Den Absprung wagen - Fabian Hambüchen - E-Book

Den Absprung wagen E-Book

Fabian Hambüchen

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Beschreibung

Im Sport ist alles möglich - im Leben auch

2016 war das Jahr des Fabian Hambüchen, auch wenn es alles andere als gut begonnen hatte: Eine Schulterverletzung wirft ihn Anfang des Jahres so weit zurück, dass er nicht mehr trainieren kann – und doch ist er wenige Monate später Olympiasieger. Fabian Hambüchen hat sich vollendet.
Mutig und ehrlich erzählt er über sein Leben und seine Karriere, schildert seine Erfolge und Rückschläge und lässt uns teilhaben an der Kunst, aus Niederlagen gestärkt hervorzugehen. Sein Geheimnis: die mentale Kraft – und die Fähigkeit, im entscheidenden Moment ganz bei sich zu sein. Eine faszinierende Lebensgeschichte, die dazu motiviert, sich nicht mit weniger zufriedenzugeben. Denn du kannst alles erreichen, im Sport wie im Leben.

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Seitenzahl: 338

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Rio de Janeiro, 16. August 2016: Bei seiner letzten Olympiateilnahme turnt Fabian Hambüchen zu Gold am Reck und krönt damit seine außergewöhnliche Karriere.

Rückblick: Das Jahr startete für Hambüchen mit einer schweren Schulterverletzung, die ihn zu einer Trainingspause zwang und eine Teilnahme in Rio unmöglich erscheinen ließ. Aber er kämpfte sich zurück.

Den Absprung wagen ist die Geschichte seiner Karriere und seines Lebens. Fabian Hambüchen erzählt von seiner Kindheit, vom täglichen Turntraining mit seinem Vater, von Familie und Freunden, von Triumphen, Erfolgen und von glanzvollen Momenten. Sehr persönlich spricht er aber auch über Rückschläge, Verletzungspech, Neid im eigenen Team und darüber, wie man nach Stürzen wieder aufzustehen lernt.

Fabian Hambüchen war Deutscher Meister, Europameister, Weltmeister und ist nun auch Olympiasieger. Fast 25 Jahre lang hat er für diesen Traum gekämpft. Er hat alles erreicht und weiß genau, wovon er spricht. Für den großen Erfolg braucht es vor allem eines: mentale Stärke. Wenn wir uns auf uns selbst konzentrieren, anstatt uns mit unserem Gegenüber zu beschäftigen, kommen wir am besten ans Ziel – im Sport wie im Leben. Nachdenklich, ehrlich und humorvoll – ein Buch, das Mut macht, für seine Träume zu kämpfen.

Fabian Hambüchen, geboren 1987 in Bergisch Gladbach, gehört zu den erfolgreichsten Sportlern Deutschlands. Er fing im Alter von vier Jahren mit dem Turnen an, bestritt mit fünf sein erstes Turnier und betrieb ab diesem Zeitpunkt Leistungssport. Es folgten zahlreiche Siege auf nationaler und internationaler Ebene, er war Deutscher Meister, Europa- und Weltmeister. Nach einer schweren Schulterverletzung kämpfte er sich an die Weltspitze zurück und konnte mit dem Olympiasieg in Rio seinen größten sportlichen Erfolg feiern. Zum zweiten Mal nach 2007 wurde er 2016 zu Deutschlands »Sportler des Jahres« gekürt.

Fabian Hambüchen

Den

Absprung

wagen

STÜRZEN, AUFSTEHEN, SIEGEN LERNEN

Aufgeschrieben von Kai Psotta

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2017 Ariston Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz

Bildredaktion: Bele Engels

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,

unter Verwendung eines Fotos von © Detlef Schneider c/o Kathrin Hohberg, für Joop 2017

Satz und E-book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-21582-8V002

Inhalt

Prolog – Kurzzeit-Arroganz

Kapitel 1 – Hirnrattern

Kapitel 2 – Mein Schubladen-Trick

Kapitel 3 – Zeit für Selbstkritik

Kapitel 4 – »Wir ziehen es jetzt durch«

Kapitel 5 – Als ich Olympia noch genießen konnte

Kapitel 6 – »Wir sind hier nicht in Hollywood, sondern in Wetzlar«

Kapitel 7 – Spiel mit der Zeit

Kapitel 8 – Niemals denken, man kann es allein

Kapitel 9 – »Ich gehöre hier nicht hin«

Kapitel 10 – Kein Reset, niemals

Kapitel 11 – Highway to Hell

Kapitel 12 – Sei die beste Version von dir selbst

Kapitel 13 – Goldrausch

Kapitel 14 – Die Vollendung

Kapitel 15 – Beängstigende Leere

Kapitel 16 – Absprung geschafft!

Epilog – Denken Sie groß!

Prolog

Kurzzeit-Arroganz

Mit einem Mal greife ich ins Nichts. Leere. Eigentlich müsste hier eine 2,9 Zentimeter dicke Stahlstange sein. So wie es tausend Mal, ach Quatsch, zehntausend oder womöglich hunderttausend Mal schon der Fall war. Mit gestrecktem Körper bin ich übers Reck geflogen. Ganz früh habe ich die Stange wieder im Blick. Eigentlich ist das Zufassen in dieser Situation ganz simpel.

Zumindest sollte es das für mich sein. Schließlich war ich 2007 Weltmeister an diesem Gerät. Standard-Repertoire für jemanden, der seit Jahren nichts anderes in seinem Fachgebiet macht.

Bundestrainer Andreas Hirsch – zumindest meine ich, dass er es war – hat einmal gesagt, ich hätte einen Kompass in meinem Kopf. Doch in diesem Moment, in dieser Situation, ist der Kompass ganz offensichtlich durch Magnetfelder gewaltig gestört. Ich weiß nicht mehr, wo Nord und Süd ist. Aber vor allem weiß ich nicht, wo sich diese verfluchte Stange befindet.

Eigentlich könnte man mich aus dem Tiefschlaf reißen und mir befehlen, ich solle mich an meinem Paradegerät emporschwingen, in 2,55 Metern Höhe, und ich wäre mir sicher, die Tkatchev-Grätsche, sämtliche Riesenfelgen und sonstigen Elemente quasi mit links hinzukriegen.

Doch eben jetzt funktioniere ich nicht, sondern taumle ziemlich unkontrolliert durch die Gegend. Fingere hektisch in der Luft umher, um irgendwie und irgendwo doch noch die verfluchte Reckstange zu erwischen und mich abzufangen.

Mit jedem Millimeter, den ich erfolglos abtaste, steigt ein bisschen mehr Panik in mir auf. Bundestrainer Hirsch hat auch einmal über mich gesagt, dass ich in Sachen Coolness Ähnlichkeit mit der Rocklegende Mick Jagger habe: »Es gibt Leute«, meinte er, »die gehen auf die Bühne und machen sich vor Schiss in die Hose. Und es gibt Leute wie Mick Jagger: Der geht raus, sieht die Leute, und das pusht ihn. So ein Typ ist Fabian auch, wenn er ans Gerät geht.« Außerdem attestierte er mir die »gleiche Kaltschnäuzigkeit, wie sie einst Steffi Graf und Boris Becker hatten«.

Tja, Pustekuchen! Im Moment bin ich weder cool wie Mick Jagger noch kaltschnäuzig, wie Graf und Becker es einst waren. Ich habe Schiss, gleich gewaltig, um es drastisch zu sagen, auf die Schnauze zu fallen.

Schneller schiebe ich die Hand durch den scheinbar leeren Raum. Bis sie endlich auf Widerstand stößt. Ziemlich überraschend finde ich, wonach ich gesucht habe. Krachend stoße ich mit meinem Handballen und mit der Rückseite meines rechten Ringfingers gegen die Stange. Verflucht, tut das weh! Was für ein Schmerz!

Bereits wenige Wochen zuvor hatte ich mich genau an diesem Finger verletzt. An sich nichts wirklich Schlimmes, nur eine Prellung. Ebenfalls bei einer einfachen Übung, die ich eigentlich aus dem Effeff beherrschen sollte.

Nun trifft es wieder genau die gleiche Stelle, was die Sache umso schmerzhafter macht.

Ich beende die Übung, lasse mich auf die Matte plumpsen und halte mir meinen Finger. Sofort kommt mein Vater Wolfgang, der mich bekanntlich auch trainiert, um nach mir zu schauen.

»Wieder der Finger?«, fragt er nur knapp, nachdem er gesehen hat, dass sonst alles in Ordnung ist.

»Ja«, knurre ich wortkarg.

Eigentlich wäre es besser, mich jetzt in Ruhe zu lassen, mir ein paar Minuten Zeit zu geben, damit ich mich sammeln und selber darüber nachdenken kann, was schiefgelaufen ist. Aber diesen Moment gibt mir mein Vater nicht.

Stattdessen beschließt er einfach so und vor allem über meinen Kopf hinweg: »Du startest am Wochenende nicht in Vendéspace. In deiner Verfassung schaffst du eh keine ganze Übung.«

Eigentlich soll der Weltcup in Frankreich zur Vorbereitung auf die Europameisterschaft dienen, die im April 2013 in Moskau ansteht. Und jetzt meint mein Vater ernsthaft, ich solle darauf verzichten, weil er so ein beschissenes Gefühl hat, ich könnte nicht durchhalten? Was will der eigentlich von mir? Ich hänge doch am Reck, nicht er! Er hat nicht mal selber in der Weltspitze geturnt, war früher allenfalls national ganz okay. Und außerdem: Woher will er denn wissen, wie sich mein Finger anfühlt? Ist er jetzt plötzlich auch noch Hellseher? Oder hat er sich von Superman den Röntgenblick geliehen?

Noch immer hocke ich auf der blauen Matte unterm Reck und versuche, ruhig zu bleiben. Irgendwie meine Wut in mich reinzufressen, diese unbändige Wut über den Besserwisser, den alten Nörgler, Mister-Nimmer-Zufrieden, der schon wieder zu seiner Kamera und seinem Laptop rübergestiefelt ist, mit dessen Hilfe er jede meiner Übungen bis ins kleinste Detail zerlegen und analysieren kann.

Anscheinend hat er die Bilder schon zurückgespult und ist mitten in der Auswertung, jedenfalls höre ich verächtliche Wortfetzen von ihm, während er kopfschüttelnd vor seinem Rechner steht. »Unkonzentriert«, sagt er. »Nicht bei der Sache.« Außerdem brabbelt er vor sich hin, dass ich »nicht fit« sei und »zu wenig trainiere«.

Da reicht es mir. Ich kann den Mund nicht mehr halten. Es interessiert mich auch überhaupt nicht, dass in der Turnhalle noch andere trainieren, Kinder und Jugendliche. Darauf kann und will ich einfach keine Rücksicht mehr nehmen.

»Hast du mir was zu sagen?«, brülle ich ihn an. »Dann raus damit.«

»Du willst es wirklich hören? Ja? Bist du sicher?«, erkundigt sich mein Vater, ehe er – natürlich ohne meine Antwort abzuwarten – so richtig loslegt: »Du bist überhaupt nicht fit. Was du hier seit Wochen in der Halle ablieferst, hat absolut nichts mehr mit Profisein zu tun. Du trainierst nicht wie ein Top-Sportler. Du denkst nicht wie ein Top-Athlet. Du lebst nicht wie ein Top-Sportler. Was du hier machst, ist nur noch Hobby. So’n bisschen rumturnen. Ohne die nötige Disziplin.«

»Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«, unterbreche ich ihn. »Leck mich. Du erzählst so einen Scheiß. So eine Unverschämtheit, zu behaupten, ich sei nicht fit. Bullshit! Du hast keine Ahnung.«

Irritiert stoppen ein paar der anwesenden Kinder ihre Übungen, um zu schauen, was bei uns los ist. Dass es mal zwischen uns knallt, ist nicht ungewöhnlich. Dazu ist unser Vater-Sohn-Trainer-Schüler-Gespann zu speziell. Streit gab es immer mal. Aber dass es schon mal so heftig war, daran kann ich mich nicht erinnern.

»Du musst dein Leben endlich wieder der Disziplin unterordnen«, platzt es noch einmal aus Dad heraus. »Sonst verstauchst du dir demnächst nicht mehr nur den Finger, sondern knallst mit dem Kopf gegen das Reck. Und dann? Was du hier treibst, ist einfach nur gefährlich. Bist du denn lebensmüde? Das mache ich nicht mehr mit. Wenn du keinen Bock mehr hast, Profi zu sein, dann muss ich mir halt einen anderen Job suchen.«

Wutschnaubend stapfe ich meinem Vater ein paar Schritte entgegen, während der sich immer weiter in seinen Motz-Monolog hineinsteigert.

»Ich quäl mich hier Woche für Woche durch diese verfluchte Innere Kanalstraße und stehe da jedes Mal im Stau, um dann deinen erbärmlichen Fitnesszustand ertragen zu müssen. Ich fahre von Wetzlar nach Köln, jedes Mal zwei Stunden, um dann hier deine erbärmliche Motivation zu sehen. Ich schlafe auf einer miserablen Couch mit Sprungfedern, die sich in meinen Rücken bohren, um mir am nächsten Tag dein erbärmliches Training anzutun.«

Nur noch wenige Schritte trennen mich von meinem Vater, der immer noch tobt und tobt und tobt.

»Was erwartest du eigentlich von mir, wenn mich die Presse fragt, wie du drauf bist? Soll ich lügen und sagen, dass du in Topform bist? Das, mein Freundchen, kannst du vergessen. Das mache ich nicht!«

Mittlerweile bin ich wie ein Stier, der auf einen Torero mit einem roten Tuch zusteuert. Doch ganz kurz bevor ich meinen Vater auf die Hörner nehmen kann, drehe ich zum Glück wieder ab, weil ich nicht weiß, was sonst bei all meiner Wut passieren würde. Ich bin so sauer auf ihn, eigentlich müsste heißer Dampf aus meinen Ohren schießen. So sehr stehe ich unter Druck – wie ein Kochtopf, in dem das Wasser den Siedepunkt erreicht hat.

»Du wirst schon sehen, wie ich turnen kann«, schreie ich.

Denn grundsätzlich habe ich den Eindruck, dass für mich, sobald ich am Reck bin, keine Naturgesetze mehr gelten. Dann bin ich der felsenfesten Überzeugung, alles zu können. Dann habe ich ein tiefes Vertrauen in meinen Körper, das durch nichts gebrochen werden kann – auch nicht durch Vernunft. Zu dieser Einsicht komme ich aber nur, wenn ich in Ruhe und reflektiert darüber nachdenke, nicht, wenn ich voller Anspannung und Adrenalin bin und erst recht nicht während eines solchen Streits mit meinem Vater.

Ohnehin geht es mir gerade nur noch darum, meinen Vater zu provozieren. Ich will ihm eine mitgeben, eine richtig fiese Verbalattacke, als Rache, dass er sich angemaßt hat, mich so runterzuputzen.

Also frage ich ihn: »Hast du eigentlich Silber bei Olympia geholt, oder war ich das?«

Patsch! Das hat gesessen. Das erkenne ich sofort an seinen Augen. Und daran, wie er anfängt, seine Zähne gegen die Unterlippe zu pressen. Das macht er immer, wenn er nachdenkt.

Für wenige Sekunden ist Ruhe in der Halle. Wir stehen uns gegenüber wie zwei Westernhelden unmittelbar vor dem Showdown. Nur dass wir keine Revolver tragen.

»Weißt du was«, feuert mein Vater seinen Verbalschuss los, wobei seine Stimme überraschend ruhig und kontrolliert ist, was mich noch wütender macht, weil ich mich nicht mehr so beherrschen kann. »Du bist ein richtig arrogantes Arschloch geworden.«

Mit einem Mal entweicht all die Energie, all die Wut, der ganze Zorn, alles, was mich zu meinem Aufstand gepusht hat, aus mir. Von einer Sekunde auf die andere fühle ich mich, als hätte ich mir eben doch nicht nur eine verbale Ohrfeige eingefangen, sondern als hätte mich eine echte Revolverkugel erwischt. Durchschuss. Mitten durchs Herz.

Zu behaupten, man wäre frei davon, jemals in seinem Leben von Arroganz befallen zu werden, wäre nun wirklich arrogant. Überheblichkeit, und sei sie auch noch so vorübergehend, ist eine Eigenschaft, die wohl jeden mal erwischt. Man kann sich nur schwer davon befreien, dass einem gelegentlich das Ego anschwillt. Aber so ein vorübergehender Anflug von Arroganz ist eben etwas anderes, als wenn man sich angeblich zu einem »RICHTIG ARROGANTEN ARSCHLOCH« gewandelt hat. Das ist noch mal eine ganz andere Hausnummer.

Vor allem die Überzeugung, mit der mein Vater mir diesen Vorwurf gemacht hat, ist erschreckend. Ich habe ihm in der Vorbereitung auf all die Welt- und Europameisterschaften, die Weltcups und die Olympischen Spiele weiß Gott so einiges an den Kopf geknallt – und er mir. Gelegentlich haben wir uns ein Beleidigungsbattle geliefert, bei dem es wie im Tischtennis munter hin und her ging. Aber nie hatte es diese Wucht. Diese Ernsthaftigkeit. Noch nie hat einer von uns den anderen so entschlossen attackiert.

Ich ringe um Fassung. Suche nach Worten. Nach einer knalligen Retourkutsche. Aber in mir ist kein bisschen Power mehr, um ihm etwas zu entgegen, geschweige denn, ihm zu widersprechen. Als ich merke, dass sich auch noch mein Hals beim Schlucken zuschnürt, dass ein schmerzhafter Druck bis in die Ohren aufsteigt und sich meine Augen langsam mit Tränen füllen, schnappe ich meine Tasche, werfe sie über die Schulter und renne aus der Halle. Die Tränen will ich meinem Vater nicht auch noch gönnen. Er soll nicht sehen, wie sehr er mich getroffen hat. Dass er als klarer Sieger aus diesem Schlagabtausch hervorgeht.

Im Auto kann ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Stattdessen schreie ich wie ein Irrer vor mich hin. Unkontrolliert purzeln Beschimpfungen für meinen Vater aus meinem Mund, obwohl er sie nicht mal hören kann.

Um irgendwie meine angestaute Aggression loszuwerden, schlage ich aufs Lenkrad.

Ich bin kein cholerischer Mensch und fahre nicht oft aus der Haut. Eigentlich habe ich mich gut im Griff. Kann gut mit Kritik und verbalen Attacken umgehen. Doch dass mich mein eigener Vater als arrogantes Arschloch sieht, hat mich so sehr schockiert, dass mein Verstand aussetzt.

Irgendwie steuere ich meinen Wagen nach Hause. Zum Glück bin ich dort erst mal allein. Meine damalige Freundin ist noch auf der Arbeit. Ich hätte eh keine Lust gehabt, mit ihr über den Streit zu diskutieren. Und auch mit sonst niemandem.

Ohnehin gibt es kaum jemanden in meinem Freundeskreis, der das richtige Gespür für die Wehwehchen und Befindlichkeiten eines Leistungssportlers hat. Woher auch? Fabs, seit Kindheit mein engster Freund und ein Turnkollege, wäre der einzige Gesprächspartner, aber der ist genau zu dieser Zeit am anderen Ende der Welt und kaum erreichbar. Mit anderen würde es keinen Sinn ergeben, den Streit mit meinem Vater aufzuarbeiten. Weil keiner die Besonderheit einer Trainer-Sportler-Beziehung greifen könnte.

Ich haue mich vor den Fernseher und lasse mich stumpf vom Programm berieseln, ohne den Inhalt bewusst wahrzunehmen. Ich sehe Bilder, erkenne Schauspieler, die den Mund auf und wieder zu klappen. Was sie sagen, geht allerdings an mir vorüber.

So fliehe ich für zwei, vielleicht auch drei Stunden aus der Realität, die heute so richtig beschissen ist. Sinnloser Lebenszeitverlust, wie ich ihn nur ganz selten zulasse. Zwischendurch heule ich auch einfach nur vor mich hin. Ich lasse die Tränen zu, weil ich überhaupt keine Kraft habe, mich gegen sie zu wehren. Dann gehe ich ins Bett.

Kapitel 1

Hirnrattern

Es gab mal eine Zeit, da war ich kein besonders guter Schläfer. Wenn mein Tag aufregend war oder ein besonderer Wettkampf bevorstand, wenn ich Liebeskummer hatte oder Prüfungen angesetzt waren, habe ich schwer in den Schlaf gefunden. Dann habe ich mich von links nach rechts gewälzt, war stundenlang damit beschäftigt, die richtige Schlafposition zu finden. Ich habe Selbstgespräche geführt und mir befohlen, dass ich jetzt endlich einschlafen müsse. Natürlich ohne Erfolg.

Mich hat dieses Hirnrattern fertiggemacht. Die Maschine der Gedanken rotiert, dröhnt und bohrt im Kopf und macht mich mürbe. Und ich konnte sie lange Zeit überhaupt nicht abstellen.

Es ist noch schlimmer als reine Nervosität, die einen heimsucht, wenn man die Wettkampfhalle betritt. Nervosität führt dazu, dass man vor seiner Darbietung fünfmal binnen kürzester Zeit noch zur Toilette rennt, was zwar nervt, aber letztlich hinnehmbar ist. Manchmal macht Nervosität einen aggressiv. Manchmal übermütig. Vereinzelt auch hibbelig. Aber die eigene Nervosität zu durchschauen und in den Griff zu bekommen ist viel einfacher, als mit diesem Chaos im Kopf umzugehen. Das Hirnrattern ist schriller. Dein ganzes Nervensystem wummert in unerträglicher Lautstärke.

Beim Hirnrattern steigen zudem auch plötzlich Blasen in deinem Kopf auf und irren unkontrolliert umher, bis sie an Nervensträngen zerplatzen – jedenfalls fühlt es sich genau so an.

2005 gab es mal eine Situation, die genau diese Reaktion ausgelöst hat. Ich war in der zwölften Klasse und musste mich parallel um Schule und Turnen kümmern.

Wegen der Turn-Weltmeisterschaft in Melbourne, bei der ich knapp hinter Bronzemedaillengewinner Walerij Hontscharow auf Platz vier landete, fehlte ich fast den gesamten November sowie eine Woche vom Oktober in der Schule. Weil ich nicht noch mehr Fehltage aufbauen wollte, ging ich nach meiner Rückkehr aus Australien trotz zwanzigstündigen Flugs und Jetlags am nächsten Tag direkt zum Unterricht. Irgendwie hoffte ich, es würde ein entspannter Tag mit wenig Stoff und schnellem Ende.

Doch Pustekuchen! Stattdessen stand zu meiner größten Überraschung eine Klausur an, von der ich nichts geahnt hatte und auf die ich nicht im Geringsten vorbereitet war.

Als ich meiner Lehrerin entgegentrat, hoffte ich auf Verständnis und bat sie, mir wenigstens vierundzwanzig Stunden Aufschub zu gewähren angesichts der außergewöhnlichen Umstände.

Sie quittierte meinen Wunsch mit einem müden Lächeln und gab mir klipp und klar zu verstehen, dass ich wie jeder andere Schüler den Test mitzuschreiben hätte – und zwar jetzt und heute! »Es gibt keine Extrawürste. Auch nicht für Sie.«

Keine fünfzig Stunden, nachdem ich in Melbourne geturnt hatte, sollte ich nun also in einer Klausur glänzen. Ich wusste so gut wie gar nichts über das Thema. Wäre ich bloß nicht hingegangen! Dieser Dreckstag gefährdete allen Ernstes mein Abitur.

Als sie die Klausur eine Woche später korrigiert zurückgab, überreichte mir die Lehrerin mein Null-Punkte-Werk mit den Worten: »Der Kopf ist nicht nur dazu da, um Medaillen drumzuhängen.«

Bodenlos unverschämt, mal ganz davon abgesehen, dass es noch gar nicht so viele waren. Vier goldene bei den Jugend-Europameisterschaften 2002 in Patras und 2004 in Ljubljana. Eine weitere goldene, die ich 2005 bei den Europameisterschaften der Großen am Reck gewann.

Ganz davon abgesehen, hatte ich ja nicht versagt, weil ich faul gewesen war. Oder lieber auf Partys rumgehangen hatte.

Ich hatte, wofür es die offizielle Erlaubnis von unserem Direktor gab, beim wichtigsten Wettkampf des Jahres am anderen Ende der Welt geturnt – und die Alte verweigerte mir einen Aufschub und bot nicht einmal an, was mit meiner Sonderregel möglich gewesen wäre: dass ich stattdessen ein Referat halte.

Nachts im Bett brach das Chaos in meinem Kopf aus. Ich dachte ernsthaft darüber nach, die Schule einfach hinzuwerfen und mich nur noch auf den Sport zu konzentrieren.

Mich nervte der anhaltende, wuchtige Groll, den diese alte Schabracke – ja, so und noch ganz anders bezeichnete ich sie in meiner Wut, wenn ich nachts wach lag – mit ihrer Aussage ausgelöst hatte.

Wie mich dieser eine einzige Satz ergriff und völlig aus dem Gleichgewicht brachte!

Wobei es eigentlich klar war, dass die Trulla kein Verständnis hatte. Man konnte ihrer Figur deutlich ansehen, dass sie noch nie einen Fuß in eine Sporthalle gesetzt hatte. Eigentlich hätte mir dieser unförmige Sportmuffel völlig egal sein sollen. Aber – verflucht noch mal! – so war es nicht. Vielleicht war sie ja früher, als sie selber noch Schülerin gewesen war, im Sportunterricht gehänselt worden und rächte sich nun an mir.

Der verächtliche Blick, mit dem sie mich bei der Rückgabe der Klausur bedachte, ging mir nächtelang nicht aus dem Sinn. Ich fühlte mich, als wäre ich in einen Sog geraten, wie er entsteht, wenn man den Stöpsel aus der Badewanne zieht, nur hundert Mal stärker.

Tennislegende Andre Agassi hat sich in seiner wundervollen Autobiografie Open als »Sklave seiner Nerven« geoutet – er wüsste bestimmt genau, was ich mit meinem Hirnrattern meine.

Vor allem nervte es mich, dass ich nicht genauso entspannt mit der Schwachsinns-Bemerkung meiner Lehrerin umging wie mit den Hänseleien meiner Mitschüler wegen meines »Schwuchtelsports«. Die waren mir immer völlig egal gewesen. Hatten überhaupt nichts bei mir ausgelöst. Es war mir vollkommen gleichgültig, dass für die Halbstarken aus unserem Jahrgang nur Fußball zählte, vielleicht noch ein bisschen Basketball. Und wenn man ganz viel Glück hatte, konnte man auch noch als guter Leichtathlet vor ihnen bestehen. Aber mit Turnen hatten sie nichts am Hut. Dass ich Spagat konnte, fanden nicht wenige »mädchenhaft«, und über meinen engen Turnanzug machte sich ständig irgendjemand lustig. Einzig meine gut trainierten Oberarme hielten die Großmäuler wohl davon ab, mich zu einem richtigen Mobbingopfer auf dem Schulhof zu machen.

Doch nun zermürbte es mich, wenn ich daran dachte, 2007 gleichzeitig mein Abitur und die Heim-WM in Stuttgart meistern zu müssen. Zwei Prüfungen dieser Größenordnung erschienen mir zu viel. Vielleicht sollte ich mich lieber darauf konzentrieren, möglichst viele Medaillen einzuheimsen. Erst ausführliche Gespräche mit meinen Eltern holten mich aus dem Gedankenstrudel, der kurz davor war, mich runterzuziehen.

Was ich dabei gelernt habe? Es gibt kein besseres Mittel, um das Hirnrattern abzustellen, als offene Gespräche mit Menschen, die es gut mit mir meinen und nicht genervt sind, wenn ich zum zehnten Mal mit dem Thema anfange – bis das Rattern und Dröhnen irgendwann endlich zum Schweigen gebracht wird.

Wie wichtig es in solchen Situationen ist, den Mund aufzumachen und das Gespräch zu suchen, hatte ich schon einige Jahre zuvor zum ersten Mal erfahren. Denn genau so ein Hirndurcheinander hatte ich auch schon 2002 erlebt, als ich vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war.

Die Welt war völlig in Ordnung. Ich turnte mit unheimlicher Freude, war gut und hatte schon ein paar Medaillen gesammelt, als Papa mich vor unserem Haus um ein Gespräch bat. Wir waren gerade vom Training heimgekommen, und er hatte den Wagen geparkt, als er sich vor mich kniete, eine Hand auf meine Schulter legte und sagte: »Fabian, wenn du woanders turnen willst, dann kannst du es mir ehrlich sagen. Ich lege dir keine Steine in den Weg.«

Seit ich sieben Jahre alt war, war er mein Trainer. Mein halbes Leben arbeiteten wir also schon zusammen, wobei »arbeiten« dafür eigentlich nicht der passende Begriff ist. Für mich war es ein täglicher Spaß, mit meinem Vater in der Halle zu toben, zu springen, zu hüpfen und durch die Luft zu wirbeln, wie es nur ganz wenige andere Kinder in meinem Alter können.

Ich verstand überhaupt nicht, was er mir sagen wollte. Was sollte dieser staatstragende Auftritt vor der Garage? Sein Kniefall und dieser Griff an die Schulter, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen?

Ohne nachzufragen, drehte ich mich um und ging ins Haus. Das Essen war wie immer bereits fertig. Nachdenklich schaufelte ich es in mich hinein. Doch egal, wie lange ich über Papas Worte nachdachte, es fiel mir keine logische Erklärung ein.

Ein paar Tage später wiederholte sich das Szenario in ähnlicher Form. Dieses Mal setzte er sich in der Trainingshalle neben mich, atmete tief ein, so als müsse er seinen ganzen Mut zusammennehmen für das, was er mir zu sagen hatte. Und wieder erzählte Papa diesen Käse, dass er mir keine Steine in den Weg legen wolle und ich auch gerne woanders trainieren könne.

Wollte er mich etwa loswerden?, schoss es mir abends durch den Kopf, als ich mich im Bett daran erinnerte. Klar, das musste es sein. Die einzig logische Erklärung. Mein Vater wollte nicht mehr mit mir trainieren. Ihm war es zu viel. Oder ich war zu begriffsstutzig. Und anstatt es direkt zu sagen, versuchte er, es mir unterschwellig unterzuschieben.

Solche Gedanken bohrten sich ganz tief in mein Gehirn. Ich hatte offenbar irgendwas so falsch gemacht, dass mein eigener Vater nicht mehr mit mir trainieren wollte.

In den nächsten Tagen wurde ich immer einsilbiger Papa gegenüber – nicht nur im Training. Ich redete nur das Nötigste mit ihm. Als Mama begriff, dass es keine kleine Meinungsverschiedenheit zwischen ihren beiden Lieblingssturköpfen war, besuchte sie mich in meinem Zimmer und fragte, was los sei. Und ich erklärte ihr, dass Papa mich loswerden wolle.

Insgesamt drei Wochen hatte ich diese Last mit mir herumgetragen. Drei schreckliche Wochen, weil ich mich von Papa verraten fühlte. Weil ich dachte, er hätte mich nicht mehr lieb. Vielleicht fand er mich als Turner auch zu schlecht. Vielleicht war ich einfach eine Zeitverschwendung für ihn, und er wollte lieber jemanden trainieren, von dem er sich mehr versprach. All diese Gedanken suchten mich nachts heim und trieben mich förmlich in den Wahnsinn, ohne dass ich mich jemandem anvertraute.

Doch nun sprudelte alles aus mir heraus, und dicke Tränen kullerten mir die Wangen runter. Am Ende sagte ich – und es ist eigentlich verwunderlich, dass es Mama bei meinem Geschluchze überhaupt verstehen konnte: »Wenn der Alte mich loswerden will, dann höre ich sofort auf zu turnen.«

Natürlich wollte mich Papa nicht loswerden, ganz im Gegenteil. Es war eines der größten Missverständnisse in unserer Zusammenarbeit.

Mein Bruder Christian turnte auch. Gut sogar. Wenn auch nicht ganz so gut wie ich. Er war der Grund, warum ich mit dem Turn-Virus infiziert wurde. Er fing mit fünf Jahren mit dem Sport an. Meine Mutter und ich, damals gerade etwas über ein Jahr alt, kamen ihn und Papa häufig besuchen. Während die zwei trainierten, erkundete ich krabbelnd die Halle, zog mich an Geräten hoch und ließ mich auf die dicken Matten plumpsen.

Je älter ich wurde, desto wilder wurden die Erkundungstouren. Und ich wollte natürlich nachmachen, was mein älterer Bruder an den Geräten zeigte.

Christian war so talentiert, dass der Deutsche Turner-Bund 1999 auf die Idee kam, ihn von meinen Eltern wegzuholen und ins Sportleistungszentrum in Berlin zu stecken. Dort könnte er, so das Argument, neben der Schule auf ein ganzheitliches sportmedizinisches, physiotherapeutisches, trainingswissenschaftliches, sportpsychologisches und soziales Betreuungsangebot zurückgreifen und auf höchstem Niveau im täglichen Training den Übergang vom Nachwuchs- zum Spitzensport schaffen.

Meine Eltern lehnten ab und erkannten, dass wir selbst ein starkes Team zusammenstellen mussten, mit Kompetenz in allen Bereichen. Streng genommen war diese Entscheidung gegen den DTB die Geburtsstunde der Hambüchen-AG, die mit den Jahren immer perfekter zusammenschmolz.

Nun, drei Jahre nach Christian, wollte der DTB auch mich in einen Stützpunkt holen. Den Hinweis hatte mein Vater unter der Hand von einem befreundeten Mitarbeiter aus dem inneren Turnzirkel bekommen. Der berichtete ihm von einem Gespräch, bei dem er angeblich die Worte aufgeschnappt hatte: »Wenn Fabi ein Großer werden will, muss er weg von dem Alten. Wir müssen ihn vom Vater wegholen.«

Das war es also, was meinen Vater so sehr bedrückte, dass er sich mir gegenüber ganz komisch verhielt. Papa hatte sogar die Befürchtung, wie er mir und Mama erst jetzt verriet, dass jemand vom DTB hinter seinem Rücken bereits an mich herangetreten sei, um mir den Wechsel in ein Leistungszentrum schmackhaft zu machen.

Als wir endlich offen miteinander sprachen, erklärte Papa mir: »Ich will alles, nur nicht dich loswerden!« Und ich fiel ihm einfach nur erleichtert um den Hals.

Ich glaube, dass vielen Menschen dieses Hirnrattern zu schaffen macht. Vielleicht nennen sie es anders, aber eine einigermaßen drastische Bezeichnung hilft sicher, die Bedrohlichkeit aufzuzeigen, die davon ausgeht. Es ist wichtig, dass man diesen widerwärtigen Zustand ernst nimmt.

Ich habe Jahre gebraucht, um etwas zu finden, was mir den Umgang damit erleichtert. Aber eins ist klar: Reden hilft.

Kapitel 2

Mein Schubladen-Trick

Allerdings ist es manchmal ganz entscheidend, in einem solchen Fall den richtigen, sach- und fachkundigen Gesprächspartner zu finden. Bei mir war das mein Onkel Bruno, ein angesehener Mentaltrainer. Erst nachdem ich mich ihm anvertraut hatte, konnte das Problem gänzlich behoben werden. Mit seiner Hilfe haben wir eine Methode entwickelt, mit der ich sämtliche Alltagssorgen vorm Einschlafen vollständig aus meinem Kopf verbannen kann.

Und das geht so: Vor meinem geistigen Auge lasse ich das Bild eines Bürogebäudes entstehen. In meiner Vorstellung ist es ein sehr hohes Haus. Ein Wolkenkratzer mit sechzig Etagen, der nach oben hin schmaler wird. An seiner Spitze ragt noch eine zusätzliche Funkantenne in die Höhe.

Auf den ersten zwanzig Etagen befinden sich jeweils fünf Doppelfenster auf der Vorderseite, umrandet von Beton mit leichter Rotfärbung. Ich habe wirklich eine sehr detaillierte Vorstellung. Weil es umso besser hilft, je realer das Bild ist.

Durch ein gläsernes Foyer gelangt man zu den Aufzügen. In der obersten Etage befindet sich mein Büro. Es ist ganz schlicht. Keine Kunst, keine Flatscreens. Eigentlich ist es nur ein riesiger Raum, in dessen Mittelpunkt ein Schreibtisch steht. Das helle Holz ist in feinster Handarbeit verziert. Es ist ein wuchtiger Tisch, der den Unterkörper von jedem, der sich an ihn setzt, zu verschlucken scheint.

Auf der Rückseite hat er Schubladen. Viele Schubladen. Richtig große Fächer mit scheinbar unbegrenztem Stauraum.

An Abenden, wenn mein Gehirn nicht abschalten will, sondern wie eine Waschmaschine im Schleudergang arbeitet, fahre ich hinauf in mein Büro, gehe an diesen Schreibtisch und lege ein Problem nach dem anderen in den Schubladen ab. Mal sanft und vorsichtig, meist mit Schmackes und Lärm. Mal stopfe ich das Thema Liebeskummer und alles, was damit zu tun hat, in eines der Fächer und knalle die Schublade schwungvoll zu. Ich habe auch schon mal meinen Bruder nach einem Streit in eine solche Schublade geschoben. Oder meine Mutter. Oder jemanden aus der Uni. Oder was auch immer mich gerade so sehr beschäftigt, dass ich nicht schlafen kann.

Wenn alle aktuellen Sorgen verstaut sind, verlasse ich das Büro und fahre wieder nach unten in die Lobby. Dynamisch schreite ich über den Marmorboden. Hinaus an die frische Luft. Ich überquere eine Straße, gehe immer weiter. Während ich aus meinen Schuhen schlappe und die Socken ausziehe, blicke ich über die Schulter noch einmal zurück, hinauf zur obersten Etage, in der noch Licht brennt.

Ich spüre Sand unter meinen Füßen. Der Lärm der Stadt, ein Mix aus dem Stapfen von hektisch umherlaufenden Menschen, von aufheulenden Motoren, Hupen und dem Gebimmel von Handys, den ich gerade noch vernommen habe, ist verschwunden. An seine Stelle ist Meeresrauschen getreten. Leise brechen die Wellen, der Abend ist nahezu windstill. Keine aufgepeitschten, dröhnenden Riesenwellen, sondern diese kleinen, feinen, die ein wohltuendes Rauschen erzeugen.

Allein stehe ich am Strand und blicke hinaus auf den Ozean, in dem sich das goldgelbe Licht des aufgehenden Mondes spiegelt.

Mit dieser Vorstellung gelingt es mir, in den Schlaf zu finden. Mit diesem Trick ist es mir vor diversen Welt- und Europameisterschaften gelungen einzuschlafen. Mir hilft diese Vorstellung. Wobei ich ausdrücklich darauf hinweisen muss, dass das nicht automatisch bei jedem genauso funktionieren muss. Aber einen Versuch ist es allemal wert.

Mit Bruno haben wir dieses Bild erarbeitet. So gehe ich etwa an den Strand, weil das ein Ort ist, der mir schon immer ein Gefühl der Zufriedenheit und Glückseligkeit vermittelt hat. Als Kind bin ich mit meiner Familie oft zum Camping an die Côte d’Azur gefahren. Der Strand ruft sofort diese unbeschwerten Stunden mit Mama, Papa und meinem Bruder Christian bei mir in Erinnerung. Bei anderen Menschen kann es ein Heuboden in einem alten Bauernhaus sein oder eine blühende Wiese. Es geht nur darum, das Hochhaus mit dem Büro zu verlassen und an einen Ort zu gehen, an dem man sich glücklich und sicher fühlt.

Aber heute Abend, nach diesem heftigen Streit mit Papa, will ich nichts verdrängen. Ich will kein Problem in eine Schublade stecken, der Realität entfliehen und schlafen. Das würde diesem Streit, dem heftigsten, den ich je mit meinem Vater gehabt habe, nicht gerecht.

Die Dimension ist einfach eine ganz andere. Als Jugendlicher habe ich meinen Papa im Training mal ignoriert und mich dann geweigert, mit ihm zusammen nach Hause zu fahren. Stattdessen bin ich zu Fuß losgestapft, weil ich zu stolz war, zu ihm ins Auto zu steigen. Weil mich das Laufen nach vier Kilometern dann allerdings noch mehr genervt hat als mein Vater, habe ich nach der Hälfte der Strecke sein Angebot, mich doch mitzunehmen, zwar trotzig schweigend, aber innerlich dankbar angenommen.

Ein anderes Mal, ich war pubertär und aufsässig, habe ich ihm in einer vollen Turnhalle ein »Halt’s Maul« an den Kopf geworfen und mich später in meinem Kinderzimmer eingeschlossen, um eine Aussprache zu verhindern. Papa rüttelte wie verrückt von außen an der Türklinke, weil er sich meine Frechheiten nicht bieten lassen wollte.

Alles unbedeutend, wenn man bedenkt, wie lange und intensiv wir zwei zusammenarbeiten. Zwischen Sportlern und Trainern muss es ab und zu krachen. Diese Reibungen können, wenn man sich grundsätzlich schätzt und respektiert, sogar ganz förderlich sein. Reibung erzeugt Energie, davon bin ich überzeugt.

Einmal hat sie bei mir sogar so viel Energie erzeugt, dass nach dem Training meine Achillessehne gerissen ist.

Das war am 15. Januar 2011, ein Datum, das ich nie vergessen werde. Am Tag zuvor hatten mein Vater und ich uns richtig in den Haaren – nach meiner Wahrnehmung war das unser zweitschlimmster Streit.

Er unterstellte mir – ein ähnlicher Auslöser wie bei unserer aktuellen Auseinandersetzung also –, dass ich im Training nicht richtig bei der Sache sei. Dass ich nur mit angezogener Handbremse arbeiten würde. Dabei hatte ich schon seit einem halben Jahr Probleme mit meinem linken Fuß. Im Oktober 2009 hatte ich mir bei den Weltmeisterschaften in London einen Außenbandriss im Sprunggelenk zugezogen. An sich nichts Schlimmes, die Heilung verlief gut, und bald konnte ich wieder trainieren. Weil ich aber zu hart arbeitete, mit blindem Eifer – dazu später mehr – wie besessen trainierte, bekam ich große Probleme mit dem linken Fuß. Aus einer leichten Reizung wurden echte Schmerzen. Aus zwischenzeitlichem Zwicken ein dauerhaftes Ziehen. Durch die Überbelastung wurde es sogar so schlimm, dass ich morgens nach dem Aufstehen zunächst gar nicht richtig auftreten konnte. Ich humpelte in Schonhaltung durch die Wohnung, bis der Fuß langsam geschmeidig wurde.

Und mit diesem Problemfuß sollte ich nach der Meinung von Papa im Januar 2011 wieder voll trainieren.

»Fabi«, sagte er gleich zu Beginn unserer Einheit. »Wir sind im vorolympischen Jahr. Du musst endlich wieder anfangen, Mehrkampf zu turnen. Also alle Übungen. Nicht immer nur so ein halbes Programm.«

Wegen der Schmerzen hatte ich zuletzt nur an vier Geräten geturnt, auf Boden und Sprung auch in Wettkämpfen verzichtet.

»Glaubst du, ich mach das zum Spaß?«, fragte ich zurück, wobei meine Tonlage gleich relativ pampig wurde, weil wir diese Diskussion nicht zum ersten Mal führten. »Wenn meine Haxen das mitmachen würden, hätte ich es dir schon gesagt.«

Doch Papa glaubte mir nicht. Er vermutete, dass ich meinen Fuß aus Bequemlichkeit vorschob. Also stichelte er: »Wenn man sich immer nur schont, kann es ja nicht besser werden. Belaste den Fuß endlich wieder, dann ist der Schmerz bald weg.«

Anstatt meinem Vater in aller Ruhe zu erklären, dass ich tatsächlich noch nicht so weit sei, ging ich gleich wieder auf Konfrontationskurs. Eigentlich muss ich an dieser Stelle fairerweise hinzufügen, dass er sonst oftmals meine Bremse ist, wenn ich es mit dem Trainingsehrgeiz übertreibe. Doch jetzt hatte er aus irgendeinem Grund den Eindruck, ich würde faule Ausreden vorschieben.

Genervt und mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch drehte ich ihm den Rücken zu und stapfte trotzig zum Boden, um trotz Schmerzen eine Übung dort zu absolvieren. Doch bereits nach wenigen Sprüngen und Landungen brach ich ab, weil der Schmerz kaum auszuhalten war.

»Siehst du, hab ich doch gesagt: Es geht nicht!«, schrie ich, während ich mich aufmachte, die Halle zu verlassen. »Das war’s. Ich gehe.«

Ich war froh, dass ich den Alten am Nachmittag nicht erneut ertragen musste. Stattdessen arbeitete ich mit meinem Personal Trainer Stephan und stemmte Gewichte. Anschließend spielten wir noch eine Partie Squash, um die lädierte Sehne in meinem Fuß mit Sprints und ruckartigen Richtungswechseln zu kräftigen.

Als Papa am nächsten Morgen davon erfuhr, war er gleich wieder auf hundertachtzig. »Wenn du Squash spielen kannst, kannst du auch springen«, polterte er.

Inzwischen war meine Wut auf ihn so groß, dass bereits ein Halbsatz reichte, um mich zu provozieren. Dieses Mal wollte ich ihm ein Training präsentieren, das ihn zum Schweigen brachte. Mit einer Topleistung wollte ich dem »alten Nörgler« jeglichen Wind aus den Segeln nehmen.

»Dir zeige ich es«, grummelte ich still vor mich hin, während ich mich am Boden bereit machte, so stark zu turnen wie seit Monaten nicht mehr.

Schwungvoll lief ich an, machte die Radwende, sprang in den Flickflack, wirbelte durch die Luft, landete, um mich erneut abzustoßen. Und dabei passierte es. Es knallte, als würde jemand mit einer Peitsche die Luft zerschneiden. Ein Geräusch, das ich früher in Indiana-Jones-Filmen mit Harrison Ford gehört hatte.

Im nächsten Moment spürte ich ein heftiges Ziehen in der Wade. Obwohl ich diese Verletzung zum Glück noch nie selbst erlitten hatte, war mir schon vor der Landung klar, dass meine Achillessehne gerissen war. Also ließ ich mich auf den Rücken plumpsen und blieb wie ein umgefallener Käfer liegen.

Sofort musste ich – wahrscheinlich eine Nachwirkung meines Deutschunterrichts in der Schule – an den Schriftsteller Franz Kafka und seine Fabel Die Verwandlung denken. So wie ich jetzt gerade, so musste sich auch seine Romanfigur Gregor Samsa nach seiner Metamorphose zu einem Ungeziefer gefühlt haben, als das er plötzlich in seinem Bett aufwachte.

Während ich mir an die Wade griff, sah ich, wie Papa davonbrauste. Aber nicht etwa, um Hilfe zu holen. Nein, er stapfte wütend davon, weil er dachte, ich würde simulieren, und wollte unsere Meinungsverschiedenheit so auf die Spitze treiben. Dass ich mich tatsächlich verletzt hatte, begriff er erst, als er nach ein paar weiteren Schritten noch einmal über die Schulter schielte und ich noch immer keine Anstalten machte, aufzustehen.

»Was ist?«, rief er mir zu.

Und bekam von mir ebenso knapp die Antwort: »Das Ding ist ab.«

Noch immer verstand er nicht, was los war. Also rief ich nun unmissverständlich: »Die Sehne ist gerissen.«

Von der einen auf die andere Sekunde veränderte sich Papas Gesichtsfarbe von Quietschrosa in Aschfahl. Damit hatte er nicht gerechnet. Nachdem er sich wieder gefangen hatte, holte er mir mein Handy, damit ich meinen damaligen Sportarzt Doktor Peil anrufen konnte. Zusammen mit meinem Freund und Trainingskollegen Fabs holte er Eis und informierte Mama, damit sie kommen und mich ins Krankenhaus fahren konnte.

Ein MRT bestätigte meinen Verdacht, und schon zwei Tage nach dem Unfall wurde ich operiert.

Während alle um mich herum aufgeregt waren, sich permanent erkundigten, ob ich Schmerzen hätte oder wie es mir ginge, war ich ganz ruhig. Schon in dem Moment, als ich auf der Matte lag und realisiert hatte, dass die Sehne ab war, ging es mir so. Statt Panik oder Verzweiflung spürte ich fast nur Erleichterung. Ich war, so blöd es klingt, sogar irgendwie glücklich über den Riss, weil ich damit endlich die Chance bekam, diesen verfluchten Fuß in Ruhe zu reparieren. Seit Monaten hatte ich insgeheim die Angst mit mir herumgeschleppt, dass die Schmerzen chronisch werden und mich mein Leben lang begleiten würden. Die OP aber war eine Chance, wieder richtig schmerzfrei zu werden.

Über all diese früheren Auseinandersetzungen mit meinem Vater mache ich mir nun Gedanken. Ich trete sozusagen eine Reise in die Vergangenheit an – zumindest gedanklich. Und langsam lege ich auch die Bockigkeit ab, die mich seit der Arschloch-Ansage vom Nachmittag daran gehindert hat, Papas Vorwurf sachlich zu hinterfragen. Nach Stunden des Eingeschnappt-Seins werde ich langsam selbstkritisch.

Bisher habe ich ihn nur verflucht. Seine Aussagen als lächerlichen Schwachsinn abgetan. Nicht mal im Entferntesten habe ich daran gedacht, ob er nicht womöglich sogar recht hat. Ich bin ein Besserwisser gewesen. Zu stolz, zu selbstbewusst, ja, womöglich sogar, wie Papa es mir vorgeworfen hatte, zu arrogant.

Erst jetzt fällt mir wieder ein, dass ich meinen Eltern und meinem Bruder Christian ein Familiengesetz zugestanden habe, das da lautet: Sie sollen, dürfen und müssen mir jederzeit, wenn sie es für notwendig erachten, die ungeschminkte, undiplomatische Wahrheit ins Gesicht sagen.

Ist das jetzt so ein Fall? Bin ich in Papas Augen tatsächlich ein arrogantes Arschloch geworden? Oder schlimmer noch: Bin ich wirklich und in den Augen von ganz vielen zu einem arroganten Arschloch mutiert?