Der Dämon in mir! - Johanna Fischer - E-Book

Der Dämon in mir! E-Book

Johanna Fischer

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Beschreibung

J. erfährt als junge Frau mehrere Krampfanfälle, die die Ärzte zunächst als Epilepsie fehldiagnostizieren. Es folgen verstörende Albträume und Gefühlsausbrüche, bis sie eines Tages im Krankenhaus mit einer Amnesie erwacht. Da ist nichts als eine schwarze Leere in ihr! Die Personen um sie herum kann sie nicht einordnen. Der freundliche junge Mann vor ihrem Bett, der behauptet, ihr Freund zu sein, scheint ihr fremd, und sie selbst - wer oder was ist sie eigentlich? Die Ärzte versuchen, durch vorsichtige Gespräche in ihr Seelenleben einzudringen. Tatsächlich schafft Johanna es, einige gedankliche Fragmente, die ihr wild durch den Kopf schwirren, für wenige Sekunden festzuhalten und laut auszusprechen. Danach sind die flüchtigen Szenen wieder verschwunden. Was dabei an den Tag kommt: Johanna scheint mehrfach schwer traumatisiert. Nach Entlassung aus dem Krankenhaus muss sie sich in einem ihr fremd gewordenen Umfeld zurechtfinden, das Leben zu "leben" lernen und die Liebe neu entdecken. Aber vor allem muss sie sich ihrem inneren Dämon stellen. Denn das in kleinen Schritten zurückkehrende Gedächtnis bringt so erschütternde Erlebnisse hervor, dass die junge Frau daran zu zerbrechen droht.

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Seitenzahl: 256

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Der Dämon in mir

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Johanna und Matthias Fischer

Impressum

Copyright: Johanna und Matthias Fischer

Jahr: 2024

ISBN: 9789403756462

Illustrationen: Johanna Fischer

Covergestaltung: Johanna und Matthias Fischer

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig

Die Autoren

Johanna F. absolvierte nach der Mittleren Reife ein Freiwilliges Soziales Jahr und arbeitete nebenbei als Tätowiererin, ein Handwerk und eine Kunst, die sie bereits in sehr jungen Jahren erlernt hat.

Ihre persönlichen Erfahrungen mit der dissoziativen Störung, den medizinischen Fehlinterpretationen und der daraus resultierende Lebenskampf haben sie zum Schreiben gebracht.

Das Ziel der Autorin ist es, diese komplizierte psychologische Erkrankung auf unterhaltsame Weise sowohl einem größeren Lese- als auch Fachpublikum näherzubringen.

Der Mehrwert für alle: sich selbst und seine Mitmenschen besser zu verstehen.

Matthias F. hat die schlimmsten Phasen seiner Frau als ihr Freund miterlebt. Er war lange Zeit Johannas Wegweiser, bis sie ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen konnte. Zahlreiche Passagen schildert er aus seiner Sicht, was zusätzliche interessante Einblicke in ein kompliziertes Seelengeflecht und in eine zeitweise schwierige Beziehung bringt. Heute sind die beiden glücklich miteinander verheiratet.

Warum dieses Buch?

Es gibt bisher noch keinen Erfahrungsbericht über ein Leben mit dissoziativen Störungen. Die Autorin selbst konnte in den am Markt gängigen Ratgebern über Dissoziation und Psychologie keine praxisnahe Hilfe finden. Daher ist das Buch in drei Teile gegliedert:

1. Biografie/Erfahrungsbericht: authentisch, einfühlsam und spannend geschrieben.

2. Informationen für Betroffene: Wo gibt es Hilfe? Wie wird die Krankheit erkannt? Was kann man vorbeugend tun, um bestimmte Symptome zu lindern?

3. Die Krankheit in sachlicher Form als Hilfe für Mediziner, Psychologen, Psychiater, Forschungs-einrichtungen, Fachleute, Betroffene und Familien-angehörige.

Das Ziel des Buches

Das vorliegende Buch soll Menschen in schwierigen Entscheidungsphasen helfen, sich und das eigene Umfeld besser zu verstehen. Es soll auf unterhaltsame Weise darlegen, wie schwierig und manchmal skurril ein Leben mit dissoziativen Störungen sein kann. Und es soll einen Diskurs anregen, um neue Blickwinkel auf ein relativ unbekanntes Gebiet der Psychologie zu finden.

Die Krankheit

Unter dem Begriff einer dissoziativen Störung tummeln sich zahlreiche psychische Krankheitsbilder. Diese reichen von heftigen Krampfanfällen bis hin zum Gedächtnisverlust. Körperliche Ursachen hierfür finden sich in der Regel nicht. Vielmehr stecken fast immer ein oder mehrere traumatische Erlebnisse dahinter. Betroffene versuchen, unerträgliche Begebenheiten auszublenden, was bis zur Auslöschung der eigenen Identität führen kann. Zwei Sparten der Krankheit sind beispielsweise die dissoziative Amnesie und die multiple Persönlichkeitsstörung.

Es ist ein Gesetz im Leben: Wenn sich eine Tür vor uns schließt, öffnet sich eine andere. Die Tragik jedoch ist, dass man meist nach der geschlossenen Tür blickt und die geöffnete nicht beachtet.

Andre Gidé, französischer Schriftsteller (1869–1951)

Für alle, die bereit sind, ihr Leben selbst in die Hand zu

nehmen.

In den nachfolgenden Kapiteln ist mein Leben festgehalten, so wie ich es sehe. Alles entspricht der Wahrheit, und doch wurden aus dramaturgischen Gründen manchmal Szenen rekonstruiert, die so gewesen sein könnten. Hierzu gehören insbesondere Dialoge, die mir nur sinngemäß in Erinnerung geblieben sind, sowie Begebenheiten, an die ich mich kaum mehr oder gar nicht erinnern kann und lediglich aus Erzählungen weiß. Die meisten Personen sind durch Namen und andere Merkmale verfremdet, um sie zu schützen.

Meine Familie, Freunde und Bekannten sowie die im Buch erscheinenden Personen werden so manche Szene anders erlebt haben. Dieses Risiko muss ich eingehen, wenn ich mein Leben schriftlich festhalten will.

Ich möchte nicht anklagen und schon gar nicht „abrechnen“, sondern lediglich die Geschichte meines Lebens und somit meiner psychischen Erkrankung aus meiner ganz persönlichen Sicht erzählen.

Vorwort

Disso…was?, haben Sie sich vielleicht gerade gefragt, als Sie den Untertitel des Buches gelesen haben. Aber keine Sorge. Bis vor geraumer Zeit wusste ich selbst nicht, was sich hinter einer dissoziativen Störung verbirgt, und dass der Begriff eigentlich nur eine Umschreibung zahlreicher psychischer Beschwerden darstellt.

Meine Erfahrungen mit der Krankheit – soweit man überhaupt von einer Krankheit reden kann, denn es liegen niemals körperliche Symptome vor – beziehen sich überwiegend auf die „dissoziative Amnesie“, massive Erinnerungslücken von ganz bestimmten Ereignissen des Lebens. Obwohl … das scheint mir viel zu harmlos formuliert, denn ich wachte eines Tages in einer mir völlig fremden Umgebung auf, nichts als eine schwarze Leere in mir! Die Personen um mich herum konnte ich nicht einordnen und der freundliche junge Mann, der sich an mein Bett setzte und behauptete, mein Freund zu sein, schien mir fremd. Und ich selbst? Wer oder was war ich eigentlich?

Die Ärzte meinten es gut mit mir und versuchten, durch vorsichtige Gespräche in mein Seelenleben einzudringen. Tatsächlich schaffte ich es, einige gedankliche Fragmente, die mir wild durch den Kopf schwirrten, für wenige Sekunden festzuhalten und laut auszusprechen. Kaum gesagt, waren die flüchtigen Szenen auch schon wieder verschwunden. Was dabei herauskam: Ich schien mehrfach schwer traumatisiert.

Nach Entlassung aus dem Krankenhaus galt es, mich in einem mir fremd gewordenen Umfeld zurechtzufinden, das Leben an sich und auch die Liebe neu zu entdecken. Doch ich fand die Gefühle in mir nicht mehr. Was bedeutete es, zu leben? Was hieß es, jemanden zu lieben? Stand der junge Mann, der mich im Krankenhaus besucht hatte und bei dem ich jetzt wohnte, mir wirklich so nah, wie er behauptete?

Es half alles nichts. Ich musste mich meinen Ängsten und der inneren Leere in mir stellen. Denn das in kleinen Schritten innerhalb von zwei Jahren zurückkehrende Gedächtnis zeigte so erschütternde Erlebnisse auf, dass ich fast daran zu zerbrechen drohte.

Gerne möchte ich diesen komplizierten psychologischen Zustand einem größeren Leserkreis näherbringen. Dabei wünsche ich mir, dass dieses Buch ein Mehrwert für alle sein möge, um sich selbst und seine Mitmenschen besser zu verstehen.

Vielleicht haben Sie Lust, mich zu begleiten und mit mir gemeinsam einen „Blick zurück“ zu wagen. Ich würde mich sehr freuen!

Ihre Johanna

Erstes Kapitel

Johanna

Ich erwachte. Etwas in mir hallte nach, aber ich wusste nicht, was es war. Alles in meinem Inneren schien wie weggezerrt, ausradiert, verschwunden. Da war nichts als eine schwarze Leere in mir.

Ich stellte meinen Blick schärfer, blinzelte mehrmals. Versuchte, aus den Geräuschen um mich herum vermeintlich bekannte Laute herauszufiltern. Eine Gestalt ganz in Weiß trat an das Bett, in dem ich lag, lächelte vielsagend und sprach in einem beruhigenden Ton auf mich ein. Die Worte erschienen mir fremd, rauschten an mir vorbei, und Gegenstände und Formen konnte ich nicht definieren. Ich fand keine Begriffe dafür. Alles um mich herum schien nur noch aus „Dingen“ zu bestehen.

Wer oder was war ich eigentlich, dass ich so empfand und mich wie in einer anderen Sphäre fühlte? Sah ich überhaupt so aus wie dieses Wesen, das sich sogleich wieder auf leisen Sohlen davonmachte? Ratlos blickte ich ihm hinterher. Meine Gehirnzellen waren viel zu erschöpft, um einen klaren Gedanken zu fassen.

Eine weitere Gestalt, diesmal in farbiger Montur und ein Wägelchen vor sich herschiebend, betrat nun den Raum. Sie legte mir eine Vorrichtung um den Oberarm und drückte mehrmals auf einen kleinen Gummiball, so lange, bis das Ding um meinen Arm sich festschnürte. Es zischte leise und dann vernahm ich so etwas wie: „Ziemlich schwacher Puls.“

Wieder allein begann ich gar nicht erst über das Gesagte nachzudenken, das ich vom Sinn her nicht begriff, sondern musterte die Umgebung. Wo befand ich mich? Und warum war ich hier? Jede Überlegung kostete mich ungeheuer viel Kraft, und dass ich keine Erklärung fand, quälte mich. Aber sollte ich fragen – und wen? Vielleicht hatte alles seinen Sinn und ich musste mich einfach nur der Situation ergeben? Schien das nicht das Beste, bei so viel tiefer Schwärze in mir?

Plötzlich stieg Angst in mir auf, die ich sofort zu verdrängen versuchte. Nur nicht panisch werden, ruhig bleiben und nicht auffallen, so lange sich die Lage so verworren zeigte. Lieber abwarten und alles über sich ergehen lassen, vorläufig jedenfalls.

Ich musste erneut eingeschlafen sein, denn als ich erwachte, saß ein junger Mann mit dunklen Haaren und Vollbart an meinem Bett, der mich warmherzig betrachtete und meine Hand hielt.

„Hey, Schatz, wie geht es dir?“, sagte er leise.

„Soweit ganz gut“, erwiderte ich vorsichtig und dachte: Was will dieses Wesen? Wer oder was ist das? Und warum klingt dessen Ton so vertraut?

Behutsam löste ich meine Hand aus der seinen, obwohl es ein angenehmes Gefühl gewesen war. Er griff erneut nach ihr, hielt sie kurz an seine Lippen und küsste die Fingerspitzen. „Ach, Johanna …“

Johanna nennt er mich.

Er gebrauchte Worte, die liebevoll klangen und von tiefer Besorgnis herrührten. Demnach musste er mich gut kennen.Es gibt scheinbar Dinge, die ich bereits erlebt habe, vor diesem Aufenthalt hier.

Ich beschloss, es bei dieser Erkenntnis zu belassen, keine Fragen zu stellen und abzuwarten. So ließ ich ihn das Gespräch führen, nickte ihm immer mal fröhlich zu und hoffte, dass ich aus seinen Erzählungen gewisse Rück-schlüsse ziehen könnte.

Später, als er sich verabschiedet hatte und es draußen, vor dem vergitterten Fenster, bereits dunkel geworden war, schob ich mir das Kissen unter dem Nacken ein wenig zurecht. Ich wollte nachdenken. Wollte mir die Worte des jungen Mannes noch einmal ins Gedächtnis rufen.

Er hatte, wohl um mich zu unterhalten, durch seine Berichte und Anekdoten einiges preisgegeben, auch wenn er mir hin und wieder einen verstohlenen Blick zuwarf, um sicherzugehen, dass ich ihm folgen konnte. Hatte ich befremdlich geschaut oder hatte ihn meine aufgesetzte Fröhlichkeit irritiert? Außerdem hatte ich es nicht unterlassen können, dann doch die eine oder andere Frage zu stellen, was ihn ziemlich verunsichert hatte. Ich hatte einfach nur gelacht und offengelassen, ob ich es ernst meinte oder Witze machte. Denn ehrlich gesagt, konnte ich mit vielen Begriffen, die er gebrauchte, wenig anfangen.

Was ich mittlerweile jedoch wusste: Dass ich in einem sogenannten Krankenhaus lag, die Gestalten um mich herum Ärzte, Schwestern und Krankenpfleger waren und ich bereits schon einmal durch einen Notarzt eingewiesen worden war. Die Ärzte vermuteten damals eine Epilepsie aus dem Schlaf heraus. Der junge Mann, der Matthias hieß und den ich seiner Aussage nach Matze nannte, schien jedoch meiner tatsächlichen Erkrankung auf der Spur, mit einem seltsamen Namen, wie ich fand. Ehrlich gesagt, hatte ich ihn sogleich wieder vergessen. Schon die einfachsten Formulierungen überforderten mich. Von der fast voll-ständigen Leere in mir wollte ich gar nicht erst reden. Und was den jungen Mann betraf: Angeblich sollte ich seit zwei Jahren mit Matthias … äh, Matze, zusammen sein. Wie er behauptete, waren wir gerade erst von einer WG (was war denn das für ein Ding?) in eine gemeinsame Wohnung gezogen. Komisch, dass ich keinerlei Gefühle für ihn empfand, obwohl er mir vertraut vorkam. Aber ich schien sowieso völlig aus der Spur.

Der junge Mann, also Matze, hatte sich für ein Gespräch in einer der Klinik angeschlossenen psychosomatischen Einrichtung eingesetzt, auch weil er dem Medikament misstraute, das ich seit dem letzten Krankenhausaufenthalt aufgrund eines Krampfanfalles einnehmen musste. Seine These: Meine Freundin ist keine Epileptikerin. Sie leidet unter dissoziativen Störungen! Das genau war das Wort, nach dem ich in der letzten Nacht gesucht hatte. Ich konnte mir weder unter dem Namen noch dem Krankheitsbild etwas vorstellen und wollte es auch nicht.

Allerdings verzögerte sich der Transport von Stuttgart nach Bad Cannstatt aus internen Gründen und man bat mich, abzuwarten. Während dieser Zeit ergab sich dann zunächst ein eher inoffizielles Gespräch zwischen mir und mehreren Ärzten, das mich zu Beginn stark verunsicherte.

Ob es an den abschätzenden Blicken lag? War ich womöglich doch nicht von dieser Welt und ein völlig anderes, kaum zu analysierendes Wesen? Oder wunderte ich mich selbst über meine Gesprächsbereitschaft, obwohl ich doch nichts zu sagen hatte. Alles weg!

Eine Assistenzärztin las die Anamnese vor: „Die Patientin wurde vor geraumer Zeit bereits stationär in der Neurologie aufgenommen, nach erstmaligem epileptischem Anfall aus dem Schlaf heraus. Daraufhin wurde Lamotrigin zur Einnahme verordnet. Laut Aussage ihres Freundes klagt sie seitdem über Müdigkeit, Stimmungsschwankungen, teilweise Halluzinationen sowie amnestischen Störungen …“

Ich übersetzte mir Letzteres mit Blackouts, unterließ jedoch einen Hinweis auf die aktuelle Lage, die mir noch viel krasser erschien.

Die junge Ärztin blickte kurz zu mir hin, so als wollte sie meine Reaktion prüfen. Da ich in keiner Weise reagierte – auch weil ich vieles vom Sinn her nicht verstanden und wenn, sofort wieder vergessen hatte – fuhr sie fort: „… Die Patientin scheint sich an gewisse Teile ihres Lebens nicht mehr zu erinnern, soll sich selbst nicht mehr kennen und zeitweise denken, sie sei verrückt. Die erneute Einweisung geschah aufgrund eines weiteren Anfalls, den ihr Freund mit einem Besuch der Mutter der Patientin in Verbindung bringt. Die Beziehung zwischen Tochter und Mutter wird als äußerst konfliktreich beschrieben …“

Ich bin also eine Patientin und leide unter Anfällen, ausgelöst durch meine Mutter. Aber was ist das für eine Frau und was heißt „konfliktreich“?

Bei diesen Gedanken schnürte sich mein Hals merklich zu. Zwischen mir und meiner Mutter schien ganz gewaltig etwas nicht zu stimmen.

Die Ärzte versuchten, durch vorsichtige Fragen über meine Vergangenheit und insbesondere Kindheit in mein Seelenleben einzudringen. Es fiel mir verdammt schwer, mich zu erinnern. Ich fand einfach keinen Einstieg in die dunkle Leere. Doch dann, für einen Moment, schaffte ich es, einige gedankliche Fragmente, die mir wild durch den Kopf schwirrten, festzuhalten und laut auszusprechen.

Da war die Szene mit meinem Vater: Meine älteren Schwestern und ich hockten heimlich auf der Treppe im ersten Stock und lauschten – wie so oft – den ständigen Streitereien unserer Eltern. Die Worte, meist abgeschossen durch unsere Mutter, flogen wie spitze Pfeile hin und her. Der Begriff „Depression“ fiel, und unser Vater beschwerte sich, dass er es satthätte, immer nur als „schwacher Mann“ dazustehen. Dass er keine Lust mehr hätte, täglich Medikamente mit erheblichen Nebenwirkungen ein-zunehmen, die zudem nichts bringen würden. Dass die Neuapostolische Kirche mit ihrer Endzeiterwartung keine Hilfe für ihn sei … Ich war fünf Jahre alt und verstand den Sinn des Gesagten noch nicht, machte mir aber große Sorgen. Was war nur mit Papa und Mama los?

Später, ich lag bereits im Bett und hatte mich unter die Decke verkrochen, weil die Streitereien zwischen den Eltern nicht aufhören wollten, betrat mein Vater das Zimmer. Er begab sich, ohne das Licht einzuschalten, zunächst an das Bett meiner Schwester Hannah, verweilte dort einen Moment und setzte sich danach zu mir auf die Bettkante. Er strich das Bettzeug ein wenig beiseite, nahm mich in seine Arme und flüsterte mir leise ins Ohr: „Johanna, mein Chef hat mich zu einer Spätschicht eingeteilt und ich muss ganz dringend zur Arbeit. Ich habe dich ganz doll lieb. Du wirst immer in meinem Herzen bleiben und ich werde auf dich achtgeben, was auch geschieht. Das sollst du wissen, meine Kleine!“

Dann richtete er sich im Dunkeln auf und ging mit schleppenden Schritten zur Tür. Ich erkannte nur seine Silhouette, spürte aber ganz deutlich, dass ich ihn nicht gehen lassen durfte. Halt Papa, bleib bei uns!, hätte ich am liebsten laut geschrien, doch kein Ton kam über meine Lippen. Papa musste nicht zur Arbeit. Das war keine übliche Verabschiedung gewesen. Das war … Ich wusste es nicht, fand keine Worte für das Unaussprechliche.

Eine Psychologin würde später vermuten, dass ZU DEM ZEITPUNKT ALLES BEGANN, was auch immer sie meinte. Denn da gab es ein weiteres gedankliches Fragment, das ich für Sekunden festhalten konnte, ein Ereignis zwei Tage später: Meine drei Schwestern, Mutter und ich saßen am Küchentisch, als ein heftiges Klingeln an der Haustür uns zusammenschrecken ließ. Mutter hatte unseren Vater, da er nicht von der Sonderschicht zurückgekehrt war, als vermisst gemeldet. Ich konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, wer zur Tür gegangen war und geöffnet hatte, doch plötzlich standen mehrere Personen im Raum. Manche trugen Polizeiuniform, andere waren normal gekleidet. Eine Frau hielt Kuscheltiere und Kinderbücher in der Hand. Sie unterhielten sich zunächst mit unserer Mutter. Danach sprachen sie einzeln mit meinen Geschwistern und mir. Sie sagten, dass unser Vater nicht mehr unter uns weilen und an einen besseren Ort gegangen sei. Er sei den „Aussichtspunkt“ hinuntergesprungen und wäre tot.

ER HAT SICH UMGEBRACHT, schoss es mir durch den Kopf und würde dafür im Fegefeuer landen! Schlagartig brach meine kleine Welt zusammen. UND ICH BIN SCHULD! Ich habe meinen geliebten Papa nicht zurückgehalten!

Bei dieser Erinnerung zog sich mein Magen krampfhaft zusammen, so als hätte ich gerade alles noch einmal erlebt. Einer der Ärzte fragte nach, wollte ein bestimmtes Detail wissen. Doch ich wusste schon nicht mehr, was ich gerade erzählt hatte. Außer einem dumpfen Gefühl schien nichts zurückgeblieben zu sein. Die innere Leere hatte es verschluckt.

Jemand reichte mir ein Glas Wasser. Ich trank zügig, stellte das Glas wieder hin und blickte erschöpft in die Runde.

„Fühlen Sie sich stark genug, um nach weiteren Ereignissen zu forschen?“ Die Stimme des Fragenden klang sanft und mitfühlend.

Ich nickte stumm, atmete mehrmals tief ein und aus und überlegte fieberhaft.

Da war der Musikunterricht … Da war …

Ich weiß nicht, wie lange ich redete und was ich über mich preisgab. Denn kaum gesagt, waren die flüchtigen Sequenzen auch schon wieder verschwunden und ich fand keinen Zugriff mehr auf mein Gedächtnis.

Matthias, der im Gang gesessen und auf mich gewartet hatte, sagte mir später, dass einige der teilnehmenden Ärzte und Pfleger mit völlig schockiertem Gesichtsausdruck – und in einem Fall sogar weinend – aus dem Zimmer gekommen seien.

Seiner Meinung nach wären die Ärzte jetzt ganz bestimmt davon überzeugt, dass es sich bei meinen Symptomen tatsächlich um eine dissoziative Störung und nicht um eine Epilepsie handeln würde. Er wäre sehr stolz auf mich, denn ich hätte es anscheinend geschafft, einige belastende, ja unerträgliche Erlebnisse, die bei mir zu einer Abspaltung von Erinnerungen geführt hätten, wiederzugeben.

Schon möglich, dass Matthias es mit anderen Worten sagte, sinngemäß jedenfalls meinte er es so. Und das Ergebnis des Gesprächs? Ich galt als mehrfach schwer traumatisiert!

Die Vorstellung in der psychosomatischen Abteilung mit der Aussicht auf einen möglichen Verbleib verzögerte sich weiterhin, was mich ungeduldig werden ließ. Ich wollte hier weg. Wollte nach Hause, obwohl ich noch immer keine Vorstellung von meinem Zuhause hatte! Nach allem, was Matze mir erzählt hatte, musste es dort sehr schön sein. Schöner jedenfalls als in diesem Krankenhaus. In jedem Fall hoffte ich, dass sich meine Erinnerungen wieder einstellen würden, wenn ich in meiner vertrauten Umgebung wäre. Obwohl … eine Garantie für eine generelle Besserung wäre das wohl kaum. Matze hatte erzählt, dass ich vor Einlieferung in die Klinik ausgeprägten Stimmungs-schwankungen unterworfen gewesen wäre, mit teils aggressivem Verhalten ihm gegenüber. Zudem hätte ich unter Angst- und Panikattacken gelitten. Schwer vorzustellen. Wenn ich mich im Spiegel betrachtete, blickte mir das Antlitz einer vermeintlich friedlichen und tiefenentspannten jungen Frau entgegen. Vielleicht war ich einfach nur von der Rolle gewesen. So konnte doch nicht mein Wesen sein?

Ich entließ mich selbst, nachdem Matthias einer Ärztin versprochen hatte, sich persönlich um einen Termin in Bad Cannstatt zu kümmern.

Das schien die gute Nachricht. Die schlechte, es war ihm aus beruflichen Gründen nicht möglich, mich abzuholen. Somit musste ich es irgendwie allein nach Hause schaffen.

Nachdem ich alle notwendigen Entlassungspapiere unterschrieben hatte, stand ich kurze Zeit später mit meiner Sporttasche vor dem Gebäude und überlegte, wo ich hinmusste. Ich hatte sowohl Matthias als auch den Ärzten gegenüber lediglich eine geistige Verwirrung eingestanden, jedoch Stillschweigen über die endlose Leere in mir bewahrt.

Unsicher lief ich los und drehte mich nach wenigen Metern noch einmal um. Ja, ich war tatsächlich in einem Krankenhaus gewesen, einem Ort, wo Menschen medizinisch geholfen wurde. Die Ärzte und Pfleger dort hatten sich um mich gekümmert. Demnach schien alles gut und ich befand mich in keinerlei Gefahr.

Zielstrebig lief ich weiter Richtung Innenstadt, so als wüsste ich genau, wohin. Doch nichts kam mir bekannt vor. Innerlich fing ich zu zittern an, Schweißperlen traten mir auf die Stirn, mein Herz klopfte wild und der Puls begann zu rasen.

Nur nicht in Panik verfallen. Ganz ruhig bleiben. Irgendwo muss doch etwas sein, was du kennst.

Plötzlich tauchte ein Stern in der Ferne auf. Ich hätte nicht sagen können, dass es der Mercedes-Stern vom Turm des Stuttgarter Bahnhofs war, aber er flößte mir Vertrauen ein und ich lief darauf zu. Ich war mir ja nicht einmal sicher, in welcher Stadt ich mich befand. Mit Matthias hatte ich lediglich über den Stadtteil gesprochen, in dem wir wohnten. Gott sei Dank erinnerte ich mich an mein Handy, das mir Matthias mit allen nötigen medizinischen Unterlagen in die Sporttasche gepackt hatte, und in dem seine Telefonnummer gespeichert war.

Mittlerweile am Bahnhof angekommen, suchte ich verzweifelt … Ja, nach was eigentlich? Menschen hasteten hektisch an mir vorüber, mal mit, mal ohne Koffer, manchmal mit Kleinkindern im Schlepptau oder einem Hund an der Leine. Wen sollte ich ansprechen? Und wenn es mir gelang, meine Scheu zu überwinden, würde mir eine dieser Personen behilflich sein? Es dauerte eine Weile, bis ich mich traute, jemanden zu fragen: „Entschuldigung, könnten Sie mir sagen, wie ich …?“

Ja, der nette Herr mit Brille konnte mir sagen, wie ich nach Wangen kommen würde. Mit der U-Bahn und die befände sich … Er deutete in die entsprechende Richtung, nannte mir Linie und Endstation. Ich versuchte angestrengt, mir alles ganz genau zu merken: Geradeaus, dann links, die Treppe runter. U9 Richtung Hedelfingen.

Irgendwie gelang es mir, das richtige Gleis zu finden, und als die entsprechende Linie einfuhr, stieg ich schnell ein und suchte mir einen Fensterplatz. Hoffentlich würde die Bahn einen Teil der Strecke außerhalb des Tunnels fahren. Dabei quälte mich vorrangig die Frage, wie ich auf die Menschen um mich herum wirkte. Benahm ich mich seltsam? Wirkte ich anders? Schien ich ein Fremdkörper zu sein, der in kein Schema passte?

Doch halt. Stopp. Einen Moment. Ich wusste ja gar nicht, an welcher Station ich aussteigen musste. Angestrengt konzentrierte ich mich auf die Ansagen: Südheimer Platz … Marienplatz … Staatsgalerie … Marktplatz … Letztgenannte Haltestelle könnte die richtige sein. Wirklich? Mehrere Personen drängten zum Ausgang. Ich folgte meinem inneren Impuls und verließ ebenfalls das Abteil. Idyllisches Wohnflair mit schmalen Gassen, kleinen Ladengeschäften und gemütlichen Häusern empfing mich. Meine Füße führten mich ganz selbstverständlich, und nach wenigen Minuten stand ich vor einem Fachwerkhaus, das ich zu kennen glaubte. Innerlich aufgewühlt studierte ich die Klingeltableaus. Nirgends stand mein Name. Aber ich hieß doch … Matze hatte ausdrücklich erwähnt, dass mein Nachname auf einem der Namensschilder stünde. Hatte ich mich vertan? Befand ich mich überhaupt in Wangen? War ich an der falschen Haltestelle ausgestiegen? Vielleicht hatte alles seine Richtigkeit, nur die Häuser hatten sich in der Zwischenzeit verschoben. Ich stieß die Haustür auf, die nur angelehnt war, und stieg die Treppen Etage für Etage nach oben. Hier, im Dachgeschoss, müsste unsere Wohnung sein! Doch auch an dieser Tür ein fremder Name. Ich probierte sämtliche Schlüssel aus, die ich in der Sporttasche fand. Keiner passte. Mittlerweile verzweifelt und den Tränen nah nahm ich mein Handy und scrollte mich durch die gespeicherten Namen, bis ich Matze entdeckte.

„Hey, ich steh vor unserer Haustür“, sprudelte es atemlos aus mir heraus, nachdem sich Matthias gemeldet hatte. „Hier stimmt was nicht. Kein Schlüssel passt.“

„Hä“, sagte Matze, „wie kann das sein. Wo bist du denn?“

Ich nannte ihm die Adresse.

„Oh Scheiße Schatz. Du stehst vor unserer alten Wohnung. Wir sind umgezogen und du musst ganz woanders hin.“

„Wie, was, was heißt, woanders hin?“ Ich fing zu heulen an und sagte schniefend: „Ich weiß einfach nicht, wo ich bin? Was soll ich bloß machen?“

Matthias, der bei der Arbeit war und sich auf seinen Job konzentrierten musste, schien leicht konfus. Ich konnte förmlich spüren, wie es in seinem Kopf ratterte: Was ist da los? Wieso weiß sie nicht, wo sie ist? Warum hat sie sich nicht schon früher bei mir gemeldet?

Ich hörte, wie jemand nach ihm rief, und er sagte schnell ins Handy: „Du, ich muss weitermachen, aber ich schick dir gleich per SMS die Adresse.“

Wenige Sekunden später las ich seine Zeilen, inklusive einer knappen Erläuterung, um zu dem neuen Haus zu gelangen. Ich machte mich sogleich auf den Weg und dank genauer Anweisung befand ich mich bald vor einem noch nicht ganz fertiggestellten Neubau. Ja, hier steht mein Name, stellte ich erleichtert fest, als ich etwas nervös die Briefkästen und Klingeln inspizierte. Eine innere Verknüpfung zu dem Gebäude fand ich allerdings nicht. Alles schien fremd. Ich probierte einen der Schlüssel aus, der passte, fuhr mit dem Aufzug in den vierten Stock. Obwohl … nein, das stimmt so nicht, ich ging die Treppen zu Fuß hinauf und prüfte auf jeder Etage die Namen. Endlich vor unserer Wohnung angekommen, schloss ich mit Herzklopfen die Tür auf. Im Flur stehend stieß ich ein staunendes „Oh“ aus. Obwohl die Räume, bis auf Matzes Musikstudio, noch nicht komplett eingerichtet und dekoriert waren, konnte ich bereits die Individualität der Bewohner erkennen sowie deren Bedürfnis nach Geborgenheit, was mir gut gefiel.

Und ich soll wirklich einer der Bewohner sein?

Alles in dunklen Farben, die noch wenigen Möbel schwarz, die geschmackvolle Küche ebenfalls, dazu ein traumhafter Blick vom Wohnzimmer aus auf Dachfirste und herrlich grüne Hügel. Ganz langsam ging ich von Zimmer zu Zimmer, lauschte den Geräuschen im Haus und versuchte, mich zu erinnern. Die Geige dort an der Wand (für mich ein nicht zu benennendes Ding)! Ich fuhr bei deren Anblick vor Schreck zusammen. War das ein Relikt meiner Kindheit? Sofort verengte sich meine Brust und das Atmen fiel mir schwer. Ich konnte nicht sagen, was genau ich mit dem Instrument in Verbindung brachte, doch es schien nichts Gutes zu sein. Plötzlich fühlte ich mich ängstlich und hilflos. Mein Blick fiel auf ein Sofa, das wohl neu angeschafft worden war. Ich setzte mich, nahm die dort liegende Decke und kuschelte mich darin ein, wie ein kleines Kind, das sich vor dunklen Gestalten fürchtet.

In dem Moment flammte eine vage Erinnerung in mir auf. Sie hing mit der alten Wohnung zusammen, denn genau dort hatte ich mehrmals eine solche Gestalt wahr-genommen. Ein kaum sichtbares Wesen, das mich seit meiner Kindheit verfolgte.

Hochkonzentriert glitt ich in die kindliche Vergangenheit ab, fokussierte mich auf einen ganz bestimmten Moment. Damals fühlte ich mich beobachtet, regelrecht angestarrt. Ich versteckte mich nachts unter der Bettdecke und gleichzeitig versuchte ich mit all meiner inneren Kraft, das dunkle Wesen zu vertreiben, um mich und meine Familie zu schützen. Erst als ich als fast erwachsene junge Frau in einer Pflegefamilie lebte, zog sich die dunkle Gestalt zurück. Bis sie dann plötzlich erneut aufgetaucht war. Und jetzt? Würde sie mich in Ruhe lassen oder … Ich wollte nicht daran denken. Fast wurde mir übel. Mein Körper begann zu kribbeln, meine Arme, Beine. Hoffentlich würde ich nicht ohnmächtig.

Du bleibst stark. Du bleibst wach. Du bist in Sicherheit. Es wird alles wieder gut. Bleib ganz bei dir. Verlass deinen Körper nicht. Du hast die Macht über ihn, also streng dich an!

So harrte ich aus und hoffte, dass Matthias bald eintreffen würde. War dieser Ort wirklich unser gemeinsames Zuhause? Er hatte mir bei seinen Besuchen im Krankenhaus so viel erzählt, doch ich hatte schlagartig alles wieder vergessen. Matze war bestimmt ein lieber Kerl und sehr besorgt um mich. Warum nur sah ich ihn nicht als meinen Beschützer an? Wenn mein früheres Ich mit ihm zusammengelebt hatte, dann müsste ich doch unweigerlich ein unerschütterliches Vertrauen in ihn haben. Aber mein Gefühlsleben bestand anscheinend nur noch aus chaotischen Fragmenten, die nicht zusammenpassen wollten.

Nach wenigen Tagen fuhren Matthias und ich gemeinsam in die psychosomatische Klinik nach Bad Cannstatt. Die letzten Tage war mir immer wieder schwindelig gewesen. Ich hatte mich müde gefühlt und hatte doch nicht schlafen können. Ob es an den Lamotrigin-Tabletten lag, die ich täglich einnehmen musste? Dazu meine Angstzustände, weil ich befürchtete, jemand Fremdes könnte in der Wohnung sein. Von der dunklen Gestalt hatte ich Matze erst einmal nichts erzählt. Was würde er von mir denken? Er hatte schon genug mit meinen unkontrollierbaren Stimmungsschwankungen zu tun. Ich war mir dessen nicht bewusst, doch mein Verhalten schien verbal ziemlich aggressiv ihm gegenüber. Und was hatte es überhaupt mit dem kürzlichen Krankenhausaufenthalt auf sich, von dem Matthias sprach. Ich erinnerte mich nicht mehr daran! Vielmehr tauchten Szenen aus meiner Vergangenheit auf, die ich sofort ausplaudern musste, sobald ich sie bildlich vor mir sah. Matthias schüttelte immer wieder erstaunt den Kopf. Er kam mit meinen Gedankensprüngen nicht klar. Nahm er mich überhaupt ernst? Würden mich die Ärzte hier ernst nehmen?

Nach Ankunft und auf der Suche nach dem Sprechzimmer, in dem wir uns melden sollten, blickten wir eher zufällig in einen größeren Besprechungsraum, kameraüberwacht. Komisch, dass mir die Kamera sofort auffiel. Diese Entdeckung mochte ich gar nicht und ich zischte Matthias leise zu, innerlich bereits völlig aufgebracht: „Hör zu, so was will ich nicht! Ich möchte nicht mit anderen Menschen in großer Runde über meine persönlichen Probleme reden, kameraüberwacht. So was geht gar nicht. Das ist ein No-No-No-Go!“

Matthias versuchte, mich zu beruhigen, und versicherte, dass nichts geschähe, mit dem ich nicht ausdrücklich einverstanden sei.

Die Psychotherapeutin, mit der ich das anberaumte Erstgespräch führen würde, war mir zumindest schon mal sympathisch. Matze tauschte sich kurz mit ihr aus und schlug vor, an dem Gespräch teilnehmen zu dürfen, da ich psychisch schwer vorbelastet sei.

Die Therapeutin lächelte verständnisvoll, lehnte jedoch strikt ab und meinte versöhnlich, dass sie „sehr lieb“ mit mir umgehen würde. Er solle sich keine Sorgen machen.

Die Frau verhielt sich tatsächlich sehr einfühlsam mir gegenüber. Ich fasste Vertrauen (vor allem, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass keine Kamera das Gespräch festhielt) und erzählte ihr von meiner momentanen Stimmung, meiner inneren Hilflosigkeit und den Angstbeschwerden. Ich gestand, dass ich mich „verwirrt“ fühlte, gab aber auch ihr gegenüber nicht zu, dass ich mich an kaum etwas aus meiner Vergangenheit erinnern konnte – immer noch nicht.

Die Therapeutin blätterte in ihren Unterlagen und las mir aus den Aufzeichnungen des Krankenhausgespräches und dessen Beurteilung durch die teilnehmenden Ärzte vor. Immer wieder war von einer „belastenden Beziehung“ zu meiner Mutter die Rede und einem „zerstörerischen Treffen“ mit ihr, das kurz vor Einlieferung ins Krankenhaus stattgefunden haben musste.

Ich hörte zu, ließ die behutsam vorgetragenen, aber schneidenden Sätze, die ich angeblich selbst gesagt haben soll, an mir abprallen. Keine Erinnerung. Dann aber sprach die Therapeutin meine Albträume an, die mit dem Suizid meines Vaters zusammenhingen.

Plötzlich schien kein Sauerstoff mehr im Raum. Keine Luft. Keine Geräuschkulisse. Nur dieses grässliche Wort: SUIZID.

„Er war gar nicht mein …“, begann ich stockend, verschluckte den Rest und bemühte mich, das Durch-einander in meinem Kopf irgendwie zu ordnen: