Das Haus in der Nebelgasse - Susanne Goga - E-Book

Das Haus in der Nebelgasse E-Book

Susanne Goga

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Beschreibung

London 1900: Matilda Gray ist Lehrerin an einer Mädchenschule und führt das Leben einer unabhängigen Frau. Als ihre Lieblingsschülerin Laura nicht mehr zum Unterricht erscheint, ahnt Matilda, dass diese in Gefahr ist. Zu plötzlich ist ihr Verschwinden, zu fadenscheinig sind die Begründungen des Vormunds. Eine verschlüsselte Botschaft, die ihr Laura auf einer Postkarte schickt, bringt Matilda auf die Spur des Mädchens. Ihre Suche führt sie zu dem Historiker Stephen Fleming und mit ihm zu einem jahrhundertealten Geheimnis, tief hinein in die verborgensten Winkel der Stadt.

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Seitenzahl: 562

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Über das Buch

London 1665. Die Pest wütet in der Stadt, tausende Menschen fallen ihr zum Opfer. Eine junge Frau versteckt einen Holzkasten in einem dunklen Keller. Darin verbirgt sich ein Geheimnis, das die tragische Geschichte einer Familie erzählt, deren Folgen über Generationen hinweg fortwirken werden …

1900. »Liebe Miss Gray, allerbeste Grüße aus Italien.« Die unverfänglichen Worte auf einer Ansichtskarte, die die junge Lehrerin Matilda Gray erreicht, machen diese argwöhnisch. Denn die ehrgeizige Schülerin Laura erschien plötzlich nicht mehr zum Unterricht. Und tatsächlich: Beinahe unleserlich versteckt sich eine kryptische Botschaft unter der Briefmarke. Das Mädchen ist in Gefahr, das steht für Matilda fest. Mithilfe des sympathischen Historikers Stephen Fleming begibt sie sich auf die Suche. Denn Lauras Verschwinden scheint mit dem antiken Holzkasten zusammenzuhängen, den sie in ihrem Zimmer versteckt hält …

Über die Autorin

Susanne Goga, 1967 geboren, ist eine renommierte Literaturübersetzerin und Autorin. Sie wurde mit dem DeLiA-Literaturpreis sowie dem Goldenen Homer ausgezeichnet und ist seit 2016 Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Mönchengladbach.

SUSANNE GOGA

Das Haus

in der

Nebelgasse

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Von Susanne Goga sind im Diana Verlag erschienen:Das Leonardo-Papier – Die Sprache der Schatten – Der verbotene Fluss – Der dunkle Weg – Das Haus in der Nebelgasse
Die Textauszüge [[hier]] und [[hier]] stammen aus: Samuel Pepys, Das geheime Tagebuch. Aus dem Englischen von Jutta Schlösser. Herausgegeben von Anselm Schlösser. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1982. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.
Der Textauszug [[hier]] stammt aus: Charlotte Brontë, Jane Eyre: Eine Autobiographie. Aus dem Englischen von Ingrid Rein. © Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Stuttgart 2011.
Copyright © 2016 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen Redaktion: Gisela Klemt Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München Umschlagmotive: © Elisabeth Ansley/Trevillion; S. Borisov, Paul Daniels/Shutterstock Satz: Leingärtner, Nabburg Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-641-17189-6V002
www.diana-verlag.de Besuchen Sie uns auch auf www.herzenszeilen.de

Für meine Mama, Hanne Goga –

nach 100 Büchern wird es langsam Zeit.

London, Juli 1665

Katie wankte die Treppe hinunter, glitt aus und konnte sich gerade noch an den rauen Mauersteinen abstützen, sonst wäre sie gefallen. Sie rieb flüchtig die Finger aneinander und bemerkte, dass feuchter Mörtel aus den Fugen rieselte. Tiefer, immer tiefer hinunter, sie spürte die ausgetretenen Stufen unter ihren Füßen. Sie fror. Ob es an der Kälte oder ihrer körperlichen Schwäche lag, wusste sie nicht.

Doch da war eine Stimme, die sie in der feuchtkalten Dunkelheit vorantrieb. Die mahnenden Rufe der alten Frau, der die spinnwebdünnen weißen Haare auf die Schultern fielen und die mit anklagendem Finger zum Himmel deutete.

»Seht, dort oben steht er! Ein flammender Stern, ein Komet, der von kommendem Unheil kündet! Eine furchtbare Plage wird über uns hereinbrechen, wie sie uns schon vor Zeiten heimgesucht hat! Fleht um Gnade! Rettet euch, solange ihr könnt!«

Es war bereits einige Monate her, dass sie die Frau auf der Straße gesehen hatte, umringt von neugierigem Volk, das ängstlich nach oben schaute und sich bekreuzigte. Damals hatte Katie gedacht, welch ein Unsinn – törichter Aberglaube, über den Vater lachen würde. Wer glaubte heute noch an Himmelszeichen? Das war fast wie in alter Zeit, als man die Eingeweide von Opfertieren gedeutet oder Schlüsse aus dem Flug der Vögel gezogen hatte.

Doch als sie ihrem Vater zu Hause davon berichtet hatte, war er nicht etwa in Gelächter ausgebrochen, sondern hatte Katie ernst angesehen und sich im Sessel nach hinten gelehnt, bevor er mit einer ausladenden Geste zum Fenster deutete. »Die Stadt war noch nie so überfüllt. Der Krieg ist vorbei, die Monarchie wiederhergestellt, die Armee aufgelöst, und alle, alle drängen sich in London. Wie es heißt, leben hunderttausend Menschen mehr in diesen Mauern als zuvor.«

»Und?«, hatte Katie vorsichtig gefragt und war sich ein wenig dumm vorgekommen, weil sie nicht verstand, worauf er hinauswollte.

»Natürlich besteht keine Verbindung zwischen Himmelserscheinungen und dem Schicksal der Menschen, daran glaube ich nicht. Aber viele Menschen auf engem Raum, Unrat in den Straßen, ungesunde Dämpfe, die aus Tümpeln und Flüssen aufsteigen – all das kann zu Krankheiten führen. Und wenn jetzt in London eine Seuche ausbricht, dann gnade uns Gott.«

An dieser Stelle hatte seine Frau ihn mahnend angesehen. »Mach dem Mädchen keine Angst, John«, hatte sie gesagt und dann wieder auf ihre Stickerei geschaut.

Die Erinnerungen an die letzten Monate lösten sich wie Geister aus der Dunkelheit, die nur von der Kerze in Katies Hand erhellt wurde: Händler, Talismane und Pergamentrollen mit Zaubersprüchen feilbietend, die gegen die Seuche helfen sollten. Selbst ernannte Propheten wie jene alte Frau, die an Straßenecken auf Holzkisten standen und den Untergang der Welt heraufbeschworen. An den Hausmauern Plakate von Quacksalbern, die ihre ganz persönliche, alles heilende Medizin anpriesen.

Viele dieser Scharlatane verdienten ein Vermögen an den Verzweifelten, die sich vor Ständen und Läden drängten und auf ein Wundermittel hofften. Katie war staunend durch die Straßen gelaufen, magisch angezogen vom Geschrei der Menschen, die mit Wundern handelten.

Nun streckte sie die Hand aus, und da war sie, die Tür, das Holz kalt und uneben unter ihren Fingern, die eisernen Beschläge rau vom Rost. Sie hielt die Kerze hoch, tastete in ihrer Rocktasche nach dem Schlüssel und schob ihn im flackernden Schein ins Schlüsselloch.

Im Keller roch es kalt und muffig und uralt, aber besser als draußen in der Stadt, wo die windstille Sommerhitze wie ein schwerer Nebel in den Straßen hing. Katie erinnerte sich an den Geruch zahlloser Kaminfeuer, die trotz der Jahreszeit unablässig brannten, weil sie angeblich die Luft reinigten – verbrannter Pfeffer, Hopfen und Weihrauch und das allgegenwärtige Aroma des Tabaks. Alle Leute, auch die Kinder, wurden angehalten zu rauchen, um eine Ansteckung zu vermeiden.

Katie nahm allen Mut zusammen, hob die Kerze auf und leuchtete in den Kellerraum. Hinüber zu der Mauer, die älter war als alles um sie herum. Mit letzter Kraft reckte sie sich und zog einen losen Stein heraus. Dann schob sie den Kasten in die Nische dahinter. Ihre Hand verweilte auf dem glatten Holz. Sie blieb so für eine Weile stehen, den Arm gereckt, die Augen geschlossen, und nahm Abschied.

Dann wandte sie sich um, verließ wankend den Keller und kehrte zurück nach oben, um auf das Ende zu warten.

1

London, September 1900

»Adela schaute sich in verzweifelter Panik um. Die Wölfe kamen näher, ihre Augen leuchteten wie rot glühende Kohlen in der Dunkelheit. Adelas Herz schlug so heftig, dass ihre Kehle erbebte, und sie konnte nur ein angstvolles Wimmern hervorstoßen – noch Marmelade, meine Liebe?«

Mrs. Westlake schob Matilda Gray achtlos das Glas hin, während sie mit der anderen Hand die Blätter vor sich glatt strich. Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich frage mich gerade, ob Wölfe nicht zu abgedroschen sind.«

Matilda sah abrupt von ihrer Zeitung auf. »Verzeihung, was ist abgedroschen?«

Ihre Vermieterin lachte. »Was kann denn interessanter sein als meine Heldin in Todesnot?« Doch sie wurde ernst, als sie sah, welchen Artikel Matilda gerade las. »Dieser verfluchte Krieg. Männer schlachten einander in fernen Ländern ab, in denen sie nichts zu suchen haben.« Als sie den überraschten Blick der jungen Frau bemerkte, zuckte sie mit den Schultern und legte den Finger an die Lippen. »Das sage ich natürlich nur in meinem eigenen Haus, alles andere wäre Verrat am Empire.«

Matilda schluckte und nickte dann. »Sie haben recht. Von mir aus könnte mein Bruder auf der Straße Limonade oder Würstchen verkaufen, solange er in Sicherheit ist. Aber Harry war schon immer ungestüm, abenteuerlustig und vollkommen unfähig, nichts zu tun. Also ist er zur Armee gegangen.«

Matildas Mutter war gestorben, als sie dreizehn war, vier Jahre später auch ihr Vater. Seither hatte es immer nur sie und Harry gegeben. Er war drei Jahre älter als sie und hatte Verständnis gezeigt, als sie einen Beruf ergreifen wollte. Harry hatte seine Schwester nicht zu einer frühen Ehe gedrängt und sie mit seinem Sold unterstützt, als sie das Schulgeld nicht aufbringen konnte. Auch hatte er sie ermutigt, als sie durch eine Prüfung gefallen war und an ihren Fähigkeiten zweifelte. Solange er in England stationiert war, konnten sie einander regelmäßig sehen. Dann aber war er nach Afrika versetzt worden, und seit dem vergangenen Jahr kämpfte er gegen die Buren. Die Sorge um ihn ließ Matilda nie ganz los.

Mrs. Westlake tätschelte ihre Hand. »Sie sollten die Zeitung beiseitelegen und mir bei meinem Wolfsdilemma helfen. Das lenkt ab und ist im Übrigen auch Ihre Pflicht. Schließlich stehen Sie mir ja seltener zur Verfügung, nun, da die Ferien zu Ende sind. Beim letzten Roman waren Sie mir eine große Hilfe. So viel Unsinn wie damals habe ich noch nie gestrichen. Aber mit der neuen Geschichte bin ich mir nicht ganz sicher.«

Matilda faltete lachend die Zeitung zusammen und schenkte ihnen beiden Tee nach. »Also, zu den Wölfen. Sie halten sie für abgedroschen?«

»Ja, wenn man Kreaturen sucht, die Angst und Schrecken verbreiten, fallen mir sofort Wölfe ein. Aber leider eben auch der Konkurrenz und dem Publikum. Nur muss ich Adela in die Karpaten schicken. Das lässt sich nicht vermeiden, weil sie ja im vorigen Roman von Graf Damianescu dorthin verschleppt wurde. Es gelingt ihr, sich aus der Schlossruine zu befreien, und sie läuft hinein in die undurchdringlichen Wälder, in die sich kaum ein Mensch verirrt, geschweige denn die wärmenden Strahlen der Sonne … Verzeihung, ich lasse mich schon wieder von meiner eigenen Geschichte mitreißen.«

Matilda lachte und nahm sich noch eine Scheibe Toast. »Bären.«

»Bären?« Mrs. Westlake ließ klirrend das Messer fallen und zeigte triumphierend auf Matilda. »Das ist es! Ein Bär, nein, zwei Bären, ein ganzes Rudel, hungrig, seit Tagen auf der Suche nach Beute – ja bitte?«

»Ich sage es ungern, aber meines Wissens sind Bären Einzelgänger. Die jagen nicht im Rudel.«

Mrs. Westlake überlegte kurz. »Hm. Gut, dann sind es nur zwei. Zwei sind völlig ausreichend. Jedenfalls wittern sie diese junge Frau, ihre Panik, ihren Angstschweiß – das schreibe ich natürlich nicht, auch wenn es der Wahrheit entspricht. Unzüchtig, Sie wissen schon.«

Matilda sah ihre Vermieterin belustigt und liebevoll zugleich an. Der Artikel über den Krieg im Süden Afrikas hatte wieder einmal die Sorge um ihren Bruder geweckt, doch Mrs. Westlake gelang es, ihre trüben Gedanken mit Wölfen und Bären zu vertreiben.

Dass sie hier ein Zimmer gefunden hatte, war ein unerhörter Glücksfall. Beatrice Westlake war früh verwitwet. Was ihr Mann nicht vertrunken hatte, war dem Glücksspiel zum Opfer gefallen, und sie war darauf angewiesen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, da ihr zwar das Haus, aber kein Penny geblieben war. Matilda hatte sich manches Mal gefragt, ob sein Tod nicht dennoch wie eine Befreiung gewesen sein musste.

Sie wohnte seit einem knappen Jahr bei der Verfasserin der erfolgreichen Serie um die liebreizende Adela Mornington, die von einem Abenteuer ins nächste stürzte. Wenn Mrs. Westlake bis spät in die Nacht geschrieben hatte oder abends eingeladen gewesen war, frühstückte Matilda gewöhnlich allein. Ungestört Zeitung lesen zu können war schön, eine amüsante Unterhaltung bei Tee und Toast jedoch noch viel angenehmer. Und Chelsea war voller Künstler, das ganze unkonventionelle Viertel sprühte vor Leben.

In diesem Augenblick trat das Hausmädchen Sally ein. »Soll ich noch Tee bringen, Ma’am?«

Mrs. Westlake schaute Matilda an, die den Kopf schüttelte. »Ich muss gleich los.«

Sally nickte und verließ den Raum rasch wieder.

»Sie haben doch hoffentlich noch eine Minute für mich, meine Liebe? Ich bin heute Morgen besonders früh aufgestanden, weil mir die Wölfe keine Ruhe ließen. Ihr brillanter Einfall wird mir neuen Schwung verleihen, ich sehe jetzt das ganze Kapitel vor mir. Aber da wäre noch etwas …« Mrs. Westlake schaute Matilda prüfend an.

»Und?« Sie schob ihr Geschirr zusammen.

Mrs. Westlake räusperte sich. »Nun, Sie sind eine unverheiratete junge Dame aus gutem Hause …«

»Jetzt machen Sie mich aber neugierig«, sagte Matilda lächelnd. »Fragen Sie nur, aber rasch, sonst komme ich zu spät zum Unterricht.«

»Adrian. Sie begegnet ihm im Wald. Er nimmt sie mit in seine Hütte und gibt ihr zu essen. Und ein Lager für die Nacht, damit sie ihre grünen, von Müdigkeit geröteten Augen endlich schließen kann – die Augenfarbe stelle ich mir wie Ihre vor, das nur nebenbei. Nun die Frage: Wo schläft er?«

»Am anderen Ende der Hütte? Draußen im Heu?«

»Matilda, meine Liebe, ich muss doch bitten, das ist eine winzige Waldhütte in den Karpaten. Da gibt es weder ein anderes Ende noch Heu – wobei, er könnte einen winzigen Vorratsschuppen haben, der wäre nah genug, um ihre Schreie zu hören …«

»Schreie?«, fragte Matilda belustigt, während sie aufstand und ihren Stuhl an den Tisch schob.

»Natürlich, meine Liebe, sie leidet unter Albträumen von verfallenen Schlössern und Bären.«

»Ach so.«

»Gehen Sie nur, gehen Sie, die Arbeit ruft. Ich werde Ihnen heute Abend von meinen Fortschritten berichten.«

»Es wäre mir ein Vergnügen, Mrs. Westlake. Und gutes Gelingen.«

Matilda machte sich auf den Weg zum Bahnhof Chelsea. Es war Anfang September, noch warm, und doch lag schon ein Hauch von Herbst in der Luft. Es war schwer zu sagen, worin sich milde Tage in Frühjahr und Herbst unterschieden, und doch hätte sie die Jahreszeit mit geschlossenen Augen erkannt. Der September roch frischer, der Wind strich ein wenig rauer über ihre Haut.

Sie verspürte keine Wehmut, denn am Sommer festzuhalten war ebenso unnütz wie der Versuch, Wasser mit den Händen aufzufangen. Im Frühjahr erfreute sie sich an den Pflaumenblüten, im Herbst am reifen Obst. Sie dachte an Spaziergänge, bei denen braunes Herbstlaub unter ihren Füßen rascheln und zarter Nebel in den Baumkronen hängen würde. Das Kaminfeuer würde hell lodern, wenn Mrs. Westlake ihr abends das neueste Kapitel vorlas und sie mit gespannter Erwartung über die halbmondförmige Brille hinweg ansah.

Matilda ging auf der King’s Road, die um diese Zeit schon von Leben wimmelte, unter den Markisen der Geschäfte hindurch, die sich über den sonnenbeschienenen Gehweg spannten. Aus einer Bäckerei wehte der Duft von frisch gebackenem Brot, nebenan duftete es aus einem Schuhgeschäft betäubend nach teurem Leder. Gegenüber lag das mit Flaggen geschmückte Kaufhaus Peter Jones, in dessen endlos wirkender Fensterflucht alle nur erdenklichen Waren ausgestellt waren.

Matilda stieg südlich des Flusses in Clapham Junction um. Gewöhnlich nutzte sie die Fahrt nach Richmond, um den Lehrstoff für den Tag zu überfliegen. Im Englischunterricht wählte sie die Lektüre großzügig aus und besprach auch Werke, die von ihren Kolleginnen als unpassend erachtet wurden. Sie vertrat die Ansicht, dass ein umfassender Überblick über die englische Lyrik auch Byron, Shelley und Blake einschloss. »Aber nicht Byrons Privatleben, Miss Gray«, hatte Miss Haddon, die Schulleiterin, sie gewarnt. »Das würden die Eltern nicht dulden. Und das Kuratorium ebenso wenig.«

An diesem Morgen schaute Matilda jedoch aus dem Fenster, der Tag war einfach zu schön. Nachdem der Zug Clapham Junction verlassen hatte, wo sich hölzerne Aufbauten wie Brücken über die Gleise spannten, überragt von Fabriken und rauchenden Schornsteinen, wurde die Umgebung langsam freundlicher. Der Zug hielt in Wandsworth und Putney, bevor die Strecke in Mortlake fast die Themse berührte. Dann kam schon Richmond, wo Matilda ausstieg.

Die meisten Menschen fuhren morgens zur Arbeit in die Stadt hinein und kehrten abends in die Vororte zurück, während Matildas Weg genau entgegengesetzt war. Sie arbeitete in Richmond, fernab der Innenstadt, und fuhr abends heim nach Chelsea. Sie betrachtete es als Privileg, da sie das Abteil so meist für sich allein hatte.

Vom Bahnhof aus war es nicht weit bis zur Schule, die am Rande des Old Deer Park stand. Er schmiegte sich in den Flussbogen und grenzte im Norden an Kew Gardens.

Die Schule lag hinter einem schmiedeeisernen Zaun, in dessen Gitter sagenhafte Tiere und andere Geschöpfe eingefügt waren – Einhörner, Basilisken, Zentauren und weitere, alle der Fantasie des Erbauers entsprungen. Das Haus war ein prächtiges Beispiel des Gothic Revival, mit Spitzbogenfenstern, Türmchen und Giebeln. Das Dach wurde von einer glänzenden Wetterfahne gekrönt, auf der ein geflügeltes Pferd thronte. Noch keine dreißig Jahre war das Gebäude alt und von einem romantisch veranlagten Fabrikbesitzer erbaut worden, der sich das nahe gelegene Strawberry Hill zum Vorbild genommen hatte. Allerdings war er wenige Jahre später bankrott gegangen und somit gezwungen, Pegasus Hall, wie er das Haus hochtrabend genannt hatte, zu verkaufen.

Der Gründer der Schule hatte den Namen als unpassend erachtet und es in Riverview umbenannt, was nicht ganz zutraf, da man die Themse nur von den Dachfenstern aus sehen konnte – und auch nur dann, wenn man sich auf einen Stuhl stellte oder eine Räuberleiter machte, wie eine Schülerin Matilda anvertraut hatte.

Das Gebäude war von einem weitläufigen Garten umgeben. Manche Bäume hatten sich schon rot und braun gefärbt, und die bunten Kronen inmitten des noch grünen Laubwerks erinnerten an einen Herbststrauß. An dunklen Wintertagen wirkte die Schule eher unheimlich, und wenn Matilda dann zum Kreuzrippengewölbe des Speisesaals hochschaute, fühlte sie sich unweigerlich an die Schauerromane erinnert, die sie als junges Mädchen verschlungen hatte.

Matilda hatte die ungebundenen Sommermonate genossen, war durch London gestreift und hatte Ausstellungen und Konzerte besucht, wenn sie nicht gerade Adela Mornington durch unwegsame Schluchten und über reißende Bachläufe begleitete. Doch als sie an diesem Morgen durchs Tor trat und den Kiesweg zum Haupteingang entlangging, kam es ihr vor wie eine Heimkehr.

Vor dem Portal standen einige Schülerinnen, sie lachten und gestikulierten. Gewöhnlich hätte man dies nicht geduldet, doch am ersten Morgen nach den Ferien begann alles gemächlich, die erste Unterrichtsstunde war für zehn Uhr angesetzt. Die Mädchen waren bereits am Vortag zurückgekehrt, hatten sich aber unendlich viel zu erzählen.

»Guten Morgen, Miss Gray, hatten Sie einen schönen Sommer?«, fragte die kleine, dunkelhaarige Ruth Sanderson und wurde ein bisschen rot, weil man sie vor der Tür erwischt hatte.

Matilda blieb stehen und lächelte in die Runde. »Ruth, Mary, Clara, Edith, ich hoffe, ihr habt die Ferien genossen. Aber jetzt geht bitte hinein.«

Mary Clutterworth strich ihr Kleid glatt und zuckte mit den Schultern. »Ich hätte gern noch ein paar Tage auf die Schulkleidung verzichtet. Es war so wohltuend, einmal bunte Farben tragen zu können statt immer nur Dunkelblau!«

»Das glaube ich dir gern. Umso größer ist die Vorfreude auf die nächsten Ferien.«

Die vier Mädchen setzten sich in Bewegung, doch Ruth drehte sich noch einmal um. »Ich habe nicht vergessen, dass Sie uns nach den Ferien etwas Besonderes erklären wollten. Was ist es denn?«

Matilda deutete mit strenger Miene auf die Tür. »Wie ich sehe, kann Miss Sanderson es gar nicht erwarten, wieder in einem stickigen Klassenzimmer am Pult zu sitzen und algebraische Gleichungen zu lösen. Geduld ist eine Tugend, das gilt auch für dich, Ruth.«

Die Mädchen lachten.

Dann fügte Matilda nachgiebiger hinzu: »Aber du hast recht, ich habe etwas vorbereitet, das nicht nur für unsere geborenen Mathematikerinnen interessant sein dürfte, sondern auch für die Literatinnen unter euch.«

Als sie wenig später am Zimmer der Direktorin vorbeiging, trat ein Mann heraus. Matilda warf ihm einen neugierigen Blick zu; Männer waren in der Schule eine Seltenheit.

Er war groß gewachsen, mit dunkelblonden Haaren, die ihm fast bis auf die Schultern fielen, und einem gepflegten Vollbart. Schwarzer Gehrock, weinrot schimmernde Weste, weißes Hemd und dunkelgraue Krawatte. Ein auffallend gut aussehender Mann, beinahe schön, dachte sie und wunderte sich beiläufig, was er wohl mit der Schulleiterin Miss Haddon zu besprechen hatte.

Im Lehrerzimmer hatten sich bereits die Kolleginnen versammelt. Es war ein großzügiger Raum mit hohen Buntglasfenstern, durch die das Sonnenlicht ein herrliches Kaleidoskop auf den Parkettboden zeichnete. Neben dem langen Tisch, der für Besprechungen genutzt wurde, waren gemütliche Sessel verteilt, die dem Raum den Anschein eines Kaminzimmers oder einer Bibliothek verliehen.

Matilda war die jüngste Lehrerin und seit einem Jahr in Riverview. Sie hatte erst lernen müssen, dass ihre Ideale sich nicht immer mit dem Alltag vereinbaren ließen. Die Schule gab sich zwar modern, doch hatte Matilda bald gemerkt, dass man auch hier die Mädchen vor allem auf ein Leben als Ehefrau der oberen Mittelklasse vorbereitete. Man verschaffte ihnen die Bildung, die nötig war, damit sie sich gewandt auf dem gesellschaftlichen Parkett bewegen und ein intelligentes Gespräch führen konnten. Die meisten Eltern wünschten jedoch nicht, dass ihre Töchter später einen Beruf ergriffen oder ein Studium begannen, und die Lehrerinnen – allesamt unverheiratete Frauen, die ihr Geld selbst verdienten – fügten sich den Wünschen. Eine paradoxe Situation, die Matilda einiges Kopfzerbrechen bereitet hatte, bevor sie eine Lösung für sich fand.

Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Schülerinnen subtil mit Wissen zu versorgen, das ihnen zeigte, wie viel das Leben doch für sie bereithielt. Sie besaß sogar Broschüren, in denen das Wahlrecht für Frauen gefordert wurde, doch diese in der Schule zu zeigen war undenkbar. Matilda bewegte sich auf einem schmalen Grat, und ein Schritt zur falschen Seite konnte sie die Stelle kosten.

Nun grüßte sie freundlich in die Runde und setzte sich an ihren Platz.

Miss Fellner berichtete gerade von ihren Wanderungen durch den Schwarzwald, Miss Fonteyn, die Kunstlehrerin, schwärmte von ihrem Besuch in den Uffizien, und Miss Caldwell, die Geschichte unterrichtete, hatte die letzten Monate auf den Knien in heimischen Kirchen verbracht und mit Wachsstiften die Reliefs mittelalterlicher Grabplatten auf Papier durchgepaust. Sie besaß eine eindrucksvolle Sammlung dieser Abbildungen, die sie gern zeigte und ausführlich kommentierte.

»Ich sah vorhin einen Herrn aus Miss Haddons Zimmer kommen«, sagte Matilda schließlich mit fragendem Unterton.

Miss Caldwell zog eine Papierrolle hervor, die sie auf dem nächstgelegenen Tisch ausbreitete, und erwiderte beiläufig: »Der Vormund einer Schülerin hatte etwas zu besprechen.« Dann trat ein Funkeln in ihre Augen. »Dies hier habe ich in der Kathedrale von Ely entdeckt, ein ganz außergewöhnliches Exemplar, wenn Sie einmal schauen möchten …«

»Was sagt euch der Name Ada Lovelace?« Matilda schaute die Schülerinnen nacheinander an. Sie teilte sich den Mathematikunterricht mit Miss White, die sich den besonders begabten jungen Mädchen widmete, während Matilda die Grundlagen unterrichtete und sich ansonsten auf das Fach Englische Literatur konzentrierte. Allerdings weigerte sie sich, die Mädchen in ihrer Gruppe zu unterschätzen, und versuchte, auch in ihnen das Interesse an einem Fach zu wecken, das gemeinhin Männern vorbehalten war.

Niemand hob die Hand.

»Das ist nicht schlimm«, sagte Matilda, griff nach der Kreide und schrieb an die Tafel: 10. Dezember 1815 – 27. November 1852.

Mary Clutterworth hob die Hand. »Sie ist ziemlich jung gestorben. Mit sechsunddreißig Jahren.« Sie schaute ihre Lehrerin zweifelnd an, als suche sie nach einer Verbindung zum Mathematikunterricht.

»In der Tat. Und sie war Lord Byrons Tochter.«

Als der Name fiel, erhob sich leises Gemurmel in den Bänken. Matilda hob die Hand. »Aber das soll uns nicht kümmern, denn das war nicht das Besondere an ihr.«

Die Mädchen sahen sie neugierig an.

»Ada Lovelace war Mathematikerin. Ihre Mutter hatte Geometrie und Astronomie studiert und dafür gesorgt, dass Ada ebenfalls eine naturwissenschaftliche Bildung erhielt. Und dabei lernte sie Charles Babbage kennen.«

Matilda ging langsam vor der Klasse auf und ab. »Auch Babbage war Mathematiker und hat etwas Großartiges erfunden.« Sie trat hinter die Tafel und zog eine Fotografie hervor, die sie auf Pappe aufgeklebt hatte. Dann hielt sie sie hoch. »Ihr könnt ruhig näher kommen und es euch anschauen.« Die Fotografie zeigte einen Bauplan für eine Art Maschine, die aus unzähligen Einzelteilen bestand – mit Zahlen versehenen Walzen, Kurbeln und Zahnrädern.

»Was ist das?«, fragte Mary. »Wozu ist es gut?«

»Der Bauplan für eine Rechenmaschine. Charles Babbage hatte die Idee, eine Maschine zu bauen, die rechnen kann, die den Menschen die Arbeit abnimmt und zudem fehlerfrei arbeitet. Leider sind seine Erfindungen nie verwirklicht worden, weil man etwas so Filigranes und Schwieriges zu seiner Zeit gar nicht hätte bauen können. Eines seiner Modelle hätte aus achttausend Teilen bestanden, die komplizierteste Maschine, die je entworfen worden war.«

Eine andere Schülerin hob die Hand. »Und was hat das mit dieser Ada zu tun?«

»Wie ich schon sagte, Ada Lovelace war Mathematikerin und mit Charles Babbage gut befreundet. Sie hat einen italienischen Artikel über seine geplante Rechenmaschine übersetzt und mit eigenen Anmerkungen versehen. Darin ist ein Algorithmus enthalten – Dora?«

»Den Begriff kennen wir noch nicht, Miss Gray«, sagte das Mädchen verwirrt.

»Einfach gesagt, ist ein Algorithmus eine Handlungsanweisung in vielen Schritten, mit deren Hilfe man eine Aufgabe lösen kann. Wenn ich zum Beispiel Äpfel haben, sie aber nicht selbst holen möchte, sage ich zu dir: Öffne die Tür. Gehe die Kellertreppe hinunter. Greife in die Schütte mit den Äpfeln. Nimm drei heraus. Gehe die Treppe wieder hinauf. Schließe die Tür. Gib mir die Äpfel. Das Gleiche gibt es auch in der Mathematik. Und Ada Lovelace hat eine Anweisung für diese Rechenmaschine entwickelt. Hätte Babbage seine Maschine je gebaut, hätte er ihr damit sagen können, wie sie eine bestimmte Aufgabe berechnen soll. Ganz ohne menschliches Zutun.«

Matilda sah sich um. Sie hatte gehofft, die Schülerinnen für diese Frau zu begeistern, las aber in den meisten Gesichtern nur Unverständnis.

»Irgendwann werden solche Maschinen wichtig sein. In den letzten hundert Jahren wurden schon viele neue Apparate gebaut, die unser Leben leichter und sicherer machen. Und Ada Lovelace ist sogar noch weiter gegangen als Babbage. Er meinte nämlich, man könne seine Maschine nur für Rechenaufgaben einsetzen. Ada hingegen war der Ansicht, dass eine Maschine noch viel mehr kann, sofern sich die Aufgabe in viele kleine Einzelschritte zerlegen ließe.«

Dora sah sie fragend an. »Welche Aufgabe denn zum Beispiel?«

»Das hat sie nicht aufgeschrieben, aber wie wäre es mit Musik? Ein Musikstück besteht aus Noten. Wenn man dieser Maschine genau sagen würde, wie sie die Noten zusammensetzen soll, könnte eine Melodie daraus entstehen.«

Mary räusperte sich und hob die Hand. »Das kann ich mir besser vorstellen als die Sache mit der Rechenaufgabe. Das wäre fast wie bei einer Walzenspieldose.«

»Sehr gut, Mary«, sagte Matilda. Es machte sie stolz, wenn die Schülerinnen eigenständig dachten. »Das Beispiel gefällt mir. Allerdings könnte die Maschine noch einen Schritt weiter gehen – während die Spieldose nur das Lied spielt, das auf der Walze enthalten ist, könnte man unserer Maschine beibringen, immer neue Lieder zu erfinden. Dora, was hast du gerade gesagt?«

Matilda drehte sich zu der Schülerin um, die rot wurde und rasch die Hand vor den Mund schlug.

»Na, raus mit der Sprache.«

»Das hätte Laura gefallen.«

»Wie meinst du das? Warum ›hätte‹?«, fragte Matilda.

»Haben Sie es noch nicht gehört, Miss Gray?«, fragte Dora überrascht. »Lauras Vormund war vorhin bei Miss Haddon. Sie unternimmt mit ihm eine Reise und kommt vorerst nicht in die Schule zurück.«

Matilda tastete unwillkürlich nach dem Pult, um sich abzustützen. Bilder zuckten durch ihren Kopf, die sie aber sofort verdrängte.

»Ist Ihnen nicht gut, Miss Gray?«, fragte Ruth besorgt.

»Doch, danke, ich bin nur … überrascht.«

»Dora hat gehört, wie Miss Haddon den Vormund mit Namen ansprach, sonst wären wir nie darauf gekommen, dass dieser Herr wegen Laura hier war. Wir hätten ihn eher für einen …« Ruth wurde rot und begann zu kichern. Als sie Matildas ernsten Blick bemerkte, riss sie sich zusammen. »Jemand hat gesagt, er würde aussehen wie ein präraffaelitischer Heiliger. Zu schön, um wahr zu sein.«

Matilda war zu abgelenkt, um Mary für die unpassende Bemerkung zu tadeln. Sie zog ihre Uhr aus der Rocktasche. Noch fünf Minuten. »Ihr könnt jetzt gehen. Jede von euch schreibt eine Arbeitsanweisung zu einer Aufgabe, die ihr frei wählen dürft – Musik, Handarbeit oder was euch in den Sinn kommt.«

Die Mädchen räumten Bücher und Hefte zusammen und standen von den Bänken auf. Matilda bemerkte einige verwunderte Blicke, doch das kümmerte sie nicht. Sie konnte nur an jenen Tag im Juni denken.

2

Drei Monate zuvor – London, Juni 1900

Das Zimmer war klein, die Frühsommersonne schien durchs Fenster und ließ Lichtflecke auf dem Tisch und den Bücherregalen tanzen. Man hatte Matilda das kleinste Arbeitszimmer zugewiesen, da man davon ausging, dass sie den größten Teil der Vorbereitungen zu Hause erledigte. Als jüngste Lehrerin wohnte sie nicht in der Schule – ein Privileg, das den älteren Kolleginnen vorbehalten blieb, die schon länger im Hause waren. Insgeheim freute sie sich über den vermeintlichen Nachteil. Zwar musste sie von ihrem Gehalt die Miete aufbringen, fühlte sich aber frei und unbeobachtet; sie musste nicht von morgens bis abends Vorbild sein.

Matilda hatte die graue Kostümjacke an die Tür gehängt und die Ärmel ihrer Bluse hochgerollt, da es im Zimmer schon sommerlich warm war. Sie schob sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Sie hatte sich nie Dienstboten gewünscht, doch wenn es um ihre Frisur ging, wäre eine Zofe hilfreich gewesen. Sie war völlig unbegabt, was das Frisieren anging, und meist verabschiedeten sich die Haarnadeln nach wenigen Stunden auf Nimmerwiedersehen. Matilda konnte gar nicht so schnell neue Haarnadeln kaufen, wie sie welche verlor.

Es klopfte.

»Herein.«

Sie schaute zur Tür. Dort stand Laura Ancroft, die ein Buch in der Hand hielt und Matilda fragend ansah.

»Komm doch herein, Laura. Setz dich«, sagte sie freundlich und deutete auf den Besucherstuhl.

Die Siebzehnjährige ließ sich auf dem Stuhl nieder, das Buch fest an den Körper gepresst. Als ein Geräusch im Flur erklang, drehte sie sich nervös zur Tür.

»Was ist denn los?«, fragte Matilda.

Laura war ein selbstbewusstes Mädchen, temperamentvoll und eigensinnig. Matilda schätzte diese Eigenschaften, auch wenn sie Laura gelegentlich zügeln musste. Heute jedoch wirkte sie seltsam schüchtern.

»Hätten Sie einen Augenblick Zeit für mich, Miss Gray? Ich … ich kann aber auch später wiederkommen.«

»Nein, bleib nur.« Matilda klappte das Heft zu, das sie gerade korrigiert hatte, und lehnte sich zurück. »Was hast du auf dem Herzen? Deine Noten sind sehr gut, falls du dir deswegen Sorgen machst.«

Laura schüttelte den Kopf und sah auf ihren Schoß. Die goldbraunen Haare wurden am Hinterkopf mit einer Schleife zusammengehalten, und sie hatte ihr dunkelblaues Schulkleid mit dem angedeuteten Matrosenkragen an. Solange die Schülerinnen Riverview besuchten, trugen sie diese Kleider, die bei den jüngeren knapp unter dem Knie, bei den älteren am Knöchel endeten. Damit wurde der Abstand zu den Lehrerinnen gewahrt.

Eigentlich war Laura zu alt für Frisur und Kleid, dachte Matilda und fragte sich, woher dieser Gedanke plötzlich gekommen war.

»Bald sind Ferien. Aber vorher wollte ich unbedingt mit Ihnen sprechen.« Sie schluckte und suchte nach Worten.

»Nur zu, Laura«, sagte Matilda ermutigend.

Das Mädchen holte tief Luft und reichte ihr das Buch über den Schreibtisch hinweg. »Das habe ich vor einer Weile in einem Antiquariat entdeckt und lese jeden Tag darin. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Aber ich habe niemanden, mit dem ich darüber sprechen kann.«

Matilda warf einen Blick auf den schmalen Band. Es handelte sich um Long Ago von Michael Field. Oh. Ein solches Buch hatte in der Schule nichts zu suchen. Ihr lag eine Warnung auf der Zunge, doch dann besann sie sich. Laura vertraute ihr, sie würde das Mädchen erst einmal anhören. »Du hast es also gelesen?«

»Ja. Kennen Sie es, Miss Gray?«

»Ein wenig«, erwiderte Matilda vorsichtig.

Laura machte keine Anstalten, das Buch wieder an sich zu nehmen. »Und wie hat es Ihnen gefallen?«, fragte sie eifrig und schob eine Haarsträhne nach hinten, die aus der Schleife gerutscht war.

Matilda legte sich die Antwort sorgsam zurecht. »Der Umgang mit den antiken Themen ist geschickt, die Sprache souverän, wenngleich man die literarischen Vorbilder …«

»Das meine ich nicht. Was ist mit der Leidenschaft, haben Sie die nicht gespürt?«, platzte das Mädchen heraus und schlug sogleich die Hand vor den Mund. »Verzeihung, das war ungehörig.« Sie griff nach dem Buch und fuhr sanft mit der Hand darüber. Die Geste wirkte seltsam anrührend.

Matilda schaute Laura eindringlich an. »Ich glaube ehrlich, dass du für dieses Buch zu jung bist.« Sie spürte, wie ihr unter der luftigen Bluse der Schweiß ausbrach, und das lag nicht nur an der Sonnenwärme. Es war eine heikle Situation für eine junge Lehrerin.

In dem Mädchen schien ein Damm zu brechen. »Miss Gray, Sie sind die Einzige, mit der ich darüber sprechen kann, und ich vertraue Ihnen, und – Sie wissen doch, wer sich hinter Michael Field verbirgt, nicht wahr?«

Matilda seufzte leise. »Ja. Zwei Frauen, Tante und Nichte, die gemeinsam schreiben. Bekannt mit Literaten wie Mr. Browning, Mr. Pater und … Mr. Wilde.« Sie zögerte bei dem Namen, da der Skandal erst fünf Jahre her und Wilde noch immer gesellschaftlich geächtet war. Die Field-Gedichte waren nicht verboten, und der große Robert Browning hatte die Dichterinnen als seine »teuren Griechinnen« bezeichnet, aber das hieß noch lange nicht, dass dieses Werk in die Hände einer Siebzehnjährigen gehörte.

»Sie schreiben über Frauen«, sagte Laura nachdrücklich. Ihr Hals war rot gefleckt, ihre Brust hob und senkte sich heftig.

Matilda überlegte sich ihre nächsten Worte abermals sorgsam. »Ich weiß. Leider in einer Weise, die für unsere Schülerinnen nicht geeignet ist.«

»Aber es geht um Liebe, das kann doch nicht falsch sein!«, stieß Laura mit beinahe verzweifelter Hoffnung hervor. »Fast alle Dichter schreiben über die Liebe und werden dafür gepriesen. Wir lesen Keats und Shakespeare im Unterricht.«

»Ich kann verstehen, dass du neugierig bist, und werde dir nicht vorschreiben, was du außerhalb der Schule lesen sollst. Aber hier im Haus kann ich das Buch nicht dulden.«

Lauras Augen wirkten beinahe fiebrig, sie schien den Einwand nicht gehört zu haben. »Wissen Sie, welches mein Lieblingsgedicht ist, Miss Gray? Ich kenne es auswendig:

Atthis, mein Liebling, du streiftest dort

Wenige Schritt zum Grasbett, allein

Da erbebte von Furcht und Feuer

Mein Herz: du könnt’st gestorben sein;

Es ward so still an unsrem Weiher,

Als zög man eine Seele fort.

Mein Liebling! Unser beider Leben

Soll niemals trennen Tag noch Nacht;

Auf selbem Bett die Früh’ uns schaut,

Darfst mir nicht fliehen unbedacht

Für einen Atemzug; mich graut,

In diesem sei der Tod gegeben.«

Als Matilda sie ansah, erkannte sie, wie es um Laura stand. Ihre Augen waren weit geöffnet, an ihrem Hals bebte ein zarter Puls. Sie war nicht nur von dem Gedicht bezaubert, sie fand sich darin wieder. Bevor Matilda etwas sagen konnte, sprach das Mädchen weiter. »Und dieses mag ich auch besonders gern:

Ich lieb sie mit den Zeiten, mit dem Wind,

Wie Sterne preisen, wie Anemonen

Heimlich nach der Sonne beben, Bienen

Um off’ne Blüten summen: vollkommen sind

Alle Formen meiner Liebe, und sie find

In jeder nur sich selbst als Ziel …«

»Laura, bitte.« Matildas Herz schlug heftig, und sie wünschte sich Zeit zum Nachdenken, doch die blieb ihr nicht. Hier saß eine Schülerin und zitierte Gedichte, die von der Liebe zwischen Frauen handelten.

»Miss Gray, bitte, ich verspreche, ich bin gleich fertig. Aber eins muss ich Ihnen noch sagen. Ich kann nicht in die Ferien fahren, ohne es Ihnen gesagt zu haben.« Sie schluckte. »Es kommt mir vor, als stammten diese Gedichte von mir, als spräche Michael Field mit meiner Stimme.«

Im Zimmer war es so still, dass man ihrer beider Atem hören konnte. Laura senkte den Kopf, bevor sie fortfuhr: »Als hätte er die Gedichte für Sie geschrieben.« Dann blickte sie auf und schaute Matilda stolz, beinahe trotzig an.

Matilda musste behutsam vorgehen. Ein achtloses Wort konnte für immer etwas in Laura zerstören. »Ich fühle mich geehrt, dass du dich mir anvertraust. Und es sind wunderbare Gedichte, die ich nie verurteilen würde. Aber ich bin deine Lehrerin, und sie gehören nicht in eine Schule.«

Endlich schien die Warnung zu Laura durchzudringen. Sie schluckte und suchte nach Worten. »Sind Sie jetzt böse auf mich?« Auf einmal sah sie beinahe kindlich aus.

»Nein«, sagte Matilda rasch. »Aber du hast selbst gesagt, dass du die Gedichte niemandem hier zeigen kannst. Und das ist richtig. Die meisten Mädchen würden sie nicht verstehen. Meine Kolleginnen würden nicht gutheißen, dass du sie liest. Du solltest sie als einen Schatz betrachten, der nur dir gehört, der etwas Besonderes ist, der dir Freude schenkt, wenn es dir schlecht geht, und gute Tage noch heller macht.«

»Aber ich …« Laura beugte sich abrupt vor und legte ihre Hand auf Matildas. »Ich habe beim Lesen nur an Sie gedacht.«

Ihre Haut war warm und ein wenig feucht, und Matilda war einen Moment lang wie betäubt. Dann stand sie auf, ging um den Schreibtisch herum und berührte Lauras Schulter. Sie wusste, sie begab sich auf dünnes Eis. Schon der leiseste Anschein von Freundschaft zwischen Lehrerin und Schülerin war verboten und konnte zur Entlassung führen – und Laura wollte mehr als Freundschaft.

»Das kann dir niemand nehmen«, sagte Matilda behutsam. »Du solltest das Gefühl genießen, wenn es dich glücklich macht. Es war mutig, mir deine Gefühle zu gestehen. Und irgendwann wirst du einem Menschen begegnen, der sie so erwidern kann, wie du es verdienst.«

Es war schwer, einen Menschen abzuweisen, der einem sein Herz geöffnet hatte. Sie verdrängte das Bild ihres Bruders, das flüchtig in ihr aufstieg. Daran wollte sie jetzt nicht denken.

Laura schaute sie fragend an. »Sie verurteilen mich nicht?«

Matilda spürte einen Stich. »Ganz im Gegenteil. Ich setze große Hoffnungen in dich. Du bist eine begabte Schülerin und ein bemerkenswerter Mensch. Ich wünsche mir, dass du die Schule erfolgreich abschließt.« Sie hob die Hand, als Laura etwas entgegnen wollte. »Lass mich bitte ausreden. Ein neues Jahrhundert hat begonnen. Ich bin mir sicher, dass sich für Frauen neue Wege auftun. Vielleicht kannst du ein Studium beginnen oder einen Beruf ergreifen, den du dir wünschst. Ich werde dich als Lehrerin begleiten und dir helfen, soweit es in meiner Macht steht. Das verspreche ich dir.«

Ihre Blicke trafen sich, und Matilda sah, wie Laura mit sich rang. Ihr Gesicht spiegelte Enttäuschung, Trotz, Resignation und schließlich Würde. Matilda trat zurück, und Laura erhob sich, das Buch in der Hand.

»Ich danke Ihnen, Miss Gray. Für alles.«

Dann verschwand sie so leise, wie sie gekommen war.

3

September 1900

Matilda war in die äußerste Ecke des Gartens gegangen, sie musste wenigstens ein paar Minuten ungestört sein. Sie hatte den Sommer über mehr als einmal an Laura gedacht und sich gefragt, ob diese wohl gekränkt war oder sich mit Büchern und Freundinnen ablenkte und die Zurückweisung überwunden hatte.

Der Vorfall hatte sie an ihren Bruder Harry erinnert. Als er neunzehn war, hatte er sich in die Tochter eines Geistlichen verliebt, mit dem ihre Eltern befreundet gewesen waren. Er kannte Enid seit Kindertagen, doch nun war auf einmal mehr daraus geworden. Und weil Enid ihm so vertraut war, hatte Harry nicht gezögert und ihr seine Liebe gestanden, ohne auch nur im Traum damit zu rechnen, sie könnte nicht erwidert werden. Er hatte gehofft, die gleichen Gefühle in ihr zu wecken, bis sie ihm gestand, dass sie sich in einen Theologiestudenten verliebt hatte, mit dem ihr Vater sie bekannt gemacht hatte. Sie und Harry würden immer Freunde bleiben, aber es würde niemals mehr sein.

In den Monaten danach hatte Matilda aufrichtig um ihren Bruder gefürchtet. Er ging kaum noch aus dem Haus, zog sich zurück, trank zu viel und zeigte keinerlei Interesse daran, einen Beruf zu erlernen oder ein Studium zu beginnen. Jeden Tag stand sie vor seiner Zimmertür, sprach ihm Mut zu und bot ihm ihre Hilfe an, doch vergeblich. Bis sie schließlich die Beherrschung verlor und ihn anschrie: »Was soll denn aus mir werden? Interessierst du dich denn gar nicht mehr für mich, Harry? Es gibt noch eine Welt hier draußen und Menschen, die dich brauchen.«

Eine halbe Stunde später verließ er das Zimmer und meldete sich wenig später zur Armee. Matilda hatte sich oft gefragt, ob es falsch gewesen war, so laut zu werden, doch ihr Bruder hatte über ihre Bedenken gelacht.

»Du kennst mich, Tilda. Früher oder später hätte mich ohnehin die Abenteuerlust gepackt.«

Doch sie hatte nie die Zeit vergessen, in der ihr Bruder vor Kummer nicht er selbst gewesen war.

Und so stand sie nun hier im spätsommerlich farbenfrohen Garten und fragte sich, ob Laura wegen ihr nicht mehr zurückgekommen war. Sie hatte sich bemüht, einfühlsam zu sein, das Mädchen nicht zu verletzen, doch enttäuschte Liebe tat nun einmal weh. Vielleicht war es auch Scham, der Lehrerin gegenüberzutreten, der sie sich offenbart hatte.

Matilda machte sich abrupt auf den Weg in Richtung Schulgebäude. Sie musste so schnell wie möglich Klarheit haben.

»Miss Gray, ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Sommer«, sagte die Schulleiterin. Miss Haddon war Ende fünfzig und trug das silbergraue Haar noch nicht im neuen, weicheren Stil, der dem Gesicht schmeichelte, sondern straff hochgekämmt und auf dem Kopf zu einem Knoten gesteckt. Die Frisur und das dunkle Kleid mit dem hohen Kragen wirkten streng und waren wohl auch eine Art Rüstung. Eine Mädchenschule zu leiten und sich gegenüber Schülerinnen, Eltern und Kuratorium zu behaupten war keine leichte Aufgabe.

Matilda nahm auf dem angebotenen Stuhl Platz. »Danke, sehr angenehm, Miss Haddon. Ich möchte mich nach Laura Ancroft erkundigen. Dass sie nicht wieder in die Schule gekommen ist, hat mich überrascht.«

Miss Haddon verschränkte die Hände auf der Tischplatte. Sie waren noch hell und glatt, ohne Anzeichen des Alters. Als hätte man ihr die Hände einer jungen Frau angenäht, dachte Matilda flüchtig und schalt sich sofort für den Gedanken, der nach einer Schauergeschichte von E. T. A. Hoffmann klang.

»Lauras Vormund, Mr. Charles Easterbrook, war vorhin hier und hat mir von seinen Reiseplänen berichtet. Er erklärte, Laura sei den Sommer über sehr krank gewesen, sie habe sich einen hartnäckigen Husten zugezogen. Die Ärzte hätten ihr angesichts der angegriffenen Gesundheit empfohlen, den Herbst und Winter in einem milderen Klima zu verbringen. Daher planen sie eine Reise in die Mittelmeerländer – Griechenland und Italien.«

Matildas erstes Gefühl war Sorge. Ein verschleppter Husten konnte sich auf die Lunge schlagen, damit war nicht zu spaßen. »Das kann ich gut verstehen. Ich nehme an, sie wird in die Schule zurückkehren, sobald sie sich erholt hat.«

»Sie wird auf dieser Reise viele neue Erfahrungen sammeln. Da kann es geschehen, dass ein junges Mädchen die Schule aus den Augen verliert«, erwiderte Miss Haddon unverbindlich.

»Aber doch nicht Laura«, warf Matilda ein. »Sie ist so ehrgeizig und fleißig.«

»Sie kann das Schuljahr selbstverständlich nachholen, wenngleich ich mir vorstellen könnte, dass sie nach der Reise nicht hierher zurückkommen wird. Vielleicht wäre es auch zu anstrengend für sie.«

Matilda kam sich vor wie in einem bizarren Traum. Vor zwei Monaten hatte sie ein gesundes, wissensdurstiges Mädchen in die Ferien verabschiedet, und nun sprach Miss Haddon von Laura wie von einer Invalidin.

»Wir alle wissen, dass nur besonders ehrgeizige Mädchen, deren Eltern dies unterstützen, eine akademische Tätigkeit anstreben. Die meisten erhalten bei uns eine umfassende Allgemeinbildung, die sie auf ihre Rolle in der Gesellschaft vorbereitet. Ihre Rolle als Ehefrau, Gastgeberin und Stütze ihres Mannes. Das ist es, was die Familien von uns erwarten.«

Laura fällt doch in die erste Kategorie, dachte Matilda beinahe verzweifelt, sie ist besonders ehrgeizig und voller Neugier auf die Zukunft und will lernen. Sie spürte, wie neue Zweifel in ihr keimten.

Wenn Laura nun doch nicht wegen ihrer Krankheit die Schule verlassen hatte, sondern wegen ihrer letzten Begegnung mit Matilda? Weil sie sich für ihr Geständnis schämte und fürchtete, ihrer Lehrerin gegenüberzutreten? Weil sie argwöhnte, dass Matilda ihr Versprechen gebrochen und Lauras Sehnsüchte offenbart hatte?

»Miss Gray, ist Ihnen nicht wohl?«, fragte die Schulleiterin besorgt. »Sie sehen so blass aus.«

Matilda zwang sich, ruhig zu atmen. »Danke, es geht schon.«

»Seien Sie nicht enttäuscht. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man in manche Schülerinnen große Hoffnungen setzt, die sich dann als trügerisch erweisen. Nur wenige Mädchen und Frauen sind bereit oder dafür geschaffen, ein Leben wie wir zu führen. Für die meisten sind Ehe und Mutterschaft nach wie vor erstrebenswerte Ziele. Jedenfalls ist dieser Mr. Easterbrook ein sehr charmanter, umgänglicher Mann, der seine Pflichten Laura gegenüber ernst zu nehmen scheint.«

In den Worten der Schulleiterin schwang ein Unterton mit, der Matilda aufblicken ließ. Sie erinnerte sich an den Herrn, den sie vorhin im Flur gesehen hatte. Den präraffaelitischen Heiligen. Ehe und Mutterschaft, erstrebenswerte Ziele. Beinahe hätte sie etwas Unbedachtes gesagt.

Sie räusperte sich und stand auf. »Danke für Ihre Geduld. Wir werden sicher bei Gelegenheit von Laura oder ihrem Vormund hören.«

»Gewiss, Miss Gray. Und setzen Sie die gute Arbeit mit den Mädchen fort.«

Matilda wollte schon die Tür öffnen, als die Schulleiterin hinter ihrem Rücken weitersprach. »Ich schätze Sie sehr. Sie sind eine ausgezeichnete Lehrerin, aber auch die jüngste im Kollegium. Daher erinnere ich Sie noch einmal daran, dass wir keine freundschaftlichen Beziehungen zu den Mädchen pflegen dürfen und alle gleich behandeln müssen. Sie brauchen Verständnis und Unterstützung, aber stets mit respektvoller Distanz.«

Draußen im Flur lehnte Matilda sich an die Wand und atmete tief durch. Die letzten Worte waren einer Zurechtweisung sehr nahegekommen. Sie musste vorsichtig sein, um nicht den Eindruck zu erwecken, sie hätte Lieblinge unter den Schülerinnen. Der Vormund hatte Miss Haddon überzeugt, und sie erwartete, dass Matilda es akzeptierte. Natürlich war es möglich, dass Laura krank geworden war, aber vorschnell davon auszugehen, dass sie nicht wiederkommen würde … Dazu Miss Haddons überraschend sanfter Blick, als sie über Mr. Easterbrook sprach …

Wieder dachte Matilda an das Gespräch mit Laura. Hatte sie ihr irgendeinen Anlass gegeben, ihr zu misstrauen? Hatte sie etwas in Lauras Verhalten übersehen? Hätte sie etwas besser machen können und wenn ja, was?

Doch sie drehte sich mit ihren Gedanken im Kreis. Und konnte mit niemandem darüber sprechen.

Liebste Tilda,

endlich finde ich Zeit, Dir diese kurzen Zeilen zu schicken. Sei unbesorgt, wenn Du den Stempel des Lazaretts siehst; es war lediglich ein Steckschuss im Oberarm. Er wird wieder vollständig heilen, sagen die Ärzte.

Es ist nur eine Frage von Tagen, bis ich entlassen werde. Wenn Du diesen Brief erhältst, stehe ich womöglich schon wieder im Feld. Wir alle hoffen, dass der Sieg nach dem Fall von Johannesburg und Pretoria bald unser ist.

Dieses Land ist wunderschön, und es lohnt sich, dafür zu kämpfen, aber ich gestehe, mir fehlt London. Ich sehne mich nach Nebel und feuchtem Laub auf den Straßen und einem warmen Feuer im Kamin. Und ich kann es nicht erwarten, meine Tilda wieder in die Arme zu schließen.

Dein Dich liebender Bruder Harry

»Und?«, fragte Mrs. Westlake besorgt, als Matilda den Brief in den Schoß sinken ließ. »Haben Sie schlechte Neuigkeiten erhalten? Ich will Sie nicht drängen, aber Sie gefallen mir nicht, seit Sie heute nach Hause gekommen sind.«

»Harry wurde verletzt. Angeblich ist es harmlos, aber sie dürfen nicht schreiben, wo sie sind und was wirklich passiert. Vielleicht ist er schon wieder an der Front.« Sie sah, wie Mrs. Westlake zögerte.

»Was ist denn?«

»Ach, Sie kennen meine Einstellung zum Krieg. Solange Kämpfe auf dem Papier und aus romantischen oder edlen Beweggründen ausgefochten werden, bin ich von Herzen dafür. Dann schwinge ich meine Feder wie ein Schwert oder steche mit ihr zu wie mit einem Dolch. Wie Sie wissen, ist Adela eine ausgezeichnete Fechterin, das hat sie in ›Die goldenen Türme von Salamanca‹ unter Beweis gestellt. Aber Menschen für Macht und Gold in den Tod zu schicken halte ich für verwerflich.« Dann wurde sie rot. »Meine liebe Matilda, Sie müssen einer alten Frau verzeihen« – Mrs. Westlake war sechsundfünfzig –, »aber mein Mund läuft meinem Verstand gelegentlich davon. Wenn Ihr Bruder Ihnen selbst Mut zuspricht, geht es ihm ganz sicher besser.«

Matilda nickte, spürte aber Mrs. Westlakes forschenden Blick.

»Mir scheint, es gibt noch etwas anderes, das Sie bedrückt. Möchten Sie mir davon erzählen?«

Während Matilda berichtete, was sich in der Schule zugetragen hatte, wurde ihr bewusst, wie die Geschichte auf Außenstehende wirken musste. Ein Mädchen von siebzehn Jahren, nicht unvermögend, mit guten Heiratsaussichten und angegriffener Gesundheit, das eine Bildungsreise ans Mittelmeer unternahm, statt weiter die Schule zu besuchen – das war nicht ungewöhnlich. Mr. Easterbrook hatte Miss Haddon mit seiner Fürsorglichkeit überzeugt, und Matilda musste zugeben, dass sich von außen alles wunderbar zusammenfügte.

Dass Laura keineswegs von einem Leben als Ehefrau und Mutter träumte, sondern von Bildung und Reisen und einer Freundin, die das alles mit ihr teilte, war ein Geheimnis, das Matilda nicht verraten durfte.

»Matilda, meine Liebe …« Mrs. Westlake räusperte sich. Matilda hatte nicht gemerkt, dass sie mit der Geschichte zu Ende war, und einfach auf ihren Schoß gestarrt.

»Es tut mir leid. Es ist immer bedauerlich, wenn ein begabtes Mädchen nicht mehr zur Schule gehen mag …«

»So ist es nicht«, platzte Matilda heraus und schlug die Hand vor den Mund, als könnte sie auf diese Weise die heftigen Worte wieder einfangen. »Verzeihen Sie, Mrs. Westlake, das war unhöflich.«

Die Schriftstellerin winkte ab. »Schon gut. Ich merke, Sie hängen sehr an dieser Schülerin.«

»Es ist schwer zu erklären, aber Laura ist etwas Besonderes. Sie interessiert sich für so viele Dinge, ist gut in Englisch, Naturwissenschaften und Mathematik, was selten vorkommt. Sie hat von einem Studium in Oxford gesprochen … Kurz vor den Ferien haben wir uns darüber unterhalten.«

Doch sie hörte nur Lauras Stimme, die das Gedicht aufsagte: Ich lieb sie mit den Zeiten, mit dem Wind …

»Allmählich mache ich mir Sorgen«, riss Mrs. Westlake sie erneut aus ihren Gedanken. »So kenne ich Sie gar nicht. Wenn es Ihnen Kummer bereitet, dass dieses Mädchen nicht mehr in die Schule kommt, sollten Sie mit jemandem sprechen, der sie gut kennt. Sie hat doch sicher Freundinnen.«

Matilda dachte daran, wie gelassen Ruth, Mary und die anderen über Lauras Reise gesprochen hatten. Es war, als ob niemand außer ihr das Mädchen wirklich vermisste, und das schmerzte. »Anne Ormond-Blythe«, sagte sie dann laut, »sie ist Lauras beste Freundin. Ich habe sie heute gar nicht gesehen.«

»Dann reden Sie morgen mit ihr«, sagte Mrs. Westlake. »Vielleicht kann sie Ihnen mehr sagen. Immerhin wissen Sie, dass Laura in guten Händen ist und auf ihre Gesundheit achtet. Sie kommt gewiss bald wieder.«

Matilda wünschte sich, sie könnte diese Zuversicht teilen, wollte Mrs. Westlake aber nicht weiter damit behelligen und wechselte das Thema. »Was machen die Bären?«

Die Schriftstellerin klatschte in die Hände. »Oh, sie machen Fortschritte, ganz gewaltige Fortschritte. Möchten Sie einen Port? Dann erzähle ich Ihnen davon.«

Matilda ließ sich gern ablenken und holte Karaffe und Gläser. Nachdem sie ihnen beiden eingeschenkt hatte, setzte sie sich wieder in den Sessel. »Ich bin ganz Ohr.«

»Ich war im Naturhistorischen Museum und habe mir die ausgestopften Bären angesehen«, verkündete die Schriftstellerin und nahm einen ordentlichen Schluck Portwein. »Die sind eindrucksvoll. Der Grizzlybär steht auf den Hinterbeinen in seiner Vitrine, die Pranken erhoben, die Zähne gefletscht – nicht, dass es in Europa Grizzlybären gäbe, aber jetzt weiß ich, wie das Tier aussehen muss, dem Adela sich gegenübersieht. Ich habe nämlich gelernt, dass Grizzlys mit den Braunbären verwandt sind, also wird sie auf einen besonders großen Braunbären stoßen. Sie glauben gar nicht, wie sehr es der Fantasie auf die Sprünge hilft, wenn man ein solches Tier mit eigenen Augen sieht, selbst wenn es mit Holzwolle gefüllt und zugenäht ist wie ein Truthahn.«

Matilda spürte, wie sich die Anspannung des Tages legte. Dafür gab es kein besseres Mittel als einen guten Port und Mrs. Westlake, die von ihrer Arbeit berichtete.

»Nur als ich mein Maßband hervorgeholt habe, um die Länge der Krallen zu messen, hat mich der Aufseher seltsam angeschaut«, fuhr sie unbekümmert fort und hob ihr Glas. »Ich trinke auf Sie, Matilda, der ich meinen Bären zu verdanken habe. Ich werde eine Widmung nur für Sie schreiben.«

Am nächsten Morgen erwachte Matilda zuversichtlich. Heute würde sie mit Anne Ormond-Blythe sprechen und sich erkundigen, ob sie etwas über Lauras Krankheit und die Reise wusste.

Es war abermals ein warmer Tag. Matilda hielt das Gesicht in die Sonne, als sie in Richmond den Bahnhof verließ. Obwohl dies ein Vorort war, drängten sich auch hier Pferdefuhrwerke und Radfahrer auf den Straßen, Botenjungen zogen Karren hinter sich her, Verkäufer priesen lautstark ihre Waren an. Allerdings roch es anders als in der Innenstadt – mehr nach Kaffee und den Zigarren der Männer, die vor dem benachbarten Station Hotel rauchten, weniger nach Staub und Kohlenrauch. Vor dem Tuchladen zwei Häuser weiter wurden Stoffballen ausgeladen, der Besitzer erteilte dem Lehrjungen, der einen Ballen hatte fallen lassen, lautstark einen Rüffel.

Matilda staunte immer wieder, wie nah Geschäftigkeit und Ruhe beieinanderlagen. Man musste nicht weit gehen – bis Richmond Green oder in den Old Deer Park, an die Themse hinunter oder nach Kew Gardens –, und schon war man von der Natur umgeben. Sie liebte die Vielfalt Londons und hätte in keiner anderen Stadt leben wollen.

Ein Schrei weckte sie aus ihrer Versunkenheit. Auf der anderen Straßenseite stand eine Frau mit einem großen Pappschild und setzte sich gegen einen Mann zur Wehr, der ihr das Schild entreißen wollte. Sie war klein und zierlich, trug ein einfaches, dunkelblaues Kostüm und einen Hut, der mit einem kleinen Blumenstrauß geschmückt war.

»Lassen Sie los!«, rief die Frau, »das gehört mir! Es ist mein gutes Recht, hier zu stehen!«

»Ihr gutes Recht?« Der Mann hieb mit der Faust gegen das Schild. »Das ist Verrat an unseren Soldaten! Was fällt Ihnen ein, diese Männer zu beleidigen, mein Junge ist vor Johannesburg gefallen …«

Die meisten Passanten achteten nicht auf die beiden, doch Matilda ging spontan hinüber. Auf dem Schild las sie:

Neu gegründet:

SOUTH AFRICAN WOMEN

AND CHILDREN DISTRESS FUND

Wir sammeln Geld, um Burenfamilien zu helfen, die all ihr Hab und Gut in diesem Krieg verloren haben. Frauen und Kinder befinden sich in größter Not. Bitte tragen Sie dazu bei, das Leid dieser Familien zu lindern. Nicht nur unsere eigenen Männer sind in Gefahr, auch die Familien des Gegners sind Opfer des Krieges.

»Warum sollten wir den Gegnern helfen?«, empörte sich der Mann. »Dafür ist mein Junge nicht gestorben.« Er riss so fest an dem Schild, dass es der Frau zu entgleiten drohte. Sie schaute sich Hilfe suchend um.

»Sir, lassen Sie das Schild los.«

Der Mann schoss herum. Matilda registrierte sein gerötetes Gesicht mit den geplatzten Äderchen, die trüben Augen, die gelb verfärbten Finger der linken Hand, die am Schild riss, den Trauerflor am Ärmel. Es war noch früh am Morgen, und doch roch sie den Alkohol in seinem Atem.

»Mischen Sie sich nicht ein! Na los, gehen Sie weiter. Müsst ihr Weiber euch zusammenrotten? Wo ist nur der Anstand geblieben? Als mein Junge starb, haben in London Frauen gegen unsere eigene Armee demonstriert. Das ist Verrat!«

Matilda zwang sich, ruhig zu sprechen. »Sir, ich kann Ihre Trauer verstehen. Sie haben einen schweren Verlust erlitten. Aber diese Dame will sicher nur Gutes bewirken. Fast alle Soldaten dort unten haben Familien, nicht nur unsere eigenen Männer. Und die Frauen und Kinder der Buren leiden offenkundig bittere Not. Stellen Sie sich vor, Ihre eigene Familie wäre in dieser Lage.« Sie schaute den Mann prüfend an. Seine Unterlippe zitterte, und er presste den Mund zusammen, um es zu verbergen. »Mein eigener Bruder kämpft in Transvaal. Und ich bin mir sicher, er könnte weder ruhig schlafen noch seine Pflicht als Soldat tun, wenn er seine Familie in Not glaubte.«

Der Mann schaute zwischen den Frauen hin und her. Dann ließ er das Schild abrupt los und tauchte wortlos in der Menge unter.

»Ich danke Ihnen«, sagte die Frau. »Er kam so plötzlich … und er wirkte gefährlich.«

Matilda nickte. »Ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Wir dürfen auch im Krieg die Menschlichkeit nicht vergessen.«

Nach dieser Begegnung hatte der Morgen eine andere Färbung angenommen, er schien ein wenig dunkler, mit etwas Wehmut versetzt. Umso dankbarer war sie für den Brief, den sie am Tag zuvor erhalten und in das Album mit den Familienfotografien gelegt hatte, in dem sie alles aufbewahrte, das kostbar und unersetzlich war.

Der Vormittag verging rasch. Eine Unterrichtsstunde folgte auf die andere, neue Bücher wurden ausgegeben, Arbeitspläne für das Schuljahr diktiert, und es gab eine Besprechung mit dem Kollegium. Wie sich herausstellte, war das Klavier im Musikraum völlig verstimmt und eine Wand im Kunstsaal feucht geworden und von Schimmel befallen. Die Köchin war am Vorabend auf der Treppe ausgerutscht und hatte sich das Handgelenk gebrochen, sodass man dringend Ersatz benötigte.

Am Nachmittag während der Stillarbeit fand Matilda endlich Zeit, Anne Ormond-Blythe in ihrem Zimmer aufzusuchen. Sie klopfte und öffnete nach einem leisen »Herein« die Tür.

Anne erhob sich sofort und strich unwillkürlich den Rock glatt. Sie war ein hübsches Mädchen mit hellblondem, fast weißem Haar und blauen Augen, die manchmal in Fernen zu blicken schienen, die niemand außer ihr sah. Sie wirkte immer ein wenig zerzaust – die Haare rutschten aus dem Zopf, die Brille saß meist schief, ihre Hände waren mit Tinte verschmiert. Anne war eine begabte Violinistin, und Matilda hoffte sehr, dass sie nach dem Schulabschluss ein Konservatorium besuchen würde.

»Miss Gray …«, sagte Anne etwas schüchtern. »Nehmen Sie bitte Platz.« Sie zeigte auf einen einfachen Holzstuhl, der neben dem Schreibtisch stand, und blieb selbst stehen, während Matilda sich setzte.

»Bitte.« Matilda gab ihr ein Zeichen, ebenfalls Platz zu nehmen. Sie schaute sich im Zimmer um. Auf der rechten Seite des Raumes standen an der Wand zwei weiß bezogene Betten. Auf einem lag ein offener Geigenkasten, das andere wirkte unberührt.

Ein großer Schreibtisch vor dem Fenster, der zwei Schülerinnen Platz bot, links davor ein Kleiderschrank. Die Bilder und Ansichtskarten an den weiß getünchten Wänden waren die einzigen Farbflecke im Raum.

»Es geht um Laura.«

Anne wandte leicht den Kopf zur Seite, als wollte sie Matildas Blick ausweichen. »Ich bedauere sehr, dass sie nicht mehr in der Schule ist. Wir haben uns gut verstanden.« Die Worte klangen seltsam endgültig. Matilda bemerkte, dass Anne nervös an einem Faden zupfte, der aus dem Saum ihres Ärmels hing.

»Ich bedauere es auch. Sie ist eine sehr begabte Schülerin, und ich hoffe, dass sie zurückkommt.«

Anne nickte nur.

»Laura wirkte am Ende des Schuljahrs noch völlig gesund. Daher war ich sehr betroffen, als ich von ihrer Krankheit hörte. Ist sie plötzlich aufgetreten?«

»Wir haben uns seit Juni nicht gesehen«, erwiderte Anne bedrückt.

»Weißt du, wo sie den Sommer verbracht hat?«

Anne zögerte, bevor sie antwortete. »Sie war wohl bei ihrem Vormund.«

»Habt ihr euch denn geschrieben? Ich möchte nur wissen, wie es Laura geht und wann wir mit ihrer Rückkehr rechnen können.«

Anne stand auf und sah aus dem Fenster, wobei sie Matilda den Rücken kehrte. »In den ersten beiden Wochen hat sie mir dreimal geschrieben, über Bücher und Konzerte und die Hündin der Nachbarn, die Junge bekommen hatte. Sie hatte auch eine Zeichnung dazugelegt.« Anne öffnete eine Schublade und holte ein Blatt heraus, das eine Cockerspaniel-Hündin zeigte, die mit ihren drei Welpen eingerollt in einem Korb lag. »Danach kam zwei Wochen gar nichts. Anfang August erhielt ich einen ziemlich kurzen Brief, in dem Laura von einem starken Husten berichtete, der sich einfach nicht bessern wollte. Sie müsse womöglich mit ihrem Vormund in ein wärmeres Klima reisen, auch wenn sie dann nicht pünktlich zum Schuljahresbeginn zurück sei.«

»Und danach hast du nichts mehr von ihr gehört?«

Anne schüttelte den Kopf. »Gestern war ihr Vormund hier. Es hat sich schnell herumgesprochen, dass er Laura zumindest bis zum Jahresende bei Miss Haddon entschuldigt hat.«

Matilda wartete darauf, dass Anne sich umdrehte, doch diese blieb am Fenster stehen. Das erschien Matilda ungewöhnlich, denn Anna war ein eher schüchternes Mädchen, das den Lehrerinnen stets respektvoll begegnete.

»Gut.« Matilda stand auf. »Dann will ich dich nicht länger von deinen Aufgaben abhalten. Hoffen wir, dass Laura sich bald erholt.«

Nun endlich wandte Anne sich um, und Matilda las etwas in ihrem Gesicht, das an Erleichterung grenzte. Sie warf einen Blick auf das unberührte Bett.

»Hättest du gern eine neue Mitbewohnerin? Ich glaube zwar, dass alle Mädchen untergebracht sind, aber ich könnte einmal nachfragen.«

»Danke, nein«, stieß Anne rasch hervor, »es … es käme mir vor, als würde ich Laura hintergehen. Klingt das albern?«

Matilda bemerkte, wie Anne die Röte vom Hals ins Gesicht kroch, und schüttelte den Kopf. »Nein, ich verstehe dich gut. Du kannst fürs Erste allein hier wohnen.« Sie nickte ihr noch einmal zu und verließ das Zimmer.

Auf dem Weg zum Bahnhof nahm Matilda ihre Umgebung kaum wahr. Sie hörte den Lärm der Straßen wie ein fernes Rauschen, das sie nichts anging.

Anne hatte sich seltsam verhalten. Es schien, als sei sie gekränkt, weil ihre Freundin die Ferien nicht bei ihr verbracht hatte. War etwas zwischen den Mädchen vorgefallen? Oder war Anne einfach nur besorgt wegen Laura? Jedenfalls schien sie die Einzige in der ganzen Schule zu sein, die Laura aufrichtig vermisste.