Dem Himmel entgegen - Katja Maybach - E-Book
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Katja Maybach

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Beschreibung

1962: Sie sehnt sich nach der Freiheit über den Wolken. Schon immer wünscht sich die Flugbegleiterin Isabelle, als Pilotin in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Doch Frauen ist dieser Beruf verwehrt. Erst eine Zufallsbekanntschaft gibt Isabelle neue Hoffnung: Ein amerikanischer Pilot will sich für sie einsetzen. Sie kann nicht ahnen, dass diese Begegnung alles in Frage stellen wird: ihr Vertrauen in ihre Eltern, ihr Verhältnis zu ihrer Schwester, ihren Glaube an sich selbst. Eine Reise nach Argentinien, das Land ihrer Kindheit, verspricht Klarheit – oder setzt Isabelle damit Ereignisse in Gang, die sie für immer bereuen wird?

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Katja Maybach

Dem Himmel entgegen

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

1962: Sie sehnt sich nach der Freiheit über den Wolken. Schon immer wünscht sich die Flugbegleiterin Isabelle, als Pilotin in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Doch Frauen ist dieser Beruf verwehrt. Erst eine Zufallsbekanntschaft gibt Isabelle neue Hoffnung: Ein amerikanischer Pilot will sich für sie einsetzen. Sie kann nicht ahnen, dass diese Begegnung alles in Frage stellen wird: ihr Vertrauen in ihre Eltern, ihr Verhältnis zu ihrer Schwester, ihren Glaube an sich selbst. Eine Reise nach Argentinien, das Land ihrer Kindheit, verspricht Klarheit – oder setzt Isabelle damit Ereignisse in Gang, die sie für immer bereuen wird?

Inhaltsübersicht

EinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigDanksagungLeseprobe »Der Mut zur Freiheit«
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Eins

Heloise/Nancy

Juli 1963

Bis zu ihrem Lebensende würde sich Heloise die Schuld an dem geben, was damals passiert war. Und das Schlimmste daran war, dass mit jedem Jahr des Schweigens nichts besser wurde, im Gegenteil. Eine Verjährung gab es nicht. Und doch schwieg sie.

Heute war der neunte Juli, ihr siebzigster Geburtstag – ein Tag, vor dem sie sich schon lange gefürchtet hatte. War sie nun endgültig eine alte Frau?

Am Morgen rief Emmanuelle und später auch Isabelle an. Beide Töchter hatten ihrer Mutter gratuliert und gefragt, ob ihre Geschenke angekommen seien.

»Ja, ja … ich habe mich sehr gefreut«, hatte Heloise bestätigt. Emmanuelle hatte ihr eine Perlenkette eines berühmten Pariser Juweliers geschickt und Isabelle ein großes Kaschmirtuch aus der Bond Street in London. Nun stand Heloise unentschlossen am Fenster ihres Elternhauses, in das sie vor neun Jahren zurückgekehrt war. Jahrelang war es unbewohnt gewesen. Ein schmales dreistöckiges Haus in einer Reihe anderer schmaler dreistöckiger Häuser, die einen runden, sandigen Platz umschlossen, auf den Heloise jetzt hinuntersah. Er war umgeben von alten, hohen Pappeln, deren Blätter in der heißen Sonne leicht zitterten und silbrig glänzten. Dunkelgrüne Bänke standen in loser Reihe um den Sandplatz herum. Eine davon hatte ihr Vater im Jahr 1899 gestiftet, zu Ehren des Klosters der Dames du Saint-Sacrement, dessen Äbtissin seine Schwester gewesen war, das Zeichen seiner tiefen Wertschätzung für sie.

Es war früher Nachmittag, und Heloise sah nachdenklich auf die paar alten Leute hinunter, die dort saßen, ihre Zeitung lasen oder einem Hund zusahen, der von Baum zu Baum trottete, um ihn zu beschnüffeln. Auf der letzten Bank, ein wenig abseits, saß eine junge Frau, die leise sang und im Rhythmus ihres Liedes einen hohen Kinderwagen hin und her schob.

Heloise erinnerte sich, dass sie bereits hier gestanden hatte, bevor sie in die Schule kam. Damals schon hatte sie ihr Elternhaus geliebt, so wie sie es immer noch tat, auch wenn die Fenster undicht waren und die alten Holzböden bei jedem Schritt knarrten. Trotzdem wollte sie nirgendwo anders leben als hier. Das Haus war vollgestopft mit Erinnerungen, mit Dingen, die Beständigkeit symbolisierten. Mehrere alte Bilder, einige Teile Meißner Porzellan im Glasschrank des Speisezimmers. Das Ölgemälde von der Place Stanislas in Nancy, gemalt von einem unbekannten Maler im Jahr 1789, das in ihrem Schlafzimmer hing – ein Bild, das einen Bogen spannte über drei Generationen der Familie Lambert. Das Haus war ihre Zuflucht geworden, ein Schutzwall vor der Realität, der sie sich nicht stellen konnte. Heloise fühlte sich sicher hier. Fast so, als könne man ihr in diesem Haus nichts anhaben, als gelte hier nur die positive Vergangenheit, hinter dem die Ereignisse der Jahre 1932 und 1933 verblassten. Heloise öffnete das Fenster und beugte sich weit hinaus, so weit, dass sie bis zum Kloster der Dames du Saint-Sacrement sehen konnte. Viele Kindheitserinnerungen verbanden sich mit dem Kloster und ihrer Tante, der Äbtissin. Dort hatte sie Stunden in der geheimnisvollen Stille des alten Gemäuers verbracht, im schummrigen Halbdunkel der langen, gebohnerten Gänge, hatte die Gesänge aus der Kapelle tief in sich eingesogen. Auch die Ruhe des Gartens zog sie an. Doch am schönsten war es in der Backstube gewesen. Ihre Tante hatte ihr erzählt, dass das Kloster die Macarons erfunden habe. Die Benediktinerinnen vom Heiligen Sakrament durften kein Fleisch essen, und um sich darüber hinwegzutrösten, backten sie die kleinen Macarons. Schließlich verkauften sie das Mandelgebäck mit so großem Erfolg, dass sie das Kloster vor dem Ruin bewahren konnten.

»Wann war das?«, hatte die kleine Heloise ehrfürchtig gefragt.

»Ende des achtzehnten Jahrhunderts, ungefähr um 1790«, hatte ihre Tante erklärt und noch hinzugefügt, dass Schwester Marguerite Gaillot und Schwester Marie-Elisabeth Marlot im ganzen Land für ihre Macarons berühmt gewesen seien.

Heloise hatte damals an eine aufregende Zukunft geglaubt, auch an die eigene Unsterblichkeit. Und doch war das Leben so schnell vorbeigegangen.

Siebzig, wiederholte sie in Gedanken. Siebzig. Wie viele Jahre blieben noch? War es das letzte Jahrzehnt ihres Lebens, das heute anbrach?

Heloise wandte sich mit einem schweren Seufzer vom Fenster ab und blieb vor ihrem Sekretär stehen, an dem sie Glückwunschkarten an flüchtige Bekannte schrieb oder Überweisungsformulare ausfüllte. Neben der Schreibunterlage stand ein Foto von ihrer Hochzeit mit Felix, der sogar an diesem Tag seine Pilotenuniform der damaligen »Luft Hansa« getragen hatte. In Berlin, am 14. September 1913. Ein Jahr, bevor der Erste Weltkrieg ausbrach.

Sie hatte glücklich zu ihrem Felix hochgelächelt. Er war ein schöner Mann gewesen, blond, groß.

»Très allemand«, hatte ihre Mutter missbilligend erklärt, als Felix damals nach Nancy kam, um bei ihren Eltern um die Hand von Heloise anzuhalten. Heloises Mutter hatte ihren Schwiegersohn nie leiden können. Für sie war jeder Deutsche ein Verbrecher, schon vor dem Ersten Weltkrieg und seit dem Zweiten erst recht. Dabei hatten Heloise und Felix Deutschland 1932 verlassen und waren erst drei Jahre nach Kriegsende zurückgekehrt.

Zart strich Heloise über das alte Foto in dem Silberrahmen.

Felix war der einzige Mensch, der die Wahrheit von damals kannte, sie mit ihr zusammen getragen hatte.

Bis zum 19. Oktober 1953.

An diesem Tag hatte Heloise in der Küche ihrer Münchner Wohnung gestanden und gebügelt. Neben sich einen Berg Wäsche, hörte sie Radio. Es wurde die zweite Sinfonie von Rachmaninov gespielt, das würde sie niemals vergessen.

Es klingelte an der Tür, und als sie öffnete, standen dort zwei Polizisten und wollten sie sprechen.

Auf der Autobahn Richtung Stuttgart habe es einen schweren Unfall gegeben, bei dem man ihren Mann nur noch tot aus dem Auto hatte bergen können. Es hatte lange gedauert, bis Heloise begriff, dass Felix tot war.

Ihr Mann war damals auf dem Weg nach Paris gewesen, um mit Emmanuelle zu sprechen. Es sei Zeit, ihr die Wahrheit zu sagen.

»Zuerst fahre ich allein zu ihr«, hatte er zu Heloise gesagt, »ich glaube, das ist besser so.«

Nach seinem plötzlichen Tod hatte Isabelle alle Formalitäten erledigt, obwohl sie damals gerade erst zwanzig Jahre alt war. Heloise selbst war dazu nicht in der Lage gewesen. Der Unfall hatte Aufsehen erregt, und plötzlich erschienen in der Boulevardpresse Artikel über ihren Mann.

 

Eine Legende der Luftfahrt stirbt bei einem Autounfall.

Felix Lambert ist tot.

Der berühmte Pilot der ehemaligen deutschen Luft Hansa kam am Morgen des 19. Oktober 1953 auf der A8 kurz vor Karlsruhe ums Leben.

Auf der nassen Straße verlor er die Kontrolle über sein Fahrzeug, der Wagen kam von der Fahrbahn ab und überschlug sich mehrfach. Felix Lambert war sofort tot.

Im Jahr 1926 absolvierte Lambert erste Nachtflüge in einer Junkers G 24. Er saß bei den allerersten Flügen Berlin–Moskau im Cockpit. Seit er von Berlin aus in einer Junkers W 33 nach Sibirien geflogen war und kurz danach einen Langstreckenflug nach Tokio absolviert hatte, galt Felix Lambert als Held – ein Pionier der Luftfahrt.

 

Eine Frankfurter Zeitung, die ihrem Mann ebenfalls einen Nachruf widmete, schrieb:

 

Tod eines Helden

Der Held stürzte vom Himmel, als im Jahr 1932 bekannt wurde, dass er sich ganz offen gegen die NSDAP aussprach, vor allem gegen Adolf Hitler. Er wurde entlassen, da die damalige Deutsche Luft Hansa mit der Partei eng verbunden war. Die Fluggesellschaft hielt stets eine Maschine für Adolf Hitler und seinen Propagandachef Joseph Goebbels bereit, für ihren rastlosen Wahlkampf quer durch Deutschland.

 

Die Zeitungsberichte stießen auf großes Interesse. Nachbarn sprachen sie auf der Straße an, sie hätten gar nicht gewusst, dass ihr Mann so berühmt gewesen sei. Heloise hatte damals trotz ihrer Trauer auch Genugtuung und tiefe Freude empfunden, dass Felix durch diese Artikel posthum geehrt wurde.

Es war stickig im Haus, Heloise rang nach Luft, daher entschloss sie sich, in ihre Confiserie zu gehen und sich Macarons zu kaufen, schließlich hatte sie heute Geburtstag. Eine kleine Flasche Champagner hatte sie im Kühlschrank bereitgestellt. Sie würde sich einen Geburtstagstisch richten, die Macarons auf einer Etagere arrangieren, die Geschenke unter die Vase mit den weißen Lilien legen.

Kurze Zeit später überquerte Heloise auf ihrem Rückweg die Place Stanislas, in der Hand eine große Tüte, gefüllt mit dem Gebäck in sämtlichen Geschmacksrichtungen. Sie würde sich einen schönen Abend machen, ganz allein. Isabelle und Emmanuelle hatte sie erklärt, sie gebe eine kleine Party. Sie sollten kein schlechtes Gewissen haben.

Emmanuelle, die als erfolgreiche Designerin in Paris ihr eigenes Couture-Haus hatte, bereitete wie immer um diese Zeit ihre Haute-Couture-Präsentation für den Herbst vor. Sie konnte nicht weg, Heloise verstand das. Und Isabelle war als Flugbegleiterin bei der Lufthansa stets unterwegs; heute früh hatte sie noch aus Hamburg angerufen, kurz vor dem Abflug nach London. Flugbegleiterin war ein begehrter Beruf, den nur attraktive, unverheiratete Mädchen aus guten Familien ergreifen konnten. Sie mussten gebildet sein, mehrere Sprachen beherrschen. Von vielen beneidet, standen sie im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, weil sie scheinbar ein glamouröses, aufregendes Leben führten. Doch Heloise wusste, dass ihre Tochter nur Stewardess geworden war, um fliegen zu können – das war ihre große Leidenschaft.

 

Die Hitze erschöpfte Heloise, so setzte sie sich auf eine Bank mit Blick auf die Basilika und die Cafés mit ihren Markisen und den vielen Touristen, die sich trotz der Hitze auf dem Platz aufhielten.

»Darf ich, Madame?« Ein älterer Mann stellte ihr die höfliche Frage, und als Heloise knapp nickte, setzte er sich neben sie auf die Bank. Heloise richtete sich kerzengerade auf.

»Heiß ist es heute«, wandte der Mann sich an sie. Heloise nickte stumm und musterte ihn aus den Augenwinkeln. Er trug einen hellen Leinenanzug und einen Strohhut, den er ein wenig zurückgeschoben hatte. Sein Gesicht besaß eine gesunde Farbe, und der weiße Schnurrbart stand ihm gut.

Aber sie fühlte sich gehemmt und unsicher. Sie war nicht frisiert, und das grüne Seidenkleid aus Emmanuelles letzter Kollektion hatte unter den Armen Schweißränder bekommen, als sie durch die Hitze quer über die Place gelaufen war. Und im Sonnenlicht sah dieser Mann sicher auch ihre vielen grauen Haare und die Falten in ihrem Gesicht.

Unauffällig rückte sie ein Stück von ihm ab. Die Tragetüte mit den Macarons stand zwischen ihnen.

»Madame, verzeihen Sie, wenn ich so direkt bin, ich will Sie nicht bedrängen, aber darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?«

Heloise erstarrte. Wann war ihr das zum letzten Mal passiert? Sie war es nicht mehr gewohnt, von einem Mann angesprochen zu werden.

»Ich … ich muss gehen.« Fluchtartig erhob sie sich und lief davon. Erst als sie den Platz verließ, drehte sie sich wieder um. Der Mann war ebenfalls gegangen. Heloise fühlte Bedauern und Scham. Warum hatte sie sich so dumm benommen? Warum war sie nicht auf diese nette Einladung eingegangen? Es wäre eine Chance gewesen, sich an ihrem Geburtstag mit jemandem zu unterhalten, ein wenig zu lachen, nicht so furchtbar einsam zu sein.

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Zwei

Emmanuelle/Paris

Ich gehe dann.«

»Ist gut, Chloé, war ein langer Tag.« Emmanuelle trank den letzten Schluck ihres café noir und schob die vielen Skizzen und Entwürfe zur Seite, mit denen ihr Zeichentisch überhäuft war. »Wir haben harte Tage hinter uns, nicht wahr?«

»Ja, haben wir«, bestätigte Chloé. Sie war seit über zwanzig Jahren Emmanuelles wichtigste Mitarbeiterin. Mit ihr zusammen hatte Emmanuelle ihr Modehaus im Jahr 1943 hier in der Rue Saint-Honoré eröffnet. Erschöpft und schwach vor Hunger hatten sie zuvor nächtelang in ihrer kleinen Wohnung die erste Kollektion fertiggestellt. Chloé saß an der alten Nähmaschine und nähte die Kleider, die Emmanuelle entworfen und zugeschnitten hatte. Die Stoffe stammten vom Schwarzmarkt, oder sie arbeiteten alte Uniformen zu Kostümen um. Langsam, Schritt für Schritt, hatte Chloé mit Emmanuelle die Leiter des Erfolges erklommen.

»Paula will morgen mit dir die Akkreditierungen für die Modenschau durchgehen, hast du Zeit?«, wollte Chloé wissen.

»Natürlich. Ist Vogue auch dabei?«

»Selbstverständlich, Emmanuelle, wieso denn nicht?«

»Ach, ich weiß nicht, Chloé. Wir sind nur ein kleines Couture-Haus, und manchmal denke ich, ich schaffe das nicht mehr.«

»Unsinn«, wehrte Chloé lächelnd ab. »Das glaubst du jedes Mal.«

»Du hast ja recht. Vielleicht bin ich einfach nur müde«, seufzte Emmanuelle. »Gestern übrigens ist meine Mutter siebzig geworden. Als ich sie anrief, war sie seltsam am Telefon, aufgedreht und irgendwie unnatürlich.«

»Was meinst du damit?«, fragte Chloé.

»Ich weiß nicht. Ich vermute fast, die Zahl siebzig macht ihr sehr zu schaffen. Sie hatte schon immer Angst vor dem Älterwerden.«

»Deine Mutter muss sich doch keine Sorgen machen. Sie ist immer noch eine sehr attraktive Frau und sieht viel jünger aus. Wie hat sie denn gefeiert?«

Emmanuelle zuckte mit den Schultern. »Sie hat gesagt, sie gebe eine Party, aber …«

»Aber was?«

»Ich glaube, es stimmt nicht. Ich vermute, dass sie sehr zurückgezogen lebt und einsam ist.«

»Das tut mir leid.« Chloé warf Emmanuelle einen raschen Blick zu. Sie wusste, dass vor Jahren zwischen Mutter und Tochter etwas vorgefallen war, über das Emmanuelle nicht redete. Auch nicht mit ihr, der besten Freundin. »Wie geht es deiner Schwester?«, wechselte Chloé deshalb das Thema.

»Mal so, mal so. Isabelle ist Chefstewardess, aber sie ist bereits dreißig Jahre alt.«

»Na und? Die Altersgrenze liegt doch bei vierzig«, wandte Chloé ein.

»Das schon, aber die meisten heiraten bereits, bevor sie dreißig sind«, erklärte Emmanuelle, »und Isabelle behauptet, am Schluss bliebe ihr nur noch der Posten der Checkstewardess.«

»Was ist das denn?«

»Das sind die ehemaligen Flugbegleiterinnen, die unangemeldet kommen, um die anderen Stewardessen zu überprüfen. Die Frisur, das Make-up, das Kostüm.«

»Das ist nichts für deine Schwester«, entgegnete Chloé sofort.

»Das will sie auch nicht. Aber im Moment weiß sie nicht weiter. Sie ist sehr unzufrieden und es fällt ihr schwer, die unzähligen Vorschriften zu befolgen«, erzählte Emmanuelle. »Einmal musste sie sogar schon nach Frankfurt zum Rapport bei dem gefürchteten Fräulein Tautz. Nur weil ihre Fingernägel nicht vorschriftsmäßig farblos lackiert und zu lang waren.«

Chloé schüttelte ungläubig den Kopf. »Das wusste ich gar nicht, das hast du mir nicht erzählt.«

»Ja, ich denke, es gibt einige Gründe, warum sie nicht glücklich ist, aber darüber spricht sie nicht«, antwortete Emmanuelle, während sie sich erhob, zum Fenster ging und es weit öffnete. »Schau dir nur diesen Stau da unten an, und dazu dieser Krach. Dabei sind die meisten Pariser jetzt schon am Meer.«

Emmanuelles Arbeitszimmer lag im ersten Stock ihres Couture-Hauses, und von unten drangen Hupen, Rufe und gereizte Stimmen zu ihnen herauf.

»Um diese Zeit am Nachmittag ist es besonders schlimm«, stimmte Chloé zu. »Also, Emmanuelle, ich gehe jetzt besser, bis später. Und falls du mit Isabelle telefonierst, sage ihr liebe Grüße von mir.«

»Ja, Chloé, das mache ich, also bis dann. Salut.«

Chloé nickte ihr noch zu und verließ den Raum.

Emmanuelle horchte ihren schnellen Schritten auf der Wendeltreppe nach, bis unten die Eingangstür zufiel. Sie beobachtete Chloé, die sich zwischen einem kleinen schwarzen Lieferwagen des Modehauses Jeanne Lanvin und anderen parkenden Autos hindurchschlängelte. Chloé war eine extravagante Frau, nach der sich die Leute interessiert umsahen. Ihre kurzen Haare waren weiß gefärbt, und die Lippen schminkte sie sich stets in einem dunklen Rot, das einen auffallenden Kontrast zu den Haaren ergab. Heute trug Chloé eine weite schwarze Hose, dazu eine Bluse mit einem auffallend geschnittenen Kragen. Emmanuelle sah ihr noch nach, bis sie um die Ecke zur Place Vendôme einbog. Als sie das Fenster schließen wollte, fiel ihr Blick zufällig auf die kleine Tagesbar »Elise« gegenüber, in der sie am Morgen meist ihren ersten café noir trank und hastig am Tresen ein Croissant verschlang.

Drei Tische standen vor der Bar auf dem Gehsteig, zwei waren von Japanern besetzt, die ihre Kameras vors Gesicht hielten und knipsten. Ein wenig abseits davon saß ein Mann, die langen Beine ausgestreckt und lässig übereinandergeschlagen. Emmanuelle wollte sich bereits wieder abwenden, als ihr Blick an ihm hängenblieb. Er war nicht mehr jung, er musste Anfang fünfzig sein, und er trug die Uniform eines Piloten der Deutschen Lufthansa. Trotz dieser Hitze hatte er seine Jacke korrekt geknöpft. In dem Moment, als Emmanuelle ihn ansah, nahm er seine Mütze ab und fuhr sich mit einer ungeduldigen Bewegung durch die blonden Haare.

Emmanuelle bewegte sich nicht, ihr Atem ging flach, und sie konnte nicht anders, als zu diesem Mann hinunterzustarren. Konnte es einen solchen Zufall geben? Nach so vielen Jahren?

Sie musste sich täuschen, es gab viele Piloten der Lufthansa. Wieso sollte ausgerechnet Julian David Kröger hier in der Rue Saint-Honoré in einer Bar sitzen? Er, der vor dreißig Jahren spurlos verschwunden war, als habe der Boden sich unter ihm aufgetan und ihn verschluckt.

»Ich liebe dich, ich werde dich immer lieben«, hatte er zu Emmanuelle gesagt, an jenem Nachmittag, als sie in dem breiten Bett in seiner Berliner Wohnung lagen, die er sich mit zwei anderen Piloten teilte. Zärtlich hatte er ihr die Haare aus dem Gesicht gestrichen. »Ich werde immer für dich da sein, wann immer du mich brauchst, solange ich lebe.«

Eigentlich hatte sie ihm noch etwas sagen wollen, doch da hatte einer der Mitbewohner diskret an die Tür geklopft und Julian daran erinnert, dass er sich beeilen müsse. Ob er seinen Flugplan vergessen habe?

Nicht daran denken, nicht an die Tage des Verliebtseins, an die leidenschaftlichen Nächte, auch nicht an das, was danach kam. Nicht an ihre Verhaftung im November 1932, auch nicht …

Ende Januar 1933 war sie noch einmal in der elterlichen Wohnung gewesen, einsam, verzweifelt. Sie wollte noch einige Sachen holen, da ihre Eltern Berlin bereits verlassen hatten und längst in Buenos Aires angekommen waren. Sie hatte sich in ihrem alten Zuhause umgesehen, das ab dem 1. Februar von einer anderen Familie bewohnt werden sollte. Von der Decke im Wohnraum hing noch der Adventskranz, auf dem Parkettboden darunter lag ein kleiner Kreis vertrockneter Tannennadeln. Es hatte kein Weihnachten mehr gegeben wie die Jahre zuvor, kein »Stille Nacht« am Klavier, keine Geschenke, keine Mitternachtsmesse.

An diesem Abend des 30. Januar hatte sie am Fenster gestanden und zum Reichstag hinübergesehen.

»Heil! Heil!« Es klang wie ein einziger Schrei.

»Zehntausende jubeln dem neuen Reichskanzler Adolf Hitler zu …«

Wie betäubt hatte sie der Stimme im Radio gelauscht, die aus der Nachbarwohnung zu ihr herüberschallte.

»Über fünfzehntausend Angehörige der SA formieren sich mit Fackeln zu einem Hakenkreuz, sie …« Der Sprecher hatte sich wie der Kommentator eines Fußballspiels angehört. Was er sonst noch sagte, glitt an Emmanuelle vorbei, während sie ihr Gesicht gegen die kalte Scheibe des Fensters presste. Sie spürte nur diese Leere, diese Dunkelheit in sich.

Sie erinnerte sich nur noch an die paar Schneeflocken, die gegen die Fensterscheibe wirbelten, dann an nichts mehr. Emmanuelle war damals ohnmächtig geworden und zu Boden geglitten. Ihre Begleiterin aus dem Heim der Frau von Denk hatte sie gefunden. Sie habe etwas gestammelt, einen Namen: Julian oder etwas Ähnliches.

Emmanuelle bewegte sich nicht, sie starrte weiterhin zu dem Mann hinüber, der sich erhob und seinen Kaffee noch rasch im Stehen austrank. Das war schon früher eine Angewohnheit von ihm gewesen. Er setzte seine Pilotenmütze wieder auf, grüßte zu den Japanern am anderen Tisch hinüber und ging. Emmanuelle nahm aus dem Augenwinkel wahr, dass der Fahrer des Jeanne-Lanvin-Lieferwagens zurückkam, einstieg und sich in den stockenden und hupenden Verkehr in der engen Straße einfädelte. Damit nahm er Emmanuelle schließlich die Sicht auf den Mann. Dann war der Pilot verschwunden.

Eine schreckliche, eine würgende Traurigkeit überfiel Emmanuelle. Langsam ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Nicht mehr daran denken, nicht den Schmerz zulassen, den sie damals empfunden hatte. Aber sie konnte sich nicht dagegen wehren, die Erinnerung an ihre Zeit mit Julian kam zurück. Glasklar und entsetzlich schmerzhaft.

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Drei

Isabelle/Hamburg

August 1963

Das Flugzeug aus Stockholm landete um kurz nach acht Uhr in Hamburg Fuhlsbüttel. Isabelle bedankte sich bei den Passagieren, dass sie mit Lufthansa geflogen waren, und wünschte ihnen einen schönen Abend in Hamburg. »Endlich«, seufzte sie, als alle Passagiere den Flieger verlassen hatten, »ich kann kaum mehr laufen.« Sie schlüpfte aus ihren hohen Schuhen und nahm ein paar flache Schuhe aus ihrer großen Tasche.

»Was machen Sie während Ihrer dreitätigen Ruhepause?«, fragte ihre Kollegin Maria, während Isabelle in ihre Ballerinas schlüpfte.

»Ausruhen, die Tour war doch sehr anstrengend. Vielleicht fliege ich auch schnell zu meiner Schwester nach Paris, das mache ich, sooft ich kann«, antwortete Isabelle, während sie gemeinsam die Gangway hinuntergingen und das Rollfeld überquerten.

»Und gehen Sie zu der Abschiedsparty von Walter Herrmann?«, wollte Maria wissen.

Isabelle nickte. »Ja, aber nur kurz. Ich laufe schnell nach Hause, um mich umzuziehen, auch wenn es dann spät wird.«

Vor der Ankunftshalle blieb sie stehen. Gerade war das letzte Flugzeug des Tages gelandet, eine Boeing 727, die vom Idlewild Airport New York kam.

Isabelle spürte das Prickeln in ihrem Körper, die Sehnsucht, im Cockpit einer solchen Maschine zu sitzen und sie zu steuern.

Warum konnte sie nicht Pilotin werden, warum musste sie sich mit dem Beruf einer Flugbegleiterin zufriedengeben? So viele Freiheiten sie auch genoss, vieles kam ihr wie Schikane vor: zum Rapport zitiert zu werden, nur weil die Fingernägel nicht den Vorschriften entsprachen, die ständigen Kontrollen, das ewige Lächeln, sich unterordnen zu müssen, nur um sowieso bald aussortiert zu werden.

»Isabelles Uhr tickt«, hatte sie neulich eine Kollegin flüstern hören. »Auch wenn sie Chefstewardess ist, sie wird nicht jünger.«

Isabelle passierte mit ihrer Kollegin den Zoll, winkte den Beamten zu und verabschiedete sich dann von Maria. Kurz blieb sie vor dem Flughafen stehen und sah in den Abendhimmel. Sie dachte an ihren Freund, den Piloten Bernd Schumann. Als sie ihm erzählte, dass sie den Flugschein auf einer Cessna 172 gemacht hatte, war seine ablehnende Reaktion für sie unverständlich und verletzend gewesen. Eine Frau habe im Cockpit nichts verloren, behauptete er. Frauen seien einfach zu emotional für den Pilotenberuf, der schnelles, überlegtes Handeln auch in Krisensituationen erfordere.

Ihre Schwester Emmanuelle hatte auf diese Nachricht ebenfalls nicht euphorisch reagiert, bei ihr jedoch überwog die Sorge um Isabelle. Aber war das nicht ein Mangel an Vertrauen in ihre Fähigkeiten? Ihre Mutter hatte sich kaum dazu geäußert, aber Isabelle glaubte, dass auch sie sich Sorgen um die Zukunft ihrer jüngsten Tochter machte.

Langsam machte sie sich auf den Weg zu ihrer Wohnung, die nur fünfzehn Minuten entfernt vom Flughafen lag.

*

»Du willst schon gehen? Du bist doch gerade erst gekommen, Kleines«, protestierte Walter, als sie sich im Gedränge der vielen Leute von ihm verabschieden wollte. Isabelle lächelte. Er war der Einzige, der sie Kleines nennen durfte, denn er war der Pilot gewesen, mit dem sie ihren ersten Flug als Stewardess geflogen war. Kurz nach dem Start gab es Turbulenzen, und ihr war so übel geworden, dass sie die gesamte Flugzeit von Hamburg nach München ausgestreckt auf leeren Sitzen in der ersten Klasse verbringen musste. Ein fürsorglicher Fluggast reichte ihr mehrere Tüten, da sie sich übergeben musste. Walter hatte sie hinterher getröstet und in den Arm genommen. »Ich kann diesen Beruf nicht ausüben«, hatte Isabelle verzweifelt an seiner Schulter geweint, »die ganze Ausbildung umsonst.« Walter hatte nur gelacht.

»Das wird schon, Kleines, du wirst sehen, du wirst eine erstklassige Stewardess werden.«

»Walter«, erklärte sie ihm jetzt, »ich bin völlig gerädert, sei mir bitte nicht böse.«

»Wann fliegst du wieder?«, wollte er wissen.

»In drei Tagen. London, dann Stockholm, Rom, Kopenhagen und zurück nach Hamburg.«

»Und mit wem?«

»Mit Bernd Schumann.« Isabelle versuchte, ihre Stimme möglichst neutral klingen zu lassen, denn Walter kniff ein wenig seine Augen zusammen und beobachtete sie scharf. Walter kannte vermutlich das Gerücht, sie habe seit einem halben Jahr eine heimliche Beziehung mit Bernd Schumann. Es war den Flugbegleiterinnen strengstens verboten, eine Affäre mit einem Piloten anzufangen.

»Ah, mit Bernd«, sagte Walter bedächtig und sah sie weiterhin prüfend an.

»Walter, was soll das? Wenn du mich etwas fragen willst, dann tu es einfach.«

Jetzt lachte er versöhnlich. »Nein, das geht mich ab sofort nichts mehr an. Adieu, Lufthansa. In ein paar Wochen gebe ich meine Wohnung hier auf, und ab geht’s nach Sylt zu meiner Familie. Aber komm, ich stelle dir noch schnell einen sehr interessanten Mann vor, einen Freund von mir, der lange bei der Pan Am gewesen ist. Ein echter skygod«, betonte Walter mit einem kleinen Lachen.

Skygods, so nannte man die Piloten bei der amerikanischen Fluggesellschaft. »Ja, aber ich kann wirklich nicht lange bleiben.«

»Ist schon gut, ich bestelle dir dann auch ein Taxi, aber du musst ihn einfach kennenlernen.«

Walter nahm Isabelle am Arm und drängelte sich mit ihr durch seine Gäste, die in kleinen Gruppen zusammenstanden. Dann blieb er stehen und tippte einem Mann auf die Schulter, der sich sofort zu ihm umdrehte.

»Ich will dir jemanden vorstellen«, erklärte Walter. Dann wandte er sich an Isabelle.

»Isabelle, das ist mein alter Freund Julian David Kröger, und das ist Isabelle Lambert, die Tochter des legendären Felix Lambert – den hast du doch auch gekannt?«

»Ja, natürlich«, antwortete Julian und sah Isabelle fast erschrocken an. So kam es ihr vor. Julian war sehr groß, seine Schultern waren leicht nach vorne geneigt. Er hatte ein schmales Gesicht, dessen rechte Wange von einer tiefen Narbe gezeichnet war. Trotzdem war er ein attraktiver Mann. Das Auffallendste an ihm war das tiefe Blau seiner Augen, die jetzt forschend auf Isabelle gerichtet waren. »Na, was ist denn?«, fragte Walter. »Hat es euch beiden die Sprache verschlagen?«

Endlich gaben sie sich die Hand. Kurz und flüchtig berührten sie sich nur.

»Isabelle ist ein tolles Mädchen, sie hat den Flugschein auf einer Cessna 172 gemacht.«

»Ach ja?« Ihr Gegenüber hob interessiert die Augenbrauen.

»Entschuldigt mich«, bat Walter, »Isabelle, ich bin gleich wieder da, ich begleite dich nachher noch hinaus, also nicht weglaufen.« Schon war er weg. Julian griff nach einem Glas Rotwein, das ein Kellner den Gästen auf einem Tablett anbot, Isabelle lehnte ab.

»Meine Gratulation. Man trifft nicht häufig auf Frauen, die selbst eine Maschine steuern können.« Julian hatte eine dunkle, warme Stimme, die sicher jeden für ihn einnahm. »Aber haben Sie auch ein Flugzeug, um zu fliegen?«, fragte er lächelnd.

»Nein, natürlich nicht.« Isabelle schüttelte den Kopf. »Eigentlich wollte ich immer Pilotin werden«, erzählte sie. »Leider ist das für eine Frau offenbar unmöglich, überall stehe ich vor verschlossenen Türen.«

»Ich kann das auch nicht verstehen«, pflichtete Julian ihr bei. Einen kurzen Moment schwiegen sie, dann erzählte Julian: »Ich habe Ihren Vater gekannt.« Wieder traf sie der Blick aus diesen tiefblauen Augen. Er war so intensiv, dass Isabelle ihr Gesicht nicht abwenden konnte. »Das war in Berlin. Ihre Familie ging damals nach Argentinien, nicht wahr? Ich erinnere mich vage daran.«

Isabelle hatte das Gefühl, dass er sich sogar ganz genau erinnerte, während er sie weiterhin beobachtete.

»Ja, nach Buenos Aires. Dort bin ich auch geboren.«

»Es war ein großer Verlust für die Luftfahrt. Ihr Vater galt als Pionier, einer, der sein Leben für seinen Beruf einsetzte. Wir haben ihn alle bewundert«, sagte Julian David Kröger. Isabelle aber hatte den Eindruck, etwas anderes schien ihn zu beschäftigen.

»Hat Ihre Familie Deutschland damals aus persönlichen Gründen verlassen?«, fuhr er fort, da Isabelle schwieg.

»Soviel ich weiß, ja«, antwortete sie vorsichtig, denn ihre Eltern hatten selten über diese Zeit, die noch vor ihrer eigenen Geburt lag, gesprochen. Irgendwann hatte ihre Mutter zwar erwähnt, die Luft Hansa habe ihren Mann hinausgeworfen, da er Gegner der NSDAP gewesen sei. Ihr Vater hatte das abgestritten. »Unsinn. Ich wurde entlassen, weil sich meine Sehkraft rapide verschlechtert hatte.«

»Ja, ja, das haben sie dann einfach behauptet«, hatte ihre Mutter nur gesagt.

Aber irgendwann, als sie noch in Argentinien lebten, hatte Isabelle ein Gespräch zwischen ihnen belauscht, in dem es um Emmanuelle ging, deren Handeln angeblich eine »Tragödie« ausgelöst hatte. Isabelle hätte gerne mehr erfahren, konnte aber schlecht zugeben, dass sie ihre Eltern belauscht hatte. Sie beschwichtigte sich damit, dass ihre Mutter Heloise schon immer einen Hang zur Dramatik gehabt hatte.

Jetzt lächelte Isabelle, da sie an ihre Mutter denken musste.

Um sie herum lockerte sich die Stimmung, es wurde gelacht, die Leute riefen sich laut Begrüßungen zu und drängten sich an ihnen vorbei.

»Und … Sie haben doch auch eine Schwester?« Endlich sprach er wieder. Isabelle bemerkte ein leichtes Zittern seiner Hand, als er sein Glas an die Lippen führte. »Lebt sie in Argentinien?«

Isabelle schüttelte den Kopf. »Nein, in Paris, sie ist inzwischen eine bekannte Modeschöpferin. Sie hat ihr Couture-Haus noch während des Krieges aufgebaut, zusammen mit ihrem Mann und einer guten Freundin.«

»Ach, wirklich?« Julian Kröger war blass geworden, das konnte Isabelle trotz des gedämpften Lichts erkennen. Isabelle beobachtete ihn erstaunt. Er trank einen weiteren Schluck, offensichtlich um Zeit zu gewinnen. »Ich bin öfter in Paris, das letzte Mal erst vor ein paar Tagen«, sagte er langsam. »Wenn ich das gewusst hätte …« Er zögerte, sprach nicht mehr weiter, da Walter in diesem Moment zu den beiden zurückkam, sich bei Isabelle einhakte und erklärte, ihr Taxi sei da.

Plötzlich kam Leben in Julian.

»Übrigens, da fällt mir etwas ein: Ich habe einen Bekannten, einen Industriellen im Rheinland, der mehrere Flugzeuge besitzt. Er sucht immer wieder Piloten. Soll ich die Verbindung zu Ihnen herstellen? Ich denke, man sollte nicht umsonst den Flugschein gemacht haben.«

Es war das erste Mal, dass jemand Isabelle in ihrer Leidenschaft für das Fliegen ernst nahm. Und nicht nur das: ihr sogar weiterhelfen wollte! Aber warum machte er ihr diesen Vorschlag – interessierte er sich für sie? Gab es etwa das Gerücht, dass sie für einen Piloten leicht zu haben war? Doch dann verwarf sie diesen Gedanken als absurd.

»Ich will Ihnen helfen«, sagte Julian in diesem Moment, »weil ich Ihren Vater sehr bewundert habe und er sicher möchte, dass Sie Erfolg haben und nicht daran scheitern, dass ein paar Männer behaupten, Frauen hätten im Cockpit nichts verloren.«

»Danke, vielen Dank! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Isabelle war überwältigt und zugleich zutiefst erleichtert, da er ganz offensichtlich kein Interesse als Mann an ihr hatte. »Dann rufe ich Sie an, wenn ich mit meinem Bekannten gesprochen habe. Ist Ihnen das recht?«, fragte er.

»Ja, natürlich, danke.«

Erst als sie bereits auf der Straße unten stand, fiel ihr ein, dass sie ihm ihre Telefonnummer nicht gegeben hatte. Unentschlossen verharrte sie, doch dann ging sie auf das wartende Taxi zu. Sie würde Walter in den nächsten Tagen bitten, seinem Freund ihre Nummer zu geben.

Als sie die hintere Tür des Taxis öffnete und einsteigen wollte, warf sie einen Blick hoch zu dem hell erleuchteten Fenster von Walters Wohnung.

Dort stand ein Mann, der offenbar zu ihr heruntersah. Gegen das Licht konnte sie nur seine Silhouette erkennen, doch sie ahnte, dass es Julian David Kröger war.

*

Wenig später betrat sie ihr kleines Appartement, ein Zimmer mit Kochnische und einem winzigen Bad. Viele ihrer Kolleginnen wohnten zu zweit oder zu dritt in einer großen Wohnung, doch Isabelle wollte lieber für sich sein können, wenn ihr danach war. Sie schlüpfte aus ihren hohen Schuhen, die sie für Walters Party wieder angezogen hatte, schleuderte sie mit den Füßen jeweils weit durchs Zimmer, dann warf sie sich mit einem Seufzer aufs Bett. In diesem Moment rief Bernd aus Frankfurt an.

»Was gibt es Neues?«, wollte er wissen.

»Ich habe zwei Kilo zugenommen und muss jetzt Diät halten, sonst bekomme ich wieder eine Extraaudienz bei unserem Fräulein Tautz.«

Bernd lachte. »Und sonst?«

Isabelle zögerte einen Moment. Dann sagte sie: »Ich war noch kurz auf Walter Herrmanns Abschiedsparty. Ich habe dort einen Piloten getroffen, der früher bei der Pan Am war.«

»Meinst du Julian Kröger?«

»Ja, genau. Woher wusstest du das?« Obwohl die Welt der Piloten und Flugbegleiterinnen klein war, konnte Isabelle ihr Erstaunen nicht verbergen.

»Es gibt nur einen einzigen Piloten bei der Lufthansa, der bis vor kurzem noch bei der Pan Am war. Ich habe ihn vor zwei Monaten in Berlin kennengelernt. Habe ich dir das nicht erzählt? Du weißt schon … Ich bin ein Berliner … Kennedys Rede am 26. Juni.«

Bernd war ein Bewunderer des amerikanischen Präsidenten. Da die Lufthansa nicht nach Westberlin fliegen durfte, war er als Passagier mit der British Airways geflogen, um John F. Kennedy live zu erleben.

»Es gab einen kleinen Empfang der Amerikaner im Hotel, zu dem auch ich eingeladen war«, erzählte Bernd. »Dort kam ich mit ihm ins Gespräch. Er hat mir erzählt, er bliebe jetzt in Deutschland und wolle noch ein paar Jahre für die Lufthansa fliegen. Er ist ein typischer skygod. Sie sind arrogant, ziemlich eingebildet und sehen sich als Vertreter ihres großartigen Landes«, fügte Bernd mit einem geringschätzigen Lachen hinzu.

Isabelle wusste, dass er die amerikanischen Piloten um den hohen gesellschaftlichen Status beneidete, den sie in ihrer Heimat genossen. So überging sie mit einem kleinen amüsierten Lächeln seinen Seitenhieb. Dann aber wollte sie mehr wissen, sie war neugierig geworden.

»Und was hat Julian David Kröger über sich erzählt?«

»Wenig. Ich weiß nur, dass er Anfang der dreißiger Jahre bei der alten Luft Hansa flog, als Copilot. Dann verließ er offenbar Deutschland.«

»Und dann?«

»Isabelle, ich kenne seinen Lebenslauf nicht. Ich weiß nur, dass er jetzt mit seiner Frau in Frankfurt lebt.«

 

Obwohl sie anstrengende Arbeitstage hinter sich hatte, konnte Isabelle nach diesem Abend und dem Gespräch mit Bernd nicht einschlafen. Julian David Kröger. Seine Hände hatten gezittert, als er nach ihrer Schwester fragte. Er hatte ihren Vater gekannt, vielleicht auch Emmanuelle? Isabelle überlegte, rechnete noch einmal nach. Ihre Schwester war jetzt neunundvierzig Jahre alt. Sie war also neunzehn gewesen, als ihre Eltern 1932 nach Argentinien gingen. Sie hatte sie nicht begleitet, und auch sie hatte nie viel über dieses letzte Jahr in Berlin erzählt, bevor sie dann bei Tante Simone in Deauville lebte. Irgendwann hatte Emmanuelle allerdings angedeutet, es habe in Berlin einen jungen Mann gegeben. Kerzengerade setzte sich Isabelle im Bett auf. Konnte es sein, dass dieser junge Mann Julian David Kröger gewesen war?

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Vier

Emmanuelle/Paris

Ein paar Tage später

Emmanuelle hatte sich mit ihrem geschiedenen Mann Pierre vor dem Regen in die kleine Bar geflüchtet, die versteckt in der Nähe des Marché Saint-Honoré in einem Innenhof lag. Sie war nur an drei Tagen in der Woche geöffnet und wurde seit Jahren von einer Familie aus Sancerre geführt, die an diesen Tagen ihren Wein, selbstgemachtes dunkles Brot und Leberwurst aus eigener Herstellung anbot. Die drei Brüder hinter der Bartheke trugen Baskenmützen, karierte Hemden und lange graue Schürzen.

Emmanuelle und Pierre hatten diese Bar bereits vor über zehn Jahren entdeckt. Heute waren sie vor dem großen Ansturm gekommen und ergatterten einen kleinen Tisch am Fenster, noch bevor sich die Bar füllte. Leute standen sogar in der Tür, die man nicht mehr schließen konnte, weil es so voll war. Hierher kamen viele direkt vom Markt, um rasch ein Glas zu trinken und sich die kleinen Brotscheiben mit Leberwurst von der Theke zu nehmen, die dort auf Tellern angeboten wurden. Man trank schnell, warf sich Grüße zu, tauschte rasch Neuigkeiten aus und verschwand wieder. In den vergangenen zwei Jahren war die Bar berühmt geworden, jetzt kamen auch Bank- und Museumsangestellte und Mitarbeiter aus den Modehäusern hierher. Eine interessante Mischung, wie Emmanuelle fand, während Pierre es bedauerte, dass es nicht bei den Marktleuten geblieben war.

Seit fünf Jahren waren sie geschieden, doch sie verstanden sich weiterhin sehr gut. Sie hatten festgestellt, dass sie beide nicht für die Ehe geschaffen waren, jeder von ihnen war in erster Linie mit seinem Beruf verheiratet. Pierre war seit langem als Innenarchitekt erfolgreich.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte er besorgt, da Emmanuelle schwieg und kaum reagierte, als er ihr von seinem neuen großen Auftrag erzählte. Er sollte in Lausanne ein Haus für einen deutschen Unternehmer einrichten. »Ich weiß nicht«, antwortete sie und biss lustlos in ihr Brot. Dann legte sie es auf den Teller zurück. »Vor ein paar Tagen saß Julian David Kröger in der Tagesbar ›Elise‹. Ich habe ihn zufällig von meinem Fenster aus gesehen.«

»Julian Kröger?«, rief Pierre so laut aus, dass sich die Leute an dem Nebentisch nach ihnen umdrehten. »Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?«

»Ich erzähle es dir doch gerade.«

»Meinst du, er saß absichtlich dort, um dich zu sehen?«

Emmanuelle schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht, nein, er sah nicht einziges Mal rüber. Es gibt doch diese verrückten Zufälle.«

»Das stimmt. Aber vielleicht hast du dich auch nur getäuscht. Es sind inzwischen mehr als dreißig Jahre vergangen.«

»Das dachte ich erst auch. Aber gestern wurde es zur Gewissheit.«

»Gestern?«

»Ja, Isabelle rief mich an. Sie hat Julian vorgestern auf einer Party in Hamburg kennengelernt.«

»Und?« Pierre legte sein kleines Leberwurstbrot ebenfalls zurück auf den Teller.

»Nichts, sie scheint sehr beeindruckt von ihm zu sein. Er war bis vor kurzem Pilot bei der Pan Am und will jetzt noch einige Jahre bei der Lufthansa fliegen.«

»Hat er Isabelle irgendetwas erzählt? Ich meine, über dich, über euch?«

»Pierre! Ich bitte dich!«

»Wieso denn nicht?«

Emmanuelle reagierte gereizter, als sie es wollte. Sie versuchte, ruhig zu klingen, als sie fortfuhr: »Er lernte meine Schwester zufällig auf einer Party kennen, warum sollte er ihr gleich unsere Geschichte erzählen?«

»Du hast ja recht«, meinte Pierre versöhnlich. »Vielleicht hat er auch abgewartet, wie sich Isabelle verhält, was sie so sagt.«

Emmanuelle zuckte die Schultern. »Wie ich Isabelle verstanden habe, war es nur ein kurzes Gespräch und es ging hauptsächlich darum, dass sie gerade ihren Flugschein gemacht hat. Er will ihr helfen«, fügte Emmanuelle hinzu. »Aber in unserem Telefonat hat Isabelle wohl gespürt, wie betroffen ich über ihre Begegnung mit Julian war. Sicher hat sie mich deswegen auch gefragt, ob ich ihn kenne.«

»Und? Was hast du gesagt?«

»Nur, dass ich ihn durch Vater kennengelernt habe, mehr jedoch nicht.«

»Das war alles?«, wollte Pierre wissen, während er dem Kellner mit seinem erhobenen Glas ein Zeichen machte. »Magst du auch noch einen?«

Emmanuelle schüttelte den Kopf. »Nein, nicht am Mittag.«

Sie warteten schweigend, bis der Kellner das zweite Glas Sancerre vor Pierre hinstellte. Pierre prostete Emmanuelle kurz zu, trank einen Schluck, und während er sein Glas abstellte, sah er Emmanuelle an. Sie wirkte blass, nervös und hatte einen gequälten Gesichtsausdruck.

»Weißt du, du musst es selbst entscheiden … Aber ich würde dir raten, mit deiner Schwester zu sprechen. Erzähle ihr von ihm. Wenn du über deine Vergangenheit schweigst, fühlt sie sich verletzt, denkt, du hast kein Vertrauen zu ihr.«

Nur zögernd nickte Emmanuelle. »Das weiß ich doch, Pierre. Aber es fällt mir schwer, darüber zu sprechen, verstehst du das nicht? Du weißt doch, wie lange ich gebraucht habe, um dir alles zu erzählen.«

Pierre griff nach ihrer Hand und drückte sie leicht. »Natürlich verstehe ich dich. Aber diese Zeit damals ist ein wichtiger Teil deines Lebens, von dem du deine Schwester ausschließt.« Emmanuelle entzog ihm ihre Hand, und Pierre lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

»Mache es so, wie du es für richtig hältst«, sagte er nach einer Weile. »Hast du ihr gesagt, dass du ihn zufällig in der Bar hast sitzen sehen?«

»Ja, das habe ich.«

»Na, wenigstens das. Isabelle weiß so wenig über dich und auch über eure Eltern. Dabei steht ihr euch so nah.«

»Ich weiß auch nicht alles, Pierre. Gerade über die Eltern. Aber jede Familie hat wohl ihre Geheimnisse, ich denke, das ist nichts Ungewöhnliches.«

Emmanuelle griff nach ihrem Glas und trank schweigend den letzten Schluck des herben Sancerres.

»Gibt es sonst noch etwas, über das du sprechen möchtest?« Pierre sah sie forschend an. Wie immer spürte er, wenn es Emmanuelle nicht gutging. Sie seufzte auf.

»Ja, ja, nichts klappt im Atelier, wir liegen hinter der Zeit. Die Stoffe für die wichtigsten Entwürfe sind noch nicht aus Italien geliefert worden.«

»Aber das ist doch seit Jahren so, ich verstehe gar nicht, warum du dich jedes Mal so aufregst. Im August sind in Italien alle Firmen geschlossen. Auch ich habe Schwierigkeiten mit Lieferanten. Aber bis jetzt hat es doch jedes Mal rechtzeitig geklappt.«

»Ich weiß, Pierre, aber ich habe einfach Angst, dass die Kollektion nicht gut genug ist.«

Jetzt lachte Pierre. »Entschuldige, Emmanuelle, aber das kenne ich nun schon seit Beginn deiner Karriere. Vor jeder Modenschau gerätst du in Panik.«

»Ja, das stimmt«, bekannte Emmanuelle. »Aber das ist nicht unbegründet. Die Nachwuchsdesigner lauern in den Startlöchern. Eine einzige schlechte Kollektion bricht mir den Hals.«

Pierre schwieg, und Emmanuelle seufzte wieder.

»Ich weiß, ich gehe dir auf die Nerven. Aber erinnerst du dich an den Januar im vorigen Jahr? Plötzlich sprach tout Paris nur noch von ihm.«

»Du sprichst von Yves Saint-Laurent?«

Emmanuelle nickte.

»Mach dich nicht verrückt, Emmanuelle, du bist gut, und du weißt das. Du wirst sogar immer besser. Denke an Chanel, sie ist Jahre älter als du.«

Emmanuelle lachte jetzt, und Pierre war froh, sie wieder gelöster zu sehen.

Doch gleich darauf war ihre Miene wieder besorgt. »London drängt sich immer mehr in den Vordergrund, die Designer dort haben junge frische Ideen, Mary Quant mit ihrem neuen Look …«

»Emmanuelle, ich bitte dich. Das ist doch etwas völlig anderes, Mode nur für ganz junge Frauen. Du kannst die Kings Road nicht mit der Rue Saint-Honoré oder der Avenue Montaigne vergleichen.«

Wie immer hatten Pierres Stimme und seine sachlichen Argumente eine beruhigende Wirkung auf Emmanuelle.

»Danke dir«, seufzte sie, »ich weiß, dass meine Fantasie ständig mit mir durchgeht.«

»Ja, aber warum nur in die negative Richtung? Pole dich doch mal um«, schlug Pierre vor.

»Ich versuche mein Bestes«, erwiderte Emmanuelle lächelnd. »Ich muss jetzt auch zurück, der Regen hat aufgehört«, sagte sie dann. »Kommst du noch mit?«

Auch Pierre erhob sich. Emmanuelle beobachtete, wie er aus seiner Hosentasche ein paar zerknüllte Francscheine herauszog, sie sorgfältig glättete und erst dann auf den Tisch legte. Pierre war fünfundfünfzig Jahre alt, braun gebrannt, weil er beim Zeichnen auf seinem Balkon saß. Seine kleine, runde Brille und sein sich allmählich lichtendes Haar waren die einzigen Zeichen des Älterwerdens. Wie immer war sein Hemd zerknittert, die Ärmel hochgekrempelt, und am Handgelenk trug er eine uralte Uhr mit einem abgewetzten Lederband. Alles an ihm wirkte lässig, selbstverständlich und unprätentiös.

»Was ist?«, fragte er mit einem Lächeln, als er spürte, wie Emmanuelle ihn aufmerksam betrachtete.

»Nichts«, antwortete sie, »ich schaue dich nur gern an.«

Pierre lachte. »Das hat mir schon lange keine Frau mehr gesagt.«

Als sie sich durch die Menge gedrängt hatten – die Gäste standen vor der Tür und sogar im Innenhof –, nahm er ihren Arm. »Ich begleite dich noch«, erklärte er. Am Nachmittag hatte ein Gewitter Abkühlung gebracht, und Emmanuelle atmete tief die frischere Luft ein.

»Gibt es sonst noch etwas, das dich bewegt?«, fragte Pierre, als sie in die Rue Saint-Honoré einbogen.

»Du meinst, ob es einen neuen Mann in meinem Leben gibt, nicht wahr?«

»Ja, natürlich«, lächelte Pierre, blieb stehen und sah sie forschend an. »Du wirkst irgendwie verändert, bist du etwa verliebt?« Emmanuelle schüttelte lachend den Kopf. »Nein, nein. Und du?«, stellte sie die Gegenfrage.

»Ich liebe nur dich«, entgegnete Pierre, sein Lächeln war verschwunden, und seine Augen blickten sie mit so großem Ernst an, dass Emmanuelle unwillkürlich ihren Kopf zur Seite wandte.

»Wir sind zwei einsame Menschen«, antwortete sie verlegen. »Wir sind umgeben von Leuten, aber wenn wir abends nach Hause kommen, sind wir allein. Vielleicht ist das unser Schicksal.«

»Du hast recht, wir kennen viele Leute, aber Freunde haben wir wenige, du und auch ich«, stimmte Pierre zu.

»In den vergangenen Tagen habe ich oft an meine Mutter gedacht«, fuhr Emmanuelle fort. »Sie ist sicher auch sehr einsam, aber sie gibt es nicht zu.«

»Nur wenige Menschen können das, es gehört Mut dazu«, antwortete Pierre nachdenklich.

»Manchmal habe ich den Verdacht, dass auch Isabelle Angst vor Einsamkeit hat und sich deswegen immer wieder in kurzlebige Beziehungen stürzt. Sie hat schon mehrere Affären mit Piloten hinter sich, obwohl das verboten ist. Jetzt ist sie wieder mit einem zusammen, aber das hat keine Zukunft.«

»Jeder Mensch geht auf seine Weise mit Einsamkeit um. Deine kleine Schwester ist längst erwachsen«, betonte er noch einmal mit einem amüsierten Lächeln. Er nahm es mit Humor, wie sehr sich Emmanuelle stets um ihre so viel jüngere Schwester sorgte, mit der sie ein inniges Verhältnis verband. Die beiden telefonierten oft, und Emmanuelle lebte während der Besuche ihrer Schwester in Paris auf. Sie war stets für Isabelle da und genoss die Rolle der starken älteren Schwester, die der jüngeren in allen Lebensentscheidungen beistand. Und doch: Über die schwierigen Phasen ihres eigenen Lebens redete sie nicht mit Isabelle.

Deshalb fügte Pierre vorsichtig hinzu: »Und wenn du mit ihr sprechen willst … dann ist diese zufällige Begegnung mit Julian Kröger vielleicht ein guter Anlass dafür.«

Emmanuelle schwieg.

Sie standen immer noch an der Kreuzung zur Rue Saint-Honoré, als Pierre sie an sich zog.

»Ich möchte später zu dir kommen«, murmelte er in ihr Haar. »Willst du?«

Emmanuelle sah zu ihm hoch. »Heute nicht, sei mir nicht böse.«

Sie und Pierre verbrachten immer noch oft die Nacht miteinander. Ihre Beziehung war unverbindlich, ohne gegenseitige Ansprüche, ohne Vorwürfe. Ideal, hatte Pierre es einmal genannt. Jetzt spürte Emmanuelle, dass ihre Absage ihn traf.

»Ich werde heute lange arbeiten«, erklärte sie daher, »Chloé wartet bereits auf mich.«

»Nun, dann ein anderes Mal«, sagte Pierre leichthin. »Wie geht es übrigens Chloé?«, fragte er dann, um das Thema zu wechseln.

»Gut, sehr gut.«

»Hat sie nicht eine neue Liebe?«, wollte Pierre wissen.

»Ja, Anne. Sie ist Redakteurin der englischen Vogue.«

»Das freut mich für sie, sag ihr einen schönen Gruß von mir.«

Emmanuelle nickte lächelnd, und Pierre küsste sie auf beide Wangen. »Also, salut.«

Emmanuelle sah ihm noch kurz nach, dann ging sie weiter. Vor dem Schaufenster ihres Modehauses verharrte sie einen Moment und warf einen Blick ins Innere des Geschäfts. Ihre beiden schwarzgekleideten Verkäuferinnen hatten alle Hände voll zu tun. Wie jedes Mal, wenn Emmanuelle erkannte, dass ihre Kreationen bewundert und gekauft wurden, war sie glücklich.

Rasch betrat sie das Modehaus durch den Nebeneingang und ging hoch in ihr Arbeitszimmer. Sie wusste, dass man im zweiten Stock bereits mit der Anprobe auf sie wartete, aber sie wollte einen Moment allein sein.

Bevor sie sich an ihren Zeichentisch setzte, ging sie zum Fenster und öffnete es weit, um die frische Luft nach dem Regen in den stickigen Raum zu lassen. Sie warf einen Blick hinunter auf die Straße, die noch vom Regen glänzte, und beobachtete, wie der Besitzer der Bar gegenüber die Tische und Stühle abwischte, die Aschenbecher aus Porzellan mit der roten Aufschrift BYRR abräumte, die Möbel gegen die Wand lehnte und sie ankettete, da es wieder nach Regen aussah.

Dort hatte vor acht Tagen Julian David Kröger gesessen. Sie hatte sich nicht getäuscht. Er war also nach Deutschland zurückgekehrt.

Und er war verheiratet. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, auch jetzt noch, nach all den Jahren.

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Fünf

Emmanuelle/Berlin

Herbst 1932

Julian, das ist ein komischer Name, findest du nicht?«, fragte Mathilde ihre Freundin Emmanuelle, als sie eingehakt im Gleichschritt den Kurfürstendamm hinunterliefen.

»Nein, wieso? Julian.« Emmanuelle ließ sich den Namen schwärmerisch auf der Zunge zergehen. »Das klingt doch schön.«

Mathilde kicherte. »Ja, weil du in ihn verliebt bist, aber mir gefällt der Name nicht. Dann auch noch David«, betonte sie.

»Ja und?«

»Weißt du, Rolf hat mich wegen des Namens sogar gefragt, ob dein Freund Jude ist.«

Emmanuelle blieb abrupt stehen und löste sich von Mathilde.

»Und?«

»Rolf meint, die Juden nehmen uns alles weg, drängen sich vor, und er …«