Der Ballhausmörder - Susanne Goga - E-Book
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Der Ballhausmörder E-Book

Susanne Goga

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Beschreibung

Samstagabend in »Clärchens Ballhaus« und der Tod tanzt mit Berlin, Sommer 1928. In Bühlers Ballhaus in der Auguststraße, auch »Clärchens Ballhaus« genannt, wird eine Garderobiere ermordet aufgefunden. Clärchen, die Betreiberin, ist schockiert. Zielt der Mord in irgendeiner Weise auf ihr Etablissement? Oder hat der kommunistische Ex-Geliebte der Toten etwas mit der Tat zu tun? Kommissar Leo Wechsler und seine Kollegen ermitteln in einer Welt aus Charleston, Sekt für eine Mark und hemmungslosem Amüsement.

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Über das Buch

Berlin, 1928. Es ist eine schwülheiße Sommernacht. In Bühlers Ballhaus in der Auguststraße, auch Clärchens Ballhaus genannt, wird Adele, die Garderobiere, ermordet aufgefunden. Sie wurde mit Chloroform betäubt und dann erstickt. Und der neu eingestellte Pianist ist spurlos verschwunden. Doch mindestens ebenso verdächtig scheint ihr ehemaliger Geliebter, ein Kommunist, der bei der Polizei bereits aktenkundig ist. Am Abend ihres Todes trug Adele ein kostspieliges Kleid – ein Geschenk. Aber von wem? Kommissar Leo Wechsler und seine Kollegen ermitteln in einer Welt aus Charleston, Sekt für eine Mark und hemmungslosem Amüsement.

Der siebte Band der Erfolgsserie um Leo Wechsler.

 

 

 

 

Für Marion Kiesow,

die mehr über Clärchens Ballhaus weiß

als irgendjemand sonst

PROLOG

SEPTEMBER 1922

Schnell nach Hause, dachte sie, der Abend war für September ungemütlich kühl. Sie warf einen Blick zum Bernuspark hinüber, kämpfte mit sich. Noch war es nicht ganz dunkel, und wenn sie sich beeilte – es war eine gewaltige Abkürzung. Noch ein kleines Stück durch die Schönhofstraße, durch das schmiedeeiserne Tor, dann war sie im Park.

Er war verlassen, das merkte sie bald. Kein Wetter, das Spaziergänger nach draußen lockte. Aber sie würde jetzt nicht kehrtmachen und den Umweg nehmen, sie wollte nach diesem langen Tag endlich nach Hause. Der Chef war heute wieder unerträglich gewesen, vermutlich war ihm der mittägliche kalte Braten mit grüner Sauce nicht bekommen. Sie lachte bei dem Gedanken leise vor sich hin, und ihre Angst verflog.

Rechts ging es zum Teich, über dessen schmalste Stelle eine alte steinerne Brücke führte. Sie bog ab. Ja, dort war die Brücke. Sie beschleunigte ihre Schritte. Ein Glück, dass sie die gut eingelaufenen Schuhe trug und nicht die neuen mit den drei zarten Riemchen über dem Spann, in denen bekäme sie sicher Blasen. Hübsch waren die schon, viel eleganter als diese, aber eben auch –

Er kündigte sich nicht an. Kein Schritt auf dem Kies, keine raschelnde Kleidung, keine Atemzüge, nichts. Nur der Arm, der sich von hinten um ihre Brust legte, und die Hand, die ihr etwas Weiches, Feuchtes aufs Gesicht drückte. Es roch süß, beinahe widerlich, ihre Haut begann zu brennen, und dann war es, als lösten ihre Füße sich vom Boden, hoch, immer höher, bis sie ganz leicht wurde und zu schweben schien. Ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr, die Zeit dehnte sich und schrumpfte, keuchend rang sie nach Luft, soweit es das Etwas zuließ, das ihr ganzes Gesicht bedeckte. Dann zog sich ihre Brust zusammen, ihre Kehle, alles verkrampfte sich und schnürte ihr die Luft ab, sie rang nach Atem, drohte zu ertrinken. Sie spürte noch, wie sie hart aufschlug. Dann nichts mehr.

1

SAMSTAG, 30. JUNI 1928

Eduard Fischer war kein Richard Tauber, doch er hatte seinen Tenor in den Straßen und Hinterhöfen Berlins geschult und verstand sich darauf, sein Publikum mitzureißen. Die Tangoklänge der Kapelle umschmeichelten seine Stimme und kaschierten deren Schwächen, und die Paare, die sich beim Witwenball dicht an dicht über die Tanzfläche bewegten, nur einander und der Musik hingegeben, bemerkten die falschen Töne nicht. Mehr noch, sie sangen begeistert die Worte mit, die ganz Berlin kannte.

Ich küsse Ihre Hand, Madame,und träum’, es war Ihr Mund.Ich bin ja so galant, Madame,und das hat seinen Grund.

Irene Freund beugte sich vor und ließ sich von ihrem Begleiter, der sich als Joachim vorgestellt hatte, Feuer geben. Er sah sie über die Flamme hinweg an. Wie hatte man nur geflirtet, bevor das Rauchen gesellschaftsfähig wurde? Sie senkte ein wenig die Augenlider, blies den Rauch aus und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Die bunten Flecken der Lampions tanzten über die nackte Haut ihrer Arme. Die Wände des Saals waren mit Holzgittern verkleidet, in denen künstliche Zweige mit Kirschblüten steckten. Die farbige Deckenbeleuchtung machte den Raum zu dem »Lichtwundersaal«, den Clärchens Ballhaus in seinen Annoncen gerne anpries.

Irene war keine Witwe, sondern ledig, und Joachim war Eintänzer, das hatte sie bald gemerkt, aber was machte das schon, wenn die Musik mitreißend war und die Lichter schillerten und der Sekt für eine Mark in ihren Gläsern perlte?

Sie ließen einander nicht aus den Augen, und als ein Onestep angekündigt wurde, drückten sie wie auf ein Kommando die Zigaretten aus und eilten auf die Tanzfläche.

Wer hat bloß den Käse zum Bahnhof gerollt?Das ist ’ne Frechheit, wie kann man so was tun?Denn er war noch nicht verzollt.

»Der Text ist reichlich dämlich«, rief Irene.

»Aber die Musik geht prima in die Beine«, erwiderte Joachim, und sie marschierten dahin, seine Hand an ihrer Taille, ihre auf seiner Schulter, die anderen beiden Hände verschränkt, drehten sich lachend im Kreis und hatten den Käse bald vergessen.

Ihre Augen leuchten bis zu mir.

Die korpulente Gerda Wohlleben errötete und zeigte ihrer Freundin Irmgard kichernd das Zettelchen, das der Kellner mit der Saalpost gebracht hatte. Ick bin so jalant, nehm Ihnen bei der Hand. Wenn Se nicken, lass ick mir blicken. Bei Clärchen gab es keine Telefone, diese neue, kostspielige Mode machte sie nicht mit. Papier erfüllte den Zweck genauso gut und war auch romantischer als ein Apparat, der auf dem Tisch stand und kaum Platz für Sekt und andere Erfrischungen ließ.

Überall im Saal steckten Gäste die Köpfe zusammen und überlegten, von wem wohl welche Liebesbotschaft stammen mochte.

Vorn am Eingang gab Adele, die Garderobiere, dem Türsteher Wolf Meinecke ein Zeichen, indem sie Zeige- und Mittelfinger vor den Mund hielt und ihn bittend ansah. Er kam mit langmütiger Miene herüber, stellte sich in die mit dunkelbraunem Holz verkleidete Garderobennische und winkte Adele davon.

Ab und zu brauchte sie eine Zigarettenpause, doch Clärchen duldete nicht, dass ihre Garderobiere paffend inmitten von Mänteln und Hüten stand.

»Das gehört sich nicht, wir sind ein anständiges Haus«, pflegte sie zu sagen.

Adele war ihre Stelle lieb und teuer. Sie fügte sich also und baute darauf, dass Wolf für sie einsprang, wenn der Drang sie überkam.

Clara Bühler, genannt Clärchen, glitt unauffällig durch den Saal, begrüßte die Stammgäste und vergewisserte sich, dass alle Tische ausreichend mit Getränken versorgt waren. Sosehr sie ihre Angestellten schätzte, wusste sie doch, dass sie besser arbeiteten, wenn die Hausherrin ihnen persönlich auf die Finger schaute. Nachdem sie ihre Runde gedreht hatte, blieb sie an der Tür stehen und zündete sich eine Zigarette an. Sie blies den Rauch in die Luft und genoss den Anblick.

Hier unten gab es den Lichtwundersaal mit seinem japanischen Flair und oben den Spiegelsaal. Der war wie in Versailles, nur schöner. Heute war er aber geschlossen, weil bei dem warmen Wetter viele Leute in die Ausflugslokale strömten.

Sie schaute zur Kapelle, die gerade einen Tango beendete, zu den Kellnern, die Sekt und Wein servierten, den Paaren, die sich voneinander lösten und zu separaten Tischen strebten oder untergehakt gingen und sich Stuhl an Stuhl, eng beieinander, niederließen.

Sie wollte gerade zum Ausschank gehen, als ihr Blick am Klavierspieler der Kapelle hängenblieb. Sie winkte ihm, worauf er vom Podest sprang, zu ihr herübereilte und sie besorgt anschaute.

»Schauen Sie nicht so ängstlich, Fred, alles prima. Bin sehr zufrieden mit Ihnen.«

Er atmete sichtlich erleichtert aus, worauf sie ihm auf die Schulter klopfte. »Sie wissen doch, ohne den Mann am Klavier geht hier gar nichts.«

Wolf Meinecke schaute sich suchend nach Adele um. Inzwischen war es brechend voll im Eingangsbereich. Eine Frau lachte schrill und warf den Kopf zurück, als der Mann neben ihr eine anzügliche Bemerkung machte. Alle drängten sich vor der Garderobe, um mit den Mänteln auch den Alltag abzugeben und sich unbeschwert ins Vergnügen zu stürzen.

Es war ein heftiges Schieben und Schubsen, und er stand hier ganz allein und hielt die Stellung.

Verdammt, warum musste sie ausgerechnet dann qualmen gehen, wenn hier die Hölle los war? Es war, als hätte ein Zug vor dem Ballhaus angehalten und eine ganze Ladung Tanzwütige ausgespuckt. Adele war ein kesses Ding, nie um eine witzige Antwort verlegen und hübsch anzusehen obendrein, aber dass sie ihn so im Regen stehenließ …

»Soll mir ’n Bart wachsen, bis ick den Mantel krieje?«

»Steh nich rum wie ’n Öljötze!«

Wolf geriet ins Schwitzen, nahm Mäntel und Jacken entgegen, schleppte andere herbei, händigte Garderobenmarken aus, suchte nach verlorenen Schals und Hüten, kroch auf dem Boden herum, als eine Marke hinunterfiel und in die hinterste Ecke kullerte.

Poussierte Adele etwa mit einem Gast im Hinterhof? Es gab genügend Kerle, die ihr schöne Augen – und entsprechende Angebote – machten. Aber so war sie eigentlich nicht, sie ließ einen Kollegen nicht im Stich.

Als der größte Andrang vorbei war, atmete er tief durch und sah sich um. Noch immer keine Spur von der Garderobiere. Wo steckte sie nur?

Sie trug heute ein besonders hübsches Kleid, hellblau mit einem schwarzen Muster, das wie Spitze aussah, und einer schwarzen Schärpe. Er hatte vorhin gefrotzelt, sie sei wohl zu Geld gekommen, worauf Adele gesagt hatte, es sei ein Geschenk von einer Freundin. Er spähte in den Ballsaal, doch auch dort war kein Hellblau mit schwarzer Spitze zu entdecken.

Als sie an den Tisch zurückkehrten, ruhte Joachims Hand auf Irenes Schulter, und er zog sie erst zurück, als sie sich auf ihrem Stuhl niederließ.

»Sie tanzen ganz wunderbar. Und ich weiß, wovon ich rede«, sagte er und gab der Kellnerin ein Zeichen, noch zwei Gläser Sekt zu servieren. »Ich habe Sie übrigens noch nie hier gesehen. Kommen Sie öfter her?«

»Es ist das erste Mal. Mit meinen Freundinnen war ich ein paarmal im Chaussee-Palast oder im Resi-Casino, aber das war mir zu …«

»Gewagt?«, fragte er.

»Vielleicht.« Irene überlegte. »Nein, gewagt ist nicht das richtige Wort. Ich fand es unpersönlich. Eine Art Speisekarte, von der man Geschenke aussuchen und mit der Rohrpost durch den Saal schicken kann. Dazu die Telefone, die ständig bimmeln. Es war wie auf dem Rummel, zu viel von allem, und es lenkte von der Musik ab. Vom Tanzen.«

»Und heute sind Sie ganz allein hier?«

»Meine Freundin ist plötzlich krank geworden. Aber ich wollte den Abend nicht zu Hause verbringen. Also bin ich ohne sie gekommen, es ist ja ein Witwenball«, sagte sie lachend.

»Sind Sie eine?«

»Nein.« Irene hob ihr Sektglas. »Und ich möchte lieber tanzen, statt über mich zu reden.« Der Sekt perlte in ihrer Kehle und brachte sie zum Lachen, obwohl niemand etwas Komisches gesagt hatte. »Oder wir reden über Sie.«

Joachim lachte und hob ebenfalls sein Glas. »Da gibt es nichts zu erzählen. Es ist dieselbe traurige Geschichte, die Sie schon tausendmal gehört haben.«

»Ehemaliger Offizier?«, fragte sie und legte den Kopf schräg.

»2. Leib-Husaren-Regiment ›Königin Viktoria von Preußen‹. Nach dem Krieg waren meine Talente nicht mehr gefragt. Das heißt, nirgendwo außer hier.« Er stellte sein Glas ab, gab der Kapelle ein Zeichen, die wieder einen Tango anstimmte, und Irene folgte ihm auf die Tanzfläche.

Walter, der Saalchef, strich sich vor dem Spiegel des kleinen Hinterzimmers die pomadisierten Haare glatt. Dann klopfte er sorgfältig seinen Frack ab – er war der einzige Mann im Ballhaus, der einen trug, das war er seiner Stellung schuldig – und holte Geldscheine, Münzen und sogar eine Tafel Schokolade aus den Taschen hervor. Er zählte die Ausbeute zufrieden durch und verstaute sie in einem abschließbaren Schrank. Seine Kriegskasse, wie er sie bei sich nannte.

Das machte er an profitablen Abenden bis zu viermal, denn es sah einfach hässlich aus, wenn sich die Taschen ausbeulten.

Heute war Witwenball. Da zeigten sich die Damen besonders großzügig, zumal er häufig Damenwahl verkündet hatte. Frauen, die sich amüsieren wollten, waren spendabel, und der »süße Walter« erfreute sich bei den weiblichen Gästen großer Beliebtheit. Nie hätte er eine an sich herangelassen, geschweige denn mit nach Hause genommen, doch seine Unerreichbarkeit ließ ihre Sehnsucht nur noch stärker werden. Kurzum, die Damen bezahlten für sein Lächeln, den einen oder anderen Tanz, das Gefühl, begehrenswert zu sein.

Bei Joachim war das anders. Der hatte sicher schon die eine oder andere Witwe nach Hause begleitet.

Walter wollte gerade wieder in den Ballsaal gehen, als er Wolf bemerkte, der ihm von der Garderobe aus heftig winkte. Er ging hin und sah den Türsteher verwundert an. »Was machst du denn hier?«

»Adele hat mich sitzenlassen.«

»Was soll das heißen?«

Wolf wischte sich die Stirn. »Sie ist vor mindestens einer halben Stunde nach hinten gegangen, um zu rauchen, und noch nicht zurück.« Clärchen sah es nicht gern, wenn ihre Angestellten paffend vor der Tür standen, für so etwas war der Hinterhof da.

»Das passt aber nicht zu ihr. Die ist doch ein Pfundskerl, auf die kann man sich verlassen.«

»Ich weiß.« Wolf schaute zur Tür. »Siehst du mal nach ihr? Ich kann hier nicht weg.«

Walter warf einen Blick in den Saal. Die Kapelle hatte noch zwei Stücke auf dem Programm, bevor er wieder den Conférencier geben musste. Da sollte ein kurzer Freundschaftsdienst drin sein.

Er ging zwischen den Tanzenden hindurch und an der Weinstube vorbei zur großen Doppeltür, hinter der sich die Toiletten befanden. Rechts ging es in den Hinterhof. Er öffnete vorsichtig die Tür zur Damentoilette.

»Adele, bist du hier?«

»Erlauben Se mal …« Eine korpulente Dame, die sich die Hände wusch, sah ihn strafend an, und Walter trat hastig den Rückzug an.

Er öffnete die Tür zum Hof, neben der ein paar leere Kisten standen, und sah sich um. Dann bemerkte er etwas Dunkles auf dem Boden, kaum mehr als einen Umriss im schwachen Licht der Hofbeleuchtung.

Irene Freund war gerade auf der Toilette, als sie ein Geräusch durchs gekippte Fenster hörte. Es klang wie ein Wimmern. Sie war versucht, aufs Klosett zu steigen und hinauszusehen, ließ es dann aber bleiben – dafür war ihr Kleid zu eng.

Sie wusch sich die Hände, verließ die Toilette und blieb zögernd stehen, vor sich den Ballsaal mit den funkelnden Lichtern, draußen das seltsame Geräusch.

Gerade erklangen die ersten schnellen Töne der Tritsch-Tratsch-Polka. Die war ihr dann doch zu altbacken, daran änderte auch ein reizender Tanzpartner wie Herr Joachim nichts.

Sie würde einfach einen kurzen Blick riskieren.

Links gab es eine Tür, die auf einen dunklen Hof führte. Sie trat auf den Kies, der unter ihren Schuhen knirschte, blieb stehen und horchte. Ein warmer Windhauch strich über ihre nackten Arme, hinter ihr erklangen Musik und Gelächter, die alle leisen Töne überlagerten.

Aber sie hatte das Wimmern deutlich gehört.

Da war es wieder, ertrank fast im Lärm, der aus dem Ballhaus drang.

Und dann sah sie es – eine Silhouette, die sich im schwachen Licht abzeichnete.

Irene wollte schon kehrtmachen. Vielleicht hatte jemand nur zu viel getrunken und musste sich übergeben, was auch das Wimmern erklären würde. Und das wollte sie nun wirklich nicht mit ansehen.

»Hallo?«, fragte sie, nur um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war.

Jemand schluchzte leise, und sie trat unwillkürlich näher.

Ein Mann kniete am Boden. Vor ihm ausgestreckt lag eine Frau im hellblauen Kleid. Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht, tastete ihren Hals und ihre Wangen ab, redete leise und unverständlich auf sie ein.

»Was machen Sie da?«

Der Mann hob abrupt den Kopf. Irene erkannte ihn wieder. Es war der Saalchef. Sie hatte vorhin gesehen, wie eine Frau ihm einen Geldschein zugesteckt und ziemlich lasziv seine Wange gestreichelt hatte.

»Ich glaube, sie ist tot.« Er sprach tonlos wie ein Automat.

»Was ist passiert? Soll ich Hilfe holen?«, fragte Irene und wagte einen Blick auf die Frau. Soweit sie sehen konnte, war ihr Gesicht unversehrt.

»Ja. Bitte.« Mehr sagte der Mann nicht.

Als Irene nach drinnen eilte, hörte sie mit halbem Ohr den Text der Polka, den die Gäste aus voller Kehle mitsangen.

So rast die Zeit mit Geschwindigkeithier und dort, immerfort,und keiner hat für den andern Zeit,weil die Hast keine Zeit lasst.

Seltsam, dachte sie, wie gut das passte. Hier draußen lag eine Frau, vermutlich tot, und keiner merkte es, weil alle mit ihrem Vergnügen beschäftigt waren. So wie sie selbst bis vor wenigen Minuten auch.

Doch einmal wird es ohne Eile gehen,Dann bleibt die Uhr für jeden einmal stehen.

Für die Frau, über die sie nichts wusste, war die Uhr stehengeblieben, während drinnen alle tanzten.

Irene schob sich am Rand der Tanzfläche entlang, wich einem Kellner mit voll beladenem Tablett aus, konnte keinen klaren Gedanken fassen. War dort draußen ein Unfall geschehen – oder ein Verbrechen? Hatte der Saalchef die Frau nur gefunden oder ihr etwas angetan?

Dann stand sie im Flur vor der Garderobe. Ihr Blick fiel auf das Schild neben dem Tresen: Den Anordnungen des Garderobenwärters ist unbedingt Folge zu leisten. Wie preußisch, dachte sie.

Der Mann, der dahinterstand, streckte schon die Hand nach ihrer Marke aus, doch Irene deutete in die Richtung, aus der sie gekommen war.

»Da draußen im Hof braucht jemand Hilfe. Ein Mann kniet neben einer Frau und sagt, sie sei tot. Sie trägt ein hellblaues Kleid«, fügte sie hinzu, als hätte das irgendeine Bedeutung.

Der Garderobenwärter schwang sich wortlos über den Tresen und verschwand in der Menge der Tanzenden.

2

SAMSTAG, 30. JUNI 1928

Die Strahlen der Abendsonne fielen schräg über den Lunapark. Die Besucher quietschten laut, während sie in einem gewaltigen Holzboot eine Rampe hinunterrutschten, und schrien wie aus einer Kehle, als ihr Gefährt aufs Wasser klatschte und sie nassregnete. Das war bei der Hitze ebenso willkommen wie das Bier, das in großen Mengen ausgeschenkt wurde.

Tausende Berliner waren gekommen. Sie drängten sich in den riesigen Restaurants, von denen man auf den ganzen Rummel blickte. Es gab Bier, Wein und Limonade zu günstigen Preisen, die Tische bogen sich unter Würstchen, Buletten und Koteletts, Kartoffelsalat und Schrippen. Das Innenministerium hatte einen Staatssekretär und gleich zwei Ministerialdirektoren entsandt, die sich prächtig unterhielten oder jedenfalls so taten.

Leo Wechsler hätte nicht geglaubt, dass er sich jemals so kindlich amüsieren könnte, ohne mit seinen eigenen Kindern unterwegs zu sein. Das glatte Holz der Rutschbahn verlieh ihm ein so rasantes Tempo, dass sein Hinterteil ganz heiß wurde. Hoffentlich kam er nicht mit einem Loch in der guten Hose unten an, dachte er und stellte sich Claras Gesicht vor, wenn sie die Bescherung sähe. Am Ziel wartete Jakob Sonnenschein auf ihn, die Hände in die Hüften gestemmt, den Hut in den Nacken geschoben.

»Du warst ganz schön langsam im Vergleich zu den Kindern.«

Leo lachte. »Weil ich alt und würdevoll bin.«

»Das erste stimmt sogar.«

Überall erwachten bunte Lampions und Lichterketten zum Leben. Die Luft war warm und drückend, und die blauschwarzen Wolken, die von Westen heranrückten, drohten mit Gewitter.

Leo wischte sich über die Stirn und hängte sich das Jackett über die Schulter. »Lass uns ein Bier trinken, Jakob. Zu dumm, dass Robert Dienst hat. Er hat doch eine Schwäche für solche Massenveranstaltungen. Ich sage nur Sechstagerennen.«

Sonnenschein zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, dem ist heute nicht danach.«

Sie kamen an einem Schild vorbei, auf dem in großen Lettern »Wer sind die Drei?« zu lesen stand. Darauf waren drei Personen abgebildet, die man in der Menge suchen sollte. Außerdem bekam jeder Besucher am Eingang einen Steckbrief in die Hand gedrückt, auf dem die Gesuchten abgebildet waren. Die Gäste sollten an diesem Tag selbst einmal Polizei spielen, das war schon Tradition bei den Festen der Kriminalpolizei.

Sie ergatterten einen der Tische mit Blick auf den See, die für Angehörige der Kripo reserviert waren, und schon erschienen wie von Zauberhand zwei große Gläser Bier.

Leo deutete auf das Schild. »Wetten, dass keiner alle drei findet?«

»Du setzt aber wenig Vertrauen in unsere Bürger.«

Sie stießen miteinander an.

»Ach was, du weißt genau, wie schlecht die meisten beobachten. Bis auf die Klatschmäuler, die den ganzen Tag im Fenster liegen und ihre Nachbarn beobachten, sieht es mit unseren Zeugen oft sehr mau aus.«

Sonnenschein lachte. »Da ist was dran. Ich erinnere mich an Klassiker wie ›Er hatte so einen tückischen Blick‹ oder ›Sie sah ein bisschen aus wie meine Schwiegermutter‹.«

Leo leckte sich den Schaum von den Lippen. »Tja, die Frau, die wie die Schwiegermutter aussah, haben wir tatsächlich gefunden.«

»Aber sie war nicht die Täterin. Sie kam von der Kirche und wollte dem Mordopfer einen abgelegten Anzug des Pfarrers schenken.«

»Der ist ihm immerhin erspart geblieben«, sagte Leo trocken.

»Na bitte, da tut sich was!« Sonnenschein zupfte ihn am Ärmel und deutete auf eine Holzbude am Seeufer. Daneben prangte ein Schild mit der Aufschrift: »Hier sind die drei Übeltäter gegen eine Belohnung abzuliefern.« Eine Frau strebte energisch auf die Bude zu, blieb davor stehen und deutete triumphierend auf den Mann, den sie an der Krawatte hinter sich herzog.

»Dieses Gespräch würde ich zu gern mit anhören«, lachte Leo, als der Polizist in der Bude die Hände bedauernd nach außen kehrte. Die Frau ließ enttäuscht die Krawatte los und tauchte in der Menge unter.

In diesem Augenblick zuckte ein Blitz auf, eine Sekunde lang wurde es taghell. Die Silhouetten der Karussells und Rutschen und das Häusermeer zeichneten sich scharf wie Scherenschnitte vor dem Himmel ab. Der See glitzerte, als wäre er mit Diamanten übersät. Laute Rufe mischten sich in den rumpelnden Donner, manche klatschten Beifall, als hätte man das Gewitter allein zu ihrem Vergnügen inszeniert, doch die meisten kümmerten sich nicht darum und feierten einfach weiter.

»Ich sollte mal mit Samuel herkommen, wenn er ein bisschen älter ist. Das macht ihm sicher Spaß, auch wenn der Laden seine besten Jahre hinter sich hat.«

Leo sah Sonnenschein über den Rand des Bierglases hinweg an. »Was meintest du eigentlich vorhin? Dass Robert nicht nach Feiern wäre?« Er hatte einen Kursus an der Polizeiakademie besucht und den Freund und Kollegen ein paar Tage nicht gesehen.

»Er war schlecht gelaunt.«

»Das kommt vor«, sagte Leo unbekümmert. »So wie ich ihn kenne, hätte ihn ein Besuch im Lunapark auf andere Gedanken gebracht.«

Sonnenschein schien noch etwas sagen zu wollen, doch da erscholl Applaus. Polizeivizepräsident Dr. Weiß und Ministerialdirektor Klausner erklommen nebeneinander die sogenannte Shimmy-Treppe, lautstark angefeuert von Kollegen und Berliner Bürgern.

»Ich setze auf Weiß«, sagte Leo. »Der Mann gibt niemals auf.«

Er stützte die Ellbogen aufs Terrassengeländer und schaute grinsend zu, wie sich die beiden ehrwürdigen Beamten auf der wackelnden Treppe nach oben mühten. Weiß rutschte aus und konnte sich gerade noch mit einer Hand abstützen, worauf Klausner nach seinem Arm griff und versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen.

»Foul! Unzulässiger Versuch, den Gegner zu überholen!«, brüllte Regierungsrat Schulz, der als Schiedsrichter auftrat.

Sonnenschein lachte laut heraus. »Ich frage mich wirklich, ob die Leute uns nach diesem Abend noch ernst nehmen.«

»Wir zeigen damit nur, wie nah wir am Volk sind«, sagte Leo und winkte dem Kellner, damit er ihnen noch eine Runde brachte. »Auch Polizisten sind Menschen.«

»Du wirst ja geradezu philosophisch«, neckte ihn Sonnenschein.

»Und du sarkastisch.« Leo lehnte sich zurück, das Bier in der Hand. »Als ich bei der Polizei anfing, war so etwas hier undenkbar. Wir waren sehr weit von den Menschen entfernt und gehorchten nur dem Kaiser. Was die Leute wollten, interessierte niemanden.«

»Du hast schon recht, jetzt ist es besser. Auch wenn sich der Herr Ministerialdirektor gerade fürchterlich zum Affen macht.«

In der Tat hatte sich Klausner kurz vor dem Ziel umgedreht und triumphierend den Arm gereckt, worauf ein gewaltiger Stoß durch die Treppe fuhr. Es zog ihm mit Schwung die Beine weg, und er ratterte in Hochgeschwindigkeit auf dem Hinterteil bis nach unten. Leo und Sonnenschein konnten sich vor Lachen kaum halten. Den Schupo bemerkten sie erst, als er neben ihrem Tisch stand.

»Herr Oberkommissar?«

Leo sah auf und wischte sich die Lachtränen aus den Augen. »Ja?«

»Sie möchten bitte schnellstens ins Präsidium fahren. Eine Tote in der Auguststraße, im Hinterhof von Bühlers Ballhaus. Vermutlich ein Gewaltdelikt. Die Lage ist unübersichtlich, es sind viele Personen vor Ort.«

Leo sah Sonnenschein an.

»Ich komme natürlich mit«, erbot sich dieser.

»Draußen wartet ein Wagen«, sagte der Schupo.

Es war ein weiter Weg vom westlichen Ende des Kurfürstendamms bis zum Polizeipräsidium am Alexanderplatz. Leo schaute aus dem Fenster und sagte wenig. Er fragte sich, ob es wirklich ratsam war, jetzt an einen Tatort zu fahren. Er hatte einiges getrunken, und sie durften sich keine Fehler erlauben, die auf Trunkenheit zurückzuführen wären. Das gäbe einen gehörigen Skandal. Aber zum Glück war ja Robert im Büro, und der war völlig nüchtern.

»Was soll das heißen, du kannst ihn nicht finden?« Leo schaute Sonnenschein entgeistert an. »War er heute überhaupt schon da?«

»Hm, nein«, sagte Sonnenschein und bohrte die Hände in die Hosentaschen.

»Hat er sich krankgemeldet?«

»Nicht dass ich wüsste. Ich habe gerade bei ihm angerufen, er ist nicht ans Telefon gegangen.« Sonnenschein zögerte. »Gestern ging es ihm nicht so gut, vielleicht ist er ja doch krank.«

»Zu krank, um ans Telefon zu gehen?« In all den Jahren, die Leo mit Robert Walther zusammenarbeitete, hatte dieser ihn nie im Stich gelassen oder unentschuldigt gefehlt. »Egal, wir müssen los. Ich fordere noch jemanden an, außerdem nehmen wir Klein und Hasselmann mit. Fahrt schon vor, ihr nehmt das M-Auto.«

Sonnenschein wollte etwas sagen, doch als er Leos Blick sah, schloss er den Mund wieder. Er nickte nur und eilte aus dem Zimmer.

Leo rief Gennat zu Hause an und bat ihn, ihm einen weiteren Kollegen zu genehmigen. Er hoffte, der Kriminalrat würde keine bohrenden Fragen stellen. Eigentlich hätte er Roberts Fehlen melden müssen, doch Robert war sein Freund. Er würde das selbst mit ihm besprechen.

»Im Ballhaus am Samstagabend? Das kann aufwendig werden, Wechsler, da brauchen Sie jeden Mann. Und das ausgerechnet heute, wo die Kripo im Lunapark feiert. Ich frage bei der AIA nach, die haben sicher jemanden für Sie.«

Leo hängte ein und schaute nachdenklich aus dem Fenster. Die Straßenlaternen und Leuchtreklamen tauchten den Alexanderplatz in ein beinahe unwirkliches Licht. Berlin war selten schön, doch in solchen Momenten besaß es einen eigenen Zauber, dem er sich selbst jetzt nicht ganz entziehen konnte.

Die Abteilung I A war die Politische Polizei. Die Kriminalbeamten hatten selten mit den Kollegen dort zu tun; es herrschte keine Feindschaft, aber auch keine Liebe zwischen den Abteilungen. Es kam fast nie vor, dass ein Kriminalbeamter sich dorthin versetzen ließ, und es wurden selten Beamte von dort abgestellt, um bei der Kripo auszuhelfen. Doch wenn es eine Tote in einem Ballhaus gab, bei abendlichem Hochbetrieb, nahm man, wen man kriegen konnte.

Er lief im Büro auf und ab, ungeduldig und doch seltsam zögerlich.

Was war mit Robert los? Sonnenschein hatte gesagt, er habe sich nicht wohl gefühlt. Aber dann hätte er sich krankmelden müssen, statt einfach dem Dienst fernzubleiben. Und vor allem hätte er ans Telefon gehen müssen.

Leo lehnte sich an den Aktenschrank und trommelte nachdenklich mit den Fingern darauf herum.

Wenn Robert nun etwas zugestoßen war?

Das war nicht sehr wahrscheinlich, doch sein ungutes Gefühl blieb. Er hatte keine Zeit mehr, um der Sache nachzugehen, denn jetzt klopfte es, und er schob die Fragen beiseite.

Leo schätzte den Mann, der auf sein Herein die Tür öffnete, auf etwa dreißig. Er trug eine runde Hornbrille und hatte blonde, exakt gescheitelte Haare. Sein dunkelgrauer Anzug war gut geschnitten, fast zu gut, um von der Stange zu sein.

»Herr Oberkommissar? Kriminalinspektor Oskar Neufeld von der AIA, ich soll mich bei Ihnen melden.«

Leo nickte. »In einem Hinterhof in der Auguststraße wurde eine Tote gefunden. Er gehört zu Bühlers Ballhaus. Da dürfte jetzt die Hölle los sein.«

Neufeld hielt ihm die Tür auf. »Ich war etwas überrascht über die Anforderung.«

Sie gingen nebeneinander durch die große Glastür und die Treppe hinunter. »Warum?«, fragte Leo.

»Es gibt kaum Berührung zwischen unseren Abteilungen. Wir werden nicht oft von der Kripo angefordert und schon gar nicht von Gennats Dezernat.«

»Ich hoffe, wir werden gut zusammenarbeiten«, sagte Leo ein wenig steif.

Der Kollege wirkte recht sympathisch, und vielleicht war es einfach ungerecht, dass er lieber Robert Walther an seiner Seite gehabt hätte. Sie hatten einen Fall und mussten zusammenarbeiten, alles andere war jetzt unerheblich.

Der Weg zur Auguststraße war nicht weit, doch am Samstagabend waren die Straßen voller Menschen. Gleich nachdem sie den Lunapark verlassen hatten, war ein wahrer Wolkenbruch niedergegangen. Nun aber drängten alle, die in Restaurants und Tanzlokalen Unterschlupf gesucht hatten, wieder nach draußen. Leo hupte und musste heftig auf die Bremse treten, als zwei junge Frauen blindlings auf die Straße liefen.

»Wissen wir schon mehr über den Zwischenfall?«, erkundigte sich Neufeld höflich.

»Ich weiß nur das, was man mir unterwegs gesagt hat. Eine Frau wurde tot in einem Hof aufgefunden. Er gehört zum Hinterhaus der Auguststraße 24/25, in dem sich Bühlers Ballhaus befindet.«

Neufeld nahm die Brille ab und polierte sie sorgfältig mit einem Tuch, das er aus der Brusttasche seines Jacketts gezogen hatte. »Schwierige Gegend, was? Lauter Amüsierbetriebe und dazu die Ringvereine und anderen Ganoven.«

»In der Tat. Aber das ist nicht der Stil der Ringvereine.«

»Ich sehe, ich habe einiges zu lernen«, erwiderte Neufeld im gleichen höflichen Ton.

Die Menschenmenge in der Auguststraße war schon von weitem zu erkennen, die Leute umringten dicht an dicht das große schwarze »Mordauto«, wie die Einsatzlimousine gern genannt wurde. Mehrere offene Mannschaftswagen der Polizei waren vorgefahren, Schupos riegelten die Durchfahrt ab.

Leo stellte den Wagen ab und stieg mit Neufeld aus. Die Häuser Nr. 24 und 25 waren groß, ihre Fassaden für die Gegend ungewöhnlich reich verziert. Über der Durchfahrt prangte ein geschwungenes Schild mit der Aufschrift »Bühlers Ballhaus«, flankiert von zwei gewaltigen Laternen, die mit den Hausnummern versehen waren. Rechts daneben gab es eine Stehbierhalle, die für Engelhardt Bräu warb. An der Hausfassade leuchtete der Name »Clärchen«, ein roter Pfeil wies allen Tanzbegeisterten den Weg. Der Eingang zum eigentlichen Ballhaus befand sich im Hof.

»Was is denn da passiert?«

»Weeß nich, bin jrade erst gekommen.«

»Noch zwee Kriminaler, ick sach doch, dit is wat Ernstet.«

»Da wurde geschossen, drei- oder viermal. Es soll Verletzte geben.«

»Nee, die ham sich um ’ne Frau jestritten, dann hat eener een Messer jezogen und is uff den andern los.«

»Janz viel Blut, heeßt et.«

Mit jedem Schritt wurden die Gerüchte wilder, und sie mussten sich gewaltsam durch die Menge drängen, um den Eingang zu erreichen. Ein Reporter, den Leo flüchtig kannte, winkte schon mit dem Notizbuch.

Leo wies sich bei einem der Schupos aus, die den Zugang bewachten. Der Uniformierte deutete auf den Durchgang hinter sich.

»Da entlang, Herr Oberkommissar, Ihre Kollegen sind schon da. Wird höchste Zeit, dass Verstärkung kommt. Hier wollen hundert Leute rein zum Tanzen. Und der Rest ist auf Sensationen aus.«

Der Eingang zum Ballhaus wurde ebenfalls von mehreren Schupos bewacht. Hinter ihnen reckten Gäste die Köpfe, spähten über die Schultern der Schutzleute. Von drinnen erklang Musik, aber gedämpft, als hätte jemand die Kapelle gebeten, aus Pietätsgründen leiser zu spielen. Aber es lag wohl nur daran, dass Wände und Türen dazwischenlagen und das Gemurmel der Umstehenden die Rhythmen übertönte.

»Ihr bleibt drinnen«, polterte ein Polizist. »Das ist ein Tatort, hier darf keiner raus.«

»Wo sind meine Kollegen?«, fragte Leo den Schupo, der mit dem Daumen über die Schulter zeigte.

»Im Hinterhof. Durch den Saal und die Doppeltür, dann rechts. Der Arzt ist verständigt, er müsste jeden Augenblick kommen.«

»Gut, schicken Sie ihn zu uns, sobald er da ist.«

Sie schoben sich an den Schupos vorbei ins Gebäude. Rechts war die Garderobe, ein holzgetäfelter kleiner Raum, in dem ein Mann stand und sich mit einem Taschentuch die Augen wischte.

»He, nich drängeln«, beschwerte sich jemand, worauf Leo wortlos seine Dienstmarke zeigte. Die Menge teilte sich und ließ ihn und Neufeld durch.

Im Saal wurde getanzt, einige Unentwegte hatten wohl noch nicht gemerkt, was hier geschehen war. Oder sie wollten sich trotzdem weiter amüsieren. Er spürte aber auch einige verstohlene Blicke, und an den Fenstern, die zum Hinterhof hinausgingen, drängten sich die Gäste, um einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen.

Leo öffnete die Tür, die zu den Toiletten führte, dann ging es nach rechts auf den Hof. Sonnenschein kam ihm entgegen.

»Gut, dass du da bist«, sagte er.

»Das ist der Kollege Neufeld, er springt für Robert ein«, sagte Leo.

Sonnenschein gab Neufeld die Hand. »Es ist gleich hier draußen. Wir haben mit der Befragung gewartet.«

»Gut. Das übernehmen Neufeld und ich, und ihr lasst euch die Personalien aller Gäste und Angestellten geben. Das wird ein Stück Arbeit.«

3

Die Tote lag auf dem Boden, der mit feinem Kies bestreut war. An der Hausmauer lehnte ein Mann im Frack. Er hielt ein Taschentuch vors Gesicht gepresst und schluchzte heftig. Neben ihm stand eine Frau, die um einiges gefasster wirkte. Sie hielt etwas Abstand und rieb sich mit den Händen über die nackten Oberarme, da es nach dem Gewitter deutlich kühler geworden war. Sie wurden von einem Schupo betreut oder bewacht, genau war das nicht zu erkennen. Leo vermutete, dass es sich bei den beiden um Zeugen handelte.

Er trat zu dem weinenden Mann und der frierenden Frau.

»Ich bin Oberkommissar Wechsler. Sie kennen die Tote?«

Die Frau deutete auf den Mann. »Ich nicht, aber er kennt sie wohl.«

Der Mann nickte, ließ das Taschentuch aber nicht sinken. Als er sprach, musste Leo sich anstrengen, um seine erstickte Stimme zu verstehen. »Das ist die Adele, unsere Garderobiere. So ein liebes Mädchen …«

»Wie hieß sie mit Nachnamen?«

Jetzt sah ihn der Mann an, verwundert und empört zugleich. Das erlebte Leo oft, wenn er von einem Opfer in der Vergangenheit sprach. Für viele wurde der Tod erst dann zur Tatsache, wenn man auch mit Worten erkennen ließ, dass dieser Mensch nicht mehr in die Gegenwart gehörte.

»Schmidt.«

»Und Ihr Name ist?«

»Fahrenhold, Walter. Ich arbeite hier, ich bin der Saalchef.«

»Und wer sind Sie, bitte?«, fragte Leo die Frau. Er schätzte sie auf Mitte dreißig. Kurze Haare, ein schmales, freundliches Gesicht.

»Irene Freund. Ich bin Gast hier. Als ich auf der Toilette war«, sie deutete vage hinter sich, »habe ich Geräusche vom Hof gehört. Ich bin hingegangen, und da lag die Frau auf dem Boden. Dieser Herr kniete neben ihr und weinte.«

»Was geschah dann?«

»Er hat gesagt: ›Ich glaube, sie ist tot.‹ Ich fragte, ob ich Hilfe holen solle. Er sagte ja. Dann bin ich zur Garderobe gegangen und habe erzählt, was ich gesehen habe. Der Garderobenwärter ist wie von der Tarantel gestochen nach draußen gerannt.«

Leo unterbrach sie. »Können Sie sich erinnern, was genau Sie gesagt haben?«

Irene Freund überlegte. »Ich glaube, ich sagte, dass im Hof ein Mann neben einer Frau kniete und sagte, sie sei tot. Und dass die Frau ein hellblaues Kleid anhatte. Es war ja ziemlich auffällig.«

»Guten Abend, Herr Wechsler.« Dr. Lehnbach war dazugekommen, im Abendanzug, über den er einen leichten Sommermantel geworfen hatte, in der Hand die Arzttasche.

»Meine Frau feiert ihren Fünfzigsten«, sagte er zur Erklärung.

»Tut mir leid, dass Sie weggerufen wurden.«

»Mir nicht«, erwiderte Lehnbach trocken. »Furchtbare Leute. Fragen Sie mich nicht, warum wir die eingeladen haben.« Er schaute von der Frau, die am Boden lag, zu dem schluchzenden Mann.

»Könnten die Zeugen beiseitetreten?«, bat er Leo. »Ich melde mich, sobald ich etwas sagen kann.« Dann stellte er die Tasche ab und ging langsam um die Tote herum.

Leo führte Walter Fahrenhold und Irene Freund zur Tür des Gebäudes.

Neufeld folgte mit gezücktem Notizbuch. »Soll ich die Aussagen aufnehmen?«

Der Mann wusste, was zu tun war. Er war nicht Robert Walther, aber zu gebrauchen.

»Herr Oberkommissar?«, rief Lehnbach.

Leo sagte rasch: »Ja, tun Sie das, Neufeld. Gehen Sie mit den beiden hinein.«

Er drehte sich um und zog die Augenbrauen hoch, als er den Gesichtsausdruck des Arztes bemerkte. »Was gibt’s?«

Lehnbach war ein mürrischer Mensch, der ungern mehr sprach, als unbedingt nötig war, nun aber geradezu redselig wurde. »Natürlich kann ich noch nichts Endgültiges sagen, aber der Fall verspricht, recht interessant zu werden. Schauen Sie mal.«

Nun, da man Lampen herangeschafft hatte, konnte Leo die Tote überhaupt erst richtig in Augenschein nehmen. Er schätzte ihr Alter auf Mitte zwanzig. Sie hatte dunkle Haare, die sie zu einem Bubikopf geschnitten trug, und lag halb auf dem Bauch, halb auf der Seite, als wäre sie kraftlos zu Boden gesunken. Die Haare verdeckten größtenteils ihr Gesicht, es waren keine offensichtlichen Wunden zu entdecken.

Sie trug ein hellblaues Kleid mit schwarzem Spitzenmuster, das über die Oberschenkel hochgerutscht war und einen Strumpfhalter entblößte. Die Enden einer schwarzen Schärpe flossen wie ein dunkler Bach auf den hellen Kies. Schwarze Riemchenschuhe mit kleinem Absatz, ein wenig abgestoßen, nicht mehr neu, aber sorgfältig gepflegt.

Die Stimme des Arztes riss ihn aus seiner Betrachtung. »Das hier sollten Sie sich ansehen.«

Lehnbach kniete sich neben die tote Frau und schob ihr vorsichtig die Haare aus dem Gesicht. Dann leuchtete er mit einer Taschenlampe ihren Mund ab. Auf den ersten Blick sah es aus, als wäre ihr Lippenstift verschmiert, doch als Leo genauer hinschaute, erkannte er, dass die Haut gereizt und stellenweise abgeschürft war.

»Wie erklären Sie sich das?«, erkundigte er sich.

»Kommen Sie mal runter.«

Leo hockte sich auf die andere Seite der Leiche und schaute den Arzt fragend an.

»Riechen Sie an ihrem Mund.«

Er beugte sich vor und führte die Nase so nah wie möglich an die Lippen der Frau, ohne sie zu berühren. Dann schaute er auf.

»Es riecht süßlich. Aber nicht nach einem Nahrungsmittel.« Irgendwoher kannte er den Geruch, und dann begriff er. »Chloroform?«

»Unverkennbar.«

»Was ist mit den Hauterscheinungen um den Mund? Wurden die durch das Chloroform verursacht?«

Lehnbach wiegte den Kopf. »Diese Rötungen«, er deutete auf die fraglichen Stellen, »vermutlich ja. Die Abschürfungen hingegen nicht.«

Leo überlegte. »Wenn der Täter ihr einen mit Chloroform getränkten Lappen aufs Gesicht gedrückt hat, war sie nicht sofort bewusstlos, oder?«

»Es kann Minuten dauern, bis die Bewusstlosigkeit eintritt. Das hängt von unterschiedlichen Faktoren ab: Allgemeinzustand der Person, Konzentration des Chloroforms und so weiter. Sie kann sich gewehrt haben, wodurch der Täter fester zugedrückt und so die Hautverletzungen verursacht hat.«

»Können Sie schon sagen, was den Tod herbeigeführt hat? War es das Chloroform?«

Lehnbach stand auf und klopfte sich den Anzug ab. »Hier wird es interessant für Sie, Herr Wechsler.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie überlegen sicher, ob von Anfang an eine Tötungsabsicht bestand. Die Verwendung von Chloroform spricht eher dagegen. Man kann bei Chloroform nicht genau einschätzen, wann die Bewusstlosigkeit oder gar der Tod eintritt. Eine äußerst zweifelhafte Methode, wenn man in aller Öffentlichkeit einen Mord begehen will.«

»Dann erwarte ich Ihren Bericht umso gespannter«, sagte Leo.

Der Arzt griff nach seiner Tasche. »Alles Weitere erfahren Sie nach der Obduktion. Und jetzt muss ich wohl weiterfeiern«, fügte er mit Leidensmiene hinzu und verließ den Hof in Richtung Ausgang.

Sein Rücken tat weh. Die nackte Haut rieb an etwas Rauem, das er sich nicht erklären konnte. Die Schmerzen waren schlimm, aber nicht so schlimm wie die in seinem Kopf, der in einer Schraubzwinge zu stecken schien. Er hob vorsichtig eine Hand und tastete nach seiner Schläfe. Nichts. Keine Schraubzwinge, nur feuchte Haare. Er wollte sich auf die Seite drehen, fiel aber kraftlos zurück, als eine brennend saure Flüssigkeit in seiner Kehle aufstieg. Drehen war keine gute Idee.

Also blieb er liegen und schaute an die Decke, die nur schemenhaft zu sehen war.

Sein Rücken tat wirklich sehr weh, der Kopf noch viel mehr, ihm war speiübel, das Fensterkreuz – seit wann wogte das Fensterkreuz auf und nieder wie ein Boot, das auf den Wellen tanzt? Er kniff die Augen zu, weil ihm von dem Auf und Ab schon wieder schlecht wurde.

Vorsichtig tastete er mit der rechten Hand über den Boden, fuhr mit den Fingern im Kreis, als könnte er so einen Hinweis finden, was mit ihm geschehen war und wo er sich befand. Da war etwas, glatt und kühl, und es rollte weg, als er danach greifen wollte.

Egal. Alles war egal.

Denn was am meisten weh tat, war nicht sein Rücken und auch nicht sein Kopf, sondern etwas, das er nicht ergreifen konnte, weil es tief in seinem Inneren steckte.

»Ich habe die Aussagen aufgenommen, Herr Oberkommissar«, sagte Neufeld, als Leo wieder zu ihm trat.

Walter Fahrenhold hatte sich inzwischen einigermaßen gefasst. Er war jedoch bleich, fast grünlich, und auf seiner Stirn glänzte Schweiß.

»Darf ich nach Hause gehen?«, fragte Irene Freund, der die Anstrengung mittlerweile auch anzusehen war.

»Natürlich. Mein Kollege Sonnenschein lässt Sie hinaus«, sagte Leo beruhigend und sah den beiden nach, als sie davongingen. Dann schaute er Neufeld auffordernd an.

Dieser blätterte in seinem Notizbuch und begann vorzulesen: »Walter Fahrenhold, Alter dreiundvierzig, arbeitet seit zehn Jahren in Bühlers Ballhaus als Saalchef, der die Gäste begrüßt und das Personal beaufsichtigt. Laut seiner Aussage handelt es sich bei der Toten um Fräulein Adele Schmidt, sie hat als Garderobiere gearbeitet.«

»Wissen wir, was sie hier draußen wollte?«, warf Leo ein.

»Sie ging ab und zu auf den Hof, um eine Zigarette zu rauchen, weil es bei der Arbeit nicht gestattet ist. Dann bat sie einen Kollegen, sie solange an der Garderobe zu vertreten. Dieser Mann – er heißt Wolf Meinecke und ist der Türsteher – wunderte sich, als sie nach den üblichen fünf Minuten nicht zurückkam. Er konnte seinen Posten jedoch nicht verlassen, weil der Andrang so groß war. Erst als Fahrenhold dazukam, schickte Meinecke ihn los, um Adele Schmidt zu suchen. Der fand sie hier. Er sagt, er habe nichts verändert, sich nur neben sie gekniet, um ihr zu helfen. Das deckt sich mit der Aussage von Fräulein Freund. Fahrenhold glaubte zunächst, der Schmidt sei schlecht geworden. Als sie auf Ansprache nicht reagierte, fühlte er an Hals und Handgelenk und konnte keinen Puls feststellen. Er brach in Tränen aus und wusste nicht, was er tun sollte. In diesem Augenblick kam die Zeugin dazu und sprach ihn an. Er sagt, er sei erleichtert gewesen, dass sie ihm die Entscheidung abgenommen und Hilfe geholt habe. Laut Aussage von Fräulein Freund ist dann der Türsteher Meinecke, der Adele Schmidt an der Garderobe vertrat, auf die Straße gerannt und hat einen Schupo angehalten. Dieser verständigte seine Kollegen und diese wiederum die Inspektion A.«

Leo trat noch einmal hinaus auf den Hof, der an zwei Seiten von Mauern begrenzt wurde. Wenn er sich recht erinnerte, stieß das Grundstück hinten und auf der rechten Seite ans Gelände des St.-Hedwig-Krankenhauses. Nicht auszuschließen, dass jemand von dort aus in den Hof gelangt war, selbst wenn er dazu über die Mauer klettern musste. Mühsam, aber nicht unmöglich.

4

Leo wollte gerade zum Tanzsaal gehen, als ihm Sonnenschein entgegenkam, dessen Haare sich schweißfeucht ins Gesicht kringelten. »Die Aufnahme der Personalien ist ein Albtraum. Die Leute wollen wissen, was passiert ist, drängen zur Garderobe und zur Tür, die Schupos können sie nur mit Mühe im Gebäude halten. Ich habe gerade mit der Eigentümerin gesprochen, Frau Clara Bühler. Sie ist tief erschüttert, hält sich aber wacker. Eine patente Frau. Sie stellt für uns eine Liste des Personals zusammen.«