Denkwürdigkeiten - Eckhard Henscheid - E-Book

Denkwürdigkeiten E-Book

Eckhard Henscheid

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Beschreibung

Als stilbildender Humorist wird er verehrt, als Universalkritiker gefürchtet, als einer der eigenwilligsten deutschen Schriftsteller gerühmt: Eckhard Henscheid, Mitbegründer der Neuen Frankfurter Schule und der satirischen Zeitschrift Titanic, schuf ein verblüffend vielfältiges Werk, das zum Großen der Nachkriegsliteratur gerechnet werden darf. Mit Leidenschaft liebt Henscheid die klassische Literatur, Musik, die Oper und die Provinz, und er schreibt anrührend darüber; doch ebenso leidenschaftlich geißelt er alles, was ihm aufgebläht und eitel erscheint. Henscheid kannte alle und stritt mit vielen, gern und glühend. Nun erzählt Eckhard Henscheid von dem, was sein Leben prägte: der Geschmack von Kokosnüssen und der Duft des Katholizismus, liebe Freunde - wie die Weggefährten Robert Gernhardt, F. W. Bernstein und F. K. Waechter - und Lieblingsfeinde. "Denkwürdigkeiten", notiert mit stilistischem Raffinement, bissig, komisch und hintergründig wie immer, immens klug und gebildet wie gewohnt. Eine kleine Geschichte der Bundesrepublik, wie man sie noch nicht gelesen hat - und das Selbstporträt eines großen deutschen Autors.

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Seitenzahl: 440

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Inhalt

[Cover]

Titel

Eingangszitate

Denkwürdigkeiten

1941–1951

1951–1961

1961–1971

1971–1981

1981–1991

1991–2001

2001–2011

Zum Beschluß

Bildteil

Bildnachweise

Dank

Impressum

Kurzbeschreibung

Autorenporträt

»… und Dichter sind schwatzhaft.« Goethe »Ist der Mensch nicht mehr im Bilde, bleibt ihm doch die Altersmilde.« Robert Gernhardt »Alt schon, aber gut.« Karl Valentin »Es würde den Rahmen sprengen, würde ich alles erwähnen.« Heino Jaeger

Denkwürdigkeiten

1941–1951

Öga – Bier!« soll der ein- oder zweijährige Eckhard in heimatlichen Biergärten von Tisch zu Tisch wackelnd gerufen bzw. schon kraftvoll gefordert haben; eine frühe und etwas täppische Leidenschaft, die bis zum ca. 40. Geburtstag stark anhielt, ehe sich diese (sagen wir es etwas deutlicher) Sucht dann immer entschiedener »dem Weine« (Heino Jaeger) zuwandte, um in ihm usw. –

Essentieller und mir erinnerlicher sind aber noch die drei kindlichen Geschmacks- bzw. Geruchssensationen, die das gewiß nicht arme, jedoch auch nicht allzu privilegierte Kriegskind heimsuchten; abermals und wie beim Bier dergestalt, daß es sich Schöneres nicht mehr zu denken vermochte:

Erst mit acht Jahren, gegen Ende der ersten Eisenbahnfahrt in des Vaters Heimat, das Rheinland, zum mir in der Folge sehr nahegehenden »alten Vater Rhein« (Robert Schumann), lernte ich im Bahnhof von Godesberg das damals wohl wirklich seltene kohlensäurehaltige Heilquellensprudelwasser kennen und traute, von hochsommerlichem Durst ohnehin halb verschmachtend, angesichts dieser Mundhöhlenpitzeleien meinen Geschmacksknospen oder jedenfalls meinem damals allzu gesunden Menschenverstand nicht mehr. Vorher schon hatte ich, gleichfalls vollends hingerissen, den Geschmack von Kokosnüssen kennengelernt; und wäre dann von der ersten Hl. Kommunion mit Manna-Oblaten sehr enttäuscht gewesen, hätte ich nicht als überbegabtes Kind den Schwindel von wegen sinnlich/übersinnlich bereits ziemlich durchschaut gehabt.

Und hatte aber damals etwa gleichzeitig auch noch die gleichfalls recht seltene Orange geschmeckt bzw. in der davon richtiggehend betäubten Nase erduftet.

Kein Wunder, daß mir gut zehn Jahre später die Textstelle »Siente, siè ’sti sciure arance, nu profumo accussi fino« aus der neapolitanischen Canzone »Torna a Surriento«, also der Preis des Orangenduftes, immer besonders heftig, ja von Haus auf einleuchtete.

*

Die Sprache von Babyfotos, allesamt natürlich noch einheitlich schwarzweiß:

1. Ein rundherum heiterster, vor Lachen tendenziell berstender Kugelkopf ohnegleichen des vielleicht neun Wochen alten Buben. Den konnte der Frohsinn nie ganz verlassen.

2. Der noch immer restlos haarfreie und noch gewaltiger ausladende Rundkopf des knapp Einjährigen gottselig auf den Armen der Mutter: Eigentlich war dieser Kopf doch aber eine Widerlegung der Kulturnation und des Menschengeschlechts.

3. Wäre da nicht die unwiderstehliche Hose gewesen, die, gemeint eigentlich als Kurzhose, vom Knie bis direkt unter den Hals reichte. Ein klarer Vorab-Konter der späteren Jugendmode, wo die Hose bereits zu tief sitzt und dann möglichst konturlos nach hinten dem Boden entgegen zu hängen kommt.

4. Wenn ich heute schon mal die Bilanz meines Lebens ziehe, so überragt fast allen späteren Glanz ein Weihnachtsfoto des dem Babyalter lang Entwachsenen, des vielleicht bereits Dreijährigen; der da mit angespannter Miene auch schon zu lesen versteht, nämlich in einem Bilderbuch »Kikeriki« über seinen Freund, den Gockelhahn. Mit dem Blick, der deutlich besagt, so was Schönes dürfe es doch gar nicht geben.

Meine frühe Maler- und die viel spätere literarische Begabung waren da schon unverhinderbar und nicht mehr aufzuhalten.

*

»Wer ist stärker, Löwe oder Tiger?«

Wenn meine Mutter Glück hatte, dann hörte sie auf ihre Antwort (»Löwe bzw. »Tiger«) die heftig kopfnickend einverständige Antwort des ca. Vierjährigen:

»Isaa!« Meint: Ist auch, ist richtig.

Hatte sie weniger Glück, kriegte sie bei der Antwort »Löwe« ein triumphal rechthaberisches »Nein, Tiger!« zu hören. Und genauso penetrant umgekehrt, natürlich, je nach Bedarf.

Zu vermuten steht, daß sich aus diesem frühen Widerspruchs- und Rechthabergeist bereits so onto- wie phylogenetisch meine spätere Existenz als widerborstiger Kritiker, Satiriker, als humoristischer Romancier herschreibt. Das Konziliante war mir wohl mein ganzes Leben auch nicht fremd; das affirmativ Akzeptanzfreudige und seelenruhig mit Gott und Welt Einverständige weniger, fast nie gegeben.

*

Hitlers Hinschied am 30.4.1945 kurz vor halb vier Uhr sah mich als 3,5jähriger noch kaum auf dem Posten. Allerdings, etwa ein halbes Jahr früher hißte ich zusammen mit meiner Mutter für irgendeinen Parteistraßenumzug noch recht überzeugt eine Hakenkreuzfahne; in jenem noch im Jahr 2010 existenten Schaft am Schlafzimmerfenster, der später auch für die schönen junigelben Wimpel des Fronleichnamsumzugs herhalten sollte. Sodaß mein persönliches »Heraustreten aus dem Schatten Hitlers« (Franz Josef Strauß) zwar mählich und im Prinzip gewährleistet war, sich aber naturgemäß noch eine Weile hinzog.

Wiedergutmachung leistete ich 1968ff. mit der mehrfachen Teilnahme an Anti-NPD-Aufläufen wider die Besuche der Bundes- und Landesvorsitzenden Thadden und Pöhlmann. Um, wahrnehmend die fortschreitende historische Ahnungslosigkeit der Nachwachsenden, dereinst aber nun doch mal Nägel mit Köpfen draus zu machen. Mit der Behauptung nämlich, z.B. gegenüber zulauschenden Studenten, ich sei am 20.7.1944 bei Stauffenbergs Anschlag im Führerhauptquartier leitend mit von der Partie wenn schon nicht Partei gewesen.

Nämlich genaugenommen als rechtzeitig seit 1942 »dem weiteren Widerstandskreis der ‹Weißen Rose› zugehöriger« (Hildeg. Hamm-Brücher in ihrer Kurzbiografie von 1970) Kämpfer gegen den sog. Hitler-Ungeist und die sog. Nazi-Barbarei. Ja, weißgott, in diesem Verein war ich ab Ende 1941 auch schon, was denn sonst.

*

Das Gefühlsinteresse des etwa Fünfjährigen und bereits wintersportbegeisterten Kindes an gefrorenen Bächen und Rinnsalen, namentlich an den kleinen Eisschollen und an den rundlichen oder länglichen Schlieren ihres Geäders unter der weißgrauen Decke, es läßt mir keine andere Deutung zu, als daß ich damals schon das innerste Thema der Schubertschen »Winterreise« wenn nicht gemütsmäßig vorausimaginiert, so doch halbkünstlerisch vorausgeahnt habe.

*

Für Kleist erfüllte sich die »Gegenwart Gottes« in der Stille der Wälder wie im Geschwätz der Quelle (Brief an die Braut Wilhelmine vom 3.9.1800); für Goethe im Zusammenhang mit Eckermanns stark penetranten Belehrungen über den Kuckuck vor den Toren Weimars, welche der alte Dichter zuerst noch etwas verbittert mit Lob quittiert: »Ich sehe, man mag in die Natur eindringen, von welcher Seite man wolle, man kommt immer auf einige Weisheit« (26.9.1827); dann aber (8.10.1827) sich aufrappelnd oder schon grimmig oder halt einfach nur machtvoll angezwitschert als Bilanzurteil über das Benehmen des inkommensurablen Kuckucks: »Das ist es nun, was ich die Allgegenwart Gottes nenne!«

So weit würde ich nicht gehen, dem Kuckuck das ausgerechnet zuzuvermuten – die Gegenwart enthüllte sich mir zeitlebens wohl auch nie als All-, sondern allenfalls als Teilgegenwart Gottes, und auch die mehr als zweischneidig. Ja für mich ziemlich blamabel. In der Adventszeit 1947 dürfte es gewesen sein, da wurde mir Gott halbwegs gegenwärtig, er kam als gottkongruentes Christkind zu mir, wie schwere- und gewichtlos, aber doch in kleiner Menschengestalt, kam er in die elterliche Küche geschneit und stellte lautlos irgendetwas Gnadenreiches auf dem Tisch ab, um mich ebenso schwere- und lautlos wieder zu verlassen. Als ich eine halbe Stunde danach meiner seltsamerweise aushäusigen Schwester von dem Wunder berichtete, noch immer erregt und gleichzeitig aber auch wie gebannt, betäubt, windelweich seligkeitsbetäubt, ja wohl erstarrt vor Glück oder vielmehr eben höherer Seligkeit, vor dem, was ich später »das Numinose« zu nennen lernte, vor dem wie auf Engels- bzw. eben Christusschwingen Erschienenen, verzaubert vom ganz und gar noch unbekannten Extraterrestrisch-Metaphysischen: Da zeigte sie, die ältere und bübische Schwester, sich erstaunlich ungerührt, weil klar, sie war ja das Christkind gewesen. Was ich erst später erfuhr, zu meinem Leidwesen erfuhr, denn bis dahin hatte ich an meiner kleinen Gottbegegnung unangefochten festgehalten – und wenn ich heute überlege, welche spätere Begegnung dieser des Sechsjährigen gleichgekommen wäre, dann gerate ich in Verlegenheit – die Stille der Wälder war es jedenfalls nicht und der Kuckuck schon gleich gar nicht; eher schon einmal 1999 zu Weimar der mitternächtliche Gesang einer Nachtigall –

Eine – Frau? Eine Kantilene? Nein. Genug, wenn mir im Verlauf dieses Buchs noch etwas sowohl mir als Gott einigermaßen Äquivalentes und Brauchbares einfällt, trag ich’s nach. Versprochen.

»Das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott« (Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher) als der unentrinnbare Grund des Religiösen, Göttlichen – der ist mir aber öfter begegnet. Davon gleichfalls später, vielleicht.

*

»Manche schöne Erscheinung des Glaubens und der Gemütlichkeit« (Heine, Wintermärchen) kreuzte und prägte damals oder etwas später die religiöse Werdung der durchaus empfänglichen Knabenseele. Ja freilich, keine wirklich religiösen, aber doch sehr para- und protoreligiöse Gestalten und Gesellen, Geistliche, die sich aufs Errichten von Zeltlagern oder auch nur auf die helfende, im Gegensatz zur heiligmachenden Gnade verstanden, andererseits aber auch aufs immerfortige Schafkopfspielen, katholische Geistliche und Würdenträger und Eiferer, und die empfindsame Knabenseele verstand sie nur allzu gut und allzu willig, ich ministrierte nicht bloß annähernd täglich in zwei bis drei Kirchen, sondern im Überschwang auch noch zuhause auf einem im Kinderzimmer errichteten Altar und später gar Nebenaltar, und die Mutter mußte den Meßdiener machen, während der derart religiös Empfängliche die Liturgie sogar auf lateinisch herunterbetete. Ob sich der kuriose Knabe dabei gleichsam hochgestimmt als Quasi-Priester ohne Priesterweihe dünkte, das entzieht sich meiner Erinnerung. Es war eher so etwas wie unbremsbare Autodynamik, was mich da im eigentümlich Spirituellen an- und vorwärtstrieb – so oder so war jene Knabenseele damals wohl noch religiöser als es selbst Joseph Ratzinger zu Marktl in diesem Alter und jemals danach zu sein vergönnt war; es war romantisch-schleiermacherische, ja schleierhafte Gefühlsreligion rein und reinstens, allein, es war doch auch wie – –

Genug. Daß der ganze zaubrische Spuk dann späterhin noch einige brauchbare Früchte trug, im novellistischen Maria-Schnee-Kirchlein wie im schwer katholischen Kerzenhändler Lattern, der im Roman zwar den leidenden Bischof, ja den Papst mit »geweihten Körnlein« gegen die Gicht versorgt, im Kern aber, alles was recht ist, doch mehr dem Gottseibeiuns im Verband der satanisch weitverzweigten Familie dient –: ganz umsonst jedenfalls waren frühes Leid und vor allem frohe Freud ums Kreuz herum nicht, im Sinne einer ontopsychologischen Werdung des in seinem Sinnen und Trachten durchaus Beeindruckbaren und – – aber lassen wir das.

Den Deifi (vulgo: Teufel) habe ich allerdings auch einmal erlebt, mit circa fünf. Nämlich medial, durch einen Bericht in der Heimatpresse: In Mitterteich, nahe der tschechisch-kommunistischen Grenze, habe er sich, abgefeimt heimlich aus dem Eisenbahn-Zug aussteigend, einmal gezeigt, mit verräterischem Pferdefuß natürlich. Mindestens eine Woche lang überwölbten mich sanftgruselige Angstschauer, und ich traute mich nicht mehr aufs finstere, noch unelektrisierte Klo der mütterlichen Wohnung (der Vater kam um 1948 aus der Gefangenschaft zurück).

Erst mit dem Eintritt in die Aufklärung (vulgo: Max-Josef-Schule) 1947 wurde es wieder besser. Daß wir mit der von mir anfangs unsicher beäugten Rückkunft des Vaters allesamt bis mindestens 1960 immer schön zusammenhausten – Eltern, Großeltern, zwei Kinder – und niemals fliehen o. dgl. mußten, das hat wohl auch zu dieser meiner frühen und ersten Teufelsüberwindung beigetragen.

*

Das kleine Tier als immerwährender Partner in Robert Gernhardts Nilpferd-Strip belehrt Schnuffi, als der im todchic künstlermäßigen Rollkragenpulli eine Weihnachtsgeschichte in der Redaktion abliefern möchte:

»Schade! Nichts für uns. Fing verheißungsvoll an, doch dann haben Sie wie üblich zu viel hineingepackt: Die Geburt und die Hirten und die Engel. Merken Sie sich doch endlich: In der Literatur ist mehr oft weniger!«

Schade, mir hat immer das Viele und Durcheinanderne am besten gefallen, nicht viel anders als Walter Jens, der nicht müde wurde, diese Idyllen-Ikonologie beim Bethlehem-Pastoral am unverbrüchlichsten zu bewundern und es auch allzu endlos wortreich niederzuschreiben. Ich war wohl immer mehr Idylliker bis hin zum Kitschier; ein Feind des Einfachen, ein Freund des Vielen und Wesenden und Wuselnden – so wie ich am Hl. Abend immer auf drei Bescherungen aus war: bei den Großeltern, bei der Schwester und mir und endlich bei den Eltern. Bei mir aber fand die große Krippenidylle statt, mit Geburt und Hirten und Ochs und Esel und Engel, und dieser sogar angestrahlt und die Hirten mit einem Herdfeuer ausgestattet, aus der gleichen Batterie, die auch fürs Lampenfunzellicht überm Krippen-Jesuskind sorgte. Das erste- und letztemal in meinem Leben, daß ich mich um hochraffiniert elektrische Dinge gekümmert habe.

*

Es muß im harten Nachkriegswinter 1945/46 gewesen sein, da gab ich im Zuge eines Krippenspiels des heimischen St. Georg-Notkindergartens den führenden Oberhirten, der aber auch – erstmals machte sich da mein nachmals gerühmtes Wort- und Reimgedächtnis verdient – den Text aller übrigen Hirten u. dgl. auswendig konnte und den vielfach ratlos stockenden »Kindkollegen« (G. Polt) so laut einsagte, daß für leicht verlegenen Stolz bei meiner Mutter und Heiterkeit rund um den Stall von Bethlehem gesorgt war. Mühen hatte der Frühbegabte gleichwohl mit der ihm noch unvertrauten Bildung »Himmelvater in deiner Hut«. Zuerst machte ich »in deinem Hut« draus und fand dann, gemahnt von der regieführenden Klosterschwester, zu der mich schon eher überzeugenden Version »Himmelvater in deiner Wut«.

Die nämlich schien mir angesichts der schändlich rassistischen Herbergsverweigerung als entsprechendes Gefühl auch von Maria und Josef durchaus so überzeugend, wie sie, die Wut, was ich da aber vielleicht nur ahnte, tatsächlich ja im 2. Buch Moses 20,1–18 sowie etwas später bei Hildegard von Bingen steht.

*

Wissen täte ich gern, wie ich als vermutlich Vorschulkind beim ersten zerebralen Zusammentreffen mit den mir nachmals so bedeutsamen »Alpen« reagiert, auf die Sache wie aufs Wort »mental« (Boris Becker), also spirituell und gemütsmäßig geechot habe. Neugier? Wißgier, wie damals auf alles und jedes? Mit Gewißheit war es die tiefbraune, alles andere an Bräune in den Halbschatten stellende Alpenfarbe, die mich beim inständigen Blick in den Diercke-Atlas fesselte, ja bannte. Verband damit sich eine Vorstellung? Die etwa eines locus horribilis, wie ich sie später nachlas? Waren sie, die Alpen, mir via Atlas ungeschaut und unbesehen bereits jenes »geheimnisvolle Mächtige«, als das sie zwei Jahrhunderte vorher bei Haller und Gessner beraunt worden waren? Wandelte mich bei der Tiefbräune bereits der »erhabene Eindruck der Heiligkeit der Öde« an, wie ihn Richard Wagner nachbuchstabierte, aus der mehrfachen begeisterten Anschauung heraus feiernd das »wonnevoll Schöne« (Brief an Minna 16.12.1854)?

Oder erahnte ich die Alpen mehr als Lebens-Schicksals-Landschaft, als die sie der seitens meiner Tante Grete sehr geschätzte Ludwig Ganghofer (»ein schwärer Autor«) deutet?

Zu entsinnen meine ich mich, daß ich beim Blick in den Diercke im Falle der Alpen etwas weitläufig Schartiges imaginierte, etwas bräunlich Schokoladenkantiges auch, gewissermaßen einen leicht gebogenen Betonblockschokoladenklotz –

Wie immer, sehen tat ich die Alpen erst recht spät, mit zehn, bei einer damals sogenannten Queralpenfahrt im türkisgrünen Großraumschlitten meines amerikanischen Onkels Peter aus Phoenix/Arizona. Einer Autofahrt von Berchtesgaden bis Mittenwald und Garmisch zur Zugspitze und an die Partnachklamm-Wasserfälle – da war aber die Grundfarbe Braun bereits mehr ins ewig Gräuliche verwichen und überhaupt nicht mehr allzu seelenbetäubend. Prägender das Zwischenstadium, das ich mit dem Erlernen der Buchstaben erklommen hatte und das mich mit sechs schon allzeit beim »Schweizer Kurort« mit fünf Buchstaben herzhaft ein mir sehr unbekanntes und geheimniszart rosenprangend Fastüberirdisches ins Kreuzworträtsel eingravieren hieß: »Arosa«.

Mein erschütterndes und gleichzeitig unerschütterliches Ahnungsvermögen war eben damals schon rothornspitze.

*

»Ehrliche Leute, aber schlechte Musikanten« (Karl Simrock, 1846). Und umgekehrt: Von einer gewissen Korruptivität war ich schon ganz zu Beginn meiner künstlerischen Aktivitäten schwerlich freizusprechen. Immer wenn ich meinem Großvater, einem Ideal-Opa, auf dem Akkordeon das damals noch recht bekannte Lied »Tief drin im Böhmerwald«, aus dem er abstammte, vorspielte, bekam ich 1 Deutsche Mark. Nicht weiter verwunderlich, daß ich dann häufig, wenn ich gerade 1 Mark brauchte, den Großvater zaunpfahlwinkend zu mir bat, ihm das Lied vorspielte und zuweilen wohl auch – sang. Mit sicherem Erfolg.

Späterhin war es mir dann zwar ein erstaunlich Leichtes, so manchen üppigen Geldpreis für literarische Meriten abzulehnen und zugunsten Bedürftigerer zurückzutreten. Aber für die kleinen Mark- und Eurobeträge hatte und habe ich noch immer triftig ein offenes Herz und Ohr.

*

Wenn es stimmt, und es stimmt, was in meiner Helmut-Kohl-Jugendbiographie von 1985, S. 38, steht, dann war mein erster literaturgeschichtlich relevanter Text als Zeitzeugnis aus dem Jahr 1948 dieser:

»Liebes Christkind! Ich wünsche mir eine Straßenbahn, einen Kaufladen, einen Christbaum, Plätzchen, ein Spiel, Griffeln, eine Tafel mit 2. Klasser Zeilen, einen Zeichenblock, einen Bleistift, einen Spitzer, eine Hose und Gesundheit. Hans Eckhard.«

Offen wird zwar im Buch an gleicher Stelle sofort eingestanden, daß im Vergleich mit dem großlinig ambitionierten, ja tendenziell schon weltherrscherlichen Christkindbrief des 9jährigen Kohl vom Winter 1939 der meinige klar den kürzeren zieht und füglich ziehen muß. Zu beachten ist aber doch die visionäre Kraft in mir, die es da vermochte, seitwärts einer Hose und Gesundheit schon mein Handwerkszeug als Schriftsteller seit ca. genau 1995 zu bezeichnen: Einen Bleistift und einen Spitzer – dazu traten dann etwa zehn ca. 7 × 9 cm große Zettel und Papierfetzen in meiner linken Hemdbrusttasche. Reicht auch völlig aus. Ist mein Laptop, mein Stecken und mein Stab, von diesen will ich störrisch niemals lassen.

*

Daß ich 1948 bei meiner ersten Reise ins väterlicherseits heimatliche Rheinland, an den von mir schon vorbewußt geliebten Rhein, den grüngoldenen Strom bereits zehn Minuten nach der spätabendlichen Zugabfahrt von Amberg/Oberpfalz in den nebeligen Flußauen unserer Vils wie in einem sehnsuchtsvisionären Willensakt wahrzunehmen glaubte, das sei hier nur der Ordnung halber festgehalten; ehe wir es zu unserer Schonung jetzt auch gleich wieder vergessen.

*

Unsere Haus- und Familiencombo: Akkordeon (ich), Geige (meine Schwester) und Posaune (mein Vater) – muß bayernweit ziemlich einzigartig gewesen sein: Wir boten u.v.a. die Amboßpolka, die Annenpolka, den Haushamer Plattler, den Schlittschuhwalzer und allerdings auch schon allerlei aus der späteren Lieblingsoperette vom krakauischen Bettelstudenten, etwa »Ich knüpfte manche zarte Bande« und das in Text und Weise gleich zauberische Duett »Ich setz den Fall« – die Schwester oft mehr widerwillig kratzend und entsprechend mißmutig dreinschauend, ich schwer entschlossen quetschend, der ältere und trainiertere Posaunist meist, damit das Ganze nicht rhythmisch strauchle, den dürftigen »Wöpp-wupp-wöpp«-Generalbaß markierend; alles zusammen wild und schwer erträglich und summa summarum schaurigschön; und darüber hinaus möge auch dieser Fall hiermit aber schon wieder dringend in beklommenes Schweigen versenkt werden.

*

Wörter und Wendungen, welche mich als Kind (zwischen 4 und 10) minuten-, manchmal wochen- und monatelang zum Nachdenken zwangen und die ich trotzdem nicht kapiert habe, z.T. bis heute nicht:

Kasematte

Kasserolle

Balustrade

Zisterne

Piedestal

Kothurn

Parnass

Nicht richtig aussprechen konnte – und kann – ich das Wort »Pullover«. Es klingt immer wie »Blower«, und das ist ja auch gar nicht so falsch.

Desgleichen vermag ich bis heute nicht »Akupunktur« zu sagen. Immer wird »aka« draus.

Falsch verstand ich – nach dem Modell »O wie lacht« / »Gottes Sohn Owi lacht« des bekannten Weihnachtslieds – den wohl von Hans Albers vorgetragenen Schlager »Auf der Reeperbahn nachts um halb eins« mit einer von mir mißlich gehörten und gedeuteten Schlußpointe:

»Auch nicht mit Fürsten und Grafen

Tauschen wir Jungens, ahoi!«

– die ich süddeutsch als »a Heu« (ein Heu) interpretierte und also vor einem unlösbaren, aber offenbar erotischen, ja sexuellen Rätsel stand.

Auch das Fahrtenlied des Bundes Neudeutschland mit der Zeile »Dschingis Khan, der lahme Reiter« überstieg lange Zeit meine Deutfähigkeit: »Jimmy ist kaum der lahme Reiter«.

In der damaligen Eisenbahn las ich, dabei immer nachdenklicher werdend, das Schild: »Türe nicht öffnen, Gefahr, der Zug hält«. Statt korrekt: »bevor der Zug hält«.

Und mit einem Verhörer begann auch meine spätere Passion für die Verdi-Oper »Der Troubadour«: Statt »Ihres Auges himmlisch Strahlen« hörte ich tatsächlich und wohl früh wie nicht ganz dicht »Ehre sei Gott in der Höhe« – gut, daß ich, dergleichen zu vermeiden, Leonoras wundervolle Dur-Moll-Kantilene besser gleich auf italienisch mir einprägte: »Tacea la notte placida …«

*

Stark und bedeutend, weit früher erkennbar als das für Musik oder gar fürs Wort, zeigte sich das Talent fürs Zeichnen und Malen. Ich erinnere eine Farbstiftzeichnung für die heftig ins Herz geschlossene Kinderkrankenschwester nach der Blinddarmoperation von 1949. Und, unterfertigend mit »1953«, also mit zwölf, bewältigte ich zwei bleistiftgezeichnete Madonnen nach Dürer und Raffael, die mir Dürer und Raffael im gleichen Alter an Perfektion und vor allem Weiblichkeitszauber erst einmal nachmachen müßten. Wäre dies nicht ein geradezu spartanisch-seriöses Buch, ohne weiteres könnte ich hier per Reprint die Beweise vorlegen.

Nicht schlecht auch die circa zwölf Ölgemälde, die ich nach langer Schaffenspause ab 1975 vor mich hin fabrizierte. Und mit einem von ihnen nicht allein als Titelbildner meines Romans »Dolce Madonna Bionda« (1983) die Welt in Erstaunen versetzte; sondern damit auch zwei Anfragen von professionellen Galerien einholte.

Vorgeblich bescheiden lehnte ich ab. In Wahrheit, weil ich den Galeristen nicht vors Fait accompli stellen wollte, daß die Bilder lediglich pour mon plaisir fabriziert, also unverkäuflich, nämlich unbezahlbar seien.

Die Antwort kam prompt schon im Jahr darauf. Bei einer Gruppenausstellung in Nürnberg 1987 wurde eins dieser kostbaren Gemälde einfach ganz gemein gestohlen. Eine sehr zarte Halligen-Schnee-Gräber-Komposition. Wer weiß was davon? Treffe ich hier in diesen Zeilen gar den Räuber, mit inzwischen immerhin nachgewachsener Reuescham?

*

»Cum angelis et archangelis« – »et dimitte nobis debita nostra« – »ecclesiae suae sanctae« – »cumque omni militia caelestis exercibus (exercitus?)« – »sine fine dicentes« –

Es war bei den lateinischen Meß- und Ministrantenresponsorien, wie sie sich heute noch gut im Kopf bewahrt haben, wohl vorzüglich innerhalb der allseits bekannten Magie des Archaischen und also Heiligmäßigen die spezielle durch Wortwiederholung und Echoklang, die mich für die Sache schwer einnahm; ehe ich etwas später, befördert durch den Lateinunterricht, auch nur einen schwachen Schimmer, eine auratische Ahnung haben konnte, was die Wörtlein, die Formeln so ungefähr bedeuten mochten.

»Ordentlich religiöse Schauer« (Schleiermacher 9.9.1818) waren es wohl nicht, was das empfängliche Kind überrieselte. Sondern eher schon die Ahnung einer Ahnung einer ziemlichen Affinität von Klangquatsch und Religion. Und umgekehrt natürlich.

Was allerdings die israelitische »Bundeslade« des Alten Testaments (der Moses-Zeit? Jakobs? Ich weiß nicht mehr) in meinem Religions- und Bibelbuch der zweiten Klasse sei, das habe ich in der Kontinuität dessen bis heute trotzdem nicht begriffen. Und begriff es konsequent schon 1948 nicht. »Bundeslade«. Was ein Unding.

*

Ähnlich der vielbeschriebenen Magie von Fußball-Mannschaftsaufstellungen, wie sie von Ror Wolf bis hin zu mir die an sich konsistentesten Köpfe verzaubern oder, genauer, in eine Art Erstarrung zu versetzen vermag oder jedenfalls früher mal vermochte: ganz ähnlich belegte den wohl knapp Zehnjährigen mit fast erstarrter Verzauberung und nahm ihn wie epiphanisch in Beschlag ein Plakat, das ein Freundschaftsspiel »FC Amberg – 1. FC Nürnberg« ankündigte. Der Einser im »1. FC« kündete von etwas Außerirdischem, Gottnahem; das sich dann, vermutlich als pure Analogiebildung, auch auf den Torwart des 1. FC Nürnberg, Edi Schaffer (»der im grünen Pulli«), als einen praktisch Unschlagbaren übertrug. Waren die Matadore der heimischen Landesliga schon Halbgötter, so mußten zumindest einige der Spieler der damaligen Oberliga Süd praktisch Unsterbliche sein.

In der Erinnerung haftet aber auch noch, daß der ca. Zwölfjährige und phasenweise sogar Spitzenschüler an manchen Tagen und zumal Abenddämmerungen nichts Besseres zu tun hatte als mit dem Fahrrad durch die halbe Stadt zu kurven, um in den damaligen sog. »Vereinskästen« (heute wohl durch Internet usw. gegenstandslos geworden) Mannschaftsaufstellungen zu lesen, wie besessen von Fußball- bzw. Namensdämonie zu studieren, Ersatzspieler auch noch mitzunehmen, Veränderungen gegenüber der Vorwoche festzustellen. Aufstellungen allerdings nur von Männern, von der Ersten bis zur 2. Schülermannschaft. Frauenfußballmannschaften interessiert gleichfalls zu berücksichtigen, wie Hermann, der Held von »Maria Schnee«, es tut? Gab es damals noch nicht, jedenfalls nicht in der Provinz. Vermutlich hätte ich sie sonst schon im Übermaß erregt auch noch gelesen. »Tor: Streber Liesl, rechte Verteidigung: Schimank Inge, linke Verteidigung: Weiß Ilona …«

*

Als Fußballtorwart zwischen zwei Eichen im Amberger Stadtgraben machte ich mit sieben so manche sog. Bombe »unschädlich« und ahnte nicht, daß das ebenso Heydrich-Deutsch wider Polen aus dem Jahr 1939 gewesen war, wie es noch die gesamten fünfziger Jahre über als gleichermaßen besinnungsloses wie beliebtes Sportreporter-Metaphernmonster weiterlebte. Knapp ein Jahr nach meiner Geburt 1941 war es dann zur Unschädlichmachung Heydrichs gekommen, ich aber ließ mich’s nicht verdrießen, sondern mich ab 1950 zum Halbstürmer umschulen, als der ich dann zum Spielmacher entschärft jahrelang mehr spirituell die Fäden zog.

*

Die Genese des Geistes, der Big Bang durchs Bücherlesen oder wie immer das großmächtig heißen mag:

1949, mit acht, war ich im Sommer erstmals Übernachtungsgast auf dem Dachsriegel (827 Meter) bei Furth im Wald, einquartiert nach Art der Zeit und Eisenbahnerkinder in eine sehr spartanische Logishütte. Ein halbes Jahr später sprang mir aus dem Lesebuch der 3. Klasse im Zuge einer Herbstgeschichte der Satz »… schied die Sonne hinterm Dachsriegel« entgegen.

Es war ein Urknall, ein Blitzeinschlag, ein Coup de coïncidence, ein Einschlag direttissima ins wie betäubte, wie überrumpelte Herz. Ein Blitz aus Überraschung, Welterahnung und auch Stolz. Stolz darauf, daß ich diesen Berg ja doch – »wirklich« kannte!

Erstmals wohl waren Primär- und Sekundärwirklichkeit, Erlebnis- und Druckwelt aufeinandergetroffen, hatten sich ineinander verschränkt. Dagegen, gegen diesen Choc d’amour, hatten viel später Goethe und Kafka keine Chance mehr. Nicht einmal ganz die drei jäh herzbrechenden Worte aus dem dritten »Winnetou«-Band: »Er war tot.«

Über sie weinte ich allerdings geschätzte vier Stunden lang. Und immer wieder auf. Aber ich las den Roman einfach viel zu spät, mit etwa 15. Da war die Ur-Druckbuchstaben-Empfindung schon nicht mehr lapidar genug. Der Schmerzerguß rührte da nicht mehr aus einem Wort (»Dachsriegel«), sondern aus dem Entgleiten, dem Vergehen, ja Verschwinden einer ganzen Welt.

*

Es war ein bißchen früher schon, vielleicht zu Schulzeitbeginn, es steht bereits in den »Sudelblättern« von 1986, – und ich bin froh, daß ich die Langzeiterinnerung heute unverändert wiederholen und absegnen kann:

»Margeriten; Margeriten zu Sträußen gesammelt, des Abends Ende Mai, Anfang Juni, ein wilddurchwachsener Erzberghang mit drei kleinen Weihern; Margeriten und ein paar rötliche Blumen, langsamer Sonnenuntergang, Segen schöner Abendkühle, Margeriten von drei, vier Kindern gesammelt, für den anderen Tag, die Fronleichnamsprozession, auf dem schon schattigen, schwalbenübersegelten Heimweg, die Margeritensträuße schwingend; selig wie die Sonne meines Glückes lacht, Morgen voller Wonne – – das wär’s wohl schon gewesen, der Hochtag dieses Lebens.«

*

»Der Mensch wird frei geboren, und überall liegt er in Ketten.« Der bekannte Beginn eines inzwischen fast unbekannten Buchs von 1762 hat in meinem Fall eine gewisse Umkehrung erfahren dürfen insofern, als ich im Jahr 1941 unter der leidigen Knute Hüttlers rechtschaffen unfrei geboren wurde, jedoch seit meinem Eintritt in den katholischen Kindergarten 1945 schon kurz nach dem 8. Mai aller Ketten ledig bin, außer der Ketten der Wollust (luxuria) und Völlerei (gula) natürlich. Diese fesselten mich ab ca. 1954 erheblich, und noch heute finde ich das Joachim Kaisersche »fesselnd« (für Horowitz, Handke, Rubinstein, Beethoven, Carlos Kleiber, Furtwängler usw.) immerhin »aufregender« (Kaiser) als das ubiquitär multilateral omnipräsente bzw. völlig besinnungsfrei vor sich hingackernde hanebüchene »spannend«.

»Aufregend« umgekehrt ist allerdings fast genau so spannungs- und gehaltlos, da wäre ja selbst »erregend« noch einen Hauch aufpeitschender und sinniger, wären nicht inzwischen aller Sinn und alle Aufpeitschkraft restlos auf der Strecke geblieben, samt der frühen oben skizzierten mir nicht unliebsamen Wollüstigkeit. »Da ich ein Knabe war« (Hölderlin) bzw., um genau zu sein, »als ich noch ein Knabe war« (Heine, Harzreise) und damals, wie beteuert, schon so vollkommen ohne Ketten lebte, ja vor mich hinlebte in »selbstverschuldeter Unmündigkeit« (Imm. Kant), doch auch was diese Unmündigkeit angeht, die hatte ich recht eigentlich mit drei Jahren schon ad acta gelegt zugunsten großräumiger Projekte und wahrhaft wahnhaft universalistischer Visionen und (Fragment)

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»Die erste Person in der Gottheit und Jupiter, Calypso und die Madam Guion, der Himmel und Elysium, die Hölle und der Tartarus, Pluto und der Teufel machten bei ihm die sonderbarste Ideenkombination, die wohl je in einem menschlichen Gehirn mag existiert haben« (Moritz, Anton Reiser, 1785).

Da kann ich nicht ganz mithalten. Meine Götter, so weit es die guten betrifft, waren um 1950 als Ideenkombination Gottes eingeborener Sohn Jesus, Edi Schaffer (1. FC Nürnberg), Albrecht Dürer (gleichfalls Nürnberg), Gottvater, König David, Maria in der Darstellung Raffaels, Heiner Fleischmann (Motorradrennfahrer auf NSU), Johannes (Jünger), Rudolf Meßmann (FC Amberg) und Johann Strauß Sohn, dieser mit dem »Kaiserwalzer« – und daran hat sich bis heute nicht viel geändert, heute werden von mir die »G’schichten aus dem Wienerwald« als noch etwas himmlischer, elysäischer, gottnäher ästimiert und präferiert.

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Von Literatur und ihren höheren Zusammenhängen hatte ich als Kind naturgemäß keinen Schimmer, beinahe noch weniger als heute, nur eins leuchtete mir als ca. siebenjährigem Leser voll ein: In der häuslichen Volksausgabe des alten Till Eulenspiegel-Buchs wurde mir berichtet, daß der mir auch sonst wohlgefällige Erzschelm auf seinen Wanderungen steile Berge immer flott und munter nimmt (meint: Freude auf den baldigen Abstieg); langsam und leidvoll aber den Abstieg hinter sich bringt (meint: Angst vor dem Wiederanstieg).

Die genotypische Ausstattung muß uns beiden ganz gleich gewesen sein. Erst heute wieder, dem 6. Juni 2011, rannte ich wie ein Wilder zum Schwellisee hoch; träg und traurig ließ ich mich dann wieder ins Dorf zurückfallen.

Beides zudem: gleich sinnlos.

Wenn ich heute, von Lesern angemahnt, Rechenschaft über diese meine vielleicht gar nicht so seltene Grundbefindlichkeit ablegen müßte, ich geriete wohl rasch in Verlegenheit. Wenig fruchtete der scheinbar geschmeidige, in Wahrheit zutiefst ungebührlich insistierende Hinweis auf die Dialektik allen Seins, jener bzw. jenes, dem da oder derzufolge ich es mir sodann auch nicht versage, hier noch die gottweiß nur allzu bekannte Lehre des Nikolaus Cusanus, ursprünglich auch Nikolaus von Kues (meint: Nicolaus de Cusa), Bischof von Brixen und mithin von der hochgebirglich verstiegen kontingenten Koinzidenz allen Seins und Bergsteigens vertrauensvoll überzeugt und zudem (noch ein Fragment)

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Preisen muß ich meine gute Mutter, daß sie mir am 14. September 1941 – gegen den vom Vater favorisierten Siegfried – den Namen »Eckhard« gegeben hat, nicht weiter achtend der ephemerisch unbeholfenen Einrede Adornos, der um 1945 neben dem Jürgen den Eckhard als »typischen Antisemitennamen« (Frankfurter Adorno-Blätter 1992, VIII, S. 85) denunzierte; wobei der angeblich kritische Theoretiker in seinem finsterlingischen Ressentimentschwurbel zweifellos weniger den allseits geschätzten Meister Eckart, vielmehr offenbar den Nazi Dietrich (»Deutschland erwache!«) Eckart, den sehr frühen Hüttler-Gefährten, im rundlichen und damals allmählich auch schon haarlos werdenden Hinterkopf hatte.

Meine liebe Mutter scherte sich bei ihrer Wahl aber auch wenig um den Befund Alfred Rosenbergs (Mythos des 20. Jahrhunderts, 1930, S. 223), in Eckart, dem Meister, erkenne man »das schönste Bekenntnis des germanischen Persönlichkeitsbewußtseins« (ein, wenn ich’s recht zähle, Wort für Wort fünffacher Stuß) – eher hielt sie sich da schon an Lenau, wenn dieser den einstmals auch sogenannten »süßen Meister« Eckart zu Recht so zitiert: »Die Stätte, aus der ich geboren bin, ist die Gottheit. Die Gottheit ist mein Vaterland« (Fragmente, Werke 2, S. 1147). Nicht schlecht traf es nach der Mutter Meinung auch Alfred Polgar mit: »Die treuen Ekkeharde, die Hüter der Kunst, die sorglichen Parkwächter im Kurpark« (Ödipus in Wien). Jedoch am kompetentesten zeigt sich noch knapp vor Viktor v. Scheffel wie immer Goethe, wo dieser in der Folge der Grimmschen Sage per Ballade »den alten, getreuen, den Eckart« feiert sowie in der nächsten Zeile den »Aldermann«, dem zu dienen sich durchaus lohne: »Dann füllt sich das Bier in den Krügen.«

Der jüngere Eckhard trank es dann, s.v., jeweils früh und zügig weg.

Sehr recht hatte Adorno allerdings damals schon vielahnend im folgenschweren Fall Jürgen. Und gut 60 Jahre später stellte sich heraus, daß bei meiner im Zuge wohl des vielen zügig genossenen Biers ohnehinnigen und energisch betriebenen Rechtsradikalwerdung der manchmal schon sehr törichte Adorno gleichfalls wieder mal glatt richtig gelegen hatte. Der Zeitschrift »konkret« blieb es im Jahr 2002 vorbehalten, sein Wort zu erfüllen und mich als »Antisemiten« zu entlarven.

»Parkwächter« – oder wahlweise Müllabfuhr – wäre allerdings tatsächlich ein Alternativberuf für den und diesen ganz speziellen Ec(k)kard. Ein beschaulicher, ein nützlicher, ein, ach, so nervschonender Beruf.

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»Großer Gott, wir loben dich,

Herr, wir preisen deine Stärke,

Vor dir neigt die Erde sich

Und bewundert deine Werke …«

Das vermutlich alte Kirchenlied, das mächtige Gotteslob, ward orgelumbraust und daher besonders pastos daherwalzend gesungen von allem Volke der Pfarrei St. Georg am Silvesternachmittag beim festlichen und jeweils rammelvollen Jahresschlußgottesdienst mit innerkirchlicher Prozession – und ich, mittendrin im Gewoge und Gewürge, möchte hier nicht behaupten, daß ich die humangeschichtliche und theologische Obskurität dieser Art von Gottespreisung, ja -anbiederung schon vorkritisch durchschaut hätte; durchaus aber, so erinnere ich mich, daß mir bei den nächsten beiden Zeilen

»Wie du warst vor aller Zeit,

So bleibst du in Ewigkeit!«

die Fraglichkeit, ja Tiefenproblematik der Sache ahnungsweise sehr wohl aufgegangen war: Die Grundfrage nämlich dahingehend, ob das denn geht im Verbund dessen, was wenig später allseits (nur freilich nicht in der Welt der Cattolica) Big Bang genannt wurde; ob also vor diesem logisch und naturwissenschaftlich immerhin sehr gut denkbaren, ja wegen der Hintergrundstrahlung recht wahrscheinlichen Urknall, sprich »vor aller Zeit«, auch schon irgendetwas gewesen sein könnte – und sei es Gott.

Allerdings hatte ich ja noch keine Zeit, die Sache weiter und zu Ende zu verfolgen, ich hatte damals Wichtigeres zu tun: Nach dem Silvesterandachtsgelärme nicht gerade Fußball zu spielen, sondern – Tischfußball. Nämlich am Küchentisch der eigenen Mutter oder befreundeter Kinder-Mütter; einem Tisch, der mit meist 70 mal 110 Zentimetern im Maßstab von 1:100 ziemlich genau dem damals üblichen Landesligafußballfeld entsprach. Tischfußball mit zwei übereinander geklebten Flohhüpfern, laubgesägten Toren mit Tüllnetz (gleichfalls im Maßstab 1:100) – und elf Spielern, die sich jeweils zur persönlichen Lieblingsmannschaft verbanden.

»Schnippen« nannten wir das, und spielten es faktisch alle Tage zu jeder Uhrzeit. »Schnippen« war die wichtigste Sache und vielleicht auch das wichtigste Wort zwischen dem 10. und 13. Lebensjahr, wichtiger als der erwähnte Gott, ja praktisch eben dieser.

Man denke.

19511961

Der Duft der frühen, der beinahe noch ganz frühen Jugend gleich nach der Kindheit und Knabenära war der Duft der Katholizität, meist in Verbindung mit dem Amt des Ministranten. Ein Duft von gleichsam alltäglicher Spiritualität, sich konstituierend aus Kerzen und Weihrauch und Myrrhe, vielleicht auch dem immer ein wenig gleichwie feuchten Mauerwerk der Stadtpfarrkirche St.Georg, von altem Holz und geöltem Gestühl wohl auch, möglicherweise von Bohnerwachs und Natronlauge, im Frühling das Ganze dann durchmischt mit den Düften von Lindenblüten und Wacholder, von Mai und Maiandacht, im Sommer von Sonne und Schatten, im Oktober dann von Rosenkranz, falls der denn wirklich duften kann

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