Liebe und Resonanz - Hans-Peter Kolb - E-Book

Liebe und Resonanz E-Book

Hans-Peter Kolb

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Beschreibung

Angeregt durch ein Buch von Hartmut Rosa (Rosa, 2016) über Resonanz habe ich mich entschlossen, dieses Buch zu schreiben über die Verbindung dieses Begriffes mit meiner Daseinsanalyse und unserem In-der-Welt-Sein, dessen Art und Weise ohne den Sinn nicht möglich wäre, unsere Liebesfähigkeit immer weiterzuentwickeln. Dabei fiel mir auf, dass ich darüber umso mehr schreiben konnte, je mehr ich mich mit anderen Menschen in Resonanz über das Thema Resonanz unterhielt. Nun habe ich ja das Glück, als Psychotherapeut arbeiten zu können und zu dürfen, sodass ich mich mit meinen Klienten immer wieder über dieses Thema austauschen konnte. Ich denke, dass beide Seiten davon profitieren konnten. Davon abgesehen konnte ich im letzten Kapitel einen Bezug herstellen zwischen den häufigsten depressiven Erkrankungen und den Resonanzproblemen unserer modernen Gesellschaft.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Daseinsanalytische Grundbegriffe

Soziale Resonanz und ihre Anwendungsmöglichkeiten

Die Entwicklung der Resonanzfähigkeit

3.1. Resonanz und physische Selbstwirksamkeit

3.2. Resonanz und soziale Selbstwirksamkeit

3.3. Resonanz und teleologische Selbstwirksamkeit

3.4. Resonanz und intentionale Selbstwirksamkeit

3.5. Resonanz und repräsentationale Selbstwirksamkeit

Vier Wirkungsbereiche der Resonanz

4.1. Resonanz und Arbeiten

4.2. Resonanz und Herstellen

4.3. Resonanz und (zwischen-)menschliches Handeln

4.4. Resonanz und Sinngebung

Das unerfüllte Resonanzversprechen der Moderne

Abbildungen und Tabellen

Literaturverzeichnis

Vorwort

Angeregt durch ein Buch von Hartmut Rosa (Rosa, 2016) über Resonanz habe ich mich entschlossen, dieses Buch zu schreiben über die Verbindung dieses Begriffes mit meiner Daseinsanalyse und unserem In-der-Welt-Sein, dessen Art und Weise ohne den Sinn nicht möglich wäre, unsere Liebesfähigkeit immer weiterzuentwickeln. Dabei fiel mir auf, dass ich darüber umso mehr schreiben konnte, je mehr ich mich mit anderen Menschen in Resonanz über das Thema Resonanz unterhielt. Nun habe ich ja das Glück, als Psychotherapeut arbeiten zu können und zu dürfen, sodass ich mich mit meinen Klienten immer wieder über dieses Thema austauschen konnte. Ich denke, dass beide Seiten davon profitieren konnten. Davon abgesehen konnte ich im letzten Kapitel einen Bezug herstellen zwischen den häufigsten depressiven Erkrankungen und den Resonanzproblemen unserer modernen Gesellschaft.

Nach einer kurzen Einführung in die Grundbegriffe meiner Daseinsanalyse, die insofern unvollständig bleibt, weil ich für ihre Begründung auf frühere Bücher von mir verweisen musste, um hier nicht den Rahmen zu sprengen, habe ich versucht, den Begriff der Resonanz im Rahmen unseres menschlichen Daseins möglichst präzise zu fassen und seine Relevanz für die Sozialwissenschaften zu begründen. Anhand eines Entwicklungsschemas mit verschiedenen aufeinander aufbauenden Entwicklungsebenen habe ich die spezifische Entwicklung von Resonanz skizziert, wobei ich zuvor den Begriff Resonanz in einem absolut dialektischen Schema dargestellt habe, welches die allgemeine Entwicklung von Resonanz veranschaulicht. Abschließend betrachte ich Resonanz in den vier wichtigen Lebensbereichen des Arbeitens, des Herstellens, des menschlichen Handelns (bis hierhin folge ich weitgehend Hannah Arendt) und der Sinngebung. Dieser letzte Abschnitt des Kapitels endet dann mit einer Kritik an unserer heutigen gesellschaftlichen Situation, bei der auch die Chancen betrachtet werden, die sich uns heute bieten. Zum Schluss stelle ich die drei häufigsten, aber letztlich erfolglosen Lebensformen skizzenhaft dar, die sich im Umgang mit dem unerfüllten Resonanzversprechen der Moderne etabliert haben und auch von ihr unterstützt und gefördert werden, und zeige andeutungsweise auf, wie sie überwunden werden können durch das Streben nach der Utopie der vollkommenen Liebe bzw. durch unsere Bemühungen, die eigene Resonanzfähigkeit weiterzuentwickeln, und andere dabei zu unterstützen und zu fördern, dasselbe bei sich zu tun. Der Anhang enthält einige Abbildungen und Tabellen, die das Verständnis meiner daseinsanalytischen Begriffe erleichtern soll.

1. Daseinsanalytische Grundbegriffe

Als grundlegende Modalitäten unseres menschlichen Daseins bezeichnet Tanabe, ein mitbegründender Philosoph der Kyoto-Schule in Japan, den Modus des Genus als Wesen derselben Art, den Modus des Individuums und den der Spezies als handelnde Wesen (Tanabe, 2011). Diese drei Modi befinden sich in einem absolut dialektischen Verhältnis, d.h. jeweils zwei vermitteln das eine und dieses zwischen den beiden ersten (ebenda). Dadurch besitzt kein Modus einen Vorrang. Weiterhin zählt er noch zwei Daseinsaspekte auf, nämlich den des Geistes bzw. des Geistig-Idealen und den der Materie bzw. des Materiell-Gegensätzlichen (das ist alles Wahrnehmbare, denn wir können nur Gegensätzliches wahrnehmen, wahrnehmen ist unterscheiden) (ebenda), wobei mir unverständlich ist, warum er nicht noch als dritten ebenso grundlegenden Daseinsaspekt die Psyche bzw. das Psychisch-Motivationale aufgeführt hat, womit diese drei Aspekte sich ebenfalls in einem absolut dialektischen Verhältnis befinden, d.h. keiner der drei Aspekte besitzt einen Vorrang.

Diese Modi und Aspekte sind nun folgendermaßen verbunden: Der Aspekt des Geistes verknüpft die beiden Modi des Individuums und der Spezies, indem wir als Individuum überlegen (übereinanderlegen und vergleichen), welche Möglichkeiten im Umgang mit etwas, von dem wir ergriffen sind, wir zu handeln haben und was dabei auf uns zukommen könnte (Zukunft), wir sind dabei geistige Subjekte, und als Spezies setzen wir die entsprechenden Entscheidungen und Pläne erwartungsvoll um, wobei wir dies mit einem entsprechenden Gefühl tun, und sind somit Objekte des Geistig-Idealen. Dabei steht das Geistige dem Modus des Genus gegenüber, wir sind im Allgemeinen als Gemeinschaftswesen dazu aufgefordert, unsere Wünsche, Ideale, Pläne und Entscheidungen zu verantworten und die Konsequenzen unseres Handelns zu tragen, auch wenn wir noch nicht erkennen, wohin dies führt.

Der Aspekt der Psyche verbindet die beiden Modi des Genus und des Individuums, indem wir als Gemeinschaftswesen anfänglich nur im Austausch mit anderen, später wie andere begreifen (anfänglich auch wörtlich, also haptisch), was wir wahrgenommen haben, wo etwas herkommt (Herkunft), in dieser Dynamik sind wir psychische Subjekte, die sich, um zu begreifen, bewegt haben (Motivation kommt von lateinisch movere, bewegen), was uns als Individuum dann ergreift, bewegt und motiviert, dann sind wir Objekte des Psychisch-Motivationalen, die den Bezug des Wahrgenommenen zu sich empfinden und dabei etwas von sich finden. Dabei steht das Psychisch-Motivationale in der Hinsicht dem Modus der Spezies gegenüber, dass wir motiviert sind zu handeln, auch wenn wir noch nicht wissen wie.

Der Aspekt der Materie schließlich ist das Bindeglied zwischen den beiden Modi der Spezies und des Genus, indem wir handelnd am Materiellen, an den Gegensätzen etwas verändern, etwas bewegen, und somit körperlich-materielle Subjekte sind, während wir im Modus des Genus zusammen mit allen oder ähnlich wie alle anderen, wenn sie es gerade wahrnehmen können, die Auswirkungen unseres Handelns unterscheiden, inwieweit unsere Erwartungen erfüllt sind oder nicht, was uns entsprechend anmacht bzw. affiziert, d.h. dabei sind wir Objekte des Materiell-Gegensätzlichen, die in einer bestimmten Situation angekommen sind (Ankunft). Dieses steht dem Modus des Individuums gegenüber, in welchem wir Enttäuschung empfinden oder Zufriedenheit, je nachdem inwieweit unsere Erwartungen erfüllt sind oder nicht, auch wenn wir noch nicht begriffen haben, woher das kommt.

Eine Situation ist ein raumzeitlich bezüglich eines Zieles begriffener Zusammenhang, in dem ein Lebewesen innerhalb bestimmter räumlicher und zeitlicher Grenzen bzw. Horizonte materielle Gegensätze unterscheiden bzw. wahrnehmen, Aussichten beurteilen (was auf es zukommen und was es erreichen kann) und praktische Zusammenhänge sowohl induktiv als auch deduktiv als auch conduktiv schlussfolgernd sich erschließen kann, wo etwas im Allgemeinen herkommt, wohin etwas im Speziellen hinführen und womit man im Einzelnen zusammenkommen kann. Situationen, die Tiere wahrnehmen oder begreifen können, sind begrenzt durch ihre Ziele, während Menschen Situationen ohne irgendein bestimmbares Ende wahrnehmen oder begreifen können, nämlich Situationen mit einem unbekannten Ziel, z.B. die vollständige Situation des Universums, wie sie es begreifen. Menschen können ihre gesamte Lebenssituation wahrnehmen und begreifen, z.B., dass sie einmal sterben werden, Tiere aber nicht.

Den drei Daseinsaspekten entsprechen die drei grundlegenden Formen der Emotionen, nämlich der mit der Wahrnehmung verbundene Affekt als Objekt der Materie, die mit dem Begreifen verbundene Empfindung als Objekt der Psyche, wenn man bei sich als Individuum eine Regung1 bzw. eine Betroffenheit spürt und so etwas von sich findet, und das mit dem Entscheiden verbundene Gefühl als Objekt des Geistes, wenn man mit bestimmten Erwartungen vorfühlt. Entsprechende Wahrnehmungsstrukturen sind dabei die Rhythmik als akzentuierter Wechsel der Gegensätze mit dem Beziehungsmuster der Ähnlichkeit und der materiellen Verankerung durch den Gegensatz lebendig-tot, was uns affiziert, die Zeit mit Beginn, Dauer und Ende der jeweiligen Spannung zwischen Gegensätzen mit dem Beziehungsmuster der Entwicklung und der materiellen Verankerung durch Werden-vergehen, was uns empfindungsmäßig ergreift, und schließlich der Raum als Entfernung zwischen Gegensätzen mit dem Beziehungsmuster der Geordnetheit und der materiellen Verankerung nah-fern bzw. vertraut-fremd, was wir erwartungsvoll fühlen. Die entsprechenden Arten der Rezeption sind dann unterscheiden (differenzieren), Bescheid wissen (integrieren) und entscheiden (regulieren), und als Dispositionen haben wir die Haltung (körperlich-materiell in der Gegenwart), die Einstellung (psychisch-motivational aufgrund vergangener Erfahrungen) und die Stimmung (geistig-ideal auf die Zukunft ausgerichtet).

Beim Gedächtnis kann man sechs verschiedene Arten unterscheiden: Zum einen gibt es das Handlungs-und-Wir-kungsgedächtnis, das Planungs-und-Beurteilungsgedächtnis und das Bedingungs-und-Weltanschauungsgedächtnis, die sich in einem absolut dialektischen Verhältnis befinden und daher zusammengefasst werden können zum (auto-)biographischen Gedächtnis (Kolb, 2017c). Zum anderen gibt es das Affektgedächtnis, das Empfindungsgedächtnis und das Gefühlsgedächtnis, die ebenfalls in einem absolut dialektischen Verhältnis stehen und zusammengefasst das emotionale Gedächtnis bilden (ebenda). Man kann sie auf einem Kreis anordnen, sodass man auf diese Weise einerseits kluges Handeln und dessen Entwicklung beschreiben kann (s. Anhang, Abbildung 1) und andererseits verantwortlich-reflektiertes menschliches Handeln und dessen Entwicklung (s. Anhang, Abbildung 3). Denken, was ja wortverwandt mit Gedächtnis ist, lässt sich dann beschreiben als Kommunikation zwischen zwei auf diesem Kreis angeordneten Gedächtnisarten und damit als Kommunikation zwischen biographischem und emotionalem Gedächtnis (Kolb, 2017e, S. 62 ff.).

Im Modus des Genus als Objekt der Materie und als psychisches Subjekt spielt der gemeinsame Raum als Wahrnehmungsstruktur die wichtigste Rolle, und wir sind durch diese Räumlichkeit aufgefordert, uns einzulassen, uns mit anderen auszutauschen und zu begreifen. Man kann auch sagen, dass wir in diesem Modus wählen müssen, ob wir uns einlassen und ob wir uns in die Ekstase der Auskunft und des Austauschs mit anderen2 versetzen oder versetzen lassen. Als Individuum und Objekt der Psyche und geistiges Subjekt geht es hauptsächlich um Zeit und wir müssen in diesem Modus entscheiden, ob wir uns in die drei zeitlichen Ekstasen der Herkunft, der Zukunft und der Ankunft versetzen oder versetzen lassen. Wir sind aufgefordert, zu verstehen, zu planen und zu entscheiden. Als Spezies und Objekt des Geistes und materielles Subjekt sind wir durch das rhythmisch-akzentuierte Wechselspiel von Gegensätzen mit Bedingungen, Zusammenhängen und der lebendigen Wirklichkeit konfrontiert, was uns in die Ekstase der Weltzugehörigkeit versetzt, in die wir uns auch selbst versetzen können. Wir sind aufgefordert, lebendig zu sein und zu handeln.

Als empirische Unterfütterung dienen die von Fonagy et al. aufgeführten Forschungsergebnisse (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2008), die sie zu der Theorie geführt haben, dass sich bei der kindlichen Entwicklung zuerst das physische, das soziale, das teleologische, das intentionale und dann das repräsentationale Selbst entwickelt. Zum Begriff des Selbst lässt sich etwas differenzierter als Heidegger in Sein und Zeit (Heidegger, 2006) sagen, dass unser Selbst phänomenal enthalten ist in unserer jeweiligen Ergriffenheit (psychisch) und Erwartung (geistig), und sich im Materiellen als Täuschung oder Erfüllung zeigt. Indizien dafür, dass es sich um keine ethnozentrischen Einseitigkeiten handelt, sind, dass es im Tierreich ähnliche Selbstentwicklungsstufen gibt bis zum intentionalen Selbst (Kolb, 2017e). Nur das repräsentationale Selbst ist ausschließlich menschlich. Ferner entsprechen die dianoetischen Tugenden von Aristoteles in der Reihenfolge Verstand, Wissenschaft, Kunstfertigkeit, Klugheit (auch manche Tiere werden laut Aristoteles bei den Griechen klug genannt) und Weisheit (Bien, 1985) diesen Entwicklungsstufen. Schließlich gibt Nishida, der andere Gründer der Kyoto-Schule, zur Lösung des Identitätsproblems, wie ich ich selbst bleiben kann, wenn ich mich doch stets ändere, die Überwindung folgender Gegensätze an, die in der hier aufgeführten Reihenfolge ebenfalls den fünf Entwicklungsstufen des Selbst bei Fonagy et al. entsprechen: aktiv-passiv, objektiv-subjektiv, kontinuierlichdiskontinuierlich, linear-zirkulär und räumlich-zeitlich (Nishida, 2011). Wer sich diese Zusammenhänge nicht selbst erschließen kann, kann sie bei mir nachlesen (Kolb, 2017a; Kolb, 2017b; Kolb, 2017c), und für Entwicklungen im Tierreich (Kolb, 2017e).

Wenn man davon ausgeht, dass jede Analyse als Ziel eine Verbesserung dessen hat, was analysiert wird, dann ergibt sich für unser menschliches Dasein logisch als ultimatives wenn auch utopisches Ziel die vollkommene Überwindung (umgreifen und auflösen) aller Täuschungen und Enttäuschungen bzw. aller Gegensätzlichkeiten der Materie. Dazu müssten unsere Erwartungen vollkommen erfüllt werden. Dafür müssten sie erfüllbar sein, d.h. auf dem vollkommen richtigen Verständnis unserer Möglichkeiten beruhen und dessen, was auf uns zukommen kann. Zur Erfüllbarkeit gehört daher, dass wir nichts Unmögliches wollen, d.h. von etwas ergriffen sind, was wir nicht erreichen können, wofür es also keine entsprechenden Möglichkeiten zur Erfüllung gibt. Wenn wir vollkommen begreifen würden, woher es kommt, dass wir von etwas ergriffen sind, dann würden wir aufgrund des vollkommenen Verständnisses unserer Möglichkeiten und der entsprechenden Handlungskonsequenzen auch vollkommen begreifen, ob wir dabei Erfüllung finden oder nicht und woher auch das kommt. Insgesamt ergibt sich daraus das vollkommene befindliche Verstehen unseres Worumwillens, wie Heidegger es nennt (Heidegger, 2006), d.h. wozu wir in der Welt sind. Statt „vollkommen“ kann man auch „echt und unmittelbar“ sagen, wobei „echt“ sofort einsichtig ist, da es sonst zu Täuschungen kommen muss, während „unmittelbar“ bedeutet, dass unser befindliches Verstehen durch nichts Anderes vermittelt sein darf als durch unser Worumwillen, als dadurch, wozu wir in der Welt sind, sonst ist es von etwas anderem abhängig und daher nicht vollkommen. Das Wozu bzw. der Sinn unseres Daseins liegt einerseits darin, dass wir leben wollen, und zwar in der Welt und mit anderen, sonst wäre es kein Leben. Andererseits werden wir alle früher oder später sterben, sodass der Sinn unseres Daseins für uns erst einmal weder echt noch unmittelbar verstanden werden kann. Wenn wir diesen Gegensatz überwunden hätten – und wir können jetzt schon lernen, immer besser damit umzugehen –, dann würden wir den Sinn unseres Daseins unmittelbar und echt verstehen. Dieser Sinn ist in unserem Dasein von vorneherein verankert und zeigt sich an vielen Stellen, insbesondere in der kindlichen Entwicklung, aber diesen Sinn gibt es schon bei allen Lebewesen. Somit ist der Sinn im Dasein bereits erschlossen, wenn auch noch lange nicht verstanden.

Als Individuum ist mein Dasein ganz im Für-Sich, ganz auf sich allein gestellt, denn die Bürde seiner Befindlichkeit als Objekt der Psyche kann mir niemand abnehmen („Jeder hat sein eigenes Kreuz zu tragen“), und meine Würde als Entwerfender, als geistiges Subjekt, kann mir auch niemand streitig machen („Die Gedanken sind frei“). Als Individuum bestimmt sich mein Dasein ganz und gar selbst, es ist ganz und gar ein Einzelnes, erwartungsvoll entwerfende und befindlich ergriffene Geworfenheit (Heidegger, 2006). Mit meiner Bürde und Würde ist mir als Individuum mein Selbst vollkommen und ganzheitlich erschlossen, wenn auch nicht unbedingt verständlich. Das ganzheitliche Selbstverständnis ist das, was den Modus des Individuums idealerweise auszeichnet. Alles, was mich betrifft, kann ich dadurch „selbstverständlich“ immer besser vorhersehen.

Als Spezies ist mein Dasein ganz im An-Sich, es kommt aus dem Für-Sich heraus und tritt als etwas Besonderes an seine Umwelt heran, mit seiner Umwelt in Kontakt, denn mit seiner Absicht, als Objekt des Geistes eine bestimmte Möglichkeit seines Seinkönnens in die Tat umzusetzen, trägt es etwas Besonderes in besonderer Weise an seine Umwelt heran, und in der tatsächlichen Umsetzung als materielles Subjekt entstehen Wechselwirkungen, entsteht Kontakt, und mein Dasein bekommt auch etwas an sich