Der erste Brunnen - Dschabra Ibrahim Dschabra - E-Book

Der erste Brunnen E-Book

Dschabra Ibrahim Dschabra

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Beschreibung

In seinem autobiographischen Bericht beschreibt Dschabra Ibrahim Dschabra, einer der grossen Dichter und Romanciers der zeitgenössischen arabischen Literatur, seine Kindheit im Bethlehem der zwanziger Jahre. In diesem Schmelzpunkt dreier Weltreligionen, aber auch Ort des immerwährenden Konflikts zwischen Orient und Okzident, wuchs der Autor als Sohn armer arabischer, der christlichen Tradition stark verbundener Eltern auf. Eindrücklich und farbig schildert er seinen ersten Lebensabschnitt, der für ihn 'eine magische Anziehungskraft besitzt, die ewig rätselhaft bleiben wird'.

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Seitenzahl: 318

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Der Autor

Geboren 1920 in Bethlehem. Studium der Anglistik in Cambridge. Dozent für englische Literatur an der Universität in Jerusalem. Nach der Vertreibung aus Palästina 1948 ging er ins Exil in den Irak, wo er bis zu seinem Tod Ende 1994 lebte. Sein literarisches Werk umfasst sechs Romane, eine Erzählungssammlung und drei Gedichtbände; ausserdem war er als Übersetzer englischsprachiger Literatur ins Arabische und als Literaturkritiker tätig.

Titel der arabischen Originalausgabe:

al-Bi’r al-ûlâ

Copyright © 1987 by Yasser Jabra Jabra

E-Book-Ausgabe 2015

Copyright © der deutschen Übersetzung

1997 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

(Selbstportrait von Dschabra Ibrahim Dschabra)

www.lenos.ch

ISBN 978 3 85787 941 8

Der erste Brunnen

Zum Geleit

Eigentlich wollte ich eine vollständige Autobiographie schreiben. Immerhin habe ich selber die Schriftsteller meiner Generation dauernd dazu aufgefordert, ihre Lebenserinnerungen zu Papier zu bringen. Sie sollten den Wandel, die Entwicklung, den Kampf festhalten, die Dinge, die ihr Leben, das Leben jedes einzelnen von uns, ja unser ganzes Zeitalter geprägt haben. Doch ich musste feststellen, dass ich dazu nicht in der Lage war, ohne auf eine ungeheure Menge Aufzeichnungen aus all den Jahren, vor allem Briefe, zurückzugreifen. Und das sind Tausende, auf arabisch und englisch, aus aller Herren Länder. Unmöglich, sie alle durchzusehen! Ausserdem habe ich nur einen Teil aufgehoben. Ich musste einsehen, dass ich ohne all diese Briefe auf nichts weiter als auf meine lückenhaften Erinnerungen, auf ungeordnete Bruchstücke angewiesen wäre.

Also beschloss ich, lediglich die ersten Jahre meines Lebens aufzuschreiben, beginnend mit den ersten Kindheitserinnerungen bis hin zum Studium in England. Als ich anschliessend nach Jerusalem zurückkehrte, den Hitzkopf voller widersprüchlicher Ideen, war ich gerade vierundzwanzig Jahre alt. Doch dann hatte ich das Gefühl, dass allein meine Studienjahre in Exeter, Cambridge und kurzzeitig auch in Oxford einen ganzen Band füllen würden, wenn ich ehrlich und genau sein wollte. Deshalb sagte ich mir: Ich schreibe lieber erst einmal alles bis zu meinem neunzehnten Lebensjahr auf. Das ist das Alter – auf zwei Wochen genau –, in dem ich Jerusalem verliess, um in England zu studieren. Das Ende eines Lebensabschnitts und der Beginn eines neuen.

Wie dem auch sei, jene ersten Jahre meines Lebens waren so reich an Erlebnissen und persönlichen Erfahrungen, dass sie durchaus eine zusammenhängende Darstellung verdienen. Darüber zu schreiben könnte spannend werden, aber auch schwierig, und vielleicht würde ja die Schilderung der Kindheit den Einstieg in den folgenden Lebensabschnitt erleichtern. Als ich jedoch die allerersten Eindrücke meiner Kindheit aufschrieb, fand ich, dass ich mich sehr beschränken und vieles weglassen müsste, um zu einem Ende zu kommen. Noch einmal musste ich feststellen, dass die Etappe, die ich mir zu schildern vorgenommen hatte, viel zu lang war. Die Kindheit ist eine Sache, das Erwachsenwerden eine andere. Obwohl das eine im Grunde nur die Fortsetzung des anderen darstellt – unter einem weiteren Blickwinkel eben –, ist es doch selbst so reich und vielfältig mit seinen Wonnen und Schmerzen, Liebesgeschichten und Freundschaften, dass dem nur mit einem zweiten Buch Genüge getan werden kann. Daher habe ich mich entschlossen, es bei den ersten zwölf Jahren meines Lebens bewenden zu lassen, genauer gesagt bei sieben oder acht davon, bis zum Jahre 1932, als ich mit meinen Eltern von Bethlehem nach Jerusalem zog – ein Ereignis, das für alles Weitere entscheidend war.

Als ich mich mit den Ereignissen meiner Kindheit zu beschäftigen begann, merkte ich, dass ich nach mehr als vierzig Jahren Schriftstellerei eine Menge davon bereits in Artikeln, Kurzgeschichten und besonders in meinen Romanen verarbeitet hatte. Sollte ich einiges davon als erläuternde oder erzählende Passagen im neuen Rahmen einer Autobiographie verwenden? Nein, das würde ich nicht tun. Das, was ich über meine Kindheit in Erzählungen und Romanen geschrieben hatte, sollte so bleiben, wie es war. Die Leser mochten es interpretieren, wie es ihnen gefiel. Ich musste nehmen, was ich noch nirgendwo festgehalten hatte. Und das war nicht wenig.

Ich erinnere mich an einen Tag im Jahre 1945, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In einem Café in Jerusalem lernte ich eine charmante, intelligente Frau kennen. Heidi Lloyd hiess sie. Sie erzählte mir, dass sie Bildhauerin sei und in Bagdad studiere. Ihr Mann sei ein bekannter Archäologe. Zu jener Zeit war ich gerade Präsident des Künstlerclubs und Dozent für englische Literatur an der Raschîd-Schule. Ich veröffentlichte auch Lyrik auf englisch. Es stellte sich heraus, dass sie einiges von mir gelesen hatte. Materiell ging es mir damals nicht gerade gut, und so war es mir jedesmal unangenehm, wenn ich darauf angesprochen wurde.

Als unser Kaffee kam, forderte sie mich plötzlich auf: »Erzählen Sie mir aus Ihrem Leben! Man sagt, Sie hätten schon immer ein aufregendes Leben gehabt.«

Ich musste lachen: »Ein aufregendes Leben? Ich bin nicht gerade ein Held. Falls Sie das noch nicht wussten.«

»Nein, nein«, sagte sie, »das meine ich nicht. Sondern wie Sie sich so fühlen: körperlich, seelisch, geistig. Ihr Gefühlsleben eben.«

Erlebnisse aus meiner Kindheit, meiner Jugend und meiner Zeit in England schossen mir durch den Kopf. »Wenn Sie das meinen, schön, aber nicht jetzt. Denn das ist eine lange Geschichte, eine sehr lange Geschichte.«

»Dann darf ich hoffen, eines Tages ihre Autobiographie zu lesen?«

»Ich fürchte, das kann noch lange dauern. Aber jetzt erzählen Sie mir von Ihrer Bildhauerei. Erzählen Sie mir von Bagdad!«

Wenn ich damals jünger gewesen wäre, hätte ich wohl irgendwie gespürt, dass dies alles eine viel längere Geschichte werden würde. Und was soll ich nun sagen, wo sich die Sache noch ganze vierzig Jahre hingezogen hat. Jene Künstlerin musste wirklich lange warten. Ich habe sie übrigens nie wieder gesehen, auch nicht, als ich drei Jahre später nach Bagdad ging. Kann man sagen, dass sie die erste war, die mich darauf gebracht hat, in irgendeiner Form über mein Leben zu berichten?

Ich möchte allerdings keine Chronik jener Zeit niederschreiben. Es gibt klügere und fähigere Leute, um jene Ereignisse der zwanziger und beginnenden dreissiger Jahre in Palästina zu dokumentieren. Auch will ich keine Familienchronik anlegen. Das ist eine andere Sache. Und ich glaube auch nicht, dass ich dazu in der Lage wäre. Ebenso wenig möchte ich eine soziologische Studie über einen Ort in Palästina schreiben, der damals noch ganz klein war, nicht mehr als fünftausend Einwohner und eine Handvoll Grundschulen besass, die meisten davon unter kirchlicher Obhut. Mittlerweile hat sich jener kleine Ort zu einer wirtschaftlich und politisch bedeutenden Stadt entwickelt. Immerhin hat er heute fast achtzigtausend Einwohner, viele Schulen und sogar eine Universität mit Dutzenden von Absolventen jedes Jahr.

Was ich hier aufschreibe, ist rein persönlich. Meine Kindheit. Es geht lediglich um mich selbst, wie ich mein Ich beobachten, erfühlen und begreifen lernte. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Ratlosigkeit restlos verschwand. Um mich nicht in einer weitverzweigten, wenn auch interessanten Familienchronik zu verlieren, habe ich es vorgezogen, Schritt für Schritt jenes Dasein zu schildern, das ich zunehmend kennen und verstehen lernte. Mit all seiner Unschuld, an der ich mich festklammerte, bis ich sie dann doch verlor. Dieses Leben war freilich nicht losgelöst von seiner Umgebung, sondern ein Teil jener Häuser und Bäume, Hügel und Täler, ein Teil der Sonnenstrahlen und Regentropfen, der Stimmen und der Gesichter, die immer da waren, die seine Wertvorstellungen bestimmten und allesamt Schönes und Hässliches, Glück und Trauer verhiessen.

Absichtlich oder auch unabsichtlich machte ich aus meinem Ich und meinem Umfeld manchmal zwei miteinander austauschbare Dinge, das eine zum Spiegel des anderen, ja sogar zu einer symbolischen Inkarnation. Und weil alles irgendwann einmal dem Untergang geweiht ist, versuche ich nun, es mit einem Netz aus Wörtern einzufangen und festzuhalten. Damit es auf keinen Fall verlorengeht!

Manchmal standen mein Ich und meine Umwelt auch auf völlig entgegengesetzten Seiten. Das Ich wollte sich um alles in der Welt nicht in seiner Umgebung wiedererkennen oder gar seine aggressive Haltung aufgeben. Das ging so lange, bis es gewillt war, sich zu beherrschen und zu verändern. Vielleicht ist das die Geschichte des Erwachsenwerdens oder zumindest ein Teil davon, eben die Zunahme von Wissen und Willenskraft, analytischem Verstand und Phantasie. Ja, es ist die Geschichte von der verlorengegangenen Unschuld und dem Versuch, sie zurückzugewinnen.

Da fällt es einem plötzlich ein, dass die Kindheit – wie weit sie auch zurückliegen mag – mit all den grossen Veränderungen in ihrem Umfeld vielleicht nie richtig eingeordnet wird, wenn man sie von der Folgezeit losgelöst betrachtet. Die Kindheit ist im Grunde keine Geschichte an sich. Sie besteht vielmehr aus vielen verschiedenen Einzelgeschichten, die man – selbst wenn sie aufeinander folgen – oftmals nur durch literarische Techniken miteinander verknüpfen kann. Sie drängt sich einem stets irgendwie auf, besucht einen des Nachts in den Träumen in immer anderem Gewand und erscheint auf einmal in Tagträumen, und dies nicht als blosse Erinnerung.

Die Geschichten der Kindheit sind also eine Mischung aus Erinnerungen und Träumen, ein Verschmelzen von Wahrheit und Dichtung, ein Zusammenspiel von Rationalem und Irrationalem. Ein buntes Allerlei, das irgendwo ganz tief in unserer Seele sitzt und das nie richtig interpretiert wird, wie sehr sich unser Geist auch anstrengen mag, es zu entwirren. Die meisten Autoren von Autobiographien, ganz gleich aus welcher Zeit und welcher Kultur sie stammen, neigen wohl eben wegen dieser Schwierigkeiten dazu, die Kindheit unberücksichtigt zu lassen. Wenn sie dennoch ihr Augenmerk auf sie richten, dann blicken sie darauf aus einer gewissen Distanz, die sie ihrem Alter und ihrer geistigen Entwicklung verdanken. Ereignisse aus der Vergangenheit dienen ihnen lediglich dazu, die Gegenwart zu rechtfertigen. Indem sie frühe Erfahrungen für ihre späteren Handlungen verantwortlich machen, entziehen sie ihren Kritikern den Boden. Sie haben nie viel über ihre Kindheit zu berichten und widmen ihr selten mehr als ein oder zwei Kapitel. Sie können es kaum abwarten, über die in ihren Augen viel wichtigere Etappe zu schreiben, die Phase des Erwachsenwerdens, besonders über die ersten sexuellen Regungen mit all ihren Wonnen und Qualen. Danach geht es um die späteren Etappen der Jugend, darum, was man für Taten vollbracht und was für geistige Höhenflüge gehabt, was man geschafft oder auch nicht geschafft hat.

Das mag alles richtig sein. Und doch möchte ich es anders machen, vielleicht eingedenk William Wordsworths Ausspruch: »Das Kind ist der Vater des Menschen.« Aus dem starken Wunsch heraus, den Reiz jenes Lebensabschnitts an sich zu würdigen. Vielleicht auch, weil dieser dem Ursprung des Daseins so nahe ist, zumal er – um noch einmal Wordsworth zu zitieren – im Himmel, bei Gott, zu suchen ist. Ich habe versucht, zurückzugehen und jene Zeit der Kindheit wiederaufleben zu lassen, ohne mich dabei in Analysen zu ergehen oder ins Philosophieren zu kommen. Ich bin so ausführlich wie möglich geworden. Trotzdem war ich auch gezwungen, auszuwählen und manches wegzulassen, immer das ewige Problem des Schriftstellers vor Augen, wie man mit einer begrenzten Zahl von Worten den Fluss der Ereignisse einfangen kann. Ich musste einfach bestimmte Dinge aussparen, auch wenn sie sich bei mir fest eingeprägt haben und zärtliche Gefühle entfachen: einen Reiz, der mit der Zeit wächst, eine Poesie, die aus Schmerzen schöpft, eine Wehmut, die genährt wird von der kindlichen Begeisterung für jeden Augenblick des Lebens – jenes Lebens, das heute vielleicht zu einem grossen Teil hart, grausam und alles andere als erstrebenswert erscheint.

Die späteren Lebensabschnitte mögen zwangsläufig viel reicher und vielseitiger sein und darauf warten, gleichfalls in Worte gekleidet zu werden. Die Kindheit indes besitzt eine magische Anziehungskraft, die ewig rätselhaft bleiben wird. Ihr verlockender Zauber fesselt unsere staunenden Blicke immer wieder aufs neue und belebt die Seele, wenn sie im grauen Alltag zu ersticken droht.

Prolog

Jedesmal, wenn wir umziehen wollten, galt unsere erste Frage dem Brunnen. Gab es einen Brunnen im Hof? War er tief? Neu? Das Wasser gut? Oder war er seit Jahren nicht mehr ausgeschlämmt worden?

Die Brunnen waren – abhängig vom jeweiligen Haus – ganz unterschiedlich, ebenso die Einfassungen – eine Art Haus- und Brunnenchronik. Im Laufe der Zeit hinterlassen die Seile, mit deren Hilfe die Eimer heraufgezogen werden, ihre Spuren an der Innenseite eines Brunnenrands. Zuerst polieren sie das Innere, dann graben sie immer mehr und immer tiefere Furchen ein. Nur wenige Brunnen hatten einen eisernen Bügel mit einer quietschenden Rolle für das Seil in der Mitte. Die gab es lediglich in den grossen, einigermassen komfortablen Häusern, wo das Regenwasser von den Dächern über verdeckte Leitungen in die Brunnen floss. Sie waren oft sogar mit einer Pumpe ausgestattet, so dass man das Wasser nicht mit dem Eimer heraufholen musste.

Die Häuser, die uns beherbergten, waren immer sehr einfach. Regenwasser floss über eine Dachrinne auf den Hof und von dort in ein höchstens einen Meter tiefes Sammelbecken. Bevor das Wasser über eine etwas erhöhte Rinne in den Brunnen weitergeleitet wurde, konnte sich in der Grube der Schmutz absetzen, der mit dem Regenwasser hineingespült worden war. Dadurch wurde das Wasser etwas sauberer. Doch das konnte einige Tage dauern und verhinderte auch nicht, dass trotzdem Schmutz in den Brunnen gelangte. Deshalb musste der Brunnen alle paar Jahre gereinigt werden. Solche Brunnen waren in den Städten und Dörfern der palästinensischen Bergregionen jahrhundertelang lebensnotwendig. Alles hing von den winterlichen Niederschlägen ab. Die Regengüsse versorgten Weizen, Gerste und Hirse auf den Feldern mit Wasser. Sie waren wichtig für die Oliven, Aprikosen, Mandeln und Weinstöcke in den Tälern und auf den Hügeln. Sie füllten die Brunnen mit Wasser für die übrigen Zeiten des Jahres. Nur die Orangenhaine in den Küstenebenen wurden auf andere Art und Weise bewässert. Glück hatten die Dörfer mit einer eigenen Quelle. Dort gab es immer eiskaltes, kristallklares Wasser.

Bei uns stand in einer Ecke des Hauses ein Tonkrug mit Wasser zum Trinken oder Kochen. An heissen Tagen aber holten wir uns mit dem Eimer köstliches kaltes Wasser direkt aus dem Brunnen. Und im Winter kam uns dieses Wasser weniger eisig vor als das aus dem Krug. Auch unsere Gemüsebeete gossen wir mit Brunnenwasser. Wenn es aufgebraucht war, mussten wir zu unseren Nachbarn »betteln« gehen oder welches beim Wasserträger kaufen. Ohne Wasserträger wäre Bethlehem zu jener Zeit nicht vorstellbar gewesen; man traf sie vor allem in der Gegend um Ain al-Kanât, jener Quelle, die schon seit alter Zeit mit Wasser aus den Bergen versorgt wurde. Eine grosse Erleichterung für die vielen, die zu Hause keinen eigenen Brunnen besassen.

Der Wasserträger schleppte das kostbare Nass in einem grossen schwarzen Lederbalg auf dem Rücken. Während des Ersten Weltkriegs kamen allerdings zunehmend Benzinkanister auf. Zunächst wurden sie von der osmanischen Armee benutzt, dann brachten die Ölgesellschaften sie mit. Der Wasserträger kam schliesslich auch mit vier Kanistern, die er einem Esel auf den Rücken gebunden hatte. Er selbst war mit einer schwarzen Lederschürze bekleidet, um sich vor der ständigen Nässe zu schützen. Oftmals mussten wir auch selber zur Quelle gehen und in dem Gedränge und Geschrei von Frauen und Kindern unsere Tonkrüge und Blechgefässe füllen. Die trugen wir dann freudig nach Hause, gleichgültig, wie weit es war.

Der Brunnen! Wie wichtig er doch war! Einfach lebensnotwendig. Die Zeiten, in denen wir keinen Brunnen im Hof hatten, waren wirklich hart für uns. Und der Brunnen des Lebens ist vergleichbar mit jenem elementaren Brunnen, ohne den man nicht existieren kann. In ihm sammeln sich die Erfahrungen wie Regenwasser als stille Reserve für durstige Tage. Unser Leben ist nichts weiter als eine Reihe von Brunnen. Zu Beginn jedes Lebensabschnittes graben wir einen neuen. Wir leiten in ihn Wasser, das vom Himmel herabregnet und Erfahrung genannt wird. Und jedesmal, wenn uns der Durst quält und die Trockenheit unsere Erde bersten lässt, kehren wir zu diesem Brunnen zurück.

Der erste Brunnen ist der Brunnen der Kindheit. Es ist der Brunnen, in dem sich die frühesten Erfahrungen gesammelt haben, das, was man sah und hörte, das erste Glück und das erste Leid, Sehnsüchte und Ängste, die über ein Kind hereinbrechen. Dann weitet sich das Bewusstsein, wächst der Verstand, und wenn das Kind jeden Tag an dem Brunnen vorbeigeht, lernt es zu erdulden oder sich zu freuen. Wann immer es aus diesem Brunnen schöpft, begreift es das Leben besser, begreift es das, was es sieht und hört, Glück und Leid, Sehnsüchte und Ängste. Wenn man nach Jahren dann wieder Wasser schöpfen will, weiss man nicht, ob das, was man da heraufzieht, herrlich süss oder schrecklich bitter ist. Vielleicht hat sich viel Schlamm angesammelt und das Wasser trübe gemacht. Warum auch nicht? Man lebt trotzdem. Ohne solche Brunnen wäre das Leben arm. Und jedesmal, wenn man zurückkehrt, findet man eine Quelle, die einfach nur Menschlichkeit spendet.

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Chan nannten meine Eltern unsere Behausung, und für unsere Besucher waren wir schlicht und einfach die »Chan-Bewohner«. Ganz ohne Zweifel war das Haus einmal eine Karawanserei, also ein Chan, gewesen. Unsere Wohnung bestand aus einem riesigen Raum zu ebener Erde in diesem alten Gebäude an der Hauptstrasse gleich hinter der Grossen Moschee. In der Nähe gab es alle möglichen Läden und Werkstätten, angefangen bei Krämern über Schuster bis hin zu Sattlern. Unsere Wohnung hatte kein einziges Fenster, nur ein grosses Eisentor wie bei einem Lagerhaus. Es liess sich kaum bewegen, so schwer war es. Neben dem Tor befand sich ein kleines Klosett, das sicher erst nachträglich hinzugekommen war. Der Bau stammte aus der Zeit der Osmanenherrschaft– und die war lang gewesen.

Zwischen unserem Tor und der Strasse gab es noch eine etwas kleinere hölzerne Pforte, den Eingang zum Chan, auch er später hinzugefügt, um eine Abtrennung von der Strasse zu schaffen. Sobald man über die hohe Schwelle gestiegen war, blieben nur noch einige Schritte bis zu unserem Tor. Links, noch im Freien, führte eine Steintreppe geradewegs zu einer grün gestrichenen Tür im oberen Stockwerk. Wenn ich nach oben stieg, fand ich die Tür fast immer offen. Dort wohnte ein stets schwarzgekleideter Mann mit einem kurzen Vollbart, den ich niemals anders antraf als an seinem Tisch, wo er kleine Apparaturen auseinandernahm und wieder zusammensetzte. Das ist Jûssuf der Mönch, hiess es, ein Fachmann, wenn es um Uhren und Apparate geht. Neben seinem Zimmer führte die Treppe noch ein Stockwerk höher: zum Dachboden.

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