwerfen und planen, d.h. wir stellen uns mehrere Möglichkeiten vor und entscheiden uns dann für eine solche, bei der wir uns als Folge eine hinsichtlich der Seinserhaltung verbesserte Lage oder Situation vorstellen können. Hartmann definiert Vorstellungen als imitierte Wahrnehmungen (Hartmann, 1998, S. 146). Dass wir uns überhaupt etwas vorstellen können, habe ich den geistig-idealen Aspekt unseres Daseins bzw. Geist genannt (Kolb, 2018a (überarbeitete Fassung), S. 18). Um sich aber etwas vorstellen zu können, also die Wahrnehmung davon zu imitieren, muss man etwas Ähnliches schon einmal wahrgenommen haben und es sich irgendwo herholen, d.h. es muss eine Art Speicher geben, was man gemeinhin als Gedächtnis bezeichnet, und das Herholen als Sich-Erinnern. Beides braucht man schon beim Wahrnehmen bzw. Unterscheiden, denn dazu muss man etwas vergleichen, was nicht immer gleichzeitig geschieht. Auch diese Begriffe müssen und sollen weiter unten anhand der kindlichen Entwicklung näher erläutert werden.

Sich Katastrophen und Idealsituationen so vorzustellen, dass wir Pläne entwickeln und ausführen können, um die Katastrophen zu meiden und unsere Ideale zu erreichen, das will ich Verstehen bzw. Verständnis nennen. Wenn ich also eine Situation verstehe, kann ich auch sagen, ich verstehe mich auf sie, und das bedeutet, dass ich verschiedene Möglichkeiten, wie ich sein kann, erwäge (kann ich das wagen?), sie miteinander vergleiche, also bildlich gesprochen übereinander lege und somit überlege, wobei ich diese Möglichkeiten hinsichtlich der von mir vorgestellten bzw. erwarteten Ergebnisse, die aus der Zukunft auf mich zukommen können, vergleiche oder vorfühle, welche Erwartung sich am besten anfühlt, wobei sich dies daraus ergibt, welchen Affekt ich mir vorstelle und somit empfinde, wenn die imitierte Wahrnehmung der Erwartung eine tatsächliche wäre, bis ich mich entschließen oder für die Möglichkeit entscheiden kann, bei der ich das beste Gefühl hinsichtlich meiner Erwartung habe. Aus dem Unterschieden-Haben bei der Wahrnehmung wird vermittelt durch das Bescheid-Wissen oder Meinen (das gehört zu mir, ist mein: daher meinen) beim Begreifen das Entschiedenhaben und Erwarten beim Verstehen und aus dem Affekt das Gefühl vermittelt durch die Empfindung. Indem ich mir vorstelle, was aus der Zukunft noch auf mich zukommen kann, erwarte ich das Eintreten dieser Vorstellungen, habe also entsprechende Erwartungen. Erwartungen bilden also eine bestimmte Klasse von Vorstellungen. Auf der geistigen Ebene entspricht das Verstehen daher dem Wahrnehmen auf der materiellen und dem Begreifen auf der psychischen Ebene. Wenn ich mir etwas vorstelle, das Wahrnehmen also imitiere, dann stellt sich bei mir eine entsprechende Regung ein, ähnlich wie beim Wahrnehmen und beim Begreifen, und diese Regung habe ich Gefühl genannt (s.o.). Es wird durch Affekte (Erregung) und Empfindungen (Ergriffenheit oder Betroffenheit bei der jeweiligen Vorstellung) vermittelt, und gleichzeitig vermittelt das Gefühl zusammen mit dem Affekt die Empfindungen (zu meiner Vorstellung gehörend vermittelt das Gefühl die Betroffenheit bzw. die Ergriffenheit) und zusammen mit der Empfindung den Affekt (Gefühl und Ergriffenheit machen mich an, affizieren mich). Aus der Neurobiologie wissen wir, dass nachdem die Erregung zur Empfindung geworden ist, erneut kortikale Strukturen des Gehirns eingeschaltet werden, die dann wieder zurückwirken auf die entsprechenden subkortikalen Bereiche, die dadurch wieder beruhigt oder noch mehr erregt werden können.

Dass die Wahrnehmung bzw. das Unterscheiden mit dem Affekt, das Begreifen mit der Empfindung und das Sich-auf-etwas-Verstehen mit dem Gefühl verknüpft sind, hat damit zu tun, dass die jeweilige Erregung durch den Affekt, die Empfindung und das Gefühl notwendig sind, damit wir einen genügend starken Impuls bekommen, um zu unterscheiden, zu begreifen und uns auf etwas zu verstehen. Dieser Sachverhalt lässt sich neurobiologisch folgendermaßen erklären bzw. begründen: Unterscheiden, Begreifen und Sich-auf-etwas-Verstehen (oder Differenzieren, Integrieren und Regulieren, was in der OPD als grundlegende psychische Funktionen bezeichnet wird) sind Aktivitäten, die vom Kortex aus jeweils gesteuert werden. Dieser ist ein sich selbst organisierendes System verschiedener sogenannter Module (Boessmann, 2013, S. 88), die bestimmte einzelne Fähigkeiten und Fertigkeiten ausführen oder leiten können, die aber nur in einer konzertierten Aktion selbstorganisiert zu derartigen Aktivitäten fähig sind wie Unterscheiden, Begreifen und Sich-auf-etwas-Verstehen. Zuerst kommt ein Sinnesreiz im entsprechenden Kortexbereich an, wodurch in den subkortikalen Schichten die aufgrund der Wachheit schon vorhandene Erregung derart verstärkt wird, dass mit diesem affektiven Impuls es zu der konzertierten Aktion des Unterscheidens kommt. Dies kann dann die Erregung aufrechterhalten oder steigern, sodass mit diesem empfindungsmäßigen Impuls die konzertierte Aktion des Begreifens sich entwickelt. Wenn im weiteren Verlauf dann die Erregung bleibt oder sich steigert, kommt es zu weiteren konzertierten Aktionen durch entsprechende gefühlsmäßige Impulse, bei denen es zu unterschiedlichen Vorstellungen von Möglichkeiten des Seinkönnens kommt. Damit ein solches System kortikaler Module sich jeweils selbst organisiert, muss der Impuls, der das System anregt, groß genug sein. Man kennt das z.B. vom Laser-Licht, dass die elektrische Spannung und damit der Impuls, der davon abhängig ist, groß genug sein muss, damit das System der Lichtblitze sich selbst zur kohärenten Sinus-Welle, dem Laser-Licht organisiert. Entsprechendes gilt für ein klatschendes Publikum, bei dem sich ein gemeinsamer Klatschrhythmus herausbildet. Hier ist der Impuls die freudige Begeisterung aufgrund einer hervorragenden Darbietung. Im Gehirn gibt es dabei ein optimales Impuls- oder Erregungsniveau für optimale Leistungen. Ist dieses Niveau zu hoch, wird der Kortex blockiert, und wir sagen, wir hätten „ein Brett vor dem Kopf“. Der Dreiteilung in affektive Wahrnehmung, empfindungsmäßiges Begreifen und gefühlsmäßiges Sich-auf-etwas-Verstehen entspricht neurobiologisch u.U. die Einteilung in primären, sekundären und tertiären (motorischen, sensorischen, auditorischen und visuellen) Kortex (Boessmann, 2013, S. 109, Abbildung).

Wenn ich Unterschieden-, Begriffen- und Verstanden-Haben zusammenfasse und als das Aufgenommen-Haben bzw. als die Rezeption von Teilen oder Bereichen meiner Umwelt bezeichne, dann hat diese Rezeption den materiellen Aspekt des Unterscheidens, den psychischen Aspekt des Begreifens und den geistigen Aspekt des Verstehens. Wenn ich die mit der Rezeption verbundenen spontanen Regungen, die bildlich gesprochen sich aus mir herauszubewegen scheinen, als Emotionen (wörtlich übersetzt bedeutet Emotion Bewegung aus etwas heraus) bezeichne, so haben diese den materiellen Aspekt der Affekte, den psychischen Aspekt der Empfindungen und den geistigen Aspekt der Gefühle.

Wahrnehmen und Affekt sind generell, materiell und akzentuiert (an- und abschwellend über und unter unsere Wahrnehmungs- bzw. Unterscheidungsgrenze), entsprechen also dem Daseinsmodus des Genus oder Gemeinschaftswesens, dem Daseinsaspekt der Materie, der Wahrnehmungsstruktur der Rhythmik (der des An- und Abschwellens) und damit der Daseinsstruktur der Wirklichkeit, der Wirkung der Rhythmik auf unser Dasein als Aufforderung, zu leben bzw. in unserer Beziehung zu unserem Sein unser Sein zu erhalten, d.h. lebendig zu bleiben.

Begreifen und Empfindung sind individuell, psychisch und insofern räumlich, weil wir einen entsprechenden Raum brauchen, um uns auf das Wahrgenommene einzulassen, uns darauf einzustellen und dann schließlich zu begreifen. Sie entsprechen also dem Modus des Individuums, dem Aspekt der Psyche, der Wahrnehmungsstruktur des Raums und damit der Daseinsstruktur der Räumlichkeit, der Wirkung des Raums auf unser Dasein als Aufforderung, sich einzulassen und eine entsprechende Auskunft über uns und unsere Situation anzunehmen und zu geben.

Verstehen und Gefühl sind spezifisch, geistig und insofern zeitlich, weil jede damit verbundene Entscheidung für ihre Umsetzung Zeit braucht, entsprechen also dem Modus der Spezies, dem Aspekt des Geistes, der Wahrnehmungsstruktur der Zeit und damit der Daseinsstruktur der Zeitlichkeit, der Wirkung der Zeit auf unser Dasein als Aufforderung, uns hineinzuversetzen in die Herkunft, Zukunft und Ankunft einer Situation.

Emotionen beruhen auf etwas, was mir widerfährt, und sind Regungen, die keine Aktivitäten sind, weil ich sie nicht direkt wählen kann. An dieser Stelle möchte ich auf einen entscheidenden Unterschied zwischen Empfindung und Gefühl aufmerksam machen: Eine Empfindung beruht auf einem Begreifen einer bestimmten Wahrnehmung und kann daher durch den Austausch mit anderen, die ebenfalls in der entsprechenden oder einer ähnlichen Situation gewesen sind, geändert werden, über Empfindungen kann man reden, aber ein Gefühl wird durch alle einschlägigen Erfahrungen bestimmt, die jemand persönlich gemacht hat, darüber lässt sich nicht diskutieren, Gefühle kann ein anderer nur verstehen, indem er sich in entsprechend einschlägige Situationen hineinversetzt bzw. sie sich vorstellt, sonst sollte er passen. Empfindungen sind durch eine einzige Situation bestimmt und daher allgemein begreiflich, Gefühle aber hängen mit einer ganzen Menge einschlägiger Situationen eines einzelnen zusammen und sind daher nur individuell verstehbar. Dies wird häufig verwechselt, sodass manche Menschen versuchen, einem anderen seine Gefühle wegzudiskutieren, man kann aber nur Empfindungen im Gespräch beeinflussen. Wir können z.B. jemandem seine Empfindung der Angst in einer bestimmten Situation ausreden (der andere wäre beinahe in einen Abgrund gestürzt, und wir beruhigen ihn damit, dass er jetzt in Sicherheit ist), wenn wir dann aber glauben, wir hätten ihm sein Gefühl der Furcht vor etwas genommen, werden wir enttäuscht, wenn der andere aus Furcht dann doch nicht tut, was wir erwarten (er wird unsere gemeinsame Bergwanderung nicht mehr fortsetzen aus Furcht, dass er dann tatsächlich abstürzen könnte, da ihm durch dieses Ereignis noch andere kritische und gefährliche Erlebnisse eingefallen sind).

In „Dasein, um zu lieben“ habe ich dargestellt, wie sich Materie, Psyche und Geist in einer so genannten absoluten Dialektik vermitteln (zwei der drei werden gegenseitig durch das dritte vermittelt und vermitteln beide zusammen dieses dritte (Kolb, 2018a (überarbeitete Fassung), S. 37 ff.)) und entsprechend besteht eine absolute Vermittlung zwischen jeweils Wahrnehmen, Begreifen und Verstehen sowie Affekten, Empfindungen und Gefühlen (Letzteres wurde oben schon explizit gezeigt). Rezeption und Emotionen führen schließlich zu spezifischen Aktivitäten, um das Sein zu erhalten, – spezifische Aktivitäten sind im Unterschied zum Wahrnehmen, Begreifen und Verstehen solche, bei denen es zu einer wahrnehmbaren Veränderung im Verhältnis der betreffenden Person zu ihrem Umfeld kommt – und je nachdem, wie die weitere Rezeption mit entsprechenden Emotionen ausfällt, kommt es zur Wahl von weiteren spezifischen Aktivitäten oder auch nicht. Diese Abfolge will ich Umgang mit der Realität oder auch Praxis bzw. Lebensvollzug nennen.

Sowohl beim Begreifen als auch beim Verstehen bzw. sowohl bei dem Begriffenen (unserer Meinung, was es bedeutet, wo es herkommt) als auch bei dem Verstandenen (unserer Erwartung, was auf uns zukommen kann) handelt es sich um etwas, was wir einer Situation bzw. den Aspekten einer Situation, die wir wahrnehmen bzw. unterscheiden, subjektiv unterlegen (lat. subicere, etwas unterlegen oder unterstellen), wovon wir subjektiv glauben, dass wir uns nicht täuschen, wenn wir danach handeln. Kausale Zusammenhänge zwischen einem Geschehen und unseren Aktivitäten, die auf unserem Begreifen und Verstehen beruhen, sind abhängig von der Bedeutung, die wir dem Geschehen subjektiv geben, und von den Erwartungen, die wir subjektiv vom Ergebnis des Geschehens und unserer Aktivitäten haben. In diesem Sinne ist alles Begriffene und Verstandene etwas Geglaubtes und nichts Gewusstes, sodass wir hier mit Sokrates sagen müssen: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Da Glaube wie alles Subjektive nur durch Sprache vermittelt werden kann, ist der Zusammenhang zwischen einem Geschehen und unseren auf Begreifen und Verstehen beruhenden Aktivitäten nicht empirisch, sondern semantisch, wobei man hier noch zwischen bezeichnend und symbolisch unterscheiden kann. Semantisch bedeutet nicht, dass die Erfahrung bzw. die Empirie keine Rolle bei diesem Zusammenhang spielt, sie wird aber im Austausch mit anderen sprachlich und damit semantisch vermittelt.

Jeder Begriff, den ich mir gebildet habe, beruht auf einer Wahrnehmung bzw. Unterscheidung von mir als Objekt der Materie (s. S. 78 f.), die ich mir als Gemeinschaftswesen im Austausch mit anderen aufgrund verschiedener Hinweise von ihnen darüber, was sie begriffen haben, welche Begriffe sie sich gebildet haben und wie sie das Begriffene und die entsprechenden Begriffe verwenden, selbst angeeignet habe als psychisches Subjekt (s. S. 78 f.). Ob ich diesen Begriff dann auch theoretisch und praktisch angemessen verwenden kann, zeigt sich mir dadurch, dass ich als geistiges Subjekt (s. S. 78 f.) beim Entwerfen bestimmter Möglichkeiten (Theorie), bei denen ich den betreffenden Begriff zusammen mit dem von mir Begriffenen verwende, und als materielles Subjekt (s. S. 78 f.) beim praktischen Aktiv-Sein aufgrund einer entsprechenden Entscheidung für eine dieser Möglichkeiten mich hinsichtlich der Erwartungen über das konkrete Ergebnis meines Handelns möglichst wenig täusche, was mir im Austausch mit anderen durch entsprechende Hinweise bestätigt werden muss, damit ich keiner Selbsttäuschung erliege. Beim Erlernen eines Begriffs und der Überprüfung, ob ich ihn auch angemessen verwenden kann, bin ich immer auch auf den Austausch mit und die Hinweise von anderen angewiesen. Insofern ein Begriff mir bei der Unterscheidung von Phänomenen hilft, ist er bezeichnend, seine Bedeutung aber erhält er erst dadurch, wie ich ihn verwende. Seine Verwendung kann bezeichnend bleiben, oder aber auch symbolisch sein. Was die Bedeutung eines Begriffs betrifft, so schreibt auch Wittgenstein: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch“ (Wittgenstein, 2001, S. 771, § 43) und „…, wenn man ihm die Bedeutung des Wortes »Absicht« erklärt. Es heißt dann nämlich: so gebrauchen wir es.“ (Wittgenstein, 2001, S. 873, § 247)

Nun zu dem Unterschied zwischen einem bezeichnenden und einem symbolischen Zusammenhang von Geschehnissen und Aktivitäten: Wenn ich mir einen Hammer hole, um einen Nagel in die Wand zu schlagen, dann ist der Zusammenhang zwischen dieser Aktivität und meiner Absicht bezeichnend, denn das Hammer-Holen ist ein Zeichen dafür, dass ich den Nagel in die Wand hauen möchte. Die so bezeichnete Aktivität verändert die materielle Ebene, denn die Gegensätzlichkeit bzw. das Verhältnis zwischen meinen Fähigkeiten, einen Nagel in die Wand zu bekommen, und meiner entsprechenden Absicht wird durch das Hammer-Holen deutlich verändert (mit einem Hammer bin ich fähig, den Nagel in die Wand zu bekommen, mit bloßen Händen nicht). Wenn dagegen ein Vater seinen Sohn segnet, der vor einer schwierigen Aufgabe steht, dann ist der Zusammenhang zwischen dem Segnen und der schwierigen Aufgabe des Sohnes symbolisch, und die materielle Ebene wird nicht direkt berührt. Der Vater hilft seinem Sohn durch das Segnen nicht materiell, er ändert dadurch nicht direkt etwas an der Gegensätzlichkeit bzw. dem Verhältnis zwischen den Fähigkeiten seines Sohnes und den Anforderungen der Situation für die schwierigen Aufgabe, aber er beeinflusst die psychische und die geistige Ebene, indem er seinen Sohn einerseits motiviert (Psyche) und dessen Zuversicht stärkt (Geist), sodass der Sohn ganz anders an die Aufgabe herangeht, und erst dadurch wird die materielle Ebene berührt, wenn auch nur indirekt. Auf den Unterschied zwischen Zeichen und Symbol werde ich weiter unten in Kapitel 2.9 noch einmal genauer eingehen. Um die Aktivität eines anderen zu begreifen und sich darauf zu verstehen, muss man die Zeichen und die Symbole, die er verwendet, also seine Kommunikationsweise und Kultur bzw. seine Erscheinungswelt kennen. Dieses und das von jemandem Geglaubte sind abhängig von dessen Haltung, dessen Einstellung und dessen Stimmung. Diese drei Phänomene, die ich gleich erklären werde, beeinflussen alle Aktivitäten.

Haltung bezieht sich zuerst einmal auf das Körperliche, die Körperhaltung, welche unsere Wahrnehmung und damit unsere Affekte beeinflusst, denn, wenn ich z.B. eine nach unten geneigte Kopfhaltung einnehme, kann ich ab einer bestimmten Höhe nichts mehr sehen. Verallgemeinernd kann man nun sagen, dass eine Haltung eine andauernde spezifische Aktivität ist, die einmal gewählt und für eine bestimmte Dauer aufrechterhalten wird, und wodurch bestimmte Wahrnehmungen und Affekte, also bestimmte Wirkungen auf mich, bevorzugt und andere vernachlässigt werden. Haltung ist daher ein genereller, materieller und wirklichkeitsbezogener Begriff.

Einstellung bezieht sich auf das Psychisch-Motivationale und ist eine dauerhafte Ergriffenheit von etwas, was entweder erreicht oder vermieden werden soll und wodurch bestimmte Arten des Begreifens und der damit verbundenen Empfindungen bevorzugt und andere vernachlässigt werden. Ich bin aufgrund vergangener Erfahrungen entsprechend ergriffen und darauf eingestellt, bestimmte Geschehnisse auf eine bestimmte Art zu begreifen. Einstellung ist daher ein individueller, psychischer und räumlich bezogener Begriff, wobei das Räumliche sich darauf bezieht, dass man die frühere Erfahrung vermeiden oder wieder in die Gegenwart holen möchte, man will sich auf etwas von früher einlassen oder nicht, ihm Raum geben oder nicht.

Stimmung bezieht sich auf das Geistig-Ideale und ist eine auf ein oder mehrere Ziele ausgerichtete Erwartung (z.B. „ich schaffe es nicht“ oder „mir gelingt alles“), die bestimmte Arten des Verstehens und der damit verbundenen Gefühle bevorzugt und andere vernachlässigt, ich bin auf eine bestimmte Art gestimmt, spezifische Aktivitäten zeitlich so zu planen, dass ich bestimmte Ereignisse entsprechend in der Zukunft erwarten kann. Stimmung ist also ein spezifischer, geistiger und zeitlich bezogener Begriff.

Man kann dies insgesamt mit einem Musiker vergleichen, der mit seinem Instrument eine Einheit bildet: Zuerst nimmt er eine bestimmte Haltung ein, sodass sein Instrument eine bestimmte Wirkung auf ihn bekommt und er den Klang und die Töne möglichst gut hören kann. Dann ändert er je nachdem bestimmte Einstellungen an seinem Instrument, bis er mit dessen Klang im Raum zufrieden ist. Nun besitzt sein Instrument die entsprechende Stimmung, sodass der Musiker darauf spielen kann und will, weil er ein entsprechend gutes Klangspiel seines Instruments erwartet.

Haltung, Einstellung und Stimmung