Der verbotene Fluss - Susanne Goga - E-Book
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Der verbotene Fluss E-Book

Susanne Goga

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Beschreibung

Ein meisterhaft erzählter Roman voller Geheimnisse

Charlotte wagt einen großen Schritt, als sie 1890 Berlin verlässt und eine Stelle als Gouvernante in einem herrschaftlichen Haus bei London antritt. Dort ist sie für die junge Emily verantwortlich, die seit dem tragischen Verlust ihrer Mutter von schlimmen Albträumen verfolgt wird und den nahe gelegenen Fluss fürchtet. Besorgt um das Wohl des Mädchens versucht Charlotte, mehr über den Tod von Lady Ellen herauszufinden, doch niemand im Haus ist bereit, das Schweigen zu brechen. Erst mithilfe des Journalisten Tom kommt Charlotte einer dunklen Wahrheit auf die Spur …

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Seitenzahl: 587

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Über das Buch

1890: Mit der Überfahrt nach Dover beginnt für Charlotte Pauly ein neues Leben. Sie hat Berlin verlassen, um in der Nähe von London eine Stelle als Hauslehrerin anzutreten. In Chalk Hill, dem herrschaftlichen Anwesen der Familie Clayworth, wird sie die achtjährige Emily unterrichten. Charlotte ahnt bald, dass ihre Aufgabe nicht einfach wird. Das Mädchen leidet sehr unter dem kürzlichen Verlust ihrer Mutter und wird nachts von immer wiederkehrenden Albträumen verfolgt. Auf Charlottes vorsichtige Nachfragen zum Tod von Lady Ellen reagiert Emilys Vater feindselig, und auch die Bediensteten hüllen sich in kühles Schweigen. Was ist die Ursache für Emilys Albträume? Sieht sie tatsächlich Geister? Und wieso hat das Mädchen so große Angst vor dem nahe gelegenen Fluss? Unverhofft bekommt Charlotte Unterstützung bei ihrer Suche nach Antworten. Zusammen mit dem Londoner Journalisten Tom Ashdown, einem Experten für übersinnliche und psychologische Phänomene, entdeckt sie eine tragische Wahrheit …

Über die Autorin

Susanne Goga, 1967 geboren, ist eine renommierte Literaturübersetzerin und Autorin. Im Diana Verlag erschienen bereits ihre Romane Das Leonardo-Papier sowie Die Sprache der Schatten, für den sie 2012 mit dem DeLiA-Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Mönchengladbach.

SUSANNE GOGA

Der verbotene Fluss

Roman

2. Auflage

Originalausgabe 02/2014

Copyright © 2014 by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Redaktion | lüra – Klemt & Mues GbR, Gisela Klemt

Umschlaggestaltung |© t.mutzenbach design, München

Umschlagmotiv |© plainpicture/Gallery Stock/Raul Belinchon/

Susan Fox/Trevillion Images und shutterstock

Abbildungen 1, 2 und 3|© Susanne Goga

Quellenverweis | Erich Fried, Shakespeare, Bd.2, Büchergilde

Gutenberg/ Wagenbach 1968–1987, 1989, S. 396 (Zitat hier)

Satz | Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN-978-3-641-11311-7

www.diana-verlag.de

Um die Behauptung, alle Krähen seien schwarz, zu widerlegen, muss man nicht versuchen zu beweisen, dass keine Krähe schwarz ist; es reicht aus, eine weiße Krähe zu finden; eine einzige ist genug.

WILLIAM JAMES

PROLOG

Der Mond schien fahl in jener Nacht. Die Frau ging über den Rasen, der noch nass war vom Regen, vorbei an der Schaukel unter einer Ulme und verschwand zwischen den Bäumen, die das Haus wie stumme Wächter umgaben. Ihr Kleid schleifte über den Boden und hatte sich bis eine Handbreit über dem Saum dunkel gefärbt. Sie achtete nicht auf die Steinchen, die sich in ihre nackten Fußsohlen bohrten. Sie öffnete das schmiedeeiserne Tor in der Mauer und ging wie unter einem Zwang weiter, den Weg entlang und tiefer in den Wald hinein.

Es war still, als wären alle Lebewesen vor dem blassen Licht des Mondes geflohen. Einmal raschelte es leise – vielleicht eine Maus, die durch das Laub vom letzten Herbst huschte. Ansonsten hörte sie nur ihre eigenen Schritte auf dem weichen Boden.

Sie zog den Schal enger um die Schultern. Das Mondlicht malte geisterhafte Schatten auf die glatte Rinde der Bäume. Sie kannte den Wald wie ihr eigenes Haus, und als ein Zuhause hatte sie ihn stets empfunden. Jeder Busch rief nach ihr, jede Wegbiegung schien vertraut. Und doch war etwas anders.

Sie drehte sich um, als sie ein Geräusch hinter sich hörte, sah aber nur die Schatten der knorrigen Eiben, die ausladenden Äste, die sich wie krumme Arme nach ihr reckten. Verbarg sich dort jemand, der ihr heimlich folgte? Sie horchte in die Stille, doch nichts. Sie versuchte, ruhig zu atmen und die Schritte im Rhythmus ihres Atems zu setzen, einen nach dem anderen, es war nicht mehr weit.

Dann glitt sie unvermittelt auf dem feuchten Laub aus und konnte sich gerade noch an einem Baumstamm abstützen. Ihr Herz schlug heftig. Sie biss die Zähne aufeinander und schloss für einen Moment die Augen. Auf einmal spürte sie die Kälte ihrer Füße, die eisige Feuchtigkeit, die hochstieg zu den Knöcheln, an den Beinen emporkroch, die Knie erreichte …

Sie zwang sich weiterzugehen. Dies war ihr Wald, er hatte ihr schon als Mädchen gehört. Er war immer ihr Freund gewesen, vor ihm würde sie sich nicht fürchten. Als sich die Bäume lichteten, blieb sie stehen und holte tief Luft. Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute empor zum Himmel, zum Mond. Dann breitete sie die Arme aus, als wollte sie die Nacht umfassen.

1

September 1890, Dover

Charlotte Pauly stand an der Reling und blickte über das graue Wasser, wo aus dem Dunst allmählich ein weißer Schimmer auftauchte. Beim Näherkommen schien sich wie von selbst ein Bild zu formen, nahmen die verschwommenen Konturen Gestalt an und wurden zu einer breiten Kette weißer Klippen, gekrönt von noch sommerlich grünen Wiesen. Es sah aus, als hätte eine gewaltige Axt ein Stück Land mit einem Hieb abgetrennt, sodass sich das Übriggebliebene nicht sanft zum Ufer hin absenkte, sondern abrupt an der Meeresküste endete. Charlotte stellte sich vor, wie das abgetrennte Stück ins Meer gekippt und inmitten einer gewaltigen Welle versunken war.

Die weißen Klippen wirkten nicht abweisend, sondern winkten sie herbei, luden sie ein in dieses Land, das ihr neues Zuhause werden sollte. Charlotte atmete tief durch, um die widerstreitenden Gefühle, die in ihr tobten, zu besänftigen. Vorfreude, Anspannung, Heimweh, Entschlossenheit, Zweifel – all das kämpfte in ihrem Inneren um die Oberhand. Sie spürte, wie das Land hinter ihr, der Kontinent, den sie verlassen hatte, sanft an ihr zog und sie gleichzeitig fortstieß. Natürlich war Deutschland ihre Heimat, dort hatte sie ihr bisheriges Leben verbracht, und der Gedanke, vorerst nicht dorthin zurückzukehren, nicht mehr die vertraute Sprache zu hören, lag wie ein Schatten auf ihrer Seele. Andererseits hatten die vergangenen Monate Wunden hinterlassen, die in der Heimat nicht verheilt wären. Die Suche nach einer Stelle in England, der Abschied von ihrer Familie, das Packen der Koffer und das Buchen der Überfahrt nach Dover waren dringend nötig gewesen, rasche Schnitte, die einem langsamen, schmerzhaften Zerreißen vorzuziehen waren.

Ihre Mutter hatte kein Verständnis für ihren Schritt gezeigt. »Was ist denn geschehen, Kind?«

Charlotte hatte nur den Kopf geschüttelt.

»Du kannst nicht einfach fortlaufen, weil du unglücklich oder mit deiner Stellung unzufrieden warst, das ist unvernünftig. Du hättest dir eine neue Arbeit anderswo in Deutschland suchen können. In Bayern vielleicht. München soll sehr schön sein, dann hättest du mit den Herrschaften in die Alpen oder nach Italien reisen können …«

Um weitere unerwünschte Fragen zu vermeiden, hatte Charlotte erwidert, sie müsse Erfahrungen im Ausland sammeln, um ihre Schülerinnen und Schüler später besser Englisch lehren zu können.

»Wer braucht denn Englisch? Französisch ist die Sprache der eleganten Gesellschaft«, hatte die Mutter geantwortet. »Wenn du schon einen Beruf ergreifen musst, statt zu heiraten wie deine Schwestern, kannst du ihn wenigstens in der Heimat ausüben. Es gehört sich nicht für eine junge Frau, allein ins Ausland zu reisen. Und in einer guten Stellung ergibt sich vielleicht die Gelegenheit, einen passablen jungen Mann …«

Bevor ihre Mutter den Satz zu Ende sprechen konnte, hatte Charlotte die Tür der Stube hinter sich zugeschlagen. In den folgenden Tagen hatte die Mutter wiederholt versucht, sie umzustimmen, und ihr Vorwürfe gemacht, sie sei hartherzig und lasse sie, die doch verwitwet sei, allein zurück. Da ihre beiden verheirateten Töchter allerdings in unmittelbarer Nachbarschaft wohnten, konnte Charlotte diesen Versuch, ihr ein schlechtes Gewissen zu bereiten, nicht ernst nehmen. Sie waren nicht im Streit, aber doch in einer Missstimmung auseinandergegangen, was Charlotte bedauerte. Umgestimmt hatte es sie nicht.

»Immer wieder ein schöner Anblick«, sagte eine tiefe, rau klingende Männerstimme neben ihr.

Charlotte tauchte aus ihren Gedanken auf und schaute den Herrn an, der an ihre Seite getreten war. Sein dichter Schnurrbart war vom Tabak gelb verfärbt, doch ansonsten wirkte er gepflegt und lüftete den Hut, als stünde er einer Lady gegenüber.

»Sie sind in England zu Hause?«, fragte Charlotte.

»In der Tat. Darf ich mich vorstellen? William Hershey. Ich bin Kaufmann und weit gereist«, er machte eine vage Handbewegung in die Richtung, die hinter ihnen lag und die vermutlich Frankreich, Europa und den Rest der Welt umfassen sollte, »doch nichts rührt mein Herz wie der Anblick dieser Klippen. Sie gestatten?« Er hob die rechte Hand, in der er eine Pfeife hielt, worauf Charlotte nickte.

»Es sieht wirklich sehr schön aus.«

»Woher kommen Sie, wenn ich fragen darf?« Er paffte mehrfach an der Pfeife, bis sie zog, dann warf er das Zündholz über die Reling. »Ich höre einen leichten Akzent. Niederlande? Skandinavien?«

»Charlotte Pauly. Ich komme aus Deutschland.«

»Deutschland, ausgezeichnet. Bin öfter dort unterwegs, Berlin, Hannover, Hamburg. Gute Geschäftsleute, sparsam und gewitzt. Hamburg gefällt mir, der Hafen, die Eleganz und die feine Lebensart. Berlin ist auf seine Art auch beeindruckend, wenngleich ein bisschen ungemütlich. Kalte Pracht, wenn Sie mich verstehen. Preußische Strenge.«

»Ich habe eine Weile dort gearbeitet«, erwiderte Charlotte.

»Gearbeitet?« Mr. Hershey klang verwundert, als würde ihm erst in diesem Augenblick bewusst, dass Charlotte keine Lady war.

»Als Hauslehrerin bei einer Familie.«

»Verstehe, eine Gouvernante.« Sie meinte, eine leichte Herablassung in seiner Stimme zu hören. Charlotte war Snobismus gewöhnt und antwortete ruhig: »Ich betrachte mich vor allem als Lehrerin. Im Deutschen hat der Begriff Gouvernante etwas Altmodisches und Strenges, das nicht meinem Wesen entspricht. Viele Leute wollen ihre Kinder in ein Korsett von Anstandsregeln zwängen, das ihnen die Luft zum Atmen nimmt. Das ist nicht meine Art.«

Mr. Hershey überraschte sie mit seinem dröhnenden Gelächter. »Das ist gut, Miss Pauly, wirklich gut. Eine Frau, die sagt, was sie denkt.«

»Sollten das nicht alle Frauen tun?«

»Hm, mir scheint, dass die meisten dazu erzogen werden, gerade das nicht zu tun«, erwiderte er unbekümmert. »Ich für meinen Teil habe nur Söhne, bei denen nimmt man das nicht so genau. Da gilt eine gewisse Forschheit sogar als Charakterstärke und soll tunlichst gefördert werden. Wie halten Sie es denn mit Ihren Schützlingen, wenn ich fragen darf?«

Sie lächelte. Ein neugieriger Mann, aber nicht unsympathisch. »Nun, ich bemühe mich, die Mädchen zu Ehrlichkeit und Höflichkeit zu erziehen. Natürlich gibt es Situationen, in denen allzu große Ehrlichkeit verletzen kann. Dies zu erkennen und taktvolles Verhalten zu lehren betrachte ich als eine meiner wichtigsten Aufgaben neben der Vermittlung von Schulwissen.«

Er nahm erneut den Hut ab. »Chapeau, Miss Pauly, Sie sind eine verständige Frau. Ich will ehrlich sein: Eigentlich bin ich ganz froh, dass meine Frau und ich nur Söhne haben. Das macht vieles einfacher. Schule, Sport, ein bisschen Raufen, sich behaupten lernen, das ist doch das Wichtigste. Zwei meiner Jungen sind in die Firma eingetreten, der dritte fährt zur See. Bekommt demnächst sein Kapitänspatent. Da gibt es kein Getue, keine Empfindlichkeiten, jeder erledigt seine Arbeit und erntet den Lohn dafür.«

Charlotte wusste nicht recht, was sie darauf erwidern sollte. »In Deutschland habe ich auch Jungen unterrichtet und gute Erfahrungen mit ihnen gemacht. Wenn man sie richtig zu nehmen weiß, sind sie fleißig und folgsam. Bei uns existiert die Sitte nicht, Jungen mit acht Jahren in ein Internat zu schicken. In England werde ich hingegen nur ein kleines Mädchen unterrichten.«

»Darf ich fragen, in welche Gegend es Sie zieht?«

»Nach Surrey, in die Nähe von Dorking«, entgegnete Charlotte.

»Die Hügel von Surrey, eine reizende Landschaft mit hübschen Orten. Dort gibt es Wälder, die seit Cromwells Zeiten keine Axt gesehen haben. Sie können sich glücklich schätzen.« Er warf einen Blick auf den näher rückenden Hafen von Dover, über dem eine trutzige Burg aufragte. »Dann wünsche ich Ihnen alles Gute und hoffe, dass Sie sich in unserem Land wohlfühlen«, sagte er herzlich und lüftete zum Abschied noch einmal den Hut.

Als Charlotte allein war, schaute sie wieder hinüber zur Felsküste und stellte sich vor, wie viele Menschen mit ganz unterschiedlichen Absichten und Hoffnungen diese Meerenge überquert hatten – fromme Mönche, die das Christentum unter den heidnischen Briten verbreiten wollten; kriegerische Normannen auf hölzernen Schiffen, bereit, das Land hinter den Kreidefelsen zu erobern; französische Soldaten, niederländische Kaufleute, Reformatoren, Flüchtlinge. Flöße, Ruderboote, stolze Segler, Lastkähne und mit Dampf betriebene Schiffe, eine nicht enden wollende Kette, die Menschen, Waren und Waffen hin und her beförderte. Sie schloss die Augen und sah den Kanal, wie er vor Jahrhunderten gewesen war, ein schmaler Streifen Wasser und doch immer eine Gefahr, denn nicht alle Schiffe erreichten sicher ihr Ziel. Hier war vor fast achthundert Jahren das Schiff des englischen Thronfolgers gesunken. Von diesen Küsten aus waren Kriegsflotten in beide Richtungen aufgebrochen, um das verlockend nah erscheinende andere Ufer zu erobern.

Und wonach suchte sie? Wer in die Fremde aufbrach, wollte für gewöhnlich etwas hinter sich lassen. Natürlich hätte sie weiter in Deutschland arbeiten können, doch der Drang, neu zu beginnen, war stärker gewesen. Sie wollte die Begegnung mit alten Bekannten aus Berlin verhindern, wollte an einem Ort leben, an dem es keine wissenden Blicke und tuschelnden Münder gab. Sie hatte sich für eine Stelle auf dem Land entschieden, während sie zuletzt in der Großstadt Berlin gewohnt hatte. Sie wollte alles anders machen als bisher.

Charlotte holte tief Luft und straffte die Schultern, während sie das Gesicht in den Wind hielt. Ein neues Land, ein neuer Anfang. Ein Abenteuer.

Das Bahnhofsgebäude, das unmittelbar am Hafen lag, besaß einen hübschen Turm, der ihm etwas Italienisches verlieh. Charlotte hatte einen Gepäckträger gefunden, der ihre schweren Koffer vom Schiff dorthin schleppte.

Es herrschte reger Betrieb. Überall ankerten kleine und große Schiffe, Dampfer und altmodische Segler, Pferdewagen wurden be- und entladen, Passagiere stiegen in wartende Kutschen, ein Güterzug hielt pfeifend auf dem nahen Bahnsteig. Die englischen Wörter, die an Charlottes Ohr schlugen, klangen fremd und völlig anders als die ihrer Lehrerinnen. Dies hier war kein Klassenzimmer, sondern die Wirklichkeit. Hier war sie die Fremde, deren Sprache kaum jemand verstand.

Bevor ihr das Herz schwer werden konnte, drückte sie die Handtasche an sich, um sie im Gedränge zu schützen, und eilte hinter dem Gepäckträger her, der ihre Koffer ins Bahnhofsgebäude wuchtete. Sie gab ihm einige Pennys, die er mit einem Nicken einsteckte, bevor er in der Menge verschwand. Charlotte schaute auf den vergilbten Fahrplan, der in einem Glaskasten hing.

Der Sekretär von Sir Andrew Clayworth, einem Parlamentsabgeordneten, der ihr künftiger Arbeitgeber sein würde, hatte ihr einen Brief mit genauen Reiseanweisungen geschickt. Sie musste von Dover aus den Zug nach Dorking in der Grafschaft Surrey nehmen, wo ein Wagen sie am Bahnhof abholen würde. Die Ankunfts- und Abfahrtszeiten von Schiff und Eisenbahn waren genau aufeinander abgestimmt. Charlotte schaute besorgt auf die Uhr, da es schon später Nachmittag war. Sie würde Dorking gewiss erst nach Einbruch der Dunkelheit erreichen.

Der Zug sollte um halb sechs kommen, ließ aber auf sich warten. Andere Fahrgäste schlenderten unruhig umher, rauchten, schauten wiederholt zur Uhr hinauf oder warfen einen Blick auf den Fahrplan. Die Schatten wurden länger, und eine herbstliche Kühle vertrieb die letzte Wärme des Septembernachmittags. Ein Windstoß wirbelte Laub umher und zerrte an den Hüten der Wartenden.

Um acht Minuten nach sechs trat der Stationsvorsteher in seiner schmucken Uniform zwischen die Fahrgäste und verkündete, der Zug werde wegen eines Unfalls an der Strecke kurz vor Dover an diesem Tag nicht mehr verkehren. Ein Pferdefuhrwerk sei auf den Gleisen verunglückt, man werde die Strecke nicht kurzfristig räumen können. Die Arbeiten bei Laternenlicht würden bis in den späten Abend andauern.

Charlotte stand wie betäubt da. Einige Passagiere zuckten nur mit den Schultern und verließen das Bahnhofsgebäude, während sich andere zögernd umschauten. Vermutlich waren sie ähnlich verunsichert wie Charlotte.

Sie schluckte. Ruhe bewahren, das war am wichtigsten. Sie musste eine Unterkunft für die Nacht finden und gleich am nächsten Morgen den ersten Zug nehmen. Eine Möglichkeit, ihren Arbeitgeber zu benachrichtigen, gab es nicht. Oder vielleicht doch – mit einem Telegramm? Was würde das wohl kosten? Aber das Postamt hatte sicher schon geschlossen.

Während sie noch unschlüssig dastand, trat der Stationsvorsteher, ein freundlicher Herr mit weißem Schnurrbart, auf sie zu.

»Kann ich Ihnen behilflich sein, Miss?«

Charlotte schilderte ihre heikle Lage, worauf er mitfühlend nickte. »In der Tat, das Postamt hat geschlossen. Auch weiß ich nicht, ob ein Telegramm rechtzeitig angekommen wäre, wenn Ihr Ziel, wie Sie sagen, ein Stück außerhalb von Dorking liegt. Am besten nehmen Sie sich ein Zimmer. Der erste Zug morgen geht um halb neun. Ihre Fahrkarte bleibt gültig; ich werde einen Vermerk anbringen.«

»Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Charlotte und fasste neuen Mut. »Können Sie mir vielleicht eine Pension empfehlen, in der ich ein – günstiges Zimmer bekomme?«

Er lächelte. »Zufällig ja, Miss. Meine verwitwete Schwester wohnt unweit vom Hafen und vermietet Zimmer an Durchreisende. Ein kräftiges Frühstück ist im Preis inbegriffen.«

»Ich danke Ihnen vielmals.« Sie warf einen Blick auf ihre Koffer.

»Wenn Sie das Nötige in Ihre Tasche packen, schließe ich die Koffer hier im Bahnhof für Sie ein.«

Der Bahnhofsvorsteher wehrte ihren Dank ab, notierte Namen und Adresse seiner Schwester und trat mit Charlotte vor das Gebäude, um ihr den Weg zu erklären.

Als sie allein auf der Straße stand, atmete sie tief durch. Der Wagen von Sir Andrew würde in Dorking vergeblich auf sie warten. Es machte keinen guten Eindruck, wenn sie schon bei der Ankunft unzuverlässig war. Hoffentlich bekam der Kutscher mit, dass ihr Zug gar nicht kommen würde. Sie schluckte und biss sich auf die Lippen. In ihren Augen brannten Tränen.

Wie von Zauberhand durchbrach in diesem Augenblick die Sonne noch einmal die Wolken und warf einen fächerförmigen Strahl auf die Klippen jenseits des Hafens. Sie tauchte die grauen Mauern der Burg in ein goldenes Licht. Hingerissen stand Charlotte da und betrachtete die trutzigen Mauern und Türme, die von ihrem Platz aus so unversehrt und stark erschienen, als wäre das Zeitalter der Ritter nie zu Ende gegangen.

Charlotte betätigte den Türklopfer an dem Reihenhaus aus rotem Backstein, das ihr der Bahnhofsvorsteher genannt hatte. Durch ein großes Erkerfenster neben der grün gestrichenen Haustür fiel ein schwacher Lichtschein auf die Straße.

Mrs. Ingram entpuppte sich als korpulente Frau mittleren Alters, die schnaufend die Tür öffnete, als wäre sie die Treppe heruntergelaufen. Sie schob eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte, und schaute Charlotte fragend an.

»Guten Abend, Mrs. Ingram. Ich soll Sie von Ihrem Bruder, dem Stationsvorsteher, grüßen. Mein Zug ist ausgefallen, und er sagte, Sie hätten vielleicht ein Zimmer für mich.«

Mrs. Ingram musterte sie streng. »Sie reisen allein?«

»Ja. Ich fahre morgen weiter nach Surrey.«

»Sie sind nicht von hier?«

Charlotte schüttelte den Kopf und stellte sich vor.

»Aus Deutschland? Da haben Sie eine weite Reise hinter sich.« Die Frau wirkte nun etwas nachgiebiger. »Kommen Sie herein. Martin hat ein weiches Herz. Er schickt mir immer seine verlorenen Passagiere.«

Charlotte trat in den Flur, in dem es angenehm nach Bohnerwachs und Zitrone roch. Mrs. Ingram deutete auf eine Tür. »Dort gibt es Frühstück, von sieben bis halb neun. Ihr Zimmer ist oben.«

Charlotte erkundigte sich nach dem Preis, worauf Mrs. Ingram eine Summe in Shilling und Pence nannte, die ihr nichts sagte, bis sie sie im Kopf umgerechnet hatte. Der Preis war angemessen.

»Zahlbar im Voraus«, fügte die Zimmerwirtin hinzu.

Charlotte öffnete ihre Handtasche, holte die Geldbörse hervor und zählte die Münzen ab.

»Leider kann ich Ihnen heute Abend nichts mehr zu essen anbieten, da ich Besuch erwarte. Ich zeige Ihnen das Zimmer und werde Ihnen den Weg zu einem kleinen Gasthaus in der Nachbarschaft erklären, in dem Sie als allein reisende Frau eine warme Mahlzeit bekommen.«

Charlotte nickte dankbar und folgte Mrs. Ingram, die mit einer Petroleumlampe den Weg leuchtete, die schmale, mit einem dunkelgrünen Läufer ausgelegte Treppe in den ersten Stock hinauf. Das Haus war peinlich sauber, aber dunkel. Die Holztäfelung der Wände, die Tapeten und Möbel waren in Braun- und dunklen Grüntönen gehalten, die an einen dichten Wald erinnerten.

Mrs. Ingram öffnete eine Tür und ließ Charlotte eintreten. Das Zimmer besaß ein Fenster, das auf den Hafen blickte, und war ebenso sauber und düster wie das übrige Haus. Selbst die Bilder an den Wänden zeigten Herbstlandschaften, die sich nahtlos in die Atmosphäre des Hauses fügten.

Dennoch war Charlotte dankbar, für die Nacht günstig untergekommen zu sein. »Das ist sehr angenehm, Mrs. Ingram, vielen Dank. Ich würde gern etwas essen und mich dann zurückziehen.«

Die Zimmerwirtin begleitete sie wieder ins Erdgeschoss, trat mit ihr vor die Haustür und deutete auf ein hell beleuchtetes Eckhaus, das etwa hundert Meter entfernt lag. »Sie sehen, es ist ganz in der Nähe. Wenn Sie zurückkehren, bin ich unabkömmlich. Unter diesem Blumenkübel liegt ein Schlüssel. Gehen Sie bitte leise nach oben.«

Charlotte bedankte sich noch einmal und spazierte in der herbstlichen Dämmerung zu dem Gasthaus hinüber.

Wie Mrs. Ingram prophezeit hatte, empfing man sie ohne Neugier, wies ihr einen angenehmen Platz am Kamin zu und bediente sie rasch und zuvorkommend. Sie bestellte eine Pastete mit einer Füllung aus Fleisch und Gemüse, die sich als durchaus wohlschmeckend erwies, und trank dazu eine kleine Kanne Tee. Als sie satt war, lehnte sie sich auf der Sitzbank zurück und gestattete sich einen Moment der Zufriedenheit.

Hätte man ihr vor einigen Monaten gesagt, sie würde sich eine Stelle im Ausland suchen und allein den Ärmelkanal überqueren, hätte sie es nicht geglaubt. Schon der Schritt von dem kleinen Dorf in Brandenburg nach Berlin war gewaltig gewesen, doch in nichts mit diesem Sprung übers Wasser zu vergleichen.

Charlotte bezahlte, zog ihre Jacke an und machte sich auf den Heimweg.

Ein frischer Wind zerrte an ihrem Rock, und vom Wasser her ertönte Möwengeschrei. Sie war froh, dass sie trotz der Jahreszeit eine vergleichsweise ruhige Überfahrt erlebt hatte. Wenn richtige Herbststürme tobten, hätte sie sich sicher nicht aufs Meer gewagt.

Die Burg ragte wie ein dunkler Schatten über der Stadt empor. Charlotte nahm sich vor, einmal im Sommer herzukommen und über die Klippen zu spazieren, die gewiss eine atemberaubende Sicht auf den Kanal boten. Vielleicht konnte man bei klarem Wetter sogar bis ans französische Ufer blicken.

Vor dem Haus angekommen, fischte sie den Schlüssel unter dem Blumenkübel hervor und schloss die Tür auf. Sie legte ihn zurück, trat ein und wollte auf Zehenspitzen zur Treppe gehen, als ein Geräusch sie innehalten ließ. Es kam aus dem vorderen Zimmer, dessen Erkerfenster auf die Straße blickte.

Charlotte wollte eigentlich nicht lauschen, doch die Laute, die aus dem Zimmer drangen, waren so sonderbar, dass sie unwillkürlich die Ohren spitzte.

Sie hörte eine Frauenstimme, die in einer Art Singsang sprach. Im ersten Augenblick vermutete sie ein Gebet. Aber nein, es klang anders, irgendwie befremdlich. Charlotte spürte, wie ihr Herz heftiger schlug, und machte einen weiteren Schritt zur Treppe hin. Das Murmeln von drinnen wurde lauter, und sie konnte einzelne Sätze verstehen: »Sprich zu uns« und »Wir rufen dich«. Argwöhnisch drehte sich Charlotte zu der verschlossenen Tür um und wünschte sich, sie könnte mit den Augen das Holz durchdringen.

Die Geräusche behagten ihr nicht, und die Vorstellung, die Nacht in diesem Haus zu verbringen, erschien ihr plötzlich nicht mehr so verlockend. Sie konnte entweder leise nach oben gehen, heimlich ihre Tasche holen und sich aus dem Haus schleichen – aber wohin? – oder leise nach draußen gehen und versuchen, einen Blick durchs Fenster zu werfen, um zu klären, was hier vor sich ging. Vielleicht wäre sie danach beruhigt. Die letzte Möglichkeit entsprach am ehesten ihrem Naturell. Also kehrte sie zur Haustür zurück, wobei sie kaum zu atmen wagte, schlüpfte hinaus, lehnte die Tür an und schob sich an der Hauswand entlang, um einen vorsichtigen Blick durchs Fenster zu wagen. Die Vorhänge waren geschlossen, doch sie entdeckte einen Spalt zwischen Vorhang und Mauer, durch den sie einen Teil des Raumes einsehen konnte.

Das Wohnzimmer war ähnlich dunkel eingerichtet wie das übrige Haus. Die linke Hälfte war verdeckt, doch an einem kleinen Tisch bemerkte sie Mrs. Ingram, die mit dem Rücken zu ihr saß, und eine weitere Dame. Der Raum wurde lediglich von drei weißen Kerzen erhellt, die auf dem Tisch brannten. Beide Frauen hatten einen Finger auf ein umgedrehtes Glas gelegt, das zwischen ihnen auf dem Tisch stand. Die ihr unbekannte Frau hatte die Augen geschlossen und bewegte den Mund.

Eine spiritistische Sitzung! Charlotte hatte davon gehört, eine derartige Veranstaltung aber noch nie miterlebt. In Berlin schienen sie nicht sonderlich verbreitet zu sein, schon gar nicht bei ihren letzten Arbeitgebern, die sehr sachlich und materialistisch gewesen waren. Fasziniert und belustigt schaute sie durch den Spalt, konnte aber nicht erkennen, ob sich das Glas auf dem Tisch bewegte. Als Schritte auf der Straße erklangen, glitt Charlotte ins Haus zurück und zog die Tür hinter sich zu. Sie atmete tief durch und begab sich rasch in ihr Zimmer, wo sie vorsichtshalber die Tür abschloss.

Dann tastete sie sich im Dunkeln zu der Petroleumlampe, die sie vorhin auf dem Tisch gesehen hatte, und zündete sie mit den bereitliegenden Zündhölzern an. Anschließend zog sie die Jacke aus, stellte die Tasche auf einen Stuhl und streifte ihre Stiefel ab. Trotz der langen Reise war sie jedoch zu aufgewühlt, um sich schon schlafen zu legen.

Sie setzte sich aufs Bett und dachte an die seltsame Sitzung, die sich in der unteren Etage abspielte. Mrs. Ingram hatte recht bodenständig gewirkt, daher war es umso verwunderlicher, dass sie eine solche Veranstaltung in ihrem Haus abhielt. Oder war es hier in England ein gewöhnlicher Zeitvertreib wie Handarbeiten oder Kartenspielen?

Dann kam ihr ein Gedanke. Im Flur unten hatte sie die Fotografie eines stattlichen Herrn mit grauem Vollbart bemerkt. Der Rahmen war mit einem Trauerflor geschmückt. Vielleicht versuchte die Witwe, auf diese Weise Kontakt zu ihrem verstorbenen Mann aufzunehmen. Der Gedanke milderte Charlottes Verwunderung, wenngleich ihr die Vorstellung, dass sich Mrs. Ingram mit Hilfe eines Glases bemühte, in diesem Haus einen Geist heraufzubeschwören, einen leisen Schauer über den Rücken jagte. So amüsant ihr der Anblick vorhin erschienen war, wirkte die Vorstellung nun, da sie allein in ihrem Zimmer in diesem fremden Haus saß, ein wenig beunruhigend.

Sie schüttelte sich, als wollte sie die irrationale Furcht abstreifen, und holte den Brief hervor, den Sir Andrew Clayworth ihr geschickt hatte.

CHALK HILL, JULI 1890

Sehr geehrte Miss Pauly,

es freut mich, dass wir zu einer Übereinkunft gelangt sind und Sie die Position der Gouvernante bei meiner Tochter Emily übernehmen werden. Nachdem Sie bereits in Ihrer Korrespondenz mit meinem Sekretär die grundlegenden Fragen erörtert und diesbezügliche Vereinbarungen getroffen haben, sehe ich Ihrer Ankunft mit Freude entgegen. Damit Sie Ihre Stelle nicht gänzlich unvorbereitet antreten, möchte ich Sie kurz auf Ihre Begegnung mit meiner Tochter Emily vorbereiten.

Emily hat in diesem Monat ihren achten Geburtstag gefeiert. Sie ist ein liebes und folgsames Mädchen, das allen, die sie kennen, nur Freude bereitet. Sie liebt es zu zeichnen und kleine Bastelarbeiten anzufertigen. Auch zeigt sie ein gewisses musikalisches Talent und spielt seit geraumer Zeit Klavier. Leider entsprachen ihre bisherigen Lehrerinnen nicht meinen Erwartungen, weshalb ich Ihre ausgezeichneten Referenzen in dieser Hinsicht zu schätzen weiß. Handarbeiten gehören nicht zu Emilys bevorzugten Beschäftigungen, wenngleich ich hoffe, dass sich dies unter Ihrer fachkundigen Anleitung ändern wird.

Emily ist ein gesundes und kräftiges Mädchen, was mich sehr dankbar stimmt, da sie viele Jahre kränklich gewesen ist. Diese Schwäche scheint nun zum Glück überwunden zu sein, und einer maßvollen sportlichen Betätigung, die ich auch bei Mädchen als förderlich erachte, steht nichts im Wege. Daher erwarte ich, dass regelmäßige Spaziergänge, Krocketpartien und ähnliche Betätigungen einen festen Platz in ihrem Tagesablauf finden. Neben der reinen Bewegung ist ein solcher Zeitvertreib auch geeignet, um kindliche Flausen und Träumereien zu vertreiben und Emily zu einem charakterstarken und nüchternen Mädchen zu erziehen, das sich im täglichen Leben zurechtfindet.

Wie ich bereits erwähnte, weilt meine Frau und Emilys gute Mutter seit diesem Frühjahr nicht mehr unter uns, was für mich und meine Tochter ein schwerer Schlag gewesen ist, der seither wie ein Schatten über unserem Haus liegt. Ich hoffe jedoch, dass Sie Emily mit liebevoller Strenge und abwechslungsreichem Unterricht den Weg in die Zukunft ebnen werden.

Über die weiteren Regeln und Grundlagen unseres Zusammenlebens werde ich Sie in Kenntnis setzen, wenn wir uns in Chalk Hill sehen. Wie vereinbart wird der Kutscher Sie am Bahnhof von Dorking abholen.

Ich wünsche Ihnen eine angenehme Reise und verbleibe mit den besten Grüßen,

Andrew Clayworth

Charlotte legte den Brief beiseite und lehnte sich ans Kopfende des Bettes. Ein bisschen steif, aber nicht unfreundlich, dachte sie. Die Beschreibung des Mädchens traf wohl auf die meisten Achtjährigen zu, daran war nichts Auffälliges. Dass die Kleine um ihre Mutter trauerte, die sie erst vor wenigen Monaten verloren hatte, war ganz natürlich; mit der nötigen Güte und Umsicht würde es Charlotte sicher gelingen, dem Mädchen über die schwere Zeit hinwegzuhelfen.

Sie steckte den Brief wieder in die Tasche, wusch sich in der Porzellanschüssel Gesicht und Hände und trocknete sich mit dem Handtuch ab, das leicht nach Lavendel roch. Dann zog sie sich bis auf die Unterwäsche aus, legte die Kleidungsstücke über Stuhl- und Sessellehne und löste ihre Frisur.

Mit langen, gleichmäßigen Strichen bürstete Charlotte ihr aschblondes Haar und betrachtete sich dabei im Spiegel – die grauen Augen, die gerade Nase, den schön geschwungenen Mund. Sie war keine auffällige Schönheit, aber mit ihrem Aussehen immer recht zufrieden gewesen. Sie legte die Bürste beiseite, straffte sich und warf die Haare mit einer Kopfbewegung über die Schultern. Als Kind hatte sie die Haare immer offen tragen wollen und sich damit gegen ihre Mutter aufgelehnt, die strenge Zöpfe vorschrieb. Sobald sie mit ihren Schwestern allein im Zimmer war, hatte sie die Bänder gelöst und ihre Haare wild geschüttelt, bis sich Elisabeth und Frieda vor Lachen bogen. Dabei hatte sie an das Gedicht von Annette von Droste-Hülshoff gedacht.

Ich steh’ auf hohem Balkone am Turm,

Umstrichen vom schreienden Stare,

Und lass’ gleich einer Mänade den Sturm

Mir wühlen im flatternden Haare.

Diese Zeilen hatten ihr immer besser gefallen als die letzten, die für sie wie eine Niederlage klangen.

Nun muss ich sitzen so fein und klar,

gleich einem artigen Kinde,

und darf nur heimlich lösen mein Haar,

und lassen es flattern im Winde!

Charlotte warf ihrem Spiegelbild einen letzten Blick zu. Ja, sie war in England. Sie war angekommen.

2

Am nächsten Morgen servierte Mrs. Ingram ein gewaltiges Frühstück, das aus Rührei, Speck, Räucherfisch und geröstetem Toast mit gesalzener Butter bestand. Dazu gab es Tee mit Milch aus einer großen, vorgewärmten Kanne.

Charlotte genoss das Essen und schaute sich dabei verstohlen im Wohnzimmer um. Dabei wurde ihr klar, dass sie an ebenjenem Tisch saß, an dem wenige Stunden zuvor die sonderbare Geisterbeschwörung stattgefunden hatte. Sie warf ihrer Gastgeberin, die gerade die Zimmerpflanzen goss, einen Blick zu, wagte aber nicht, sie auf den vergangenen Abend anzusprechen. Denn damit hätte sie zugegeben, dass sie gelauscht und heimlich ins Wohnzimmer geschaut hatte.

»Die Burg sieht sehr eindrucksvoll aus«, sagte Charlotte. »Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich sie gern besichtigen.«

»Viele Besucher kommen eigens dafür nach Dover. Ich nehme an, in Deutschland gibt es auch Burgen.«

Es klang ein wenig herablassend, als könnten diese es keinesfalls mit den englischen Gemäuern aufnehmen, was sofort Charlottes Widerspruchsgeist weckte.

»In der Tat. Ich hatte einmal das Vergnügen, mit meiner damaligen Herrschaft den Mittelrhein entlangzureisen. Es ist ein Anblick wie aus dem Märchen; dort reiht sich eine Festung an die andere, manche auf Inseln mitten im Strom, andere auf hohen Felsen und Klippen über dem Fluss. Dazu Weinberge an den sonnigen Hängen… Eine herrliche Gegend.«

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