Psychologisch-philosophische Untersuchungen - Hans-Peter Kolb - E-Book

Psychologisch-philosophische Untersuchungen E-Book

Hans-Peter Kolb

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Beschreibung

Die folgende Sammlung kleiner Schriften entstand teilweise dadurch, dass ich mir eigene Gedanken bei der Fachliteratur zu entsprechenden Themen machte, zum Großteil aber wurde ich in den psychotherapeutischen Gesprächen mit meinen Klienten dazu angeregt, über bestimmte Themen und Probleme nachzudenken und mich darüber mit ihnen auszutauschen. Insofern verdankt dieses Buch seine Entstehung vor allem meinen Klienten, denen ich an dieser Stelle danken möchte, und den Möglichkeiten, die mir meine Tätigkeit als psychologischer Psychotherapeut bietet. Im 11. und 12. Kapitel beschäftige ich mich mit Hannah Arendts Buch "Vom Leben des Geistes", weil das politische Handeln bei ihr sich ohne Weiteres auf das psychotherapeutische übertragen lässt.

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Für Heidi, Michaela und Daniel

„Ich muss verstehen. Zu diesem Verstehen gehört für mich auch

das Schreiben.“ (Arendt, Denken ohne Geländer, 2017, S. →)

See with your heart, not with your brain,

`Cause what we need is love again,

See with your heart, not with your head,

`Cause what you see is what you get!

(eigener Liedtext)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Psychische Belastungsstörungen

Leidminderung

Psychische Struktur

Entscheidungen

Wissen

Sinnlichkeit

Herzlichkeit

Gerechtigkeit

Ehrlichkeit, Vertrauen und Wahrheit

Existenzialismus oder Sinn und Grund eines Furzes

Gedanken zur Philosophie

11.1. Denken

11.2. Zeitverständnis und freier Wille

11.3. Das Subversive des Denkens

11.4. Das Problem des Willens

11.5. Politische Philosophie

Nicht wahrnehmbare Aktivitäten

12.1. Verstand, Vernunft und Bewusstsein

12.2. Denken, Urteilen und Wollen

12.3. Die Entwicklung geistiger Fähigkeiten

12.4. Die menschliche Natur

12.5. Sich vertraut machen und lieben

12.6. Freiheit des Willens

12.7. Praktische und geistige Aktivitäten

12.8. Meinung und Handlung

Zum Begriff der Liebe

Selbstfindung

Literaturverzeichnis

Vorwort

Die folgende Sammlung kleinerer und größerer Schriften entstand teilweise dadurch, dass ich mir eigene Gedanken bei der Fachliteratur zu entsprechenden Themen machte, zum Großteil aber wurde ich in den psychotherapeutischen Gesprächen mit meinen Klienten dazu angeregt, über bestimmte Themen und Probleme nachzudenken und mich darüber mit ihnen auszutauschen. Insofern verdankt dieses Buch seine Entstehung vor allem meinen Klienten, denen ich an dieser Stelle danken möchte, und den Möglichkeiten, die mir meine Tätigkeit als psychologischer Psychotherapeut bietet.

Wenn Sie sich vielleicht darüber wundern, weshalb es keine Kapitel über Sexualität und Partnerschaft gibt, so kann ich Sie dazu auf mein Buch „Liebe, Macht und Sexualität“ (Kolb, 2017c) verweisen, in welchem auch meine Daseinsanalyse neben „Dasein, um zu lieben“ (Kolb, 2017a) ausführlich dargestellt ist. Wen religiöse Themen, die natürlich auch in jeder Psychotherapie vorkommen können, besonders interessieren, der oder dem kann ich mein Buch „Religion, Ökumene und Liebe“ (Kolb, 2017d) empfehlen. Was den eigentlichen psychotherapeutischen Prozess aus daseinsanalytischer Sicht betrifft (philosophisches Menschenbild, psychologische und psychoanalytische Begriffe, Erklärung psychischer Störungen und psychotherapeutische Konsequenzen), so verweise ich auf „Daseinsanalyse in der Psychotherapie“ (Kolb, 2017g).

Mein Grundverständnis als Psychotherapeut besteht darin, immer mehr ein liebevolles Verständnis für alles Menschliche zu entwickeln und dies möglichst liebevoll dann meinen Klienten zu vermitteln. Ich bin mir im Klaren darüber, dass mir beides niemals vollkommen gelingen wird, aber der Weg dahin ist für mich das Ziel, und „aus Fehlern wird man klug, drum ist einer nicht genug“.

Je mehr es uns gelingt, unser menschliches Dasein dahingehend zu verstehen, was für einen Sinn es hat, wozu wir überhaupt da sind, obwohl wir so viele Belastungen haben und so viel Leid erleben, obwohl es uns immer wieder schwer fällt, Entscheidungen zu treffen, ohne sie hinterher zu bereuen, obwohl wir im Grunde so wenig wissen, obwohl Sinnlichkeit oft abgelehnt und Herzlichkeit belächelt wird, obwohl wir immer wieder mit Ungerechtigkeiten konfrontiert sind, obwohl Ehrlichkeit, Vertrauen und Wahrheit so oft mit Füßen getreten werden, und – was dem ganzen noch die Krone aufsetzt – obwohl wir genau wissen, dass wir sterben werden und danach von uns in dieser Welt, von der bald auch nichts mehr übrig sein wird, nichts mehr existiert, desto mehr benötigen wir ein liebevolles, und das heißt für mich ein möglichst echtes und unmittelbares Verständnis unseres Daseins, wozu und worum willen wir da sind. In seiner Vollkommenheit habe ich dies die Utopie der vollkommenen Liebe genannt habe (Kolb, 2017a). Wenn wir so unsere Liebesfähigkeit, die jeder von Geburt an schon mitbringt, immer weiterentwickeln, wird uns alles Menschliche immer vertrauter.

Es geht nicht nur um das Verständnis des Gemeinschaftlichen, sondern auch um das Verständnis jedes einzelnen und darum zu verstehen, wie jeder in den verschiedenen gemeinschaftlichen Situationen1 jeweils sein kann, sei es in der Ausübung einer Funktion oder Rolle oder aufgrund seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten. Da niemand alle Konsequenzen seines Handelns voraussehen kann, bedeutet wachsendes Verständnis, dass wir jedem Menschen immer weniger etwas persönlich übelnehmen können (allgemein schon, aber immer weniger persönlich). Aufgrund der Unwägbarkeit der Zukunft geben wir mit wachsendem Verständnis immer mehr Versprechen, die wir so gut wie möglich halten, und bei all den Widrigkeiten unseres Daseins, die ich oben teilweise aufgezählt habe, können wir mit wachsender Liebesfähigkeit die Situationen, in denen wir jeweils ankommen, immer dankbarer annehmen.

Je weniger wir persönlich jemandem etwas übelnehmen, desto mehr befreien wir uns von Hass, der uns zerfrisst. Je mehr wir schlimme Taten allgemein übelnehmen, desto motivierter sind wir, sie in Zukunft besser zu verhindern und das schon entstandene Leid zu mindern. Je mehr wir vorab Entscheidungen treffen und Versprechen geben und halten, desto mehr befreien wir uns von Einschränkungen, die wir gemeinsam überwinden können, und von einer zukünftigen Qual der Wahl, und je mehr wir die momentane Situation, in die wir geworfen wurden, dankbar annehmen, desto freudiger packen wir an und desto mehr befreit sind wir von dem Zwang, etwas ändern zu müssen. Daraus folgt insgesamt: Liebe macht frei.

Im zehnten Kapitel konnte ich einem ernsten Thema eine humorvolle Seite abgewinnen und möchte dafür ein Zitat von Pestalozzi für mich in abgewandelter Form in Anspruch nehmen, der meinte, eine Unterrichtsstunde, in der nicht wenigstens einmal gelacht wurde, sei keine gute Unterrichtsstunde. Insofern sollte man bei einem guten Buch auch wenigstens einmal lachen dürfen. Danach folgen wieder ernstere Gedanken zur Philosophie, wozu mich Hannah Arendt angeregt hat mit ihren Texten in „Denken ohne Geländer“ sowie mit den anderen Büchern von ihr im Literaturverzeichnis. Das zwölfte Kapitel beschäftigt sich ganz mit Hannah Arendts Buch „Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen“ und ihrem nicht mehr geschriebenen Buch über das Urteilen. Der Grund dafür liegt darin, dass sie als politische Philosophin, wie sie oft bezeichnet wird, an den Grundlagen des Handelns interessiert war, und dazu gehören bei uns Menschen die nicht wahrnehmbaren Aktivitäten in besonderem Maße. Dies spielt in allen zwischenmenschlichen Beziehungen eine wichtige Rolle, nicht nur in den politischen, sondern auch in meinem Interessengebiet, nämlich in den psychotherapeutischen Beziehungen.

Im vorletzten Kapitel habe ich verschiedene Konzeptionen von Liebe analysiert und kritisiert, vor allem christliche Konzepte, wie sie sich bis heute entwickelt haben, und ihnen meine eigene Konzeption gegenübergestellt. Schließlich bin ich im letzten Kapitel auf das Problem der Selbstfindung eingegangen, dem wir meist etwas ambivalent gegenüberstehen aus Angst, etwas Negatives dabei über uns zu erfahren. Letztlich aber führt die Selbstfindung konsequent betrieben zur Vervollkommnung unserer Liebesfähigkeit, wir lernen immer mehr, andere und uns selbst gleichermaßen zu lieben.

In der Hoffnung, mein Verständnis unseres Daseins und darüber, was Liebe für mich bedeutet und meiner Auffassung nach für uns alle bedeuten sollte, etwas verständlicher zu machen, möchte ich Sie als Leser nun einladen, die folgenden Kapitel zu lesen.

1 Eine Situation ist ein raumzeitlich bezüglich eines Zieles bzw. eines Worumwillens begriffener Zusammenhang, in dem ein Lebewesen innerhalb bestimmter räumlicher und zeitlicher Grenzen bzw. Horizonte materielle Gegensätze unterscheiden bzw. wahrnehmen, Aussichten beurteilen (was auf es zukommen kann) und praktische Zusammenhänge sowohl induktiv als auch deduktiv, als auch conduktiv schlussfolgernd sich erschließen kann, wo etwas im Allgemeinen herkommt, wo etwas im Speziellen hinführen und womit man im Einzelnen zusammengeführt werden kann.

1. Psychische Belastungsstörungen

Da Belastungen immer auch mit Schmerzen verbunden sind, und weil sowohl körperlicher als auch seelischer Schmerz in denselben Gehirnregionen verarbeitet werden, gibt es bei psychischen Belastungen immer auch körperliche Anteile. In gewisser Weise sind wir dann unser Körper, obwohl wir meistens denken, dass wir einen Körper haben. Gerade unter Belastungen körperlicher wie seelischer Art erfahren wir unsere Leiblichkeit, nämlich alle Regungen unseres Körpers, und unsere Lebendigkeit. Wenn wir derart von unseren Regungen ergriffen werden, sind wir in einem Äquivalenz-Modus des Erlebens, unser Körper ist gleichwertig, nämlich äquivalent, mit uns selbst, sodass wir mit Wittgenstein sagen können, dass der „menschliche Körper [...] das beste Bild der menschlichen Seele“ (Wittgenstein, 2001, S. 1002, PU 496) sei. Daher sollten wir bei psychischen Belastungen immer auch unseren Körper und seine Regungen im Blick behalten und auch für körperliche Entlastung sorgen.

Wenn wir sagen, dass wir einen Körper haben, dann sind wir im Als-ob-Modus, wir beziehen uns dann auf bestimmte Möglichkeiten, was wir mithilfe unseres Körpers alles machen können, als ob er ganz zu unserer Verfügung steht, als ob wir frei über unseren Körper bestimmen könnten. Wenn wir dann etwas getan haben und bemerken, was dadurch geschehen ist, sind wir im Realitätsmodus. Wir sind dann mit der Wirklichkeit konfrontiert, inwieweit unsere Vorstellungen erfüllt wurden oder nicht. Im Äquivalenz-Modus mit unseren Regungen sind wir von etwas ergriffen, im Als-ob-Modus reflektieren wir unsere Möglichkeiten und entscheiden uns, eine bestimmte Handlung auszuführen oder zu unterlassen, und im Realitätsmodus sind wir mit einem Ergebnis konfrontiert, aufgrund dessen wir sowohl unsere Ergriffenheit als auch unsere Entscheidung hinterfragen können. Mit den entsprechenden Antworten auf derartige Fragen können wir uns dann verantwortungsvoll weiterentwickeln.

Rein sprachlich können wir die beiden Aspekte unserer Physis Leib und Körper nennen und sagen, wir sind unser Leib und haben einen Körper. Der Unterschied zwischen Körper und Leib ist der, dass unser Körper nur die naturwissenschaftlich-medizinisch und in diesem Sinn objektiv messbaren Prozesse unseres Körpers, insbesondere die physischen Wachstums- und Zerfallsprozesse meint, die von anderen erfasst werden können, während der Leib alle Selbstprozesse meint, von denen wir durch unsere Regungen und insofern subjektiv etwas direkt bzw. unmittelbar spüren, wovon andere direkt nichts mitbekommen können. Die Dualität von Körper und Leib ähnelt der in der Quantenphysik, wo alles die Charakteristik sowohl eines Teilchens als auch einer Welle hat. Medizinisch-naturwissenschaftlich besteht der Körper aus verschiedenen „Teilen“, deren Zusammenspiel untersucht wird, unsere leiblichen Regungen dagegen haben einen Wellencharakter, da sie eine gewisse Rhythmik besitzen.

Unsere leiblichen Regungen bei Schmerz, sei er körperlich oder seelisch, haben den Sinn und Zweck, den Schmerz zu lindern und weiteren Schmerz zu verhindern. Entsprechend spannen wir bei der Gefahr eines (u.U. weiteren) Schmerzerlebens unsere Muskeln an und entsprechende Hormonmengen werden unwillkürlich gesteuert, damit wir jederzeit kämpfen, fliehen oder uns sonst auf irgendeine Weise schützen können. Ist die Gefahr vorbei, will unser Leib sich wieder entspannen und auch hormonell wieder ins Gleichgewicht kommen. Das geht aber nur, wenn wir in den Äquivalenz-Modus kommen und uns ganz unseren Regungen hingeben. Meistens aber bleiben wir im Als-ob-Modus hängen, wir spüren nach und versuchen erst einmal auf einer mentalen Ebene unter dem Aspekt des Geistig-Idealen alles zu verarbeiten. Das ist auch in Ordnung so, kritisch wird es nur, wenn wir zu lange in diesem Modus verweilen und uns gegen den Äquivalenz-Modus wehren. Hier kommt nun der psychisch-motivationale Aspekt unseres Daseins ins Spiel, eine Dynamik bestimmter Motive, die uns im Als-ob-Modus hält und den Äquivalenz-Modus vermeidet, zumindest wenn es um die Verarbeitung des betreffenden Schmerzes bzw. der betreffenden Belastung geht. Insofern steckt hinter jeder Belastung, die wir nicht richtig verarbeiten, immer ein psychisches Problem, eine psychische Belastungsstörung, die sich mit der Zeit immer mehr körperlich auswirkt. Auf die Dauer führt Schmerzvermeidung immer zu psychischen Störungen bzw. Belastungsstörungen. Schon Kafka sagte in einem Aphorismus: „Du kannst dich zurückhalten von den Leiden der Welt, das ist dir freigestellt und entspricht deiner Natur, aber vielleicht ist gerade dieses Zurückhalten das einzige Leid, das du vermeiden könntest.“ (Kafka, Die Zürauer Aphorismen, entstanden 1917-1918)

In unserer Kultur geht es oft darum, keine Schwäche zu zeigen („Ein Indianer kennt keinen Schmerz“), sodass diese Motivation uns im Als-ob-Modus hält und wir so tun, als ob uns Belastungen nichts ausmachen. Nicht nur auf diese mentale Weise unterdrücken wir Schmerzen, sondern auch mit Medikamenten, was ebenfalls zu psychischen Belastungsstörungen führen kann. Ein extremes Beispiel, an welchem man aber noch anderes zeigen kann, ist der Phantomschmerz. Als es noch keine Narkosemittel gab und Gliedmaßen ohne Betäubung amputiert werden mussten, bekam niemand Phantomschmerzen. Mit dieser Feststellung will ich nicht dafür plädieren, die Narkose bei Amputation abzuschaffen, es zeigt aber, dass ein Schmerzerleben blitzartig zurückkehren kann, wenn wir das Bewusstsein mit einer Narkose ausschalten (örtliche Betäubung bei Amputationen würde keinen Phantomschmerz erzeugen). Ohne Narkose ist der Schmerz am amputierten Glied abgelöst worden vom Schmerz an der Stelle der Amputation, und nachdem diese geheilt ist und der Schmerz dort aufhört, kommt kein Erinnerungsschmerz mehr wieder. Der Phantomschmerz ist ja ein Erinnerungsschmerz, der umso heftiger ist, je schlimmer der Schmerz vor der Amputation an dem betreffenden Glied gewesen ist.

Beim Phantomschmerz besteht vor allem ein psychisches Problem. Wenn wir vom Seelischen her, von wo aus wir erst später den Als-ob-Modus und die zukünftigen Möglichkeiten entdecken, noch nicht verstehen, dass wir nicht mehr die Möglichkeiten haben, in dem amputierten Bein etwas zu spüren, dann empfinden wir ab und zu Phantomschmerzen, da wir psychisch auf die schmerzhafte Vergangenheit ausgerichtet sind, als das Bein wegen Schmerzen und Krankheit amputiert werden musste. Wir sind im Äquivalenz-Modus, und die Gegenwart mit dem Phantomschmerz scheint äquivalent mit der Vergangenheit mit dem realen Schmerz zu sein. Nach einer Amputation müssen wir vom Psychisch-Motivationalen her begreifen, dass wir nicht mehr ein Leib mit einem schmerzenden Bein sind. Vom Geistig-Idealen her begreifen wir noch nicht den Äquivalenz-Modus und vergangene Bedingungen, als wir ein Leib mit einem schmerzenden Bein waren. Würden wir jetzt aufstehen und versuchen, mit zwei Beinen zu laufen, dann würden wir hinfallen und durch diese Täuschung und Enttäuschung vom Geist her ziemlich schnell verstehen, dass wir über die Möglichkeit dieses Seinkönnens nicht mehr verfügen und nur noch ein Bein haben. Auch wenn wir nur hinschauen, sehen wir, dass ein Bein fehlt. Ganz allgemein verstehen wir etwas am besten durch positive Fakten, die wir wahrnehmen, greifen und begreifen können. Eine Täuschung ist wahrnehmbar und daher so ein positives Faktum. Aber kein Leib mehr mit einem schmerzenden Bein zu sein trotz früherer äußerst schmerzhafter Erfahrungen und Empfindungen mit einem derartigen Leib, ist ein negatives Faktum, sodass es von unserer Psyche her wesentlich schwieriger ist, dieses Faktum eines Nicht-Schmerzes zu begreifen. Insofern ist der Phantomschmerz ein psychisches Problem.

Je mehr wir vom Geistigen her den Äquivalenzmodus und daher das Psychisch-Motivationale verstehen und damit im Als-ob-Modus eine Inszenierung kreieren können, in der wir uns leiblich mit schmerzfreien Beinen empfinden, was z.B. mit der Spiegelmethode gelingen kann2, desto mehr begreifen wir uns dann vom seelischen Aspekt her als Leib, der vom Phantomschmerz befreit ist, und vom Geistigen und vom Psychischen her verstehen wir dasselbe.

Letztlich kann man alle psychischen Probleme darauf zurückführen, dass es eine vergangene unverarbeitete und schmerzhafte Erfahrung gibt, die wie ein Phantom immer wieder in der Gegenwart auftaucht, weil sie nicht verarbeitet wurde, und die die Dynamik unserer Motive derart beeinflusst, dass wir früher oder später mit unlösbaren Problemen konfrontiert sind, wenn wir diese Beeinflussung nicht beenden können. Ein psychisches Problem haben wir immer dann, wenn wir vom psychisch-motivationalen Aspekt her etwas vermeiden oder erreichen wollen, wir aber aufgrund vergangener unverarbeiteter und schmerzhafter Erfahrungen affektiv unangenehm berührt, empfindungsmäßig negativ eingestellt und gefühlsmäßig gestimmt befürchten, dass wir nicht oder nicht ohne Nachteile tun oder erreichen können, was wir wollen. Beim Phantomschmerz ist es die vergangene Erfahrung, den Schmerz nicht in den Griff zu bekommen außer durch eine Narkose mit anschließender Amputation. Dann aber fehlt die Erfahrung, dass der Schmerz durch etwas anderes abgelöst worden ist (wir waren ja bewusstlos). Erst wenn dies gelingt und die ursprüngliche Schmerzerfahrung durch immer mehr andere Erfahrungen immer bedeutungsloser geworden ist, ist das psychische Problem gelöst und der Schmerz und die damit verbundene Belastung verarbeitet. Beim Phantomschmerz kann dies mit der oben beschriebenen Spiegelmethode gelingen, indem dabei immer wieder der Eindruck vermittelt wird, dass das amputierte Bein nicht mehr weh tut, sondern ein anderer taktiler Reiz als real erfahren wird. Bei anderen psychischen Problemen kann es helfen, bestimmte Schlüsselszenen, die die entsprechende Erfahrung vermittelt haben, in einer Art Psychodrama oder Trance-Phantasie neu zu inszenieren, oder man kann gleich Teile des Selbstprozesses, in denen das Problem auftaucht, durchspielen und so verarbeiten, denn beim Durcharbeiten von psychischen Problemen geht es immer um diesen Selbstprozess, der durch die Spiegelung anderer beeinflusst wird, den wir aber auch durch unser eigenes Reflektieren (Als-ob-Modus), Identifizieren (Äquivalenz-Modus) und Erleben (Realitätsmodus) verändern können.

Für derartige Veränderungen muss das Identifizieren im Äquivalenz-Modus stattfinden, da es sich um psychische Probleme handelt, und das Erleben im Realitätsmodus. Unter dem psychischmotivationalen Aspekt betrachtet sind wir ja unser Leib, sodass alle Veränderungen leiblich erlebt werden müssen. Bei der Spiegelmethode zur Auflösung des Phantomschmerzes erfährt die betreffende Person ja auch leiblich durch die Berührung derselben Stelle, wo er oder sie den Schmerz am amputierten Bein zu spüren meint, am vorhandenen Bein, dass an dessen Spiegelung, welche sie mit dem amputierten Bein identifiziert, nichts mehr weh tut.

Insgesamt sind also drei Dinge wichtig und entscheidend zur Lösung psychischer Probleme bzw. psychischer Belastungsstörungen: (1) das eigene geistige Reflektieren des psychischen Problems im Als-ob-Modus, um ein Vehikel für das Erleben zu schaffen, (2) das leibliche Identifizieren im Äquivalenz-Modus und (3) das leibliche Erleben im Realitätsmodus. Schlüsselszenen zu bearbeiten, in denen üblicherweise wichtige Bezugspersonen eine Rolle spielen, bedeutet normalerweise, den Wunsch und seine Vermeidung zu bearbeiten, von ihnen anders behandelt zu werden, z.B. mehr gesehen zu werden oder anders gesehen zu werden. Wie beim Phantomschmerz kann es helfen, das psychische Problem zu lösen, wenn man seinen Selbstprozess spiegelt (beim In-Szene-Setzen) und nach einer leiblich spürbaren Identifizierung mit der kritischen Stelle den Finger auf diese legt, sodass man greifen und begreifen kann, dass es kein Problem mehr gibt. Der Selbstprozess ist ja (1) dialogisch (Modus des Genus3) im gewissermaßen rhythmischen Wechselspiel verschiedener Positionen (und diesen Dialog kann man immer wieder neu durchspielen), (2) abstrahierend (Modus des Individuums) im zeitlich wachsenden Selbstverständnis (durch das erneute Durchspielen) und (3) handelnd (Modus der Spezies) im räumlich sich einlassenden Umgang mit der Welt (weil man sich nach dem veränderten Durchspielen neu einlassen kann).

In der psychotherapeutischen Situation4 überträgt ein Patient oft unbewusst eine bestimmte Rolle auf den Therapeuten und kreiert so im Als-ob-Modus ein Vehikel für sein Erleben. Indem er sich dann im Äquivalenzmodus mit der entsprechenden Komplementärrolle identifiziert, hat er die Möglichkeit, sein psychisches Problem im Realitätsmodus zu bearbeiten, wenn der Therapeut ihm ein alternatives Erleben ermöglicht durch ein anderes Wiederspiegeln. Um das Ganze zu festigen, können sich beide diesen Prozess anschließend bewusstmachen.

Speziell bei lang anhaltenden oder mehrfachen Belastungen, die dadurch zu chronischen Belastungsstörungen geführt haben, kommt es in der Regel zu der Komplikation, dass physisch und psychisch derartige Schäden entstanden sind, dass die oben dargestellte Vorgehensweise nicht durchführbar oder nicht erfolgreich ist, weil es dabei zu Retraumatisierungen bzw. stärkeren Belastungen kommt, die ein Durcharbeiten verhindern. Dann kann es sein, dass man erst einmal auf der leiblichen Ebene ansetzen muss und die dort vorhandenen Entspannungs- und Heilungsprozesse aktiviert, z.B. durch bestimmte Bioenergetik-Übungen (Bercelli, 2018) oder andere körpertherapeutische Maßnahmen, z.B. auch Entspannungsübungen.

Das Beispiel des Phantomschmerzes, welches sich auf alle psychischen Probleme übertragen lässt, zeigt die Grenzen des psychisch-motivationalen Aspekts unseres Daseins auf, wenn wir jedoch unseren Leib in körperliche Einzelheiten aufbrechen und ihn als Körper betrachten, den wir haben, dann zeigen sich dabei die Grenzen einer rein geistig-idealen Herangehensweise, die den Blick auf das Ganze trübt. Wie bei einem zerbrochenen Spiegel sehen wir nur noch ein Zerrbild, der Körper als aufgebrochener Leib stellt ein Hindernis dar, Psychisches und Geistiges zu erkennen, insbesondere unsere Befindlichkeit. Ohne leibliches Erleben und das Aktivieren unserer leiblichen Selbstheilungskräfte können wir bei psychischen Belastungsstörungen nichts erreichen, und dazu müssen sich psychische und geistige Herangehensweisen an unsere Leiblichkeit ergänzen.

Was man am Beispiel psychischer Belastungsstörungen nun erkennen kann, oder daran, wie man in solchen Fällen Leid mindern kann, ist die Bedeutung und Wichtigkeit davon, dass psychische und geistige Herangehensweisen möglichst harmonisch zusammenwirken sollten. Dazu ist möglichst viel und genaues Wissen über die Wirklichkeit wichtig, also darüber, welche Handlungen und Handlungsweisen wie wirken. Es geht um ein möglichst echtes und unmittelbares Verständnis darum, um was es im menschlichen Dasein jeweils geht, denn nur dadurch können wir unnötiges Leid verhindern. Diese Art des Verstehens habe ich vollkommene Liebe genannt (Kolb, 2017a), und dies beinhaltet sowohl Fremd- als auch Selbstliebe und ist verankert in der Liebesfähigkeit, die jeder Mensch von Anfang an schon mitbringt. Die Entwicklung der Liebesfähigkeit bei uns und anderen – dies ergibt sich auch aus den Betrachtungen psychischer Belastungsstörungen – muss das übergeordnete Ziel sein, wenn wir Leid mindern wollen. Umgekehrt ist Leidminderung das Maß unserer Liebesfähigkeit.

2 Das vorhandene Bein spiegelt sich, sieht im Spiegel aus, als ob es das amputierte wäre, und wird mit diesem leiblich identifiziert (Äquivalenz), sodass eine Berührung des vorhandenen Beins an der Stelle des Phantomschmerzes des anderen Beins den Eindruck am nur als Spiegelbild vorhandenen Bein vermittelt, dass dort real nichts mehr weh tut. In der Medizin wird heute nachträglich der Stumpf örtlich betäubt, wodurch auch der Phantomschmerz betäubt wird, und nach einigen derartigen Behandlungen verschwindet dieser dann auch. Diese Methode ist zuverlässiger, weil die leibliche Identifikation im Äquivalenz-Modus nicht immer gelingt.

3 Zu den Modalitäten Genus, Individuum und Spezies unseres Daseins: Genus meint unser Dasein als gemeinschaftliche Wesen und unsere Gemeinsamkeiten, wodurch wir Gemeinschaften bilden können, Individuum meint das Dasein als einzelne Wesen und Spezies als handelnde Wesen in bestimmten Rollen und Positionen im Beziehungsgeflecht der jeweiligen Gemeinschaft. Alle drei Modalitäten befinden sich in einem absolut dialektischen Verhältnis, d.h. zwei von ihnen vermitteln das dritte und dieses zwischen den beiden anderen.

4 Eine Situation ist ein raumzeitlich bezüglich eines Zieles bzw. eines Worumwillens begriffener Zusammenhang, in dem ein Lebewesen innerhalb bestimmter räumlicher und zeitlicher Grenzen bzw. Horizonte materielle Gegensätze unterscheiden bzw. wahrnehmen, Aussichten beurteilen (was auf es zukommen kann) und praktische Zusammenhänge sowohl induktiv als auch deduktiv, als auch conduktiv schlussfolgernd sich erschließen kann, wo etwas im Allgemeinen herkommt, wo etwas im Speziellen hinführen und womit man im Einzelnen zusammengeführt werden kann.

2. Leidminderung

Ich denke, wir können davon ausgehen, dass alle Lebewesen und insbesondere alle Säuglinge schon von Geburt an danach streben, eigenes Leid zu mindern. Im Verlauf ihrer Entwicklung lernen Kinder immer mehr, wie sie das erreichen. Folgt man dem Entwicklungsmodell von Fonagy et al. (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008), dann begreifen sie zuerst, dass alle Aktivitäten Folgen haben, wenn sie sich als physischer Akteur (ebenda) erfahren. Als sozialer Akteur lernen sie, anderen möglichst kein Leid zuzufügen, da Menschen prinzipiell gleichartig sind, und dass das, was sie anderen zufügen, diese ihnen ebenfalls antun können. Daher mindert es mögliches eigenes Leid, wenn sie anderen kein Leid zufügen. Als teleologischer Akteur erfahren sie, dass immer etwas Unvorhergesehenes passieren kann, sodass es der eigenen Leidminderung dienlich ist, auf andere zu hören und sich nach denjenigen zu richten, die mit Gefahren besser umgehen können als sie selbst. Derartige Rangordnungen zu akzeptieren und zu respektieren, kann eigenes Leid vermindern. Als intentionaler Akteur konfrontiert mit dem Leid, etwas Erwünschtes allein nicht erreichen zu können, lernen Kinder, dass sie mehr erreichen können, wenn sie Bündnisse, auch kurzfristige, mit anderen eingehen, bei denen man sich gegenseitig hilft. Mit der entsprechenden Loyalität oder Bündnistreue können sie so eigenes Leid in noch größerem Maße mindern.

Dabei spielt die Sprache eine hervorragende Rolle. Sie hat in diesem Zusammenhang aber zwei entgegengesetzte Rollen: als technische und wissenschaftliche Sprache bricht sie die Realität auf ein Raster hinunter und das Gemeinsame wird wie bei einem zerbrochenen Spiegel verzerrt bis zur Unkenntlichkeit. Ist die Sprache dagegen dichterisch-symbolisch, so betrachten wir anhand solcher Ausdrucksweise die Wirklichkeit als ganzheitlichen Prozess, und dann lichtet sich der Nebel immer mehr, sodass das Gemeinsame immer besser erkennbar wird. Wenn man das Streben nach Leidminderung als erstes Zeichen unserer Liebesfähigkeit bezeichnet, so ist diese bei kleinen Kindern zuerst nur auf das eigene Dasein gerichtet und entwickelt sich dort bis zu einem gewissen Grad als Selbstliebe. Erst auf der Ebene des repräsentationalen Selbst (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008) entsteht die Fremdliebe und vereinigt sich mit der Selbstliebe zu etwas Absolutem, z.B. zur Liebe für alles Lebendige, in welches sich schon kleine Kinder von vier Jahren hineinversetzen können. Je besser zwischenmenschliche Beziehungen gelingen, desto echter und unmittelbarer verstehen wir das Gemeinsame bzw. den gemeinsamen Sinn, wozu wir da sind, das Worumwillen unseres Daseins, wie Heidegger es nennt (Heidegger, 2006). Ich habe dieses echte und unmittelbare Verständnis die Utopie der vollkommenen Liebe genannt (Kolb, 2017a).

Liebe beginnt also mit Leidminderung, und Leidminderung ist auch die materielle Verankerung von Liebe, d.h. wir können die Entwicklung unserer Liebesfähigkeit daran erkennen, ob wir Leid vermindern können oder nicht. Je mehr Leid wir mindern können, sowohl bei anderen als auch bei uns, desto näher sind wir an der Utopie der vollkommenen Liebe.

3. Psychische Struktur

Da in den heutigen Psychotherapien, die auf der psychoanalytischen Theorie gründen (vor allem die Psychoanalyse und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie), die sogenannten strukturellen Störungen immer mehr in den Focus der Forschung gekommen sind, will ich den Begriff der psychischen Struktur, um deren Störungen es dabei geht, genauer betrachten. Im Lateinischen bedeutet structura Sinngefüge oder sinnvoll Übereinandergeschichtetes bzw. Zusammengefügtes, und da nichts von sich aus einen Sinn hat, ist Struktur immer etwas, was wir geben, und wenn wir eine Struktur erkennen bzw. zu erkennen glauben, dann interpretieren wir einen Sinnzusammenhang in etwas hinein. Eine Struktur ist immer auch etwas Gemeinsames von mehreren Personen. Eine Struktur, die nur ein Einzelner gibt und mit niemand anderem teilen, niemandem erklären kann, weil niemand einen Sinn darin finden kann, ist sinnlos und damit keine Struktur5. Daher übt eine erkannte Struktur einen sogenannten Vollzugszwang auf uns aus, d.h. wir können nicht anders, als die Bedeutung des jeweils konkreten Sinngefüges, seinen Sinn, zu entschlüsseln. Wenn wir z.B. Buchstaben erkennen, lesen wir automatisch die daraus gebildeten Wörter. Als Leser dieser Worte können Sie die hier geschriebenen Striche und Linien nicht als ein abstraktes Muster sehen, das kann nur ein Kind, das noch nicht gelernt hat zu lesen und daher noch nicht den Sinn erkennen kann, Sie aber müssen diese Worte lesen oder wegschauen. Insofern hat jede Struktur eine Wirkung auf uns, die umso größer ist, je bedeutsamer ihr jeweiliger konkreter Inhalt ist. Wenn die gelesenen Worte für uns bedeutungsvoll sind, z.B. wichtige Informationen enthalten oder uns emotional ansprechen, kann die Wirkung sehr groß sein.

Unter der Psyche versteht man zum einen den psychischmotivationalen Aspekt unseres Daseins, wenn wir von etwas ergriffen oder durch etwas betroffen sind, und uns dadurch motiviert, bewegt oder gedrängt fühlen, etwas zu tun oder nicht zu tun, oder allgemein, eine Entscheidung zu treffen. Um eine Entscheidung treffen zu können, stellen wir uns die erwarteten Konsequenzen der verschiedenen Möglichkeiten unseres Seinkönnens vor, von denen wir annehmen, dass wir diese zur Verfügung haben. Wir überlegen, legen bildlich gesprochen die verschiedenen Möglichkeiten übereinander und vergleichen sie, sodass wir die möglichst beste Wahl unter Berücksichtigung verschiedener Perspektiven und Kriterien treffen können. Dabei spielt der geistig-idealistische Aspekt unseres Daseins die entscheidende Rolle, wir stellen uns geistig etwas vor und streben dabei nach einem idealen Ergebnis. Insofern ergänzen sich Psyche und Geist, und je weniger wir uns täuschen bei unseren Entscheidungen, desto weniger brauchen wir unsere Ergriffenheit bzw. Betroffenheit und unsere Entscheidungsprozesse kritisch zu hinterfragen, wenn wir verantwortungsvoll uns selbst und anderen gegenüber handeln wollen, um am Ende auf ein geglücktes Leben zurückblicken zu können.

Mit psychisch