Dead Poison - Celina Weithaas - E-Book

Dead Poison E-Book

Celina Weithaas

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Beschreibung

Glaubst du noch an Hoffnung? Cathrin kehrt an den Ort zurück, an dem ihr Leben geprägt wurde: Madames Waisenhaus. In dem festen Glauben, von allen verlassen worden zu sein, bäumt sie sich ein letztes Mal gegen ihre Feinde auf und schwört Rache. Diesen finstersten Weg beschreitet sie nicht allein. Eine verloren geglaubte Liebe steht ihr zur Seite und lehrt Cathrin, mit ihren übernatürlichen Fähigkeiten Frieden zu schließen. Vielleicht sogar mit ihrem Schicksal ...

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Dead Posion

Wen rächst du, wenn du alles weißt?

Celina Weithaas

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.papierfresserchen.de

© 2019 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

Titelbild: unter Verwendung von Bildern von © Glebstock, © FlexDreams,

© holwichaikawee und © tunedin – alle lizensiert AdobeStock

Bearbeitung: CAT creativ - www.cat-creativ.at

ISBN: 978-3-86196-886-3 - Taschenbuch

ISVB: 978-3-96074-693-5 - E-Book

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Inhalt:

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Unser Buchtipp

*

02.01.2009, Mikun?

Niemand besitzt hier bei Madame auch nur ansatzweise so viel Macht wie ich. Grotian steht über mir, sie steht über mir. Jeder andere ist verzichtbar und jeder sonst soll sich seinem erbärmlichen Schicksal ergeben. Sie sind Parasiten. Ich habe die Ehre, sie vernichten zu dürfen.

Ich bin dabei, Fähigkeiten zu entwickeln, die meinen Status weiter festigen. Visionen beginnen mich heimzusuchen. Ich habe Dinge gesehen. Gesehen, warum der Junge vor mir es verdient hat, zu sterben. Er hatte keinen Skrupel, das kleine Kätzchen auf seiner Dorfstraße zu erschießen und jammernd zurückzulassen. Eine einfache Schießübung. Scheint, als hätte er nie erwartet, dass auch er einmal jemandes Zielscheibe werden könnte. Zum Beispiel meine.

Ich erinnere mich an meine Schwäche, daran, dass ich es gehasst habe, diese Kinder zu töten, daran, dass ich Gnade zeigte und mich auf deren Niveau herabließ. Ich erinnere mich daran, dass ich helfen wollte. Das ist nun vorbei. Ich kann sehen, dass sie die Bösen sind. Sie wollen mir schaden, wenn sie meinem Wort nicht Folge leisten. Dafür müssen sie bezahlen. Deshalb werden sie meine Zielscheibe, weil ich alles sehe. Und weiß, dass nichts von dem, was sie sagen, etwas wert sein wird. Sie sind Verbrecher – und Verbrecher muss ich bestrafen. So verlangt es das Gesetz.

*

Kapitel 1

Wie oft stand ich schon an diesem verfluchten Tisch und starrte an die hellgraue Wand? Zu oft, als dass ich es noch zählen könnte. Tatsächlich ist mir die Möblierung hier vertrauter als die meines alten Zimmers in der Zentrale. Der Mahagonitisch am Fenster, dahinter Madames Stuhl. Für mich gibt es keinen Sitzplatz und auch für sonst niemanden hier. Die Regale, überquellend von Papieren. Wenige eingetrocknete Blutflecken auf Holz und Boden, für die jemand büßen musste.

Früher hätte ich vor Furcht stramm gestanden, den Blick gen Boden gesenkt. Aber seitdem ist viel Zeit vergangen. Seitdem habe ich mehr als alles verloren und muss keine Angst mehr empfinden. Wenn man es genau nimmt, habe ich mehr als alles aufgegeben. Nicht nur Timothy und meine möglichen Perspektiven. Mich. Ich habe mich selbst verloren. Das Mädchen, das ich hätte sein können. Diese Gewissheit lässt mich zwei Schritte nach hinten machen und auf Madames Schreibtisch Platz nehmen. Desinteressiert blättere ich durch die Papiere, die sich auf der Platte häufen. Rechnungen, uninteressant bis zum Gehtnichtmehr. Egal. Hier geht es um das eiskalte Prinzip. Hier geht es darum, Madame zu beweisen, dass sie mir egal geworden ist. Dass es sich dabei um die größte Lüge von allen handelt, kann ihr jetzt einfach mal egal sein.

Es macht mich etwas wütend, dass meine Füße nicht einmal den Boden berühren, wenn ich auf dem Schreibtisch sitze. Blöde Körpergröße. Blöde Nervosität. Blödes Zittern. Blöde Schuldgefühle, die aus dem Nichts kamen und mich jetzt auffressen wollen.

Doch als Madame den Raum betritt, bin ich ruhig, sitze auf ihrem Schreibtisch und schlenkere nicht länger mit den Beinen wie ein kleines Kind, das auf sein Eis wartet. Stattdessen sehe ich aus dem Fenster, den Zopf ordentlich über der Schulter drapiert, die Beine übereinandergeschlagen.

Madame ist nichts weiter als ein dunkler Schatten im Türrahmen, der mich abwartend ansieht und darauf beharrt, dass ich ihren stummen Befehl befolge. Ich weigere mich und verziehe die Lippen zu einem strahlenden Lächeln.

Sie zeigt keinerlei Regung, während sie auf mich zukommt. „Du warst meine beste Schülerin, Cathrin. Dein aktuelles Verhalten übersteigt meinen Horizont“, sagt sie gefährlich ruhig, verringert den Abstand zwischen uns weiter und lässt dabei die Hand über das Sideboard an der linken Wand gleiten. Eine hauchdünne Staubschicht wirbelt auf. Missbilligend reibt sie die Fingerspitzen aneinander, bis die kleinen Flocken zu Boden rieseln.

„Und Sie meine beste Lehrerin. Die einzige sind Sie aber nicht geblieben“, antworte ich seelenruhig. Bei jedem Atemzug höre ich meinen Puls in den Ohren hämmern. Angst, pure Angst. Sie wird immer diese Wirkung auf mich haben, solange mein Körper sich an die Schmerzen erinnert, die sie zufügen kann.

Madame zuckt nicht einmal überrascht mit der Wimper. Hat sie mit dieser Antwort gerechnet? Ich will darauf wetten, dass ich hier Thema war nach dieser Nacht, die Ella zum Verhängnis wurde. Denn Grotian war dort, vergoss Blut und wurde schwer verletzt. Wer könnte das schon gewesen sein – außer mir?

„Stell dich hin, Cathrin!“

Für einen Moment bilde ich mir ein, dass die Temperaturen im Raum rapide absinken. Dann erinnere ich mich daran, dass sie vielleicht grausam und kalt ist, aber nicht die Schneekönigin. Trotzdem wird mein Lächeln eher verbindlich und ich gleite auf die Füße, verschränke die Hände schon beinahe spottend hinter dem Rücken. Es ist unmöglich, ihren direkten Befehlen vollständig zu widerstehen. Madames Missbilligung wird stärker, als ich es über mich bringe, sie anzusehen. Die ganze Zeit über. Ohne zu blinzeln oder zu zittern. Zugegeben, es ist verdammt anstrengend. Nicht, weil sie unheimlich ist oder ihr Blick zu durchdringlich. Einfach, weil ich lernte, ihr nicht in die Augen zu sehen. Über Stunden, über Jahre. Über Tode.

„Blick nach unten!“

Das Bild, wie Silent reagierte, als ich Madames Tonfall gegen ihn verwendete, hat sich in meinen Kopf gefressen. Wie offensichtlich sein Widerwillen war und wie er doch nichts tun konnte, als zu gehorchen. Genauso geht es mir. Mein Kopf neigt sich ohne mein Zutun, ich nehme automatisch diese unterwürfige, geschlagene Haltung ein, während mein Körper sich an höllische Schmerzen zu erinnern beginnt, die niemand vergessen könnte. Sich davor schützen will.

„Es ist eine Überraschung, dass du gekommen bist, Cathrin. Als wäre eine verlorene Tochter heimgekommen.“

Ich weiß, dass sie nicht lügt. Es ist beunruhigender, als täte sie es. Will ich ihre Tochter sein? Eher nicht. Eigentlich will ich nur … ich will nur, dass sie dafür sorgt, dass es nicht mehr wehtut. Dass ich diese Erinnerungen an die Zeit mit Timothy nicht vergifte, dass Silent mich nicht endgültig vernichtet. Ich will, dass sie ihr Versprechen endlich erfüllt und es beendet. Einen Monat mehr bei ihr und ich wäre die Beste gewesen. Tödlich, vollkommen gewissenlos, unfehlbar. Ein Monat mehr und ich hätte niemals auf dem Weg hierher Tausende Tränen vergossen.

„Wo hast du die letzten Jahre gesteckt?“

Ist das Neugierde in ihrer Stimme? Ich versuche, weniger befremdet auszusehen, als ich mich fühle, hebe den Blick und kämpfe dagegen an, ihn augenblicklich wieder gen Boden zu richten. „Hier und dort. Eine Zeit lang habe ich als Agentin gearbeitet, dann als Tänzerin. Was halt so kommt“, erwidere ich nahezu wegwerfend.

So, als hätte diese Zeit mich nicht ausgemacht.

Madame nickt nachdenklich und tritt endlich hinter ihren Tisch, setzt sich. Sie sitzt absolut gerade, den Rücken durchgestreckt, das Kinn gehoben. Eine Königin über ihr eigenes, dunkles Reich. „Und irgendwann in der Zeit hast du deine Manieren vergessen“, sagt sie unterkühlt.

Noch ein Schulterzucken. „Die einen sagen so, die anderen so.“

Keine Regung zeichnet sich auf ihrem schönen Gesicht ab. Scheint, als überrasche sie überhaupt nichts mehr. Als wäre es ihr egal, solange sie am Ende die Oberhand behält.

„Keine Sorge, wir werden sie dir wieder beibringen.“

Daran zweifle ich nicht eine Sekunde. Für einen Moment scheint Madame abzuschweifen, dann sind ihre Augen wieder klar und stechend wie eh und je. „Vorher wirst du mir lediglich ein paar wenige Fragen beantworten müssen.“

Widerwillig versteife ich mich. Klar. Gratis bekommt man hier nichts. Nicht einmal ein paar Foltereinheiten, die den Kopf wieder zurechtrücken. „Nein“, sage ich in Erinnerung an das Mädchen, das ich geworden bin. Mir vornehme, weiterhin zu sein. Irgendwo. Bis Madame es umbringt. Meine Antwort verärgert sie nicht, belustigt sie nicht, berührt sie nicht.

„Ich war immer von deinen Fähigkeiten überzeugt, Cathrin. Beweise mir, dass ich mich nicht verkalkulierte.“

Das verstehe ich jetzt nicht ganz. Mit nach oben gezogener Augenbraue sehe ich sie an. „Was meinen Sie?“

Madame seufzt leise auf und erhebt sich wieder. Wäre sie doch bloß sitzen geblieben. Es gibt nichts Unheimlicheres, als sie dabei zu beobachten, wie sie im Raum umherläuft. Jeder Schritt ist genauso energisch und lang wie der vorherige, sie bewegt die Arme immer exakt gleich, setzt den Atemzug stets zur gleichen Sekunde. Sie ist auch nach all der Zeit noch der Inbegriff von Perfektion. Selbst wenn erste silberne Strähnen Strahlen in ihre pechschwarzen Haare zaubern. „Deine Fähigkeit, alles zu sehen. Ich will sie perfektionieren.“

Meine Gabe spitzt die Ohren und linst erwartungsvoll durch meine Mauer, während ich mich versteife und auf den Boden starre. Das ist ganz und gar nicht gut. Ich wusste, dass es nicht für immer so sein würde, dass meine Fähigkeiten nicht ewig vergraben werden können. Doch auf ein paar Jahre mehr hätte ich doch gehofft. So sehr, dass es mich selbst überrascht. Weil ich weiß, dass sie nur darauf warten, mich in der Luft zu zerfetzen? „Was geschieht, wenn ich mich weigere?“

Wieder lässt Madame die Finger über die glatte Oberfläche des dunklen Sideboards gleiten, ehe sie schweigend den Raum durchquert und zu den überquellenden Regalen schreitet. Sie zieht einen Ordner heraus, vergleichsweise dick. 2879. Mit gemessenem Schritt kommt sie zurück zu mir, geht auf ihre Seite des Tisches und öffnet den Ordner. Das Blut gefriert mir in den Adern, als sie mir bedeutet, einen Blick auf die erste Seite zu werfen. Mit exakten, kleinen Buchstaben wurde der Name auf die erste Zeile eingetragen. Es ist nicht meiner. Es ist Silents. Mit präzisen, raschen Bewegungen schlägt sie die letzte Seite auf und deutet auf das unten stehende Bild. Das, auf dem Silent reglos und jung auf dem Boden liegt, in seinem eigenen Blut. Galle sammelt sich in meinem Mundraum. Nicht einmal hier kann ich vor ihm fliehen. Selbst hier ist er allgegenwärtig.

„Heißt das, Sie ließen mich erschießen?“ Bei dem Gedanken muss ich beinahe lachen. Man hat mich hier schon so oft verletzt, aber lange hielt keine Wunde, egal ob tödlich oder nicht. Denkt sie, dass sich das geändert hat? Für so dumm halte ich Madame eigentlich nicht.

„Nein, Cathrin. Ich finde nur das, was du nicht erschossen sehen willst“, sagt sie kühl.

Mein Blick huscht zurück zu dem bewegungslosen Silent. Die Zeit bei Madame hat ihn mindestens so sehr geprägt wie mich. Die Vorstellung, sie bringt ihn zurück hierher, reißt mir das blutende Herz aus der Brust. Trotz allem, was Silent angerichtet hat. „Also zwingen Sie mich unter Einsatz fremder Leben zu den alten Kamellen?“

„Du solltest nicht überrascht sein.“

„Das bin ich nicht“, fauche ich und könnte mich kurz darauf dafür ohrfeigen. Ich bin nicht beherrscht genug, benehme mich schon fast wie eine blutige Anfängerin. Mein tiefes Durchatmen kaschiere ich, indem ich mich nach hinten lehne und aus dem Fenster sehe.

„Was hältst du davon, wenn du den Raum verlässt, Cathrin?“

Keine Bitte, ein Befehl. Ohne weitere Umschweife stehe ich auf und verlasse wortlos den Raum. Ein größeres Geschenk wird sie mir in den nächsten Wochen nicht mehr machen. Madames Blick brennt Löcher in meinen Rücken, aber ich ignoriere es, lasse mich von den restlichen, schön getäfelten Wänden, dann schneeweißen Gängen verschlucken.

Es hat sich wirklich gar nichts verändert. Alle zwei Meter stehen arme Seelen mit der Waffe im Anschlag. Die Gnadenposten. Jeder, wirklich jeder hier vor mir wird binnen der nächsten zwei Tage tot sein. Wohlweislich senke ich den Kopf. Nicht, weil ich sie fürchte. Ich will einfach nicht den Menschen in die Augen sehen, die sowieso keine Chance mehr auf irgendetwas haben. Ich will keinen Stolz und keine Hoffnung sehen. Ich will nicht die sein, in deren Augen sie die Wahrheit erkennen müssen. Bis zu diesem Moment hätte ich jedem ins Gesicht gelacht, der behauptet, die Zeit in der Zentrale hätte mich feige gemacht. Aber so ist es.

Mir kommt niemand entgegen. Nicht verwunderlich, niemand hat das Recht, den vorderen Teil des Hauses zu betreten, und von draußen kommt nie jemand außerhalb der Lieferzeiten.

Sie hat mir nicht gesagt, wohin ich verschwinden soll. Ich weiß, was sie damit bezwecken will. Madame möchte, dass ich meine Fähigkeiten nutze. Bediene ich mich derer, komme ich an den richtigen Ort und werde nicht gefoltert. Wenn nicht, dann stehen mir ein paar nette Nächte bevor. Schwer atmend sehe ich meinen Fähigkeiten in die blitzenden, mörderischen Augen. Allein um Madame zu beweisen, dass ich mich davor nicht fürchte. Ich lasse mich von Madames Willen leiten, dorthin, wo sie mich haben will. Nicht wirklich meine Lieblingsbeschäftigung, aber um zu überleben, tut man viel. Auch an der Bäckerei vorbeigehen, den toten Garten durchqueren und ein abgelegenes Haus betreten. In diesem Schuppen war ich erst einmal. An diesem Tag hat es Meridas Leben gekostet.

Meine Gabe reißt an der Leine und lechzt danach, dass mich diese Umgebung aus dem Konzept bringt. Ich ziehe die Mauer wasserdicht nach oben, bevor genau das passiert.

Die Dielen knarzen bei jedem meiner verfluchten Schritte. Seitdem ich Madames Büro verlassen habe, hebe ich den Kopf nun das erste Mal. Auch hier hat sich nichts verändert. Nur eine leere Matratze, verbarrikadierte Fenster und der dumpfe Gestank von sich zersetzendem Blut. Sieht ganz so aus wie mein neuer Lieblingsort. Ganz davon abgesehen, dass die Erinnerungen mit knorrigen Fingern beinahe nach mir zu greifen scheinen. In diesem Raum werde ich kein Auge zubekommen. Trotzdem lasse ich mich auf die Matratze fallen und gebe mir größte Mühe, den dabei aufgewirbelten Staub zu ignorieren. Was bei diesen Lichtverhältnissen nicht so schwer wäre, würde er aufhören, mich in der Nase zu kitzeln. Hier stiehlt sich kaum ein Sonnenstrahl durch die vernagelten Bretter. Gut so. Sonst müsste ich mir bewusst machen, dass ich mich soeben freiwillig in einen Schlachthof gesperrt habe.

Langsam bette ich meinen Kopf auf mein neues Bett und schließe die Augen. Nicht um zu schlafen, nicht um nachzudenken, einfach, um die Blutflecken nur noch riechen und unter meiner Wange fühlen zu müssen. Die Erinnerungen, die daran hängen, sind zu niederschmetternd, lassen zu viel Zweifel an meiner Entscheidung zu. Dabei war es doch die richtige, oder? Die einzige Entscheidung, die mich von Silent ablenken kann und meine Tränen gegenüber Timothys Verlust trocknet. Madame hat ein Versprechen zu erfüllen und ich noch etwas zu erledigen. Dafür aber brauche ich ihre sadistische Hilfe.

Steif schlage ich die Knöchel übereinander. Vielleicht taucht heute Grotian auf, vielleicht auch nicht. Wie sehr würde ich es genießen, käme Silent durch diese Tür. Würde mich anlächeln. Das ist das Schlimmste daran, dass wir uns so entzweit haben: Ich habe sein Lächeln vergessen. Dunkel erinnere ich mich an das Geräusch seines Lachens, aber da ist kein Bild mehr, wie seine Augen zu blitzen anfingen und seine Lippen sich kräuselten. Diese Momente, in denen er glücklich war und ich gezwungenermaßen auch. Als er mich in den Armen hielt und meine Welt sich richtig anfühlte, obwohl jede dieser Berührungen falsch war. Ob er irgendwo sitzt und über etwas Ähnliches nachdenkt? Über mich? Ich wünschte, ich hätte ihn nicht kalt angelächelt und weggeschickt. Lieber hätte ich vor ihm geweint. Vielleicht hätte das im Endeffekt etwas geändert. Vielleicht wäre ich nicht in das Flugzeug nach Russland gestiegen, hätte nicht fristlos gekündigt und alles aufgegeben. Vielleicht hätte es zwischen uns irgendwann etwas werden können. Irgendwie. Vielleicht hätte ich mir selbst vergeben können.

Oder wir wären nur Freunde gewesen. Hauptsache, ich hätte ihn nicht gezwungen, mich allein zu lassen.

Oder Timothy. Für seine tröstliche Umarmung würde ich alles geben. Timothys niemals durchdachte Worte, seine Fröhlichkeit. Für das energiegeladene Leben, das Timothy umgab, würde ich alles geben.

Für Silents Lächeln.

Madame wird versuchen, mich mit Warten und Ungewissheit mürbe zu bekommen. Ich an ihrer Stelle täte es genauso. Weil sie mich so erzogen hat, mir diese Tricks selbst beibrachte. Sie wird mich so lang allein lassen, bis ich meine Fähigkeiten verwende, um zu sehen, was vor sich geht. Und dann habe ich verloren. Bin ich verloren. Ein völliger Rückfall in dieser Umgebung, ein Einstürzen der Mauer, wäre wie Gift in meinen Adern und es würde mich meinem Ziel nicht einen Millimeter näherbringen: Madames und Grotians Tod, nachdem sie ihr Versprechen erfüllt haben.

Hier meine Fähigkeiten zu nutzen, wäre so schwachsinnig wie jeder einzelne Kuss mit Silent. Jedoch bezweifle ich, dass dieser Kontrollverlust auch nur annähernd so erfüllend sein könnte wie Silents Zärtlichkeiten.

Durch meine geschlossenen Lider beobachte ich, wie auch das letzte Glimmen der Sonne schwindet, das sich durch die Bretter schleichen konnte. Höre, wie letzte zaghafte Vogelrufe verstummen, atme zu viel staubige Luft ein. Mühsam unterdrücke ich ein Niesen, das man garantiert bis in Madames Büro gehört hätte. Und sie hätte mir das „Gesundheit“ wohl kaum in Form eines Straußes geschickt. Viel eher als kleine, hübsche Kugel, die sich in meine Wade gräbt.

Bei dem Gedanken erschaudere ich unwillkürlich. Bis mir klar wird, wie nah meine abfällige Idee an der Wahrheit ist, vergehen zu viele schauderhafte Sekunden. Wie viel zu nah. Wie lange bin ich hier in Einzelhaft? Vier Stunden? Vielleicht auch eine Viertelstunde und ein paar Sekunden länger, aber schon jetzt beginnt Madame, ihren verfluchten Willen zu bekommen. Meine Fähigkeiten fangen an zu arbeiten – und mir fällt es nicht einmal auf. Hier, an diesem Ort, sind sie so selbstverständlich wie das Atmen. Warum also sollten sie mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen, als wenn man blinzelt?

Leise fluchend setze ich mich auf und starre vorwurfsvoll in die langfingrigen Schatten. Sie sehen beinahe aus wie Menschen. Die sollen verschwinden, zusammen mit jeder Intuition und Erinnerung. Sobald ich Silent und Timothy aus dem Kopf habe, wird es vielleicht etwas besser. Oder auch nicht.

Frustriert springe ich auf. Keine fünf Stunden allein und schon beginne ich hin und her zu tigern. Auch wenn ich weiß, dass es mir strengstens verboten ist – gerade weil es mir strengstens verboten ist –, linse ich durch einen der schmalen Schlitze, die nach dem Vernageln der Fenster geblieben sind. Dämmerung, die in die finsterste Nacht übergeht. Wie wundervoll. Und ich bin eingesperrt in dem Haus, dessen Wände Merida haben bitten und schreien hören. Ich hasse es. Dieses Gebäude. Dass ich vorerst gezwungen bin, auf Madame zu hören und mich vor ihr zu verneigen. Dass ich bald Grotian wiedersehen werde – auf seinem Herrschaftsgebiet.

Der richtig stinkende, bescheuerte Knackpunkt daran?

Ich habe mich freiwillig dafür entschieden. Es war mein freier Wille, hierherzukommen. Masochismus gesucht und diagnostiziert.

Jetzt, wo ich mein Reiseziel erreicht habe, will ich am liebsten schreiend und tobend wieder verschwinden. Vielleicht mache ich das sogar. Genau jetzt. Ich gehe einfach, lasse Madame ihren Mist hier abziehen, verschanze mich in irgendeiner Akademie und gebe vor, dass ich mit alledem leben kann. Mit den Schreien der Kinder, die bereits jetzt wieder durch die Nacht zu hallen beginnen. Der Schrei der Schwachen. Wie früher habe ich kein schlechtes Gewissen dabei, das zu denken, kein Mitleid. Wer hier Schmerzen zeigt, ist selbst schuld.

Anders als damals will ich etwas gegen das Leiden unternehmen. Und das kann ich nicht, während ich irgendeinen düsteren Part aus Schwanensee auf einer behüteten Bühne tanze. Das kann ich nur, wenn ich mir in den Arsch beiße und mit meinem gestörten Leben etwas Sinnvolles anfange. Genau hier.

Ein weiterer Bonus, der mich hier verharren lässt: das Versprechen. Ich werde sie dazu zwingen, es einzulösen. Sie werden mir all die Macht geben, die ich verdiene, all die Unnachgiebigkeit. Und wenn ich dafür mit meiner Seele bezahle. Von der ist sowieso kaum noch etwas übrig. Höchstens die Hälfte. Den Rest habe ich schließlich großzügig, wie ich bin, Silent gesponsert.

Schwere Schritte lassen mich zusammenzucken. Ich schleiche zum Fenster und schiele durch den Spalt. Für einen verdammten Augenblick denke ich … Ach egal. Das war dumm. Der Junge, der sich im Schutz der Dunkelheit seinen Weg mit gezücktem Messer zu mir bahnt, ist nicht Silent. Er hat rötliche Haare, aufgeplatzte Lippen und eine Nase, die viel zu groß ist, selbst für sein grobes Gesicht. Er bewegt sich so anmutig wie jeder, der hier überleben will, aber nicht annähernd so katzenhaft wie Silent – oder ich. Er ballt nicht unwillkürlich bei jedem fünften Schritt die rechte Faust, als befürchte er einen Angriff. Er ist nur einer von Madames Rekruten, einer der erstaunlich lange überlebt hat, das Messer aber trotzdem hält wie ein Anfänger. Ich weiß, warum sie ihn geschickt hat. Um mich zu testen. Töte ich ihn nicht, dann bin ich ihrer nicht länger würdig. Schneide ich ihm allerdings die Kehle durch, bekomme ich ein Bienchen. Es ist nicht so, als bliebe mir eine Wahl. Keine fünf Stunden hier und ich sehe das nächste Lebenslicht bereits flackernd erlöschen – durch meine Hand. Er klopft manierlich an die Tür. Für einen Augenblick ziehe ich es in Betracht, zurückzuklopfen oder zu öffnen. Stattdessen werfe ich mich auf die Matratze, verschränke die Arme unter meinem Kopf und warte darauf, dass er mich absticht. Noch ein Klopfen, wieder keine Reaktion von meiner Seite. Er öffnet die Tür. Beinahe gelangweilt rolle ich mich auf die Seite. In diesem Raum ist es stockfinster. Wir können beide nur mit Mühe die Umrisse des anderen ausmachen. Dieser Kampf wird undenkbar unfair werden – und ein Kinderspiel.

„Bringst du mir mein Abendbrot?“, flöte ich und setze mich auf. Er folgt meiner Stimme, bewegt sich leise. Die kurze Klinge des Messers verbirgt er hinter seinem Rücken. Wie erwartet sagt er kein Wort. Wie erwartet zögert er nicht. Wie erwartet ist er unglaublich berechenbar. Er lässt seinen Arm vorschießen, um mir mit einer einfachen Bewegung die Kehle durchzuschneiden. Ich lasse mich auf den Rücken fallen und ziehe mein Bein nach oben. Trete ihm in den Unterleib. Keuchend weicht er zurück. Fehler eins. Ich stehe langsam auf und gehe auf ihn zu. Er holt blind aus. Fehler zwei. Blitzartig ducke ich mich weg und strecke die Hand nach seinem Arm aus, umfasse sein Handgelenk und drücke es nach hinten. Er versucht, sich ernsthaft zu befreien. Fehler drei.

Drei Fehler sind drei zu viel. Erstaunlich, dass Madame ihm das bis jetzt noch nicht vermitteln konnte. Ich lasse seinen Arm ruckartig los und greife das Messer. Ein Zug über die Brust – eine unnütze Spielerei, die ihn lediglich ärgern soll. Es funktioniert. Er schlägt wieder blind nach mir. Zu meiner Ehrenrettung, während ich viel zu viel Freude daran habe, den Fremden abzumurksen, ich nutze weder meine Fähigkeiten noch kann ich im Dunklen besser sehen als herkömmliche Menschen. Aber ich bin nicht so bescheuert und schlage jedes Mal zu, wenn sich etwas bewegt.

Ich ramme das Messer in seine ungeschützte Seite. Er schreit nicht. Gut so. Die Klinge ratscht vibrierend an einem Rippenbogen vorbei. Er zieht scharf die Luft durch die Zähne ein. Das einzige Geräusch zwischen uns. Ich reiße erbarmungslos, wie man es mich an diesem Ort lehrte, den Arm nach oben und ramme ihm das Messer ins Auge. Er schreit gellend auf. Blind und im verzweifelten Todeskampf versucht er, einen, nur einen einzigen Treffer zu landen. Diesen Gefallen tue ich ihm nicht. Stattdessen schneide ich ihm die Kehle durch. Gurgelnd fließt das Blut in Strömen in seine Luftröhre, verklebt seine Lungen, tropft auf den Boden zu unseren Füßen. Nach zwanzig Sekunden ist er stumm und bewegungslos. Seine Blutflecken sind nur weitere dunkle Mahnmale auf getränktem Boden.

Keine Ahnung, was mich mehr anwidert – sein geschwächter Körper oder meine Kälte. Es raubt mir letzten Endes einfach verdammt viel Zeit, seinen Knöchel zu ergreifen und ihn vor die Tür zu zerren – ein Geschenk für Madame in der Früh. Es ist erschreckend, wie leicht ein Mensch ist, dem der Großteil seines Blutes genommen wurde, wie unglaublich blass. So blass, dass die vereinzelten Mondstrahlen das Gesicht silbern strahlen lassen. Grausam schön. Ich knalle dir Tür hinter dem rothaarigen Toten zu, ramme das Messer in das kalte Holz, sodass die Spitze auf der anderen Seite wieder hervortritt. Unnötig dramatisch?

Nach der Nummer darf ich einen auf Dramaqueen machen, da bin ich mir ganz sicher. Auf dem Weg zurück zu meinem Nachtlager wäre ich um ein Haar auf seinem stinkenden, vergossenen Blut ausgerutscht. So viel zu Grazie. Angewidert reibe ich mit meinem Schuh über ein trockenes Fleckchen, bis ich das Gefühl habe, dass das Blut nicht länger von der Sohle tropft, wenn ich den Fuß hebe. Geblendet von der absoluten Finsternis taste ich mich orientierungslos bis zu der Matratze und lasse mich auf sie fallen. Nicht um zu schlafen, nein. Sondern um auf Madame zu warten, die mir zweifelsohne in der Früh einen Besuch abstatten wird.

*

Kapitel 2

Die Sonne blendet mich durch diesen einen blöden Schlitz zwischen den Brettern, als ich ihre Schritte höre. Ich verdrehe die Augen. Sie hat sich wirklich Zeit gelassen. Langsam strecke ich mich, bis meine Wirbelsäule knackt, dann gehe ich ihr in meinem schönsten Sonntagsspaziergangstempo entgegen. An der Tür angekommen, reiße ich das Messer aus dem Holz und verstaue es erst einmal in meinem Gürtel. An diesem Ort muss man für alles gewappnet sein.

„Das nächste Mal können Sie mir gern eine größere Herausforderung schicken“, sage ich ruhig und lehne mich von innen gegen die geschlossene Tür. Ich höre, wie sie sich auf der anderen Seite erhebt. Die Holzstufen knarzen verräterisch. Durch den kleinen Riss, in dem soeben noch die kurze Klinge des Messers steckte, sehe ich, wie sie sich die langfingrigen Hände mit einem schneeweißen Taschentuch säubert. Die rostroten Flecken, die darauf zurückbleiben, lassen mich erschaudern. Wie oft habe ich so ein Taschentuch schon in ihren Fingern gesehen? Vermutlich tausend Mal zu oft.

„Ein Bett ist frei geworden“, ist ihre einfache Antwort.

Bei dem Gedanken an den Grund wird mir kalt. Sie hat mich meine Unterkunft verdienen lassen. Ich werde in seinem Bett schlafen müssen. Die Nächte werden davon gefüllt sein, die Schicksale derer zu durchforsten, die zuvor dort lagen – und jetzt ihre ewige Ruhe fristen. Die es geschafft haben und irgendwo irgendwie angekommen sind.

„Ich dachte schon, dass ich den Rest meines Lebens ein Einzelzimmer habe.“ Der Sarkasmus in meiner Stimme ist scharf genug, um Glas zu verätzen.

„Ich nehme an, du findest dein Zimmer.“

Ich nehme an, das interessierte sie wie die Friedensfahrt. Oder wie die Regeneration der Axolotl. „Und wenn nicht, kann ich mich ja gleich auf einen der Tische in der Bäckerei legen“, zwitschere ich, presse beide Hände so fest gegen das solide Holz der Tür, dass meine Fingerknochen knacken.

„Das ist selbstverständlich zu jeder Zeit eine Möglichkeit“, sagt sie kühl. Ich presse die Lippen zusammen. Damals war ich beinahe unverzichtbar für sie. Aber die Zeiten ändern sich. Heute widerspreche ich. In den letzten sechs Jahren habe ich ihren sadistischen Sohn zweimal unschön zugerichtet. Die eine Narbe ziert seinen Hals wie ein schmales Halsband – und für die herausgesprungenen Kniescheiben war er mir bestimmt auch unendlich dankbar.

Madame steht noch immer auf der anderen Seite. Ich höre sie durch das Holz leise atmen.

„Ist noch was?“ Die perfekte Mischung aus schneidend und kokett. Diesen Tonfall sollte ich mir auf jeden Fall patentieren lassen, egal wie blöd die gucken.

„Ich sehe dich heute im Unterricht. Für dich gilt das Gleiche wie für jeden meiner Schüler.“

Die Kälte in ihrer Stimme lässt mich wieder erschaudern. Ich ringe mir ein Lächeln ab, das sie nicht sehen kann. „Selbstverständlich. Nehmen Sie den rothaarigen Fußabtreter mit? Auf Schach mit Leichen habe ich keine Lust.“

„Du weißt, wohin die Toten gehören.“

Oh ja, das weiß ich. Das Geräusch von Knochen, die durch eine Mühle gejagt werden, vergisst man seinen Lebtag nicht mehr.

Madame erwartet keine Antwort. Natürlich nicht, sie hat alles gesagt, sie bestimmt meinen Tag. In gemessenen Schritten verschwindet sie und lässt mir meine Leiche auf der obersten Stufe liegen. Charmant wie eh und je. Ich lasse zwei Minuten verstreichen, ehe ich die Tür öffne und den toten Körper des Rothaarigen mit dem Fuß so weit aus dem Weg schiebe, dass ich an ihm vorbeikomme. Dann schnappe ich mir seinen blutleeren Arm und schleudere seinen Körper über meine Schulter, unterdrücke ein Keuchen. Vielleicht ist er doch ein winziges bisschen schwerer, als ich dachte, jetzt wo mein Adrenalinpegel wieder so weit unten ist, wie es sich gehört.

Wie es wohl aussehen muss, dass ich einen Typen über die braune Wiese in das Haus schleppe, der zu Lebzeiten gefühlt doppelt so groß war wie ich? Wahrscheinlich vergleicht man mich insgeheim mit einem Gnom, der einen betrunkenen Riesen aus der Stammkneipe schleift.

Meine Füße finden den Weg zur Bäckerei von jedem Punkt des Hauses aus. Dort habe ich einfach zu viele Schichten geschoben und zu viel Blut vergossen. Blut der Lebenden.

Ich klopfe nicht an, wie ich es vermutlich sollte, stattdessen betrete ich den stinkenden Raum mit einer Selbstverständlichkeit, die niemand hier an den Tag zu legen wagt. Abgesehen von Madame. Aber hey, in meinen besseren Zeiten war ich ihre rechte Hand, da sollte das jetzt doch kein Problem sein.

Die Kinder, die Wachen, die sogenannten Soldaten heben kurz den Kopf, sehen mich aus toten Augen an, ehe sie sich wieder ihrer Arbeit zuwenden. Blut befleckt die weißen Fliesen und macht sie rutschig. Mit erhobenem Kopf spaziere ich durch meinen persönlichen Albtraum. Wie oft war ich genau an diesem Ort, sobald ich die Augen schloss? Wie genau kannte ich noch den Gestank, die hoffnungslosen Gesichtchen der Kinder, von denen das Älteste vielleicht sieben ist? Wie genau kannte ich noch das Zittern ihrer schmalen Finger, die nur in den seltensten Fällen noch zehn an der Zahl waren?

Die Rundumerneuerung dieser Erinnerung hätte ich wirklich nicht gebraucht. Ich presse die Klinke nach unten und öffne die Kühlkammer. Der Rothaarige ist nur ein weiterer schlaffer Körper an einem Haken. Als ich das Metallding durch seinen Hals jage, knacken die Wirbel. Ich presse die Zähne zusammen und unterdrücke die Tränen. Hierher zurückzukommen war die blödeste Idee, die ich je hatte. Und ich hatte schon verdammt viele, verdammt bescheuerte Ideen.

Rasch wende ich den kalten, geschächteten Körpern den Rücken zu und versuche, nicht daran zu denken, dass sie in unterschiedlichster Form die Nahrung der Kinder hier sein werden. Das Fleisch zu Abend, das Brot zum Morgen.

Einfach zurückgehen zu dürfen und mein Bett zu suchen, das ich mir genauso verdient habe, wie Madame es sich wünschte, ist selbstverständlich zu viel verlangt. Ich verlasse die Kühlkammer und starre in die Mündung einer Pistole. So charmantes Wachpersonal. Mit zwei Fingern versuche ich, die Waffe ein wenig aus meinem Blickfeld zu schieben. Das Mädchen mit den kurzen, braunen Haaren entsichert sie. Na super.

„Ich sollte nur was herbringen und wieder gehen“, sage ich so cool wie möglich.

Ihre Lippen verziehen sich zu einem Zähnefletschen. „Madame hat niemanden darüber informiert.“

„Sie hat dich nicht darüber informiert“, berichtige ich das Mädchen.

Ein Wort zu viel, sie drückt ab. Meine etwas übermenschlichere Geschwindigkeit hat mich hier mindestens genauso oft gerettet wie meine Fähigkeiten. Beweisstück A: Die Kugel, die in die kalte Metalltür der Kühlkammer einschlägt. Ich weiß, ich sollte einfach meine verdammte Klappe halten, aber was habe ich mir versprochen? Ich bleibe so, wie ich es geworden bin. Wie Timothy es geliebt hat und … und auch Silent. Er hat es geliebt, wenn ich gelacht habe. Wenn ich ihn angelächelt habe. Lachen gibt es hier nicht mehr.

Ich hätte einfach auf Silent zugehen sollen, hätte nicht zulassen dürfen, dass meine Angst uns noch weiter auseinandertreibt. Ich sollte jetzt bei ihm sein, nicht hier und mich auf meinen nächsten Kampf vorbereiten. Wir sollten an unserem Vertrauen arbeiten und uns nicht beweisen, dass wir ohne den anderen doch eigentlich ganz gut auskommen. So ungern ich es mir eingestehe: Ich habe einen Fehler gemacht. Einen gigantischen Fehler. Ich hätte Silent nie wegschicken sollen. Um wessen Wohl habe ich das getan? Mein eigenes? Timothys? Dass das zwischen ihm und mir nie wieder etwas wird, war klar, das wussten wir beide. Aber war es das wert, Silent wegzuschicken, um für Timothy die Illusion zu erhalten, dass ich Silent nicht begonnen habe, mehr zu lieben als ihn? Die auf mich gerichtete Waffe ist eine ziemlich deutliche Antwort. Nein, nein, das war es nicht wert. Silent und ich hätten gemeinsam hierher zurückkommen können. Jetzt muss ich ihnen allein die Hölle heißmachen.

„Zielen ist nicht so deine Stärke, oder?“ Irgendwie bringe ich ein ziemlich überzeugendes Kichern zustande. Das Mädchen verspannt sich, dann drückt es noch einmal ab. Und ich bemühe noch einmal meine erhöhte Geschwindigkeit. Die Kleine hier ist schockierter, als Ella es damals war.

„Jetzt im Ernst, schießen ist doch ganz einfach. Abdrücken, wenn man sein Ziel im Visier hat“, spotte ich und werfe mir meinen blonden Zopf über die Schulter. Sie beißt die Zähne zusammen und drückt noch einmal ab. Währenddessen bewege ich mich immer weiter auf den Ausgang zu. Sobald ich diesen Raum verlassen habe, kann ich losrennen. Im Flur wird sie eher eine Fliege fangen als mich. Noch ein Schuss. Sie trifft die Holztür der Bäckerei.

Mit einem unverbindlichen Lächeln öffne ich sie. „Nimm es mir nicht übel, Mädchen. Ist nichts Persönliches“, sage ich augenzwinkernd und verschwinde durch die Tür. Damit habe ich ihr Todesurteil unterschrieben. Wer jemanden entkommen lässt, ist es nicht würdig, länger hier zu weilen. Oder so. Sie weiß es, ich weiß es. Der Unterschied zwischen uns beiden? Mir ist es ziemlich egal.

Mit ihr im Nacken flitze ich durch den Gang auf mein neues Zimmer zu. Meine Fähigkeiten leiten mich. Wenigstens hier nutzen sie mir etwas.

Ich höre, wie sie abdrückt, wieder und wieder. An den schrumpfenden Abständen zwischen den Schüssen kann ich ihre steigende Verzweiflung ablesen. Ich weiß, dass sie sich gerade jetzt wünscht, mich nie angesprochen zu haben. Hätte sie meine Fähigkeiten, hätte sie es auch nicht getan.

Schwungvoll reiße ich die richtige Tür auf. Die letzte Kugel prallt an der Kante ab. Ich husche in den Raum und ziehe sie hinter mir ins Schloss. Rasch drehe ich den Schlüssel und warte. Es braucht zweieinhalb Minuten, dann ertönt von draußen ein Schuss. Ein dumpfer Knall gegen die Wand. Das war’s. Da hat wohl jemand meine Jägerin abgeknallt. Weniger als vierundzwanzig Stunden hier und schon zwei Leben auf dem Gewissen. Ich sollte mich ins Guinness Buch der Rekorde eintragen lassen.

Ich erlaube es mir, einmal durchzuatmen, ehe ich das Zimmer in Augenschein nehme. Zwei Betten. Eines leer und abgezogen, über dem anderen liegen unzählige Waffen verteilt. So selbstsicher und furchtlos, wie es niemand hier wagen würde, weil immer die Gefahr besteht, dass der Zimmergenosse sie gegen einen verwendet. Es sei denn, man genießt eine gewisse Immunität. Es sei denn, man ist Madames Sohn. So schnell ich kann, wirble ich auf dem Absatz herum und ziehe das Messer. Niemand hier. Mit gehobener Waffe betrete ich das Bad. Leer. Sehe unter die Betten. Staub. Er ist nicht hier.

Gedämpft verfluche ich mich. Vielleicht hätte ich gestern Nacht doch meine Fähigkeiten nutzen sollen, dann hätte ich gewusst, dass ich soeben Madames rechte Hand aus dem Weg schaffe. Grotians Bruder. Silent war das einst auch einmal. Ich war das, was er begehrte. Angewidert verziehe ich das Gesicht. Zu meinem Missfallen habe ich bei Letzterem das Gefühl, dass sich das nicht im Geringsten geändert hat.

Vielleicht sollte ich einfach zurück in das kleine, stinkende Haus gehen? Vielleicht habe ich dort Köpfe rollen lassen, aber ganz im Ernst, alles ist besser als Grotians Gesellschaft. Alles. Selbst eine stinkende Matratze in einem verbarrikadierten, blutgetränkten Raum voll erdrückender Erinnerungen.

Andererseits, ich könnte Grotian auch einfach nicht mehr reinlassen, wenn er wiederkommt? Und vielleicht ist er ja noch ein wenig mit seinem Daddy unterwegs?

Meine Fähigkeiten schütteln energisch den Kopf. So ein Mist. Fluchend setze ich mich auf das leere Bett. Meins. Vielleicht sollte ich irgendwas suchen, womit ich in der Mitte des Raumes eine Mauer errichten kann? Oder ich nehme mir einfach Grotians Waffen. Das wird hoch bestraft, aber was soll es. Ich schnappe mir seine Pistolen – sie sind alle verdammt noch mal nicht geladen – und Munition? Welche Munition? Wütend schleudere ich die Waffen in den Papierkorb und greife nach den Messern. Die Dinger sind einfach so viel unkomplizierter und zuverlässig. Mit angemessener Skepsis betrachte ich den Peilsender, der jetzt noch auf seinem Kissen ruht. Will ich wissen, wofür der ist? Vermutlich nicht. Aber Grotian braucht ihn, also lassen wir das Ding einfach mal verschwinden. Grinsend spüle ich ihn in der Toilette runter.

So, Probleme eingebrockt, jetzt kann ich mich hinlegen und auf meinen allerliebsten Lieblingsfreund warten. Mal sehen, wie lange es dauert, bis einer von uns beiden den anderen kaltstellt und geht. Silent und ich hätten vermutlich keine fünf Minuten gebraucht. Würden jetzt vielleicht zwei Minuten halbwegs manierlich miteinander reden und danach flögen die Fetzen. Es steht einfach so viel zwischen uns. Das fehlende Vertrauen, seine Geheimnisse, meine. Außerdem haben wir uns selbst in den guten Zeiten ständig angebrüllt. In gewisser Weise habe ich unsere Auseinandersetzungen genossen. Denn er hat mich nie gewinnen lassen. Er hat mir immer Feuer gegeben und mir dabei so viel von sich gezeigt.

Letzten Endes wollte er nur, dass ich ihn nehme, wie er ist. Dass irgendwer stolz auf ihn ist. Bin ich das? War ich das? Keine Ahnung. Sobald man auf ihn zu sprechen kommt, weiß ich gar nichts mehr, außer, dass ich ihn brauche wie … wie einen verlorenen Teil meiner Seele. Mehr noch als Timothy, obwohl wir beide drei Jahre zusammen waren, er mich auf jede mögliche Art gerettet hat, währen Silent eher das Gegenteil bewirkte. Timothy war mein Leben, mein heilendes Serum – Silent schon immer das Gift, das mich im tiefsten Herzen berührt. Und als Masochist braucht man doch genau das, oder? Das, was einen auf so bittersüße Art und Weise zerstört. Ich hätte ihn nicht wegschicken sollen.

Vor der Tür erhebt sich Stimmengewirr. Sofort sitze ich aufrecht und versuche, zu lauschen. Geht nicht. Sollte ich meine Fähigkeiten dafür nutzen? Vielleicht ist das Gespräch wichtig und … Ja, was und dann? Wie würde mir das schon helfen, Madame zu töten und ihren verdammten Sohn kaltzustellen. Wie würde es mir helfen, zu vergessen? Gar nicht.

Also verschränke ich die Arme hinter meinem Kopf, ein Messer für alle Fälle in der Hand ... und warte. Warte darauf, dass sich etwas tut. Aber wenn man auf etwas wartet, dann kommt es nicht. Das Stimmengewirr verschwindet wieder und lässt mich allein in Grotians Zimmer auf dem Bett, in dem Silent auch vor vielen, vielen Jahren schlief.

Madame hat mir nie genug vertraut, um mich bei ihrem Sohn einzusperren. Jetzt muss sie genug Vertrauen in ihn haben, dass er mich im Notfall töten könnte. Ich bezweifle es. Sonst wäre ich jene Nacht in Costa Rica gemeinsam mit Ella gestorben. Hätte niemals Silent gehört, der mir hinterherschrie, dass er mich liebt. Hätte niemals Timothy so sehr verletzt. Hätte niemals Silents Frage beantworten müssen, ob ich stolz auf ihn bin. Was Silent nie begreifen wird: Ich könnte niemals stolz auf ihn sein. Er mag sich gestellt haben, so wie ich es wollte, er hat die Wahrheit gesagt. Er hat um mich gekämpft.

Aber er hat es nie für sich getan, sondern immer nur für mich. Vielleicht ist das Schwachsinn, aber ich habe das unumstößliche Gefühl, dass es das war, was uns jede Chance genommen hat. Denn ich hielt ihn für selbstverständlich und er mich für unerreichbar. Weil ich seinen Bruder liebte und er seinem Vater Gehorsam schenkte.

Weil wir uns fürchteten. Weil wir nie etwas zusammen hinbekommen haben, ohne dass es ein Desaster gab. Und das alles nur, weil ich etwas getan hatte, wozu man im Herzen tiefblond sein musste: Ich hatte mich in ihn verliebt.

*

01.02.2009, Mikun?

Heute stand eine Hinrichtung an. Ich sollte achtgeben, dass niemand versucht, zu fliehen. Alles ist nach Plan gelaufen. Merida hat mich anschuldigend angesehen. Wenn sie nicht bald versteht, werde ich es Madame melden müssen. Wir tun hier das einzig Richtige. Und wenn Gott ihren Tod will, dann werde ich das nicht hinterfragen.

*

Kapitel 3

Grotian taucht nicht auf bis zu meiner Unterrichtsstunde. Missmutig schließe ich auf und überlasse ihm sein Zimmer, um den nächsten Trip zu starten. Die Wachen stehen mit der Waffe im Anschlag da, sind in den meisten Fällen zehn Jahre jünger als ich. Mit verspannten Schultern gehe ich an ihnen vorbei, kann nichts anderes tun, als zu denken: „Du bist morgen tot, du auch und du liegst in einer Woche auf dem Teller.“ Ich könnte mir der Tatsache, dass sie alle auf mich zielen, nicht bewusster sein. Aber niemand wird abdrücken. Ich setze nur einen Fuß vor den anderen, lasse die Fliesen unter mir dahinfließen.

Nicht nur meine Fähigkeiten befehlen mir, vor der Tür stehen zu bleiben, auch die Erfahrung und die Tausenden und Abertausenden Stunden, die ich genau hier verbracht habe.

Es ist ein unwillkommenes Zeichen von Schwäche, trotzdem atme ich einmal tief durch. Erst beruhigen, dann in die Schlacht stürzen. So läuft das. Andererseits könnte meine Gabe mich von hinten überwältigen. Angespannt presse ich meine Hand gegen die polierte Ebenholzfläche vor mir. Wie immer hat niemand die Tür verschlossen. Sie schwingt auf.

Der überwältigende Gestank von Blut und gesplittertem Porzellan lässt mich um ein Haar zurücktaumeln. Gut hundert Kinder sind hier durch meine Hand gestorben. Gut hundert Körper, die ich selbst hinaustrug oder tragen ließ. Hier war ich das Monster, das Madame wollte und das ich noch immer in mir sehe. Hier gehöre ich auf eine kranke Art und Weise hin.

Ich sage mir, dass das der einzige Grund ist, warum ich mir die Schuhe ausziehe, sie ordentlich an die Wand stelle und barfuß die Scherben betrete – so wie eh und je. Der süße, brennende Schmerz, als das Porzellan meine Fußsohlen ritzen, berührt mein Innerstes, zupft an meinen Fähigkeiten. Ich dränge sie zurück. In diesem Ambiente ein Zusammenbruch wäre mein Tod, im wörtlichen Sinne.

Madame höchstpersönlich betritt den Raum auf die Sekunde. Ich bin nicht allein. Um mich herum stehen gut dreißig weitere Kinder, die meisten jünger als ich. Die meisten werden mein Alter niemals erreichen. Die Hölle wird sie in ihre Tiefen reißen. Zusammen mit den anderen verschränke ich die Hände hinter dem Rücken und neige den Kopf gen Boden, so wie sie es erwartet. So wie sie es verlangt.

Die Scherben knirschen unter ihren Schuhsohlen. Die einzige Lichtquelle hier ist eine quer über die Decke befestigte Neonleuchte, die alles um mich herum in gespenstisches Licht taucht. Madames Schuhe bleiben vor mir stehen. In dem polierten Leder spiegelt sich ein Teil ihres schlanken Körpers. „Vortreten.“ Ein Befehl. Hier muss ich ihn befolgen. Ohne den Kopf zu heben, tue ich ihr diesen gottverdammten Gefallen. Eine dünne Keramikscherbe bohrt sich senkrecht in meinen Fuß. Wie eine Nadel.

„Auf die Spitzen.“

Dann bin ich heute also die Vorzeigetänzerin? Wie absolut wundervoll. Im Geiste danke ich Timothy für seine Idee, dass ich doch einfach an diese Tanzakademie gehen soll. Sonst könnte ich nicht einmal im Ansatz diese Perfektion bringen, die Madame erwartet, zu sehen. Scherben schneiden mir in die Zehen. Blut beginnt, die bräunliche Keramik rutschig zu machen.

„Drehung.“

Ich tue, wie mir gesagt. Um ein Haar hätte ich vergessen, wie es war, wenn sich Splitter in die Zehen bohren. So muss ich mir keine Gedanken machen, auch nur irgendeine ihrer früheren Lektionen nicht mehr genau wiedergeben zu können. Der Schmerz wirft mich Jahre zurück und mein Körper ruft genau das ab, was ihn vor zusätzlichen Qualen bewahrt hat. Ich präsentiere bettelnde Perfektion.

Den Kindern ist es erlaubt, meine Bewegungen stumm zu verfolgen, nicht nur, um zu lernen. Auch um ihre Pflicht zu erfüllen und Madame darüber zu informieren, wenn auch nur einer meiner Finger unkontrolliert zuckt. Es ist ein grausames Psychospiel. Wer weicht zuerst zurück? Wer wird schneller schwach? Wer hat die unnachgiebigeren Nerven? Aber ich beherrsche es. Ich bin hiermit aufgewachsen.

Jede Sekunde dehnt sich zu einer Minute, jede Minute zu einer Stunde, während beißender Schmerz und kribbelnde Heilung sich verbinden. Meine Bewegungen sind ausnahmslos tadellos ausgeführt, jede Drehung passt. Ich wage es nicht, eines der Kinder anzusehen. Das ist mir verboten.

Als Madame diese qualvolle Ewigkeit endlich beendet, kann ich meine Füße kaum noch spüren. Die anderen verlassen den Raum. Ich spüre, dass ich ihnen nicht folgen sollte. Beinahe gelangweilt greife ich nach meinen Schuhen und ziehe sie an.

„Scheint, als trüge dich dein Gefühl noch immer nicht“, durchbricht Madame schließlich die Stille.

Mit einem absolut einstudierten Lächeln sehe ich sie an. „Sie sollten aufhören, mich zu unterschätzen, Madame“, erwidere ich milde.

Sie kommt in gemessenem Schritt auf mich zu und streckt die Hand nach meinem Zopf aus. Beinahe erwarte ich, dass sie meinen Kopf daran nach hinten reißt und mir eine Scherbe quer über die Kehle zieht. Beinahe. Stattdessen entfernt sie den Haargummi, schlingt ihn sich um das schmale Handgelenk und beginnt, den Zopf zu lösen. Fassungslos verharre ich, während ihre Finger rasch und effizient arbeiten. Blonde Locken fallen mir auf die Schultern. Sie wischt sie auf meinen Rücken und fasst mein Haar zusammen, dreht es fest nach oben und fixiert es mit dem Haargummi.

„So gehört es sich, Cathrin“, sagt sie knapp.

Ich nicke. „Natürlich.“ Madames Gesichtsausdruck ist unmöglich zu deuten. Die allgegenwärtige Kälte steht in ihren Augen, aber für den Bruchteil einer Sekunde bilde ich mir ein, so etwas wie Trauer zu erkennen. Trauer in den Augen einer eiskalten Mörderin. Der Gedanke ist so absurd, dass ich einen hysterischen Lachkrampf mit unbewegter Miene niederkämpfen muss.

„Wir sehen uns beim Abendbrot“, weist sie mich an, ehe sie mir den Rücken zudreht und voll eisiger Disziplin den Raum verlässt.

Ich bringe es nicht über mich, sofort zurück in mein neues Zimmer zu gehen. Die Angst, dass Grotian dort auf mich wartet, ist zu groß. Ich verstoße gegen die Regeln und wende mich in die Richtung von Madames Arbeitszimmer. Etwas lässt mir keine Ruhe. Und die Lösung bekomme ich nur dort.

Keine der Wachen wagt es, mich anzuhalten, während ich den Korridor durchquere, als wäre es mir befohlen worden. Ich aktiviere ganz bewusst meine Fähigkeiten. Spüre, wie sie sanft über meinen Schutzwall schwappen und sich unwiderruflich in mir ausbreiten, mir keine Wahl lassen, als sie anzunehmen. Bilder des Kinderheims überschwemmen mich – von damals, jetzt, morgen. Ich presse die Zähne ein wenig zu fest aufeinander und konzentriere mich auf meinen Weg. Nur meinen Weg. Und ob mir jemand in den nächsten Minuten in die Quere kommen wird. Es ist ähnlich eines dreidimensionalen Modells in meinem Kopf. Die einzelnen Menschen gleichen Stecknadeln. Die beiden, die ich wirklich fürchten muss, sind rot eingefärbt. Gerade jetzt ist Madame in dem sogenannten Garten, Grotian nicht in der Nähe. Mit anderen Worten: Ich habe freie Bahn.

Mein übriger Weg zu Madames Büro gleicht einer diffusen Mischung aus Gegenwart und Zukunft. Ich spüre, dass ich mich bewege, weiß aber nur wie, weil mir die Zukunft zeigt, wie ich den Fuß aufsetzen werde. Sobald ich Madames Arbeitsraum erreicht habe, schalte ich um. Sollte jemand eine Bedrohung für mich darstellen, werde ich es spüren. Der innere Alarm beginnt zu schrillen, sobald die roten Stecknadeln sich nähern. Quasi meine Energiesparmaßnahme für den ganzen Wahnsinn. Den Kopf so voll zu haben, bereitet mir Kopfschmerzen. Und mit Kopfschmerzen kann man keine Akten wälzen. Mein Blick huscht über die überquellenden Regale. Ich sehe meine eigene Zettelsammlung in der rechten Ecke, abgegriffen. Die, wegen der ich hergekommen bin?

Verschwunden.

Fluchend öffne ich Madames Schreibtischschubladen. Kein Glück. Das Sideboard. Verschlossen. Zähneknirschend suche ich die Vergangenheit, in der sie die Akte weggeräumt hat. 2879. Wo bist du?

Ich sehe Madame, kurz nachdem sie mich entlassen hat. Sie bewegt sich zielstrebig mit der Akte in den Händen auf die Regale zu. Ich folge ihrem unmerklich jüngeren Ich. Es schiebt Stapel beiseite, ich tue es ihm gleich. Madames jüngeres Ich blickt sich einmal rasch um, ehe es die Akte hinten an der Wand verschwinden lässt und die Stapel ordentlich davorschiebt.

Meine Finger ertasten die kühle Pappe des Ordners. Ich ziehe ihn hervor, drücke die Stapel an Papier wieder an ihren ursprünglichen Platz und schalte auf meine integrierte Alarmanlage um. Halb darauf, halb auf die Informationen in meinen Händen konzentriert, durchquere ich den großen, lichtdurchfluteten Raum bis zu Madames Schreibtisch. Im ersten Moment will ich mich daneben hocken, so wie es mir in vergangenen Zeiten stets befohlen war. Im nächsten Augenblick will ich mich selbst dafür ohrfeigen, dass ich auch nur daran gedacht habe, freiwillig dort zu ihren Füßen zu sitzen – selbst wenn sie nicht im Raum ist. Ich bin nicht mehr ihr Hündchen. Nie wieder.

Es erfordert unglaublich viel, unglaublich sinnlose Überwindung, bis ich mich auf ihren Stuhl fallen lasse. Die Verzierungen drücken unangenehm in meinen Rücken. Naserümpfend setze ich mich gerade hin und schlage die Akte auf, diesmal ganz am Anfang. Wäre ich nicht völlig auf diese Zettelsammlung konzentriert, würde ich mich vermutlich fragen, warum Madame sich so viele scharfkantige Ecken und Kanten hat in ihre Lehne schnitzen lassen. So konzentriere ich mich auf die handgeschriebenen Notizen.

Jack Follador, fünf Jahre alt. Gut ein Jahr also, nachdem der Mafioso Rebecca Silencieux ermordete. Für den Bruchteil einer Sekunde bin ich Jahre zurückversetzt. Timothy und ich stehen in seinem alten Zimmer in dem verfallenen Haus. Er schiebt die T-Shirts zurück, die er damals als kleiner Junge trug. Die Erinnerungen hafteten noch immer an dem verdreckten Verbandsmull, der zum Vorschein kam. Die Bilder, wie Silent und Timothy versucht haben, ihre Mutter wieder heil zu machen, haben sich in meinen Kopf eingebrannt. Ihre Tränen. Ich presse meinen Kiefer so fest zusammen, dass es knackt. Mit dem kurzen, heftigen Schmerz schwindet auch die Erinnerung wie eine Ascheflocke im Wind. Für den Moment.

Ein Meter zehn groß. Unwillkürlich habe ich Silent als Fünfjährigen vor Augen, sein umwerfendes Lächeln.

Vater: Monte Follador; Mutter: Rebecca Silencieux. Sind die meisten Buchstaben von dem feinen, disziplinierten Strich des Bleistifts geprägt, ist die Seite an Rebeccas Namen leicht eingedrückt. Es braucht meine Fähigkeiten nicht, damit ich Madames Wut erkenne. Rebecca und sie haben ihre ganz eigene, kurze Geschichte.

Die Anfangsnotizen zu Silents Akte sind durchaus interessant, aber nichts Neues. Jeden dieser Stichpunkte durfte ich an ihm erleben. Jede Facette hat er mir gezeigt. Ich könnte dem Steckbrief seine Wissbegierde hinzufügen und seine Abneigung gegenüber den üblichen Kleinjungenmotiven. Seine uneingeschränkte Leidenschaft gegenüber dem, was ihn wirklich interessiert.

Ich blättere um. Bilder von ihm. Die blauen Augen sind viel zu groß für sein kleines Gesicht, die Lippen leicht aufgeplatzt. Eine gewisse Kälte umgibt ihn selbst auf den Bildern. Eine Kälte, die er nie ganz verloren hat. Ebenso wenig wie ich. Vorsichtig streiche ich mit den Fingerspitzen über die Fotos. Es ist unglaublich, wie sehr ich ihn vermisse.

Nächste Seite. Notizen zu seinen Fortschritten. Er ist schnell. Vokabular merkt er sich besser als Madame selbst, seine Interessengebiete sind weitgefächert.

Die nächsten Seiten sind voll solcher Beobachtungen, hin und wieder Vermerke dazu, wie Grotian ihn einschätzt. Ein Bild von Grotian und Silent. Grotian Schostakowitsch ist vier Jahre älter als ich, was ihn drei Jahre älter macht als Silent. Man sieht es auf diesem Bild. Grotian ist einige Zentimeter größer, die Pausbacken des kleinen Kindes sind bei ihm vollends verschwunden. Das braune Haar ist ebenso perfekt geschnitten wie auch heute, während Silent eine kleine Strähne in die Augen fällt, die Madame nie billigen wird.

2006 wurde Silent durch einen blutigen Kampf zu Madames rechter Hand – mit nur neun Jahren. Ich musste weniger für dieses Privileg tun. Ich wurde nur aufgerufen. Silent hatte eine anspruchsvolle Aufgabe, um aufsteigen zu dürfen. In dem Bericht auf der folgenden Seite beschreibt Madame den Kampf zwischen Silent und ihrer vorherigen rechten Hand. Erst zum Schluss merkt sie an, dass sie Silents Sieg nicht erwartet hatte.

Auf den kommenden Bildern trägt Silent das obligatorische schwarze Hemd, das Madames engste Verbündete zu tragen haben. Sein linker Ärmel ist nach oben gekrempelt. Zarte Narben ziehen sich über seinen Unterarm wie ein unendliches Spinnennetz. Meine Fingerspitzen prickeln bei der Idee, seine zerstörte Haut berühren zu dürfen. Es ist faszinierend. Das Foto von Silent in seinem eigenen Blut schockierend. Wie jedes andere wurde es von den allgegenwärtigen Überwachungskameras geschossen. Das birgt einen Vorteil. Wir sind alle auf dem Bild. Grotian, Madame, Silent … und ich. Silent behauptete, ich hätte ihm an diesem schicksalhaften Tag einen Teil meiner eigenen Energie geschenkt. Wenn das die Wahrheit ist, kann man es nicht auf dem Bild sehen. Keine Ahnung, was ich erwartet habe. Bestimmt kein grelles Leuchten, das sich ihm entgegenstreckt und ihn in eine schimmernde, heilende Wolke bettet. Aber auf irgendetwas hatte ich schon gehofft. Und sei es nur, dass ich seinen Blick halte. Was ich nicht tue.

Frustriert schlage ich die letzte Seite auf. Und runzle gleich darauf die Stirn. Was soll das? Zum Abschluss einer jeden Akte hat ein Totenschein zu sein. Seiner ist ein weiterer Bericht. Ich überfliege ihn.

Der Junge begann in der Backstube zu atmen.

Er wusste, was wir tun, bevor wir es tun.

Die Schusswunde ist zu großen Teilen verheilt.

Jack Follador eignete sich binnen weniger Minuten Miss Dolgas Fertigkeiten an.

Stirnrunzelnd lehne ich mich in Madames Stuhl zurück, nur um augenblicklich wieder aufrecht zu sitzen. Vorwurfsvoll reibe ich mir über den Rücken. Verdammt tut diese Lehne weh! Hätte ich hier das Sagen, dann würde dieses Dingen schnellstmöglich gegen einen schönen, bequemen Sessel getauscht werden. Aber sind wir mal ehrlich, hätte ich hier das Sagen, dann würde so einiges anders laufen. Zum Beispiel hätte Madame dann nicht als Fazit Entflohen geschrieben, sondern irgendwelche Vermutungen aufgestellt. Aber Hypothesen auszuarbeiten, gehörte noch nie zu ihren Stärken.

Resigniert schnalze ich mit der Zunge. Was Silents und mein Seelenband anbelangt, bin ich keinen Schritt weiter. Gut, vielleicht hatte Silent recht und ich habe ihm einen Teil meiner Seele gegeben. Aber das Warum ergibt sich mir noch immer nicht. Warum zur Hölle sollte ich das für einen fremden Jungen tun, zu einer Zeit, als mir schon so vieles egal war? Warum hätte ich ihn retten sollen?

Vielleicht gibt meine Akte darüber mehr Aufschluss. Ich bin gerade dabei, Silents Leben bei Madame wieder hinter die Stapel verschwinden zu lassen, da wird die Klinke nach unten gedrückt. Der kalte Schweiß bricht mir aus. Mein Gefühl beginnt zu rasen. Ach, jetzt kommt der Alarm? Wenn sie an der Tür stehen und reinkommen? Leise fluchend lasse ich mich in die schattenumsponnene Ecke zwischen Sideboard und Wand sinken, betend, dass mich niemand entdeckt. Mental ohrfeige ich meine Fähigkeiten. Die sind wirklich bereit für den Müll.

Lautlos schwingt die Tür auf. Ich wage es nicht, in die Richtung zu schielen, ziehe stattdessen meine Beine an und bette das Gesicht auf den Knien. Wenn mich hier jemand entdeckt, dann bricht die Hölle los.

„Du hast ihn nicht gefunden?“, höre ich Madame fragen, scharf wie immer.

„Sonst stände er jetzt neben mir, keine Sorge“, zischt Grotian.

Ich zucke leicht zusammen. Würde einer von uns so mit ihr sprechen – unser letztes Stündlein hätte geschlagen.

„Nicht dieser Tonfall!“

Jetzt linse ich doch um die Ecke, gerade rechtzeitig, um Grotian zusammenzucken zu sehen.

„Ich habe mit Monte Follador gesprochen. Er hat seit Ewigkeiten nichts mehr von ihm gehört“, fährt Grotian beinahe sachlich fort.

Madame nickt nachdenklich. „Ich will ihn hier haben, Grotian. Egal mit welchen Mitteln.“ Gefährlich ruhig schreitet sie ihr Büro ab.

Bilde ich mir das nur ein oder klebt tatsächlich ein getrockneter Fetzen Darm an ihrer Schuhsohle. Ich kämpfe gegen die Übelkeit an und spitze die Ohren.

„Das verstehe ich.“

„Das tust du nicht“, sagt Madame wegwerfend und lässt sich auf ihrem Stuhl nieder, auf Augenhöhe mit mir. Unwillkürlich halte ich die Luft an und schmiege mich tiefer in die Schatten. Oh, oh.

„Natürlich! Er in unsere Hand wäre ein enormer Vorteil gegenüber Monte Follador“, feuert Grotian zurück.

Etwas kratzt über den Schreibtisch. Der Briefbeschwerer?

„Darum geht es nicht. Es geht um die Macht, die er selbst besitzt. Die Hälfte des Puzzles halte ich in meinen Händen. Aber nur das vollständige wird all die Macht entfalten, die ich benötige.“ Madame klingt gefährlich nüchtern.

Kurz hängt ein nahezu unbehagliches Schweigen zwischen ihnen.

Ich glaube, zu hören, wie unser aller Herzen schlagen.

„Sie ist hier?“, fragt Grotian schließlich.

Klingt seine Stimme belegt?

„Ja und sie macht sich gut. Wir brauchen sie, um ihn in die Knie zu zwingen.“

„Hast du keine Angst davor, dass sie es herausfindet?“

„Angst kenne ich nicht“, sagt Madame eisig und erhebt sich wieder, tatsächlich mit dem Briefbeschwerer in der Hand. Sie dreht und wendet ihn in den letzten Sonnenstrahlen. Sie spalten sich in der einfachen Glaskugel. „Denkst du, das genügt für die nächste Bestrafung?“, fragt sie ihren Sohn und wirft ihm die Kugel zu.

Er fängt sie geschickt auf und schlingt die schmalen Finger um die glatte Oberfläche. „Das sollte ein Spaß werden“, antwortet Grotian genüsslich. „Ein Gladiatorenkampf zum Abendessen?“

„Test trifft es wohl eher.“

Vorsichtig atme ich ein. Test hört sich gar nicht gut an. Überhaupt nicht. Nicht einmal im Mindesten.

„Ich nehme an für mein Kätzchen?“, fragt er und lehnt sich an das Sideboard.

Sein einer Fuß ist kaum mehr zwanzig Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Ein sehr unangenehmes Gefühl. Vor allem mit dem Wissen im Hinterkopf, dass all seine Schuhe stahlkappenverstärkt sind.

„Ich muss wissen, wie weit sie bereit ist, zu gehen. Sie hat sich verändert.“

Grotian schnaubt abfällig. „Sie ist stur und dumm geworden, das ist alles.“

„Wenn ich mich recht erinnere, hat sie dich vor zwei Jahren in die Notaufnahme befördert – mit zusammengebundenen Händen und zwei Leben zuzüglich ihres eigenes, die auf dem Spiel standen“, zischt Madame.

Grotians Fuß zuckt leicht vor meinem Gesicht. Vorsichtig und absolut lautlos schiebe ich mich noch weiter an die Wand, tiefer in die Schatten, die mir plötzlich viel zu hell erscheinen. Ein winziger Teil von mir grinst zufrieden in sich hinein. Und wie Madame davon gehört hat, dass ich ihren Sohn zusammengeschlagen habe wie eine Große. Ich sollte wirklich nicht so stolz darüber sein.

„Sie pfuscht im Kampf genauso sehr wie der junge Follador“, knurrt Grotian.

Mir klappt der Mund auf. Ich pfusche? Seit wann pfusche ich denn bitte? Wenn ich eines tue, dann fair kämpfen! Der hat doch überhaupt keine Ahnung! Beinahe wäre ich aufgesprungen und hätte ihn nach allen Regeln der russischen Kunst beschimpft. Dann fällt mir wieder ein, dass mir das nur Probleme einbrocken würde. Schmollend schiebe ich die Unterlippe vor und warte auf Madames Reaktion.

„Mag sein. Aber sie hat dich besiegt – mit zusammengebundenen Händen.“

Die Nächste, die mir vorwirft, zu schummeln. Was für ein fantastischer Tag heute.

„Das war Glück.“

„Beide Kniescheiben hat sie dir zertrümmert!“

„Hätte Follador ihr nicht geholfen, dann wäre es niemals so weit gekommen“, brüllt Grotian.

Ein dumpfer Knall lässt mich zusammenzucken. Madame kann noch immer ziemlich hart zuschlagen. Unter Einsatz meines Lebens blinzle ich um die Ecke. Grotian sieht seine Mutter mit leicht geöffnetem Mund, funkelnden Augen und der Hand auf die knallrote Wange gepresst an. Oh ja, das Risiko hat sich gelohnt. Grinsend lasse ich mich wieder gegen die Wand sinken.

„In dein Zimmer“, faucht Madame. „Du wirst zum Abendessen erscheinen und die Kugel mitbringen. Und Gott helfe dir, wenn du zu spät erscheinst!“

Grotians Kehle entweicht ein Knurren. Kurz darauf poltern seine Füße über den Boden. Erstaunlich, dass er auf seine Mutter hört, ohne mit der Wimper zu zucken. Ein bisschen mehr Gegenwehr hätte ich erwartet. Zumindest erhofft. Wie witzig wäre es bitte gewesen, wenn die beiden vor meinen Augen den Streit des Jahrtausends ausgefochten hätten? Das hätte die letzten vierundzwanzig Stunden glatt wieder wettgemacht.

Mit einem lauten Knall fällt die Tür hinter Grotian ins Schloss, nur um gleich darauf wieder von Madame geöffnet zu werden. Ihre Schritte verklingen in der Ferne.

Langsam atme ich aus.

*

Kapitel 4