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Unglaublich, aber wahr – die spannende Überlebensgeschichte eines jungen Backpackers Auf seiner Reise durch Bolivien trifft der Anfang zwanzigjährige Yossi Ghinsberg auf Marcus und Kevin, die wie er als Backpacker unterwegs sind. Alle drei suchen das wahre Abenteuer und entschließen sich zu einer Expedition in den Dschungel am bolivianischen Oberlauf des Amazonas. In Karl, der seit längerer Zeit im Land lebt, finden sie anscheinend den idealen Guide. Doch dessen Künste als Dschungelführer erweisen sich bald als gefährlich lückenhaft. »Eine jener inspirierenden Geschichten, die ganz einfach besser und schrecklicher sind als alles, was Hollywood sich ausdenken könnte.« Sunday Express Kevin und Yossi beschließen, alleine auf dem Rio Tuichi in die Zivilisation zurückzukehren. Durch einen furchtbaren Unfall werden auch sie getrennt. Ohne Messer und Feuerzeug, mit spärlichem, halb verfaultem Proviant beginnt Yossis verzweifelte dreiwöchige Odyssee durch die grüne Hölle. »Wenn mich etwas an Yossi beeindruckt hat, dann seine Überzeugung, dass dieser Überlebenswille und die Kraft, die er im Regenwald abrufen konnte, in jedem von uns stecken.« Daniel Radcliffe In seinem Buch schildert Yossi Ghinsberg nicht nur das physische Überleben, sondern auch die psychischen Grenzerfahrungen in absoluter Isolation. Sein Bericht ist ein authentisches Zeugnis von Angst, Ausdauer und Mut – und von der Kraft, die in jedem Menschen schlummert, wenn es um alles geht. »Eine beeindruckende Geschichte von Selbstfindung und Überleben in der Wildnis.« The Los Angeles Times
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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Aus dem Englischen von Werner Waldhoff
Mit einem Vorwort von Daniel Radcliffe
© Piper Verlag GmbH, München 2009 und 2017
© der deutschsprachigen Ausgabe: Oesch Verlag AG, Zürich 1994 und 2008
© Yossi Ghinsberg 2016
Titel der englischen Originalausgabe »Jungle. A Harrowing True Story of Survival« bei Summersdale Publishers Ltd., London 2008 und 2016
Das Vorwort von Daniel Radcliffe sowie die Erweiterung des Kapitels »Der Regenwald wird Teil meines Lebens« wurden übersetzt von Jürgen Neubauer
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de nach einem Entwurf von Dorkenwald Grafik-Design, München
Coverabbildung: Fotolia_Stillfx
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
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((Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen wie z.B. Schmuckvignetten))
Cover & Impressum
Widmung
Vorwort von Daniel Radcliffe
1. Kapitel – Im selben Boot
2. Kapitel – Die Muchileros
3. Kapitel – Karl und Kevin
4. Kapitel – Pete
5. Kapitel – Gold und Schweine
6. Kapitel – Zurück nach Asriamas
7. Kapitel – Wildwasser
8. Kapitel – Der Unfall
9. Kapitel – Allein
10. Kapitel – »Auf, auf, juchhe! Nach San José!«
11. Kapitel – Gerettet
12. Kapitel – Kevins Abenteuer
13. Kapitel – Nach Hause
Epilog
Der Regenwald wird Teil meines Lebens
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Marcus
Wenn ich ein Drehbuch lese, das angeblich auf einer wahren Geschichte basiert, dann frage ich mich automatisch: »Okay, wie viel davon ist wirklich wahr?«
Drehbuchautoren neigen dazu, jede wahre Geschichte, selbst wenn sie noch so unglaublich ist, weiter auszuschmücken, den Protagonisten Hindernisse in den Weg zu legen oder romantische Nebenhandlungen zu erfinden. Als ich das Drehbuch zu »Jungle«, der Filmversion von »Dem Dschungel entkommen«, gelesen habe, habe ich deshalb sofort gedacht: »Na ja, einiges davon ist wohl überzeichnet, das kann ja gar nicht alles stimmen – so viel kann doch einer allein gar nicht durchmachen!« Aber dann habe ich das Buch gelesen, das Sie gerade in Händen halten. Und mir ist klar geworden, dass der Drehbuchautor Justin Monjo nicht nur nicht übertrieben hat, sondern dass er sogar einige der extremeren Passagen des Buchs weggelassen hat, eben weil das Kinopublikum niemals glauben würde, dass sie so passiert sein könnten.
Es ist schier unglaublich, was Yossi Ghinsberg in den Wochen allein im Amazonas-Regenwald durchgemacht hat. Wenn man sein Buch liest, versetzt man sich unwillkürlich in seine Lage und fragt sich: »Hätte ich das auch gepackt? Wäre ich auch fähig gewesen, mich immer weiterzuschleppen?« Natürlich würden wir das gern von uns glauben – aber mal ehrlich, wahrscheinlich hätten wir es nicht geschafft.
Oder vielleicht doch! Yossis Geschichte ist nämlich vor allem deshalb so faszinierend, weil er absolut kein Überlebenskämpfer war. Er war kein Bear Grylls und kein Ray Mears, und er war auf solche Situationen nicht vorbereitet. Er überlebte nur dank seines Instinkts, seines Muts und seiner inneren Stärke. Ich durfte Yossi während der Dreharbeiten kennenlernen, und wenn mich etwas an ihm beeindruckt hat, dann seine Überzeugung, dass dieser Überlebenswille und die Kraft, die er im Regenwald abrufen konnte, in jedem von uns stecken. Er glaubt fest daran, dass unter den richtigen Bedingungen und mit der richtigen Einstellung jeder von uns diese Zähigkeit und diesen Willen mobilisieren und damit die schwierigsten Situationen überwinden kann.
Auch wenn kaum jemand von uns jemals in eine derart extreme Lage geraten wird wie Yossi (hoffe ich zumindest!), ist es doch eine beruhigende Vorstellung, dass wir etwas in uns haben, das in solchen Momenten erwacht, etwas Wildes und Natürliches, das sich nie unterkriegen lässt. Damit hätten wir eine Chance. Für Yossi gab es nur diese eine Chance. Aber zum Glück brauchte er nicht mehr.
Wäre ich nicht zufällig in Puno über Marcus gestolpert, hätte ich vielleicht niemals Kevin kennengelernt und wäre auch Karl nie über den Weg gelaufen. Wenn ich Karl an jenem Morgen in La Paz nicht begegnet wäre, hätte Kevin vielleicht Weihnachten mit seiner Familie verbringen können, und der arme alte Marcus würde immer noch mit seiner Freundin Südamerika bereisen. Aber so sind die Dinge nun einmal nicht gelaufen.
Als ich in der peruanischen Stadt Puno ankam, schmerzte mein Knie ziemlich stark. Jeder Schritt tat schrecklich weh. Ein französischer Rucksacktourist, ein Muchilero, wie sie hier genannt werden, bot mir Kokablätter zum Kauen an.
»Nimm ein paar«, sagte er. »Dann fühlst du dich besser.« Ich steckte ein paar Blätter in den Mund und zerkaute sie auf dem eigenartigen kleinen Stein, einem weiteren Geschenk des Franzosen. Der Stein fermentiert die Blätter im Mund. Ohne den Stein gibt es keine Fermentation, keinen Effekt, keinen Rausch. Alles was es bei mir bewirkte, war, dass meine Zunge und mein Gaumen taub wurden.
Am nächsten Morgen stand ich früh auf und fühlte mich tatsächlich besser. Das Boot zur Insel Taquile sollte um acht Uhr ablegen. Ich hätte zwar direkt nach Cuzco fahren können, von wo aus alle Muchileros ihre Ausflüge zur legendären Stadt Machu Picchu, der einstigen Inkastadt, begannen, aber ich zog es vor, einen kleinen Umweg zu machen und die sagenumwobene Insel zu besuchen.
Taquile erhebt sich aus dem Titicacasee, dem höchstgelegenen schiffbaren See der Welt. Die Ufer des Sees waren zwar schmutzig, doch wenn man seinen Blick auf den Horizont richtete, schaute man über das glänzende Wasser. Bergige Inseln ragten aus dem Dunst, der über dem See lag. Es war ein wundervoller Anblick.
Ich hatte keine Schwierigkeiten, die Fähre zu finden. Das heißt, eigentlich fand sie mich.
»Taquile oder Los Uros?«, fragte mich ein kleiner Junge.
»Taquile«, antwortete ich.
Er führte mich zu einem Boot, auf dem bereits mehrere Leute warteten. Es waren einige junge Deutsche und eine Gruppe französischer Jugendlicher, die im selben Hotel wohnten wie ich. Ich suchte mir einen Platz dicht am Heck und schlug ein Buch auf.
Es wurde schnell Zeit, abzulegen. Der Bootsführer, ein Indianer, streckte einen langen Stab hinaus, den er sowohl als Steuerruder als auch als Ruder benutzte, und winkte dem Jungen zu, das Seil loszumachen, das den Bug des Schiffes sicherte, und uns vom Kai abzustoßen.
»Espera, espera«, rief ein vom Laufen atemloser Muchilero und kletterte in das Boot. »Fast hätte ich es verpasst«, sagte er auf Spanisch zu dem Indio. »Gracias.«
Er setzte sich neben mich, und als ich zur Seite rückte, um ihm Platz zu machen, lächelte er mich an. »Du bist Israeli«, meinte er auf Englisch.
Ich schaute auf das Buch, das ich gerade las. Es war Albert Camus’ Ein glücklicher Tod in einer englischen Übersetzung. Ich war erstaunt. »Wie hast du das erraten?«
»Ich wusste es sofort. Ihr Israelis seid in Scharen unterwegs.«
»Ich heiße Yossi«, sagte ich.
»Freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin Marcus. Ich bin direkt vom Bahnhof hierhergekommen. Ein Glück, dass ich das Boot noch erwischt habe. Ich hätte sonst einen ganzen Tag auf das nächste warten müssen.«
Marcus redete weiter, als wären wir alte Freunde. »Die Zugfahrt war schrecklich. Ich habe Juliaca heute früh verlassen. Es ist unmöglich, im Zug etwas zu essen zu bekommen. Ich habe keinen einzigen Bissen zu mir genommen. Hoffentlich kommen wir schnell zu der Insel. Ich sterbe vor Hunger.«
Ich holte ein Brötchen, etwas Käse und eine Apfelsine aus meinem Rucksack und bot sie ihm an.
»Danke«, sagte Marcus. »Mir ist aufgefallen, dass Israelis alles teilen, was sie haben. Ich weiß das zu schätzen.«
Er bereitete sich aus dem Brötchen und dem Käse ein Sandwich zu und aß es heißhungrig. Die Orange war sein Nachtisch.
»Ich werde es wiedergutmachen, wenn wir die Insel erreicht haben.«
»Vergiss es«, sagte ich ihm. »Ich habe gehört, dass Taquile sehr teuer sein soll. Wenn du einverstanden bist, können wir heute Abend zusammenbleiben und unser Essen teilen.«
»Abgemacht.«
Marcus wandte sich an die Deutschen und unterhielt sich lebhaft mit ihnen in ihrer Sprache. Dann redete er mit den Franzosen, auf Französisch. Er hatte ein einnehmendes Wesen, und im Nu waren wir alle miteinander bekannt, sprachen miteinander und scherzten wie er.
»Bist du ein Deutscher?«, fragte ich.
»Schweizer«, gab er zurück.
Wir hatten die Insel fast erreicht, als das Boot eine Panne hatte. Der Motor starb einfach ab. Der Bootsführer hatte die Ursache des Problems schnell herausgefunden, und in kürzester Zeit bekam er den Motor wieder zum Laufen. Marcus bemerkte jedoch, dass der Mann sich während der Reparatur den Finger verletzt hatte, und holte ein Erste-Hilfe-Set aus seinem Rucksack. Er desinfizierte den Finger des Indios und bat mich, einen Streifen Pflaster abzuschneiden. Doch nein, meine Bemühungen waren nicht präzise genug. Er nahm die Rolle selbst und schnitt einen genaueren Streifen ab – einfach so – und legte dann den Verband weiter an. Der Bootsführer dankte es ihm mit einem breiten Lächeln.
Kurze Zeit später legten wir in Taquile an. Vom Kai stiegen wir einen steilen Weg zum Dorf hinauf, der in den harten Felsen hineingeschlagen war. Je höher wir kamen, desto mehr rang ich nach Luft. Ich machte zwei Schritte und blieb stehen. Ging weiter und blieb stehen.
»Immer mit der Ruhe«, meinte Marcus aufmunternd. »Wir haben keine Eile.«
»Und was ist mit dir?«, wollte ich wissen.
»Ach, die Schweizer Alpen«, erwiderte er lächelnd. »Ich habe dort meinen Dienst abgeleistet.«
In dem Dorf suchten wir uns ein Zimmer. Es hatte Lehmwände und eine hölzerne Plattform als Bett. Wir breiteten unsere Schlafsäcke aus und bereiteten uns eine Mahlzeit zu. Marcus machte auf einem kleinen Kerosinbrenner, den er bei sich trug, Kaffee; ich teilte die Brötchen und belegte sie sorgfältig mit Käse, Zwiebeln und Tomaten. Obwohl wir uns gerade erst kennengelernt hatten und trotz der Tatsache, dass ich eigene Pläne hatte, begann Marcus eine Reise zu planen, die wir zusammen machen könnten.
»Ich habe Machu Picchu noch nicht gesehen«, erklärte ich ihm. »Ich werde deshalb nach Cuzco zurückfahren.«
»Nein, nein, komm mit mir nach La Paz«, meinte er drängend.
»Machu Picchu«, wiederholte ich, »und dann will ich durch Brasilien reisen. Ich habe vor, von Puerto Maldonado aus hinüberzufahren, das ist nicht weit von Cuzco entfernt, über den Río Madre de Dios. Er fließt durch Peru und Bolivien und mündet in den Amazonas.«
Von da aus sah mein Plan vor, dem Amazonas zu seiner Mündung nahe Belém an der Atlantikküste zu folgen. Ich zeigte ihm die Route auf der Landkarte. »Es gibt dort viele interessante Dörfer auf dem Weg, und außerdem liebe ich den Dschungel. Warum kommst du nicht mit?«
»Danke für das Angebot. Der Plan klingt großartig, nach einem richtigen Abenteuer, aber ich bin am Ende meiner Reise. Ich werde noch ein bisschen in La Paz bleiben, vielleicht ein paar kleinere Abstecher machen und möglicherweise ein paar handgemachte Jacken kaufen, die ich mit zurück in die Schweiz nehmen kann. So etwas Anspruchsvolles will ich nicht mehr unternehmen.«
Taquile war für uns anders als andere peruanische Dörfer, und es war sehr leicht, einen taquilanischen Inselbewohner von einem peruanischen Indio zu unterscheiden. Die Insulaner wirkten vornehmer, sauberer, attraktiver und gesünder. Sie kleideten sich auch anders. Sie trugen alle denselben Hut, dieselbe bestickte Weste, eine Chaleco, und weite Hosen mit einem bestickten Gürtel. Die Stickereien von Taquile sind wegen ihrer Schönheit und ihrer guten Qualität in ganz Lateinamerika berühmt und werden ausschließlich von den Männern hergestellt. Die Frauen spinnen die Wolle und färben sie.
Die Insel ist eine Art Gemeinde, besteht aus ungefähr fünfzig Familien und wird von einem Gemeinderat verwaltet. Das Leben ist ruhig. Die Männer sitzen da, sticken und tratschen, während die Frauen die Felder bestellen. Der Boden ist felsig und schwer zu bebauen, und es wächst kaum etwas außer Kartoffeln. In dem Dorf selbst gibt es einen kleinen Lebensmittelladen und zwei, drei Restaurants. In einem davon trafen Marcus und ich die Gruppe französischer Jugendlicher von dem Boot.
Sie waren zu fünft. Drei Mädchen, Dede, Annick und Jacqueline, und zwei Jungen, Jacques und Michel. Wir tranken den örtlichen Mate, einen Kräutertee, von dem es in ganz Lateinamerika zahlreiche Variationen gibt, und plauderten. Sie zogen es vor, französisch zu sprechen, und ich verstand kein Wort, aber Dede lächelte mich an, und ich lächelte zurück. Sie war ein bisschen mollig, mit einem hübschen Gesicht und kurzem Haar, das ihr ein schelmisches Aussehen verlieh. Sie lächelte wieder, und ich bat sie, sich neben mich zu setzen, und begann, auf Englisch mit ihr zu reden.
Das Abendessen war köstlich. Es gab grobkörniges Brot, für jeden zwei Eier, gebratene Kartoffeln und Yucca. Zum Nachtisch gab es noch eine Tasse Mate. Die Einheimischen glauben, dass er die Wirkung der großen Höhe lindert. Dann gingen wir nach Hause. Ein Muchilero schläft zwar beinahe jede Nacht in einem anderen Bett, aber jeder Ort, an dem er haltmacht, ist sein Zuhause.
Marcus und ich gingen zurück in unser Zimmer. Er packte seine Churango aus und stimmte sie. Die Churango ist ein kleines Musikinstrument, das einer Mandoline ähnelt, aber es wird aus dem Panzer eines Gürteltiers und Holz gemacht. Marcus spielte hervorragend, und ich hörte verzaubert zu.
»Und jetzt hör dir dieses Stück an, Yossi«, meinte er. »Ich habe es für ein Mädchen geschrieben, das ich geliebt habe. Sie hieß Monica. Sie war neun Jahre lang mit mir zusammen, und nun hat sie mich verlassen.«
»Weit, weit weg von meinem Herzen …«, begann er traurig zu singen.
Ich hatte Marcus erst vor Kurzem kennengelernt, und schon teilte er die intimsten Geheimnisse mit mir. Monica war die Liebe seines Lebens gewesen. Als sie sich kennengelernt hatten, war sie vierzehn gewesen und er fünf Jahre älter. Seitdem waren fast zehn Jahre vergangen. Marcus war Lehrer geworden, und Monica hatte studiert. Sie fand, dass er einen zu engen Horizont hatte, und hatte ihn aufgefordert, ihn zu erweitern, zum Beispiel durch Reisen. Deshalb war er nach Südamerika gereist. Aber … aus den Augen, aus dem Sinn. Als Marcus weg war, hatte sie sich in einen anderen verliebt. Das Lied war so trübselig und wurde aus einem so gebrochenen Herzen vorgetragen, dass ich selbst ganz traurig wurde.
Wir verbrachten den nächsten Tag auf Taquile mit den Franzosen. Ich mit der lächelnden Dede, Marcus mit Annick. Dann nahmen wir alle das Boot zurück nach Puno.
Der Titicacasee war stürmisch, und wir mussten Schutz in den Uros suchen. Das sind schwimmende Inseln aus Tatora-Schilf. (Thor Heyerdahl hatte sein Schiff »Ra« aus solchem Schilf gebaut.) Schließlich schafften wir es bis nach Puno. Wir waren zwar völlig durchnässt, aber bester Laune.
In Puno ging ich wieder in mein altes Hotel, und Marcus zog bei mir ein. Erneut kochte er Tee auf seinem Kerosinbrenner.
»Also, was meinst du, Yossi? Willst du morgen wirklich nach Cuzco reisen?«, fragte er.
»Ja«, antwortete ich. »Ich habe mir schon die Abfahrtszeiten für den Morgenzug geben lassen.«
»Ich verstehe dich nicht«, wandte er ein. »Warum kommst du nicht mit nach La Paz, nur für eine Woche? Du kannst dann doch immer noch nach Peru zurückfahren.«
»Ich würde gern mitkommen, wirklich«, sagte ich. »Aber ich kann meine Pläne nicht ändern. Ich will Machu Picchu nicht verpassen, und ich habe nicht genug Geld, um mir beides anzusehen.«
Marcus wollte nicht aufgeben. »Sieh mal, Yossi. Du hast dein Essen mit mir geteilt, ohne mich überhaupt zu kennen. Jetzt möchte ich dir einen Besuch in La Paz spendieren.« Er steckte zwei Finger in den Saum seines Hosenbeins und förderte ein paar Geldscheine zutage. Er hielt mir dreißig Dollar hin. »Bitte, nimm das Geld, Yossi. Es bedeutet mir nichts. Es ist nur dann etwas wert, wenn du es benutzt, um mitzukommen.«
»Ich kann das nicht annehmen, Marcus«, antwortete ich verlegen. »Ich weiß das zu schätzen. Ehrlich. Aber du besitzt nichts weiter als deinen Rucksack auf dem Rücken, genau wie ich, und es gibt nicht den geringsten Grund, warum ich dein Geld nehmen sollte.«
Marcus begann ein Gedicht aufzusagen. Ich erinnere mich nicht an den Namen des Dichters, aber ich werde niemals den Inhalt noch die Art vergessen, wie er es rezitierte. Es handelte von einem Mann, der von keinem etwas annehmen wollte und deshalb nie lernte, wie man schenkte.
Am nächsten Morgen saßen wir alle im Bus nach La Paz. Marcus, ich und die fünf französischen Muchileros.
La Paz liegt zwar in einem Talkessel, ist aber dennoch die höchstgelegene Hauptstadt der Welt, knapp viertausend Meter über dem Meeresspiegel. Obwohl auch hier die Moderne Einzug gehalten hat, hat es den Charakter einer blühenden Kolonialstadt behalten. Der Bus, in dem wir ankamen, war voll besetzt mit Einheimischen. Ich schaute mir all die monumentalen Sehenswürdigkeiten an. Den Murillo Square, an dem seit den Tagen der Kolonialzeit alle öffentlichen Verwaltungsgebäude liegen, und den San Francisco Square, wo die Jesuiten im siebzehnten Jahrhundert ihr Kloster erbaut haben. In den schmalen Seitengassen, die von diesen Plätzen abgehen, gibt es kleine Läden, die die schönsten Handarbeiten des ganzen Kontinents verkaufen.
Die ganze Sagarnaga-Straße hinauf stehen die hölzernen Buden des geschäftigen Hexenmarktes von Pachamama, der Inkagottheit der Erde. Die Frauen verkaufen auf der Straße Glücksbringer und zauberkräftige Kräuter und verraten niemals die Zusammensetzung ihrer Waren.
Auf den Bürgersteigen wimmelt es von Straßenhändlern, die Gebäck und Früchte verkaufen. Bolivianische Musik dröhnt aus Plattenläden. Die Klänge von Churango, Flöten und Samponia, die Texte teils in Quechua, der Inkasprache, und teils in Spanisch.
Während der warmen Morgenstunden bieten die Frauen der Händler in ihren blauen Kitteln und Hüten Api und Tohori an, köstliche Getränke aus Korn. Die dampfenden Getränke werden zusammen mit warmen Brötchen oder Gauchas serviert, mit Käse gefüllten Teigtaschen.
Entlang der Straße des 16. Juli, die die Einheimischen die Promenade, den Prado, nennen, lungern während der Pause die Mädchen der höheren Schule in ihrer weißen Schulkleidung herum. Sie necken jeden Gringo, der vorbeigeht, pfeifen ihm nach und rufen: »Te amo«, ich liebe dich.
Gegen Mittag bereiten sich die alten Leute, die unter ihren geflochtenen Hüten an der Kirchenmauer lehnen, langsam auf das Mittagessen vor. Wenn sie dann gegessen haben, holen sie ihre Beutel heraus und stecken sich eine frische Prise Kokablätter und den Stein in den Mund.
Am Abend ist der Prado überfüllt. Herumspazierende Jugendliche und Erwachsene bevölkern die Theater, Kinos und Restaurants. Gegen Mitternacht jedoch werden die Straßen wie auf ein Stichwort plötzlich menschenleer.
Marcus, Dede und Annick wohnten im »Rosario«-Hotel. Jacques und Jacqueline fuhren zusammen zurück nach Peru, und Michel fuhr nach Brasilien weiter. Marcus und Annick kamen sich sehr nah. Ich merkte, dass sie sich ineinander verliebt hatten. Dede und ich verbrachten viel Zeit miteinander, aber unsere Beziehung war anders. Sie war ein nettes Mädchen, und ich mochte sie sehr. Aber Liebe? Das war etwas ganz anderes.
Ich hatte ein Zimmer im jüdischen Altersheim. Dort übernachteten viele Israelis, und ich machte viele neue Bekanntschaften. Ich verbrachte einige Nächte mit ihnen, einige in Dedes Zimmer, holte mir meine Mahlzeiten günstig auf dem Markt und genoss das Leben in vollen Zügen.
An einem Nachmittag saßen Marcus und ich in einem kleinen Teehaus, das ich in einer Seitenstraße des Marktes von Pachamama entdeckt hatte. Marcus erzählte gerade, wie schön er es im Moment hatte, und versuchte, mich zu einem kleinen Ausflug aufs Land zu überreden.
»Ich bin gern in Bolivien«, sagte er fröhlich. »Selbst mein Hellseher wäre überrascht, wenn er wüsste …«
»Was soll das heißen, Marcus, dein Hellseher? Erzähl mir nicht, dass du an diese Art Unsinn glaubst.«
Marcus lächelte. »Ich glaube nicht nur daran, ich bin selbst ein kleines bisschen hellseherisch begabt.«
»Ich verstehe dich nicht«, erwiderte ich verwirrt.
»Es mag dir komisch vorkommen, Yossi, aber es ist die Wahrheit. Ich bin kein gewöhnlicher Mensch. Ich habe eine besondere Fähigkeit. Ich weiß nicht genau, wie ich es ausdrücken soll, aber manchmal fühle ich etwas in der Luft. Die Dinge passieren mir einfach … seltsame Dinge. Als ich jünger war, habe ich all meinen Freunden die Zukunft vorausgesagt. Ich habe ihnen gesagt, dass sie heiraten würden und wann und wie viele Kinder sie haben würden. Die Jahre vergingen, und was ich vorausgesagt hatte, traf ein. Schwangere Frauen fragten mich, ob sie ein Mädchen oder einen Jungen bekommen würden. Ich habe eine Nadel auf einem Stück Garn aufgefädelt und ihren Bauch ausgependelt. Wenn die Nadel nach rechts ausschlug, war es ein Junge. Bewegte sie sich nach links, ein Mädchen. Ich habe mich fast nie geirrt.« Er machte eine Pause und trank einen Schluck dampfenden Tees. »Ich habe eine Art Kraft – ich bin so etwas wie ein Medium. Auf diese Weise habe ich auch beschlossen, nach Südamerika zu reisen. Als Monica die Reise vorgeschlagen hat, habe ich die Idee mit Nadel und Faden ausgependelt. Die Antwort war, dass ich gehen sollte. Ich wollte nicht fahren. Ich habe es immer wieder versucht, aber sie schlug immer wieder nach rechts aus und sagte mir: ›Geh!‹
Ich glaube daran, obwohl ich Christ bin und auch bete.
Monica glaubte zwar nicht daran, aber sie liebte mich trotzdem. Ich dachte, ich müsste sterben, als sie mir schrieb, dass sie mich verlassen wollte. Ich bat sie zu kommen und sich mit mir zu treffen. Ich wusste, dass sie sich nicht weigern würde, aber als sie in Peru ankam, war es schrecklich, einfach schrecklich. Ich habe gespürt, dass ich sie verloren hatte. Dann hörte ich von einem Bruio, einem Medizinmann, und bin nach Lima gefahren, um ihn aufzusuchen. Er sagte mir, dass alles vorbei sei. Es gebe keine Zukunft für uns. Bevor ich ging, warnte er mich. Er spürte, dass mir hier in Südamerika irgendeine Gefahr drohte. ›Du oder jemand, der dir nahesteht, wird hier sterben. Sei vorsichtig!‹ Ich wusste, dass er recht hatte, aber ich habe mich nicht darum gekümmert. Es gab für mich keinen Ort, an den ich hätte gehen können. Damals jedenfalls nicht. Nicht, nachdem Monica mich verlassen hatte.«
Später, als ich wieder im Altersheim war, dachte ich, welches Glück ich gehabt hatte, dass ich diese Reise unternommen hatte. Ich hatte so sehnlich vermeiden wollen, mit der Masse zu schwimmen und ausgetretenen Pfaden zu folgen. Vom Kindergarten zur Schule, vom Gymnasium zur Armee und dann auf die Universität. Arbeit, Heirat, Kinder … Stopp! Ja, ich hatte Glück gehabt, all dem nach meinem Militärdienst entronnen zu sein.
In Südamerika gab es Horden von Rucksacktouristen wie mich. Der Muchila, der Rucksack, ist ihr gemeinsames Kennzeichen. Der Rucksack ist alles, was sie haben. Darin findet man gewöhnlich eine geflickte, verschlissene Jeans, einen Pullover, einen Regenmantel, einen Gaskocher, das Südamerika-Handbuch, die Bibel der Muchileros, einen Schlafsack, ein paar Toilettenartikel und einen kleinen Erste-Hilfe-Kasten. Das ist alles. Sie bewahren ihr Geld in einem Geldgürtel in der Hose auf. Andere, noch vorsichtigere wie Marcus, schneiden auf der Innenseite einen Schlitz in den Saum ihrer Hose und verstauen zusammengerollte Scheine darin.
Die Idee dabei ist, alles auf dem Rücken zu tragen, die Sorgen zu vergessen und das Morgen sich selbst zu überlassen. Man lernt von den Eingeborenen, im Hier und Jetzt zu leben, sich nicht zu hetzen. Man reist zu atemberaubenden Orten, die Art von Orten, von denen Touristen nur träumen können – doch du bist kein Tourist. Du bist ein Muchilero, einer, der sich treiben lässt, und das ist ein großer Unterschied. Du bist heute hier, morgen woanders. Du kannst einen Tag oder auch einen ganzen Monat bleiben. Du machst deine eigenen Pläne, und jeder Tag ist voller Überraschungen. Du triffst viele andere, die auf dieselbe Art herumziehen. Normalerweise findest du sie in den billigsten Hotels der Stadt oder in Restaurants, die als Schnellimbisse gelten können. Du wirst die Einheimischen kennenlernen, die gewöhnlich freundlich zu Fremden sind.
Südamerika ist überlaufen mit Muchileros aller Nationalitäten, doch die Israelis sind besonders zahlreich vertreten. Ich weiß nicht, woran es liegt. Vielleicht vermittelt der obligatorische lange Militärdienst in Israel den jungen Leuten das Gefühl, dass sie ausbrechen müssen, und dafür gibt es keinen besseren Weg, als einen Muchila zu packen und auf Reisen zu gehen.
Aber wie dem auch sei, wir Israelis sind privilegiert. In beinahe jeder größeren Stadt in Südamerika hat die jüdische Gemeinde eine Art Herberge für Rucksackreisende eingerichtet. Diese kostenlosen Unterkünfte sind ein beliebter Zufluchtsort. Hier werden Freundschaften geschlossen.
Jedes Hotel hat sein »Reisejournal«, ein Buch, in dem Gäste Tipps für einen kleinen Ausflug hinterlassen können, sehenswerte Orte empfehlen, den billigsten Platz nennen, an dem man unterkommen kann, wo man essen sollte, welches Theaterstück sich anzusehen lohnt und den einfachsten Weg, herumzukommen. Mit der Zeit sind diese Journale auf beinahe enzyklopädischen Umfang angewachsen und stecken voller nützlicher Informationen.
Das Altersheim, in dem ich übernachtete, war einmal das jüdische Gemeindezentrum gewesen. Aber man hatte ein moderneres gebaut, und das alte war in ein Seniorenheim umgewandelt worden. Sein Besitzer, Señor Levenstein, ließ die Muchileros umsonst übernachten und stellte ihnen einen Kühlschrank, einen Gaskocher und Matratzen zur Verfügung. Seine Sabbat-Festessen mit gebratenen Hühnchen waren zu einer Feiertagsabend-Tradition geworden.
In dem Heim lebten nur wenige alte Menschen. Einige von ihnen waren nicht mehr ganz richtig im Oberstübchen, aber harmlos. Der, den ich am liebsten mochte, klopfte an unsere Tür und fragte schüchtern, ob er eintreten dürfe. War er erst einmal drinnen, veränderte sich sein liebenswürdiger Gesichtsausdruck unvermittelt, und er stieß einen Schwall der schlimmsten Flüche aus, die man sich vorstellen konnte. Das heißt, wenn man Jiddisch verstand. Dann verließ er einen wieder ebenso höflich, wie er gekommen war, und ging seiner Wege. Wenn er die sittsame Zeit für einen Besuch verpasst hatte, klopfte er ans Fenster und machte ein paar obszöne Gesten. Ein anderer Alter war ein bolivianischer Fußballfan und suchte ständig jemanden, mit dem er von seinem Lieblingsteam schwärmen konnte. Einmal kam er um ein Uhr morgens aus seinem Zimmer und bat uns, ihm dabei zu helfen, seinen besten Anzug anzulegen, ihm die Krawatte zu binden und seine Schuhe zuzuschnüren. Als er angezogen war, bedankte er sich freundlich und ging wieder ins Bett zurück.
»Oma« war die Bastion des Hauses. Sie muss ungefähr achtzig Jahre alt gewesen sein und hatte weißes, krauses Haar. Sie lebte in einem Apartment im Erdgeschoss und war dafür verantwortlich, dass die Hausordnung eingehalten wurde. Sie überprüfte auch die Pässe und die Papiere, die einem die israelische Botschaft in La Paz ausgestellt hatte, und gewährte die Erlaubnis zu bleiben. Sie zeigte jedem, wo er schlafen konnte und wo das Bad war. Sie sorgte dafür, dass man nicht viel Lärm machte und weder Wasser noch Strom verschwendete. Weh dem, der ihr in die Quere kam! Sie konnte so laut schreien, dass niemand sie ignorieren konnte, aber hinter ihrem ruppigen Benehmen steckte eine fabelhafte Frau, die von allen bewundert wurde. Sie sprach gebrochen spanisch und nannte jeden hijito, mein Sohn. Es war ebenfalls Tradition, ihr freitags Blumen zu bringen.
Das Reisejournal in dem Altersheim war voll von detaillierten Informationen über Bolivien, seine Nachbarstaaten Chile, Peru und Brasilien und über La Paz. Einige Gäste empfahlen, »Pete aus Kanada« zu besuchen, der seine Strafe im San-Pedro-Gefängnis absaß. Ein ganzer Abschnitt war dem San-Pedro-Kaktus gewidmet, der das Mescal, das Meskalin, enthält, eines der stärksten Halluzinogene, das in natürlicher Form existiert. Es schien so, als hätten viele Israelis diese Droge ausprobiert.
Ich beschloss, den San-Pedro-Kaktus zu probieren. Es war nicht schwer, Dede dazu zu überreden, mir dabei Gesellschaft zu leisten, und so waren wir eines Morgens unterwegs zum Tal des Mondes, wo er wuchs.
Wir trugen beide unsere Rucksäcke. Wir hatten ein Zelt mitgenommen, einen Gaskocher, einen Topf, zwei Schlafsäcke, zwei Flaschen Coca-Cola, eine große Dose Marmelade, um den Geschmack der Pflanze auszugleichen, und einen Laib Brot. Dede hatte außerdem noch einen großen roten wasserdichten Poncho bei sich.
Das Tal des Mondes war einschüchternd, abgelegen und verlassen. Das ganze Gebiet war felsig, mit grau-weißen Felsspitzen, die aus dem Boden hervorstanden und bedrohliche, zackige Formen bildeten. Es hieß, dass Neil Armstrong dem Tal seinen Namen gegeben habe. Er war darüber hinweggeflogen, und es hatte ihn an den Mond erinnert.
Es hatte auch tatsächlich etwas Unirdisches an sich. Hier wuchs nichts außer verschiedenen Arten vereinzelt herumstehender Kakteen. Mithilfe der Beschreibung im Reiseführer war es nicht schwer, den San-Pedro-Kaktus zu erkennen. In verschiedene Stämme hatten Leute Namen und Daten eingeritzt. Ich sah mich nach einem netten, sauberen Exemplar um und fand eins nach meinem Geschmack. Ich zählte sieben Rippen ab und schätzte den Abstand der Dornen. Alles stimmte ganz genau. Ich schnitt mit meinem Taschenmesser ein Stück von ungefähr fünfzig Zentimeter Länge aus dem Stamm. Dede verstaute es sorgfältig in meinem Rucksack, und weiter ging’s.
Wir erklommen einen kleinen Hügel, der mit Eukalyptusbäumen bewachsen war. Dort oben waren wir allein, während sich das unheimliche und doch wunderschöne Tal zu unseren Füßen erstreckte.
»Ich bereite den Kaktus zu«, sagte ich Dede, »während du das Zelt aufbaust.«
Ich setzte mich hin, um die Droge zusammenzubrauen. Ich zog die Dornen mit dem Messer heraus und schälte dann die Rinde ab. Es gab zwei Schichten: Die eine war sehr dünn und grün, die andere weiß und strichninhaltig. Nachdem ich sie fein säuberlich getrennt hatte, hatte ich schließlich zwei große Tassen voll grünem Fruchtfleisch. Ich entzündete den Brenner und legte eine kleine Menge des Kaktus zum Kochen in den Topf. Ungefähr fünfzehn Minuten später leerte ich den Inhalt des Topfes in ein Handtuch und drückte die gesamte Flüssigkeit heraus. Meine Bemühungen wurden mit kaum mehr als dreißig Milliliter Flüssigkeit belohnt. Würde das reichen? Vielleicht hatte ich ja die Instruktion missverstanden.
Es dämmerte bereits, und ich entschied, dass wir keine Wahl hatten. Wir würden den restlichen Kaktus roh essen. Wir fanden einen bequemen Platz am Rand des Hügels. Der Ausblick war fantastisch, als wären wir in einer anderen Welt. Wir nahmen die Cola, den Marmeladentopf und einen großen Löffel mit. Ich nahm ein kleines Stück Kaktus in den Mund. Es schmeckte scheußlich! Wirklich ekelhaft. Ich schob einen Löffel Marmelade hinterher, aber auch die konnte den schrecklichen Geschmack nicht überdecken.
Ich hätte es am liebsten ausgespuckt, zwang mich aber dazu, es nicht zu tun. Doch schlucken konnte ich die zähe Masse auch nicht, sondern musste sie noch ein bisschen länger kauen. Mein ganzer Körper verkrampfte sich. Ich unterdrückte den Brechreiz und nahm einen großen Schluck Cola. Arme Dede. Jetzt war sie an der Reihe. Doch es kam mir so vor, als fiele es ihr leichter, die bittere Pflanze zu schlucken.
Wir wiederholten den Vorgang fünfmal, bis wir das ganze Ding aufgegessen hatten. Nur um sicherzugehen, trank ich noch die kleine Menge Flüssigkeit, die ich aus dem gekochten Kaktus herausgepresst hatte.
Der Sonnenuntergang bildete einen unglaublich schönen Hintergrund für das Tal des Mondes, aber ich war zu nervös, um die Szenerie genießen zu können. Ich zitterte am ganzen Leib und fühlte mich schrecklich angewidert. Ansonsten passierte nichts Ungewöhnliches mit mir. Dede wirkte ebenfalls völlig normal. Sie wollte mir eine Tasse Tee zubereiten, aber der Topf war von dem Rest des gekochten Kaktus noch schmutzig, und wir hatten nicht genug Wasser dabei, um ihn zu reinigen.
Es wurde dunkel, aber ein anderes Licht erfasste mich. Ich lächelte und schaute in den Abgrund hinunter. Er schien mir zuzuwinken, und entsetzt wich ich einige Schritte zurück. Die letzten Strahlen des Sonnenlichts fielen auf die Felsen jenseits des Tals. Ich hielt mich an einem Baum fest, um dem lockenden Abgrund zu widerstehen.
Dede umarmte mich von hinten. »Ich fühle mich wundervoll«, sagte sie. »Ich fliege.«
Ich grinste vor mich hin. Dede drückte ihr Becken gegen mich, und ich brannte lichterloh. Langsam bewegte sie sich vor und zurück. Ich war hingerissen.
»Lass uns ins Zelt gehen«, flüsterte sie.
Aber das Gehen fiel mir schwer, und ich hatte Angst. Es war bereits Nacht, und ich ertastete meinen Weg von Baum zu Baum. Dede fasste mich an der Hand, aber ich traute ihr nicht. Ich wollte die Bäume selbst spüren.
Im Zelt legten wir uns auf einen der Schlafsäcke und deckten uns mit dem anderen zu. Plötzlich fand ich mich rittlings auf einem galoppierenden Pferd wieder. Wohin ich auch blickte, zu meiner Rechten und zu meiner Linken, überall um mich herum waren galoppierende Pferde und Soldaten in grünen Uniformen mit Schirmmützen – und ich gehörte dazu. Wo war ich?
Dede lachte, aber es schien von weit her zu kommen. Ich ritt schnell weiter, ohne zu wissen, wo ich war oder wohin ich ritt. Wir waren ruhig, dann plötzlich wurde der Himmel von Blitzen erhellt, und wir hörten lautes Donnern. Es begann zu regnen.
»Oh«, murmelte Dede. »Es ist so stürmisch.«
Der Regen strömte herab, und das Zelt begann Wasser durchzulassen. »Ich liebe Gewitter. Ich weiß nicht, warum, aber sie erregen mich«, erklärte sie.
In kürzester Zeit waren wir klatschnass. Alles war durchnässt. Die Schlafsäcke waren durchtränkt, und in der Mitte des Zeltes bildete sich eine große Pfütze.
»Lass uns nach draußen gehen«, flüsterte Dede. Sie hatte ihren Poncho aus dem Rucksack geholt. Es war eigentlich nur ein großes Nylontuch. Ich zog ihn über, und Dede kroch darunter. So standen wir da, während der Regen auf uns herabprasselte. Ich fragte mich immer noch, wo ich war und mit wem ich galoppierte. Ich konnte Dede flüstern hören: »Ich liebe es so sehr. Ich weiß nicht, warum. Es ist so aufregend.«
Sie presste ihren Po gegen meine Lenden. Plötzlich wirkte sie sehr klein. Ich strich ihr über das kurze Haar.
»Ich liebe es so sehr«, wiederholte sie. »So sehr.«
Der Regen hörte ebenso plötzlich auf, wie er begonnen hatte. Der Wind ließ bald darauf ebenfalls nach. Ich konnte in weiter Entfernung eine Flöte hören, ihre Melodie war rein und angenehm. Gefesselt hörte ich zu, fast wie in Trance. Der Klang kam näher. Es war eine zauberhafte Flöte aus einer Welt der Legenden.
»Hörst du die Flöte?«, flüsterte ich.
»Natürlich«, erwiderte Dede. »Woher mag sie wohl kommen?«
Wir waren sehr weit vom nächsten Dorf entfernt, die Nacht war stürmisch, und es war schon sehr spät. »Hei, du, komm her!«, schrie ich, aber die Flöte entfernte sich langsam und verklang.
Dede verließ meine Seite und wanderte summend zwischen den Bäumen umher.
›Der Abgrund‹, dachte ich. ›Gott, sie wird abstürzen!‹ Ich schrie hinter ihr her, aber sie antwortete nicht auf mein Rufen. Ich wurde hysterisch. Ich schrie und packte einen Baumstumpf mit beiden Händen. »Geh nicht dahin! Bleib von der Klippe weg! Komm sofort hierher zurück!«
Schließlich kam sie wieder. Sie war nicht im Geringsten verängstigt oder aufgeregt. »Lass uns zurück ins Zelt gehen«, schlug sie ruhig vor.
Sie breitete ihren Poncho über die Schlafsäcke aus, wir legten uns hin und hielten einander fest. Ich merkte, dass mir kalt war, aber es war mir eigenartig gleichgültig. Die Kälte war nicht wichtig, sie war mir fremd. Ich schwebte in anderen Welten.
»Willst du?«, fragte sie murmelnd.
»Ich bin nicht sicher, ob ich kann«, sagte ich.
Dede lachte. Sie öffnete meinen Gürtel und legte sich auf mich. Ich glaube, ich war in einer anderen Welt. Alles fühlte sich anders an, neu, unbekannt. Es war endlos. Als ich endlich kam, schien es unendlich zu dauern. Ich wusste nicht, wie lange. Anschließend lagen wir einfach nur da. Ich versuchte immer noch, Dede dazu zu bringen, mir zu verraten, in welcher Armee ich mich verpflichtet hatte und wo wir waren. Sie versuchte nicht einmal, meine Fragen zu beantworten. Sie lachte nur. Die Pferde galoppierten mit mir davon bis zum Tagesanbruch.
Dede zog mich nach draußen, aber meine Beine gehorchten mir nicht. Ich stand da und schaute ihr zu, während sie das Zelt abbaute und unsere nassen Sachen zusammenräumte. Sie rollte alles zusammen und stopfte es in die Rucksäcke. Dann gingen wir langsam wieder zum Dorf zurück.
»Bist du wieder runtergekommen?«, fragte ich sie.
»Ich glaube schon.«
»Glaubst du, ich auch?«, fragte ich sie.
»Ich weiß nicht. Du bist wirklich komisch.«
Ich hatte zwar keine Halluzinationen mehr, aber nichts war so, wie es sein sollte. Ich hatte Schwierigkeiten beim Gehen, und alles, was ich sah, Klippen, Steine, Bäume, wirkte fremd.
Der Bus, den wir erwischten, war voll von Indioarbeitern. Ich fühlte, wie sie uns anstarrten, doch dann muss ich eingedöst sein. Bevor ich wusste, wie uns geschah, waren wir mitten in La Paz.
»Soll ich dir helfen, nach Hause zu kommen?«, fragte Dede.
»Nein, ich nehme mir ein Taxi«, gab ich zurück.
»Wirst du mich später besuchen kommen?«
»Ja, sicher.«
Ich winkte einem Taxi und gab dem Fahrer meine Adresse. Am Eingang des Altersheimes traf ich meine Freunde Eitan, Raviv und Schukrun. Sie brachen bei meinem Anblick in Gelächter aus.
»Wie war’s denn?«, fragte Raviv.
»Ich habe Angst«, erwiderte ich. »Wirklich. Ich komme nicht mehr von dem Trip runter.«
Sie lachten nur noch mehr.
»Komm und frühstück mit uns. Danach wirst du dich besser fühlen«, schlug Eitan vor.
Ich ließ meinen Rucksack in der Eingangshalle stehen und gesellte mich zu ihnen. Das Gehen fiel mir schwer, und ich hatte Angst, die Straße zu überqueren. Eitan half mir.
»Werde ich jetzt so bleiben?«, fragte ich entsetzt.
»Nein, nein, mach dir keine Sorgen«, versicherte mir Eitan. »Es wird alles gut werden. Du wirst ein bisschen schlafen, und wenn du aufstehst, wird alles wieder in Ordnung sein.«
»Du bist ein fröhlicher Mensch, Yossi«, sagte Schukrun. »Du solltest nur so bleiben, das ist der springende Punkt.«
Ich wachte gegen Mittag auf und starrte an die Wände. Der einzige Schmuck in dem Zimmer war ein verblichenes Poster von La Paz mit dem Titel: »Das Jerusalem Boliviens«. Ich sah alles klar, nicht mehr so verschwommen wie vorher, und seufzte erleichtert auf. Ich war wieder der Alte.
Ich ging hinab, duschte, rasierte mich und ging hinaus. Es war ein wundervoller Tag, vor allem nach dem düsteren Wetter der Nacht zuvor. Große Fahnen am Fußballstadion der Stadt kündeten das bevorstehende Spiel zwischen den Strongest und Bolivar an. An einer nahe gelegenen Ecke gab es einen Hamburgerstand, den ein junger Amerikaner betrieb. Dort versammelten sich die Muchileros. Ich ging in Richtung Vergnügungspark. Kleine Kinder, die vor Freude schrien, rutschten auf Plastikmatten eine gigantische Rutsche hinunter.
Ich hatte keine Lust, Dede wiederzusehen. Es war schlimm. Freunde hatten mich davor gewarnt, dass der Trip einen gewalttätig werden lassen könnte, dass einer von uns sogar verletzt werden könnte, aber so war es überhaupt nicht gewesen. Ich hatte Dede gebraucht und sogar Angst davor gehabt, allein und hilflos zurückzubleiben, wenn ihr etwas zustoßen würde. Ich war froh gewesen, dass sie dort so nah bei mir gewesen war, aber jetzt hatte ich einfach keine Lust mehr, sie zu sehen. Und ich glaubte nicht, dass ich es über mich bringen könnte, sie noch einmal zu berühren.
Ich mochte La Paz, aber ich wollte am nächsten Tag nach Peru zurückkehren. Ich sah mich schon auf dem Machu Picchu. Jeder Nomade kennt das Gefühl: die Sehnsucht nach dem Ort, den man verlassen muss, gemischt mit der Vorfreude auf ein neues Ziel. Und jedes Mal ist man sicher, dass der neue Ort noch besser, noch schöner sein wird.
Ich ging in die Richtung des »Rosario«-Hotels in der Hoffnung, Marcus dort zu treffen. Ich wollte ihm sagen, dass ich abreisen würde.
»Der Schweizer ist noch nicht zurückgekommen«, sagte der Angestellte an der Rezeption. Marcus und Annick hatten einen Ausflug nach Coriocho in den Yungabergen gemacht. Ich bat den Mann um ein Stück Papier und einen Bleistift. Ich sollte Lisette, ein bolivianisches Mädchen, um halb sechs an der Universität treffen, um mir ein brasilianisches Jazzkonzert anzuhören. Ich bat Marcus, mich um fünf dort zu treffen.
Als ich das Hotel verließ, folgte mir ein europäisch aussehender Mann. Ich hatte ihn schon vorher in der Nähe des Hotels gesehen.
»Hola«, grüßte er mich. »Du kennst doch diesen Schweizer, nicht wahr?« Er sprach mit einem deutschen Akzent, war Ende dreißig, groß, ungefähr eins achtzig, breitschultrig, kräftig gebaut und hatte braunes Haar, das über den Schläfen leicht zurückging. Er hatte blaue Augen und einen leichten Silberblick. Seine Kleidung war abgetragen, aber nicht fadenscheinig und verlieh ihm einen leicht abenteuerlichen Anstrich.
»Er müsste eigentlich bald zurück sein. Er ist für zwei Tage ins Yungagebirge gefahren«, antwortete ich und ging schnell die Straße entlang.
»Bist du Amerikaner?«, fragte er und ging schneller, um mit mir Schritt zu halten. Aus irgendeinem Grund wird jeder Fremde auf diesem Kontinent, vor allem wenn er zufällig groß und blond ist, für einen Amerikaner gehalten. Das Problem ist, dass viele Einheimische Amerikaner nicht besonders gut leiden können.
»Israeli«, gab ich knapp zurück.
»Ich bin Karl Ruchprecter. Ich bin Österreicher, aber ich lebe schon beinahe zehn Jahre hier in Bolivien.«
»Yossi Ghinsberg«, sagte ich und schüttelte seine große, kräftige Hand.
»Ich bin Geologe und arbeite meistens im Dschungel. Wir suchen nach Gold, Uran und Altertümern.«
»Das ist aber eine ziemlich ungewöhnliche Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.«
Er hatte meine Neugier geweckt.
»Sicher. Es ist sehr interessant. Ich habe Fotos von meiner letzten Expedition da, wenn du sie sehen möchtest.«
»Ja, gern.«
Wir gingen den Comercio Boulevard hinauf, bis wir zum Murillo Square kamen. Ein paar ältere Leute dort blätterten gelangweilt in den Nachmittagszeitungen oder ließen sich von der Sonne wärmen. Andere warfen den fetten Tauben Kerne zu, während ihre Enkelkinder herumrannten und vergeblich versuchten, die Vögel zu fangen. Ein Eisverkäufer veranstaltete ein Höllenspektakel. Wir setzten uns auf eine Holzbank, und ein junger Schuhputzer erbot sich, meine Tennisschuhe aus Segeltuch zu polieren.
Karls Fotos überraschten mich. Der ordentliche Europäer neben mir sah darauf völlig anders aus. Er trug Khakishorts, einen breitkrempigen Hut und Stiefel, und von seiner Schulter baumelte ein Jagdgewehr. Auf einem Foto häutete er gerade einen wilden Keiler ab, und auf einem anderen räucherte er einen Affen, den er über einem offenen Feuer aufgehängt hatte. Auf wieder einem anderen hockte er am Flussufer und nahm einen großen Fisch aus.
Karl sah, dass ich fasziniert war, und erklärte, dass er in der kommenden Woche auf eine dreimonatige Expedition in unerforschte Gebiete des Dschungels aufbrechen würde, um nach Edelmetallen zu suchen. Er würde mich und einen oder zwei meiner Freunde gern mitnehmen. Nach einem harten Arbeitstag sei es immer sehr nett, zusammen am Lagerfeuer zu sitzen. Er habe keine Gemeinsamkeiten mit seinen eingeborenen Helfern, und deshalb sei er immer sehr froh, ein paar »Gringos« dabeizuhaben.
»Du kannst so lange bleiben, wie du willst«, sagte er. »Wenn du zurückkehren willst, schicke ich dich mit einem Führer zum nächsten Dorf. Du isst das Wild, das wir jagen, schläfst im Freien unter dem großartigen Dach des Dschungels, und das Ganze kostet dich nur das Rückflugticket.«
Er war unterwegs zum Mittagessen. Ich war müde, und mein Magen war noch immer empfindlich. Deshalb ging ich lieber ins Bett. Wir verabredeten uns für den nächsten Nachmittag, und ich versprach, ein paar Freunde mitzubringen.
Ich ging in heller Aufregung zum Altersheim zurück. Ich würde noch an diesem Nachmittag mit Marcus reden! Endlich bot sich eine Chance, den richtigen Dschungel zu erforschen!
Um fünf Uhr sah ich Marcus, der die Straße zur Universität überquerte. Wie immer trug er sein grobes schwarzbraunes Baumwollhemd und seine John-Lennon-Brille. Er strahlte, als er mir von den Tagen erzählte, die er allein mit Annick verbracht hatte. Sie liebe ihn, erklärte er verzückt. Danach fragte er mich nach dem San-Pedro-Kaktus-Trip. Ich erzählte ihm, was passiert war, und er hörte aufmerksam zu. Schließlich wollte er wissen, wozu ich mich entschieden hatte. Würde ich mit ihm durchs Land reisen? Ich begann, die Gründe darzulegen, warum ich nicht mit ihm durch Bolivien reisen wollte.
»Ich nehme an, die Antwort lautet also nein«, unterbrach er mich enttäuscht.
»Warte eine Sekunde«, antwortete ich. »Du hast das Beste noch nicht gehört.« Dann erzählte ich ihm von dem österreichischen Geologen.
Marcus war nicht so begeistert wie ich, aber er versprach, am nächsten Tag mitzukommen, um ihn kennenzulernen.
Nach dem Konzert ging ich in das Altersheim zurück. Ich erzählte meinen Freunden dort von der Expedition. Einige reagierten begeistert, aber die anderen nahmen den Plan nicht ernst. Nur Itzik äußerte echtes Interesse an den Einzelheiten und fragte mich, ob er an dem Treffen teilnehmen dürfte. Ich war sehr erfreut. Alle mochten Itzik. Mit vierunddreißig war er der älteste Muchilero und wurde oft gebeten, unsere gemeinsamen Interessen zu vertreten. Er hatte einen wundervollen Sinn für Humor, eine ansteckende Begeisterungsfähigkeit und war hilfsbereit und gutmütig.
Am nächsten Tag gingen wir beide zum Murillo Square. Auf dem Weg trafen wir Marcus, der auch einen Begleiter hatte, Kevin Gale. Es war das erste Mal, dass ich ihn traf, aber ich hatte schon viel von ihm gehört. Jeder Reisende hatte das. Unter den Muchileros war er eine Legende. Kevin Gale hatte schon alles gemacht. Es hieß, er habe den schwersten Rucksack in ganz Südamerika und könne die Berge schneller besteigen als ein Lama. Er war ein begeisterter Naturforscher und Fotograf, und er war außerdem noch etwas: Er war Marcus’ bester Freund.
»Willst du auch in den Dschungel gehen?«, fragte ich ihn.
»Eigentlich bin ich nur nach La Paz gekommen, um von hier aus nach Hause zu fliegen«, erwiderte er. »Ich bin seit fast zwei Jahren in Lateinamerika, und ich habe mich entschieden, Thanksgiving zu Hause zu feiern. Aber die Idee fasziniert mich. Ich bin noch nie so richtig im Dschungel gewesen.«
Karl wartete auf dem Platz auf uns. Er holte erneut seine Fotos hervor und erzählte uns von seinen früheren Expeditionen. Kevin bombardierte ihn mit Fragen, während Marcus ständig vom Englischen ins Deutsche und wieder zurück übersetzte, weil Kevin anscheinend Schwierigkeiten hatte, Karls eigentümliches Spanisch zu verstehen. Kevin interessierte sich vor allem für einen wilden Indianerstamm, und Karl versprach, dass wir ihn sehen würden. Ich sog das alles aufmerksam in mich auf.
»Ist es möglich, einen Teil des Weges auf dem Fluss zurückzulegen?«, wollte Kevin wissen.
»Das ist meine Arbeit, keine Vergnügungsreise«, antwortete Karl, »aber wenn ihr wollt, könnt ihr den Rückweg vielleicht über den Fluss nehmen.«
Karl zeichnete eine Landkarte in ein Notizbuch, das er aus seinem Rucksack gezogen hatte. Er zeichnete Flüsse, Berge, Dörfer, Städte und Bergarbeiterlager ein. Wir waren von seinen Kenntnissen beeindruckt. Kevin schien zufriedengestellt, aber er wollte trotzdem noch eine offizielle Landkarte dieser Gegend sehen. Karl versprach, ihm eine zu besorgen.
»Gut, ich bin dabei«, erklärte Kevin. »Ich werde meinen Eltern sagen, dass ich erst Weihnachten nach Hause komme.«
»Ich mache auch mit«, sagte ich. Ich hatte sowieso nie daran gezweifelt, dass ich mitgehen würde.
»Ich wollte eigentlich noch ein bisschen mit Annick herumreisen«, sagte Marcus bedauernd, »aber ich glaube, das hier ist eine einmalige Chance. Ich komme auch mit.«
Nur Itzik hielt sich zurück.
Karl lächelte uns alle an, und wir verabredeten, dass wir ihn am Abend im »Rosario« treffen wollten. Marcus ging weg, um Annick zu suchen, und Kevin, Itzik und ich verließen den Platz. In einer Seitenstraße fanden wir eine Eisverkäuferin. Eine kleine Waffel kostete fünf Bolivianos und eine große sieben. Ich bestellte für uns alle große Waffeln.
Wir schauten uns nach einem Platz um, wo wir uns hinsetzen konnten, und entschieden uns für die Treppenstufen eines nahe gelegenen Geschäfts. Dann mussten wir jedoch feststellen, dass es ein Bestattungsunternehmen war. Es gab Särge jeder Art einschließlich eines Sarges, der mit blauem Vinyl ausgeschlagen und mit Goldknöpfen verziert war. Es gab sogar einen Babysarg. Wir setzten uns auf die Stufen und leckten unser Eis.
Kevin war aufgeregt. »Ich muss noch viel erledigen«, erklärte er. »Ich muss meinen Flug absagen und meine Eltern anrufen. Sie werden bestimmt enttäuscht sein, aber ich träume schon von so einer Reise, seit ich hier bin. Der richtige Dschungel, ein echtes Indianerdorf und nicht so eine Touristenfalle. Ich werde eine Menge Filme mitnehmen und ein Stativ. Ich muss eine Möglichkeit finden, die Kamera in eine wasserdichte Dose oder einen Plastikbehälter zu verpacken. Es muss etwas sein, das das Wasser abhält und schwimmt. Und ich muss mein Visum verlängern lassen. Wir werden bestimmt länger als einen Monat unterwegs sein, nicht wahr? Es wird bestimmt großartig.«
»Ich glaube, ich komme nicht mit«, verkündete Itzik.
»Warum nicht, Itzik?«, fragte ich überrascht. »Die Reise wird fantastisch werden.«
»Wenn ich in den Dschungel gehe, habe ich keine Zeit mehr, um noch nach Chile zu reisen. Die Regenzeit fängt bald an, und dann werde ich diese Möglichkeit verpassen.«
»Chile, schmili. Findest du nicht, dass ein Ausflug in den Dschungel viel interessanter klingt?«
Kevin verstand nichts, weil wir hebräisch sprachen, und holte noch eine Runde Eis. Ich hörte, wie er zu der Verkäuferin sagte: »Mas grande, por favor.«
»Was ist das Problem?«, fragte er, als er uns die Waffeln reichte.
»Itzik will nicht mitkommen«, erklärte ich. »Er will nach Chile reisen.«
»Keine Sorge, er wird mitkommen«, sagte Kevin lächelnd. »Ich werde schon dafür sorgen. Mein Wort darauf.«
