Natur und Liebe - Hans-Peter Kolb - E-Book

Natur und Liebe E-Book

Hans-Peter Kolb

0,0

Beschreibung

Angeregt durch ein Buch von Thomas Nagel (Nagel, 2016), in welchem die These vertreten wird, dass "die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist" (ebenda), versuche ich, mithilfe meiner Daseinsanalyse eine teleologische Konzeption der Natur zu entwerfen, die sowohl konstitutionell als auch geschichtlich das Auftreten von Bewusstsein, von Kognition bzw. Denken und von Werten erklärt. Eine teleologische Konzeption bedeutet in dieser Hinsicht daher zweierlei: Zum einen geschichtlich, dass die Natur zielgerichtet Wesen hervorbringt, die so etwas wie Sinn, Bedeutung und Richtung erkennen können, zum anderen konstitutionell, dass die Natur selbst sinnvoll ist und ihren Sinn über diese Wesen, die Sinn erkennen können, in unserer Welt immer mehr erfassen kann. Als derartige Wesen passen wir Menschen in die Welt und haben "eine Form des Selbstverstehens (... gefunden), die uns selbst nicht untergräbt und uns nicht abverlangt, das Offensichtliche zu leugnen" (Nagel, 2016, S. 42).

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 149

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Vom Chaos zur Ordnung

Entfaltung und Verbundenheit

Die Entfaltung des Bewusstseins

3.1. Das physische Selbstbewusstsein

3.2. Das soziale Selbstbewusstsein

3.3. Das teleologische Selbstbewusstsein

3.4. Das intentionale Selbstbewusstsein

3.5. Das menschliche Selbstbewusstsein

Die Entwicklung des Denkens, der Vernunft und der Sprache

Leiblichkeit und menschliches Bewusstsein

Das Problem der Werte und Normen

Abbildungen und Tabellen

Literaturverzeichnis

Vorwort

Angeregt durch ein Buch von Thomas Nagel (Nagel, 2016), in welchem die These vertreten wird, dass „die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist“ (ebenda), versuche ich, mithilfe meiner Daseinsanalyse (Kolb, 2017a; Kolb, 2017b; Kolb, 2017c) eine teleologische Konzeption der Natur zu entwerfen, die sowohl konstitutionell als auch geschichtlich das Auftreten von Bewusstsein, von Kognition bzw. Denken und von Werten erklärt. Eine teleologische Konzeption bedeutet in dieser Hinsicht daher zweierlei: Zum einen geschichtlich, dass die Natur zielgerichtet Wesen hervorbringt, die so etwas wie Sinn, Bedeutung und Richtung erkennen können, zum anderen konstitutionell, dass die Natur selbst sinnvoll ist und ihren Sinn über diese Wesen, die Sinn erkennen können, in unserer Welt immer mehr erfassen kann. Als derartige Wesen passen wir Menschen in die Welt und haben „eine Form des Selbstverstehens [… gefunden], die uns selbst nicht untergräbt und uns nicht abverlangt, das Offensichtliche zu leugnen“ (Nagel, 2016, S. 42). Eine teleologische Konzeption bedeutet aber auch, dass das Telos in der Natur verankert sein muss, d.h. dass es eine Sehnsucht danach geben muss, die früher oder später zum Ausdruck kommt und dabei zuerst empfunden und dann verstanden werden kann.

Die Alternative zu einer teleologischen Konzeption ist neben einer materialistischen eine intentionale, dass eine höhere Macht, z.B. Gott, von außen immer wieder schöpferisch in die Natur eingreift und dabei bestimmte Absichten verfolgt. Eine teleologische Konzeption muss nicht die Existenz einer höheren Macht oder eines persönlichen Gottes leugnen, sie überwindet nur die Gegensätzlichkeit von innen und außen. Wie ich zeigen konnte (Kolb, 2017c, S. 184 ff.), würden wir den Sinn der Natur und des Kosmos und den unseres Daseins nur in der vollkommenen Liebe erkennen, ein utopischer Zustand, in welchem alle Gegensätzlichkeiten überwunden wären, also auch die von innen und außen. Damit ist eine intentionale Konzeption mit meiner Daseinsanalyse nicht vereinbar.

Die hier entwickelte und dargestellte Konzeption ist von ostasiatischem Gedankengut beeinflusst, dass es um die Überwindung von Gegensätzen und um Einheit in Vielfalt geht. Die beiden teleologischen Prinzipien, die sich daraus ableiten lassen, sind Entfaltung und Harmonie. Daher ist diese teleologische Konzeption der Natur keine Konzeption von individuellem Sein, sondern von Sein in Systemen, und sie ist weder rein emergent, denn jedes Erscheinen von etwas ist durch von Beginn an gegebene Entwicklungsprinzipien bestimmt, auf die sie immer wieder bezogen ist, noch rein reduktiv, weil sich immer wieder zuvor Verborgenes zeigt, das auf nichts Vorausgegangenes reduziert werden kann. Man kann sie neutral monistisch nennen, weil sie weder einer idealistischen noch einer materialistischen noch einer dualistischen Position den Vorrang gibt. Das kommt daher, dass das Psychisch-Motivationale (also eine dualistische Psychodynamik zwischen Geist und Materie), das Geistig-Ideale und das Körperlich-Materielle als die drei grundlegenden Aspekte des Daseins betrachtet werden, die sich in einem absolut dialektischen Verhältnis zueinander befinden, d.h. jeweils ein Aspekt vermittelt zwischen den beiden anderen und diese den einen, sodass keiner einen Vorrang besitzt (Kolb, 2017a).

Das Telos, das utopische Ziel, dem die Natur und alle Systeme in ihr zustreben, ist die vollkommene harmonische Entfaltung, die bei uns Menschen, wie ich noch zeigen werde, der vollkommenen Liebe entspricht, wie ich sie in „Dasein, um zu lieben“ (Kolb, 2017a) umschrieben habe. Was mich zu dieser Behauptung gebracht hat, ist Folgendes:

Die vollkommene Liebe ist im menschlichen Dasein als Sehnsucht bezeugt (Kolb, 2017a), sie ist trotz ihrer Utopie in der Hinsicht sinnvoll, dass immer wieder Fortschritte auf dem Weg dorthin erzielt werden können, die unser Dasein insofern vollkommener machen, als dass wir uns immer weniger täuschen, uns immer erfüllter fühlen und immer weniger unangenehm enttäuscht, und so gibt sie jeder menschlichen Lebensform einen umfassenden Sinn.

Wie bereits aufgezeigt (ebenda), lässt sich die vollkommene Liebe in den verschiedenen Daseinsmodalitäten Individuum, Genus (Gemeinschaftswesen) und Spezies (handelndes Wesen) beschreiben als vollkommenes ganzheitliches Selbstverständnis, vollkommene kommunikative Solidarität und vollkommene Autonomie und Effektivität zur generellen Leidminderung. Soweit zur Konstitution des menschlichen Daseins.

Geschichtlich lässt sich die Evolution der Natur aus der Entwicklung des Kindes hypothetisch ableiten in Form einer emergenten Entwicklung. Indem ein Kind in seiner Entwicklung nacheinander lernt, mit den fünf grundlegenden Gegensätzen (Nishida, 2011) immer besser umzugehen, wobei erst ein bestimmter Entwicklungsgrad im Umgang mit dem zuletzt aufgetauchten Gegensatz erreicht sein muss, bevor der nächste zu bewältigende Gegensatz dem Kind erscheint (Emergenz) (Kolb, 2017c), nähert es sich immer mehr der vollkommenen Liebe (Kolb, 2017a). Die grundlegenden Gegensätze werden aber bis ans Lebensende nie vollkommen überwunden, das wäre ja die Utopie der vollkommenen Liebe.

Da die Gegensätze, anhand derer man die kindliche Entwicklung beschreiben kann, bis auf den Gegensatz räumlich-zeitlich auch bei Tieren auftauchen und verschiedene Entwicklungsstufen je nach Tierart erkennbar sind, und weil die den kindlichen Entwicklungsstufen zugeordneten Beziehungsformen entsprechend bis auf die Freundschaft schon im Tierreich auftauchen, sodass man von einer Evolution der Liebe (Hüther, 2012) sprechen kann, halte ich es für eine begründete Vorgehensweise, die kindliche Entwicklung auf die Natur zu übertragen. Die physische Entwicklung des menschlichen Embryos folgt ja auch verschiedenen evolutionären Entwicklungsschritten, wie sie in der Natur aufeinanderfolgen.

Darwins Entwicklungskonzept müsste zum einen dahingehend erweitert werden, dass die Evolution der Vollkommenheit einer harmonischen Entfaltung zustrebt, wobei dieses Ziel sich immer mehr in der Natur zeigt, zuerst als Sehnsucht bei lebendigen Wesen, immer weiter zu leben, und sich schließlich im menschlichen Dasein als vollkommene Liebe offenbart. Das Ziel der Entfaltung wird schon im Moment des sogenannten Urknalls erkennbar, und je mehr sich alle freiwillig und gleich entfalten, aber dabei „brüderlich“ bzw. harmonisch aufeinander bezogen sind, wird immer mehr vollkommene Freiheit ineins mit vollkommener Gleichheit erreicht, ein utopisches Ziel, äquivalent mit dem der vollkommenen Liebe (Kolb, 2017a) bzw. dadurch vermittelt.

Die „natürliche Auslese“ Darwins folgt zum andern dementsprechend nicht nur der Regel, dass der Fitteste überlebt („The fittest will survive“), was beim menschlichen Dasein nur den Daseinsmodus der Spezies betrifft, sondern auch, dass der mit den harmonischsten Beziehungen zu den anderen im Modus des Genus – beim späten Darwin „the most charming“ – und der, der sich selbst am besten ganzheitlich versteht (Daseinsmodus des Individuums), jeweils die besten Chancen zum Überleben hat. Alle drei Regeln stehen in einem absolut dialektischen Verhältnis zueinander, d.h. jeweils eine Regel vermittelt zwischen den beiden anderen und diese beiden die erste. Insofern hat keine der drei Regeln einen Vorrang.

1. Vom Chaos zur Ordnung

Schon in der Bibel heißt es, dass es am Anfang nur Tohuwabohu gab, also nur Chaos. In der Physik nennt man ein instabiles System chaotisch. Beim Urknall herrschte aller Wahrscheinlichkeit nach Chaos, bis sich allmählich immer mehr Ordnung herstellte. Wenn man die subatomare Ebene betrachtet, so haben wir es hier ebenfalls mit instabilen Systemen zu tun: Aufgrund der hohen Geschwindigkeiten ist der Impuls eines Elektrons nach der speziellen Relativitätstheorie nicht mehr linear zur Geschwindigkeit im Gegensatz zum Ort. Deswegen wirken sich Messfehler derart stark aus, dass man von instabilen bzw. chaotischen Systemen sprechen muss. Das Planck'sche Wirkungsquantum bezeichnet die kleinste feststellbare bzw. messbare Wirkung von etwas, und kleinere Distanzen als der Durchmesser eines Elektrons sind ebenfalls nicht messbar. Daher kann man die Quantenphysik auch als Messfehlerphysik bezeichnen, und es muss einen nicht wundern, wenn sie bei Messungen nur Wahrscheinlichkeiten als Ergebnisse liefert und die Unschärferelation nach Heisenberg die Planck'sche Wirkungszahl enthält. Ich vermute, dass, wenn man die Relativitätstheorie von Einstein auf die subatomare Ebene anwendet und mit Intervallen rechnet, welche die Mess-Unschärfen berücksichtigen, statt mit Zahlenwerten, dass man dann zu denselben Ergebnissen kommt wie die Quantenphysik.

Man kann sich das Chaotische auf der subatomaren Ebene auch folgendermaßen veranschaulichen: Während der Atomkern sich vorwärtsbewegt, umkreist ihn mindestens ein Elektron, d.h. es überlagern sich lineare und zirkuläre Prozesse. Dies geschieht ebenfalls, wenn ein Elektron sich bewegt und dabei einen Spin hat, d.h. sich um sich selbst dreht. Bei nichtlinearen zirkulären Prozessen kann es immer wieder zu sogenannten Symmetriebrechungen kommen, wenn durch winzigste Veränderungen in einer kritischen Situation sich die Ebene der Kreisbewegung um den Kreismittelpunkt dreht. Im Extremfall kehrt diese Bewegung sich sogar plötzlich um, wenn ihre Ebene sich nämlich um 180 Grad dreht.

Geht man nun auf die makroskopische Ebene, die ja auf der subatomaren aufbaut, dann ist auf einmal eine derartige Ordnung vorhanden, dass die Gesetze der Newton'schen Physik gelten. Das liegt nicht nur daran, dass unsere Messfehler verschwindend gering sind im Vergleich zu den Daten, mit denen wir es auf dieser Ebene zu tun haben, sondern auch die Geschwindigkeiten sind derart gering, dass wir die Relativitätstheorie außer Acht lassen und von einem linearen Zusammenhang von Impuls und Geschwindigkeit ausgehen können, d.h. es überlagern sich nur noch lineare Prozesse in der Newton'schen Physik. Im Makroskopischen haben wir also wesentlich mehr Ordnung und können physikalische Prozesse viel besser voraussagen. Das Problem der chaotischen Überlagerungen von linearen und zirkulären Prozessen ist gelöst.

Wenn wir uns nun dem chemischen Bereich zuwenden, so besteht hier insofern eine Unordnung bzw. schwierige Vorhersehbarkeit, als dass die verschiedenen Stoffe sich ziemlich beliebig miteinander verbinden können. Auch hier bildet sich eine Ordnung heraus, wenn ein Stoffgemisch komplex genug ist, es strebt dann nämlich von allein danach, eine bestimmte Ordnung in seiner Struktur zu erhalten. „Chemische Reaktionen bleiben automatisch in stabilen Zuständen »hängen«.“ (Weber, 2007, S. 66) Als Leben auf der Erde entstand, herrschten viel höhere Temperaturen und auch größere Temperaturunterschiede, sodass man sehr weit vom sogenannten thermodynamischen Gleichgewicht entfernt war und aufgrund der großen Temperaturunterschiede und -schwankungen bei Stoffen mit sehr unterschiedlicher Wärmeleitfähigkeit sich immer mehr Chaos aufbaute. Durch den geordneten Stoffwechsel im Lebendigen ist dieses Problem wiederum gelöst worden. „Dabei entstehen wunderbar komplexe Strukturen, wenn nur eine genügend große Zahl von einzelnen Bausteinen beteiligt ist.“ (ebenda, S. 67) Bei der Entstehung des Lebens wird das Teleologische noch deutlicher erkennbar als Sehnsucht, immer weiter zu leben, denn Leben ist harmonische Entfaltung. Mit der Sehnsucht bekommt die Natur einen seelischen bzw. psychisch-motivationalen Aspekt.

Mit der allgemeinen immer höheren Ordnung, der einzelnen immer besseren Vorhersehbarkeit und der spezifischen immer erfolgreicheren Problemlösbarkeit innerhalb von Systemen haben wir die drei grundlegenden Zielrichtungen bzw. Sinnaspekte der Evolution aufgezeigt, die sich in einem absolut dialektischen Verhältnis befinden, d.h. der eine Aspekt vermittelt zwischen den beiden anderen und diese den einen, sodass keiner einen Vorrang vor den anderen Zielrichtungen besitzt und man sie zusammenfassen kann zu dem Evolutionsziel der vollkommenen harmonischen Entfaltung. Harmonie impliziert, dass es immer weniger Probleme gibt bzw. dass sie immer erfolgreicher gelöst werden können, und Entfaltung meint, dass sich ein vorher verborgenes Phänomen zeigt, nämlich solches, was dem Ganzen wesenhaft etwas tiefer zugrunde liegt und etwas mehr von dessen Sinn und Grund ausmacht (Heidegger, 2006, S. 35, "Phänomen in einem ausgezeichneten Sinn"). Damit ist dann eine höhere Ordnung und eine bessere Vorhersehbarkeit erreicht.

Für das einzelne Element eines Systems lassen sich für seine Zugehörigkeit folgende Regeln aufstellen: (1) Es sollte geeignet genug sein, an Problemlösungen effektiv beteiligt zu sein – das entspricht der Darwin'schen Regel „The fittest will survive“; (2) es sollte sich harmonisch in die Ordnung des Gesamtsystems einfügen bzw. mit den anderen Elementen möglichst harmonisch zusammenwirken – das passt zu der Regel „The most charming will survive“ des späten Darwin, die von den Darwinisten leider nie berücksichtigt wurde (Hüther, 2012); (3) der evolutionären Zielrichtung der Vorhersehbarkeit, die sich aus den beiden anderen Aspekten der harmonischen Entfaltung ergibt, entspricht, dass sich irgendwann einmal bei den einzelnen Elementen eines Systems ein Selbstverständnis entwickeln muss, und das bedeutet die Entwicklung eines Bewusstseins mit der Regel „The one with the best and most holistic self-understanding will survive“, auf die Darwin vielleicht auch noch gekommen wäre. Wenn man nämlich sein Beispiel betrachtet, mit dem er die zweite Regel „The most charming will survive“ erläuterte, dass nämlich der bunte Gockelhahn überlebte, weil ihn die Hennen attraktiver fanden als seinen unscheinbaren Konkurrenten, obwohl dieser in der Hinsicht „fitter“ bzw. angepasster war, dass Raubvögel ihn nicht so leicht sehen konnten, dann konnte der bunte Hahn nur dann genauso „fit“ sein wie sein Konkurrent, wenn er so viel umfassendes Selbstverständnis besaß, dass er wegen seiner Auffälligkeit besonders vorsichtig war und sich schneller versteckte, wenn ein Raubvogel sich näherte.

Wenn man so will, ist das Evolutionsziel der vollkommenen harmonischen Entfaltung ein Meta-Ziel, dessen konkrete Ausprägung auf den vorangegangenen Entwicklungsstufen noch ganz verborgen war. Daher sollten alle emergenten Ausprägungen auf den verschiedenen Evolutionsstufen als harmonische Entfaltungen mit den drei Aspekten einer höheren Ordnung, besseren Vorhersehbarkeit und erfolgreicheren Problemlösbarkeit sichtbar gemacht werden können. Um hier nicht den Rahmen zu sprengen, werde ich dies nur exemplarisch vollziehen, aber dabei insbesondere das Erscheinen von Bewusstsein, von Denken und von Werten bzw. von Moral aufzeigen. Vorher möchte ich aber klären, unter welchen allgemeinen Bedingungen es jeweils zu einer nächsten Evolutionsstufe kommt und damit zu einer höheren Ordnung, einer besseren Vorhersehbarkeit und erfolgreicheren Problemlösbarkeit.

Wenn durch äußere Umstände oder durch eine Vermehrung der einzelnen Elemente eines Systems deren Anzahl pro Volumen zu einem bestimmten Zeitpunkt über ein kritisches Maß ansteigt, droht Chaos. Entweder wird das System dadurch vernichtet, oder es kann sich auf einer höheren Entwicklungsstufe selbst neu organisieren, dadurch eine höhere Ordnung, eine bessere Vorhersehbarkeit und erfolgreichere Problemlösungsmöglichkeiten erreichen und so die durch die zu große Dichte entstandenen Probleme lösen. Wenn es zu Wachstum und Entfaltung kommt, dann muss eine bessere Art Harmonie entstehen, sonst zerstört das wachsende Chaos das Ganze wie ein Krebsgeschwür. Umgekehrt fördert Harmonie Wachstum und Entfaltung, sodass man ab einem bestimmten Punkt ein höheres Niveau an Harmonie braucht usw. Die Entfaltung in Form von Vermehrung ist ein quantitativer und kontinuierlicher Prozess, der naturwissenschaftlich erklärt werden kann, während die Entwicklung der Harmonie qualitativ ist und sich in einem plötzlichen Emergenz-Prozess vollzieht, der sich dem naturwissenschaftlichen Verständnis entzieht. Beide Arten von Prozessen bedingen sich gegenseitig, ohne Entfaltung entwickelt sich die Harmonie nicht weiter, und ohne Harmonie kommt es zu keiner weiteren Entfaltung. Die Naturwissenschaften können nur die eine Hälfte der Evolution verständlich machen.

Nehmen wir als Beispiel das Laser-Licht: Durch Anlegen einer elektrischen Spannung bei einer entsprechenden Apparatur werden Lichtblitze erzeugt und zwischen zwei Spiegeln hin- und hergeworfen. Durch Erhöhung der Spannung wird die Anzahl der Lichtblitze immer größer, bis eine kritische Menge überschritten ist und das ganze System der Lichtblitze sich zur kohärenten Sinuswelle des Laser-Lichts neu organisiert, wenn die Spiegel die richtige Entfernung zueinander haben (falls nicht, bricht das System zusammen). Ein anderes Beispiel – diesmal aus dem Sozialbereich – ist ein Publikum, welches nach einer künstlerischen Darbietung klatscht. Je mehr Leute aus dem Publikum immer schneller und lauter klatschen, weil sie die Darbietung so gut fanden, desto mehr Klatschlaute mit entsprechender Phonzahl füllen den Raum in jedem Augenblick, sodass der Lärm immer chaotischer zu werden droht, bis auf einmal ein Klatschrhythmus entsteht, der von niemandem angeleitet wurde, sondern sich selbst organisiert hat und auf diese Weise wesentlich klarer und deutlicher die Anerkennung für die künstlerische Leistung ausdrückt, als es in dem vorangegangenen Chaos möglich war.

Diese teleologische Konzeption der Natur ist einerseits sinnvoll und macht es wahrscheinlich, wie ich in den folgenden Kapiteln zeigen werde, dass sich Bewusstsein, Denken, Vernunft, sprachliche Verständigung sowie Werte und Normen entwickelten, andererseits ist sie nicht intentional, da sie ergebnisoffen ist, d.h. es wird keine bestimmte Form einer harmonischen Entfaltung angestrebt, die harmonische Entfaltung sollte nur vollkommen sein, es sollte keine weitere und noch perfektere harmonische Entfaltung mehr möglich sein. Für eine teleologische Konzeption, die nicht intentional ist, gilt der Ausspruch von Konfuzius: Der Weg ist das Ziel.

Das teleologische Prinzip der harmonischen Entfaltung mag den Anschein erwecken, als würde sich die Natur und alles in ihr kontinuierlich zum Angenehmen und Guten entwickeln, was auch immer das sei. Tatsächlich überlagern sich aber dabei zwei Arten von Prozessen, eine quantitative Art von Vermehrungsprozessen, die immer wieder zu für viele Lebewesen sehr unangenehmen Zuständen führen, und eine qualitative Art von Prozessen, die sprunghaft eine weiter entwickelte Form von Harmonie herstellen, sodass das Unwohlsein immer mehr zurückgeht und das entstehende Wohlgefühl zu weiteren Vermehrungsprozessen führt. Auf diese Weise vermehren sich insbesondere komplexe Formen mit vielfachen Variationen.

Es scheint in der lebenden Natur drei Arten von aktiven Entwicklungsprozessen zu geben: Zum einen geht es um das Überleben, das ist der Kreislauf von Werden und Vergehen. Zum anderen geht es um ein immer besseres Funktionieren des Überlebens, was immer effektivere Lebensformen entstehen lässt. Schließlich generiert die Natur einen derartigen Überfluss, z.B. an Farben und Formen, an Klängen und Düften, was man nicht mehr mit Funktionalität allein erklären kann. Es scheint, als habe die Natur Freude am Leben und drücke dies nur für sich selbst auf eine sehr verspielte Art aus. Während die ersten beiden Arten von Prozessen der Vermehrung dienen, sieht es so aus, als würden alle Lebewesen in einen immer harmonischeren und sehr verspielten Kontakt miteinander treten. Diese Verhaltensmuster finden wir auch im menschlichen Leben, in der „Vita activa“, die Hannah Arendt einteilt in die drei Bereiche des Arbeitens zum Überleben, des Herstellens einer funktionalen Welt, die das Überleben immer mehr erleichtert, und des Handelns im Zwischenmenschlichen, wodurch zwar weder Konsumgüter noch Gebrauchsgegenstände geschaffen werden, was aber dem menschlichen Leben einen Sinn verleiht (Arendt, 1967) und damit eine Erklärung des Lebens und der Natur.

2. Entfaltung und Verbundenheit

Im letzten Kapitel habe ich zu erklären versucht, warum aus Chaos immer mehr Ordnung entsteht, nämlich dadurch, dass durch Selbstorganisation die Ordnung ein immer höheres Niveau erreicht, wenn die Quantität immer größer wird. Diese Erklärung bestand darin, dass ein System bei immer stärkerer Vermehrung und Verdichtung sich sonst selbst zerstört. Wie aber lässt es sich erklären, dass Systeme sich überzufällig oft nicht zerstören, sondern sich immer besser selbst organisieren?