Der Familie entkommst du nicht - Aylin Said - E-Book
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Der Familie entkommst du nicht E-Book

Aylin Said

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Beschreibung

Die Freiheit eines Menschen beginnt da, wo seine Angst endet Für Aylin Said war die Angst ein ständiger Begleiter – und ihr Leben ein Gefängnis. Ihre Familie flüchtete aus dem Libanon nach Deutschland. In Berlin wuchs sie in einem muslimisch-arabisch geprägten Umfeld auf. Nicht nur ihre strengen Eltern überwachten sie über Jahre hinweg, sondern auch ihre Brüder haben sie kontrolliert und schikaniert. Mit 19 Jahren wurde sie gezwungen, einen Mann zu heiraten, den sie weder kannte noch liebte. Ihr Leben wurde zu einem Albtraum. Zwar fand sie nach einiger Zeit die Kraft, die Ehe zu lösen, doch da begann das nächste Martyrium: Sie hatte die Familienehre beschmutzt und wurde von ihrer eigenen Familie bedroht. Ergreifend erzählt Aylin Said, wie sie sich aus ihrer Hölle befreite und zu einem selbstbestimmten Leben fand. Eine wahre Geschichte, spannend bis zur letzten Seite!

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Seitenzahl: 356

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

Originalausgabe, 3. Auflage 2021

© 2017 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Dennis Sand, Berlin

Lektorat: Silke Panten, Berlin

Umschlaggestaltung: Verena Frensch, München

Umschlagabbildung: shutterstock/ESB Professional

ePub by Konvertus

ISBN Print 978-3-86882-773-6

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-001-5

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-002-2

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter:

www.mvg-verlag.de

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Inhaltsverzeichnis

Prolog – Träume

KAPITEL 1 – Der Beginn

KAPITEL 2 – Wendepunkte

KAPITEL 3 – Krieg

KAPITEL 4 – Emanzipation

KAPITEL 5 – Freiheit

Nachwort

Danksagung

In Liebe den beiden Männern gewidmet,die mein Leben zu dem gemacht haben, was esheute ist: meinem Vater und Mahmoud.

Prolog

Träume

Es sind die Träume, die einen Menschen am Leben halten. Träume von einer Existenz, die besser ist als die unsere. Träume von einer Liebe, die bedingungslos ist, und Träume von einer Freiheit, die es uns ermöglicht, das Leben zu führen, das wir führen möchten. Wenn wir nicht mehr in der Lage sind zu träumen, dann verlernen wir zu leben. Es sind unsere Träume, die uns nach mehr streben lassen. Die uns größer machen, als wir sind. Die uns ermutigen, Risiken einzugehen. Zu kämpfen, für das, was noch nicht ist. Ein Mensch, der nicht mehr träumt, ist ein Mensch, der nicht mehr lebt.

Doch in jedem Traum liegt auch die Gefahr, dass er uns eines Tages erdrückt. Ich habe mein Leben lang geträumt, bis mein Leben zu einem Albtraum wurde. Aber das Kämpfen, das habe ich nie verlernt. Einen dieser Kämpfe führte ich am Abend des 2. Juli 2006. Und ich wusste noch nicht, wie dieser Kampf mein ganzes Leben verändern würde.

Es war der Geburtstag meiner großen Schwester. Leyla war eine der wenigen Personen, denen ich noch vertraute. Sie war meine erste und meine letzte Anlaufstelle. Ich liebte sie über alles. Den ganzen Tag über war ich auf der Arbeit, es war viel los, also wollte ich Leyla am Abend noch besuchen und ihr ein Geschenk bringen. Doch dazu sollte es nicht kommen.

Ich machte mich gerade im Badezimmer fertig, als mein Vater sich wieder in eine seiner paranoiden Vorstellungen reinsteigerte.

»Aylin, was machst du? Willst du noch weg?«

»Baba«, sagte ich, »ich gehe zu Leyla. Das weißt du doch.«

»Um diese Zeit? Es ist viel zu spät. Du gehst heute nicht mehr raus.«

»Ich gehe doch nur zu Leyla.«

Leyla wohnte nicht allzu weit von uns entfernt. Außerdem war sie meine Schwester. Was hätte mir schon passieren sollen? Ich war neunzehn Jahre alt, ich konnte auf mich allein aufpassen. Aber darum ging es meinem Vater nicht. Er sorgte sich um etwas ganz anderes.

»Du willst dich doch nur wieder mit deinem Freund treffen«, unterstellte er mir.

»Baba, das ist doch Unsinn.«

»Du bist einem anderen Mann versprochen! Vergiss das nicht. Verletz nicht unsere Ehre.«

Ich konnte es nicht mehr hören: Ehre, Ehre, Ehre. In meiner Familie ging es um nichts anderes mehr. Zieh dich ordentlich an, sonst beschmutzt du unsere Ehre. Geh nicht alleine weg, sonst beschmutzt du unsere Ehre. Tu was deine Brüder dir sagen, sonst …

Meine Familie war Ende der 1980er-Jahre aus dem Libanon nach Deutschland geflüchtet. Und wenn ich den Erzählungen meiner Verwandten glauben konnte, dann sind sie erst hier so fürchterlich strikt und verbohrt geworden. Sie entsprachen mittlerweile dem Klischeebild einer palästinensisch-libanesischen Großfamilie, wie die Medien es suggerierten: streng, konservativ, patriarchalisch.

Und es wurde immer schlimmer. Schon seit Wochen hatte sich mein Vater in den Gedanken hineingesteigert, dass ich mich heimlich mit Mahmoud treffen würde. Er wusste, dass er meine große Liebe war. Der Mann, den ich mehr begehrte als alles andere auf der Welt. Aber mein Vater hatte Unrecht. Ich hatte schon lange keinen Kontakt mehr zu Mahmoud. So weh mir das auch tat. Doch es ging einfach nicht. Ich war einem anderen Mann versprochen. Einem Mann, für den ich rein gar nichts empfand. Und der auch noch der Cousin meiner Mutter war. Mein Vater wusste, dass ich mich zwar fügte, aber alles andere als glücklich mit der Situation war.

»Du bist ein undankbares Kind. Du weißt nicht zu schätzen, was wir für dich tun.«

Ich spürte, wie er sich wieder in Rage redete. Ich kannte das. Bleib ruhig, Aylin. Lass dich nicht provozieren, sprach ich mir zu. Lass dich bloß nicht provozieren.

»Du willst doch gar keinen richtigen Mann. Du willst einen Mann, dem du auf der Nase rumtanzen kannst. So wie deinem Drogendealer-Freund. Deinem Mahmoud.«

»Baba, hör auf!«, schrie ich. Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss.

»Du hast keinen Respekt!«, schrie er zurück.

In diesem Moment platzte es aus mir heraus: »Du verstehst doch überhaupt nichts! Wenn ich einen Mann haben wollte, dem ich auf der Nase rumtanzen kann, dann hätte ich doch den Erstbesten genommen, den ihr mir ins Haus gebracht habt. Dann hätte ich doch nicht diese Hölle durchgemacht, die ich durchmachen muss. Geht das nicht in deinen sturen Kopf?«

So ausfallend war ich gegenüber meinem Vater noch nie geworden. Ich wusste, dass ich kurz davor war zu explodieren. Ich lief in mein Zimmer und schlug die Tür hinter mir so heftig zu, wie ich nur konnte. Ich bereute es noch im selben Moment. Mein Vater kam mir mit hochrotem Kopf hinterhergerannt.

»Was ist los mit dir?«, schrie er und ging auf mich los. Instinktiv nahm ich die Hände vor mein Gesicht. Ich spürte, wie er zuschlug, wie er immer und immer wieder zuschlug. Doch ich war es gewohnt. Ob mein Vater zuschlug oder mein Bruder, machte keinen Unterschied. Schläge sind Schläge und mit der Zeit lernt man, dass die Schmerzen, die ein Schlag verursacht, irgendwann vorbeigehen. Sie hinterlassen nur Narben auf unserer Seele, aber mit den Jahren weiß man, seine Seele zu verbergen. Wenn man sie schon nicht schützen kann.

Doch dieses Mal war etwas anders. Es hatte sich in den letzten Wochen und Monaten so viel Wut und Ärger in mir aufgestaut. Ich war verzweifelt und jetzt brach alles aus mir heraus. Ich schubste meinen Vater weg und schrie ihn an. Er stürzte und riss mich mit zu Boden. Ich sah an seinem Gesicht, dass die Wut ihn jetzt komplett beherrschte. Er war so in Rage, dass er nicht mehr zurechnungsfähig war. Er schlug immer weiter auf mich ein. Doch dieses Mal war ich nicht bereit, die Schläge zu akzeptieren.

Ich sprang auf und schrie ihn an: »Es reicht!«

Er schaute mich einen Moment lang verwundert an. Noch nie hatte seine Tochter es gewagt, sich so gegen seinen Willen zu stellen.

»Es reicht!«, wiederholte ich mit Nachdruck. »Nie wieder, nie wieder wirst du mich anfassen! Nie wieder! Das war das letzte Mal, dass irgendjemand in dieser Familie eine Hand gegen mich erhebt oder mich berührt.«

Er schaute mich mit großen Augen an und sagte nichts mehr. Die Stille war unerträglich. Bis meine Mutter ins Zimmer gestürmt kam. Als sie meinen Vater auf dem Boden liegen sah, hielt sie sich die Hände vors Gesicht und weinte.

»Was tust du bloß, Aylin? Was tust du nur?«

Ich konnte das nicht mehr ertragen. Ich musste weg. Ich musste raus. Raus aus diesem Haus. Raus aus diesem Leben. Raus aus diesem Albtraum. Ich lief aus meinem Zimmer und ließ alles hinter mir. Ich lief in den Hausflur, die Treppen runter, hörte, wie mein Vater mir etwas hinterherbrüllte. Ich verstand kein Wort. Es war mir egal. In meinem Kopf war nur ein Gedanke: Raus! Als ich vor der Tür stand, im Freien, da merkte ich, dass ich weder mein Kopftuch noch meine Schuhe anhatte. Ich war barfuß. Aber es war mir vollkommen egal.

Es war eine fürchterliche Nacht. Es stürmte. Es regnete in Strömen. Kein Mensch war unterwegs. Aber auch das war mir egal. Ich lief weiter, immer weiter, die große Straße entlang. Meine Mutter stand auf dem Balkon und schrie herunter.

»Aylin, bitte Aylin, komm zurück. Komm doch zurück. Was machst du denn nur, mein Kind?«

Ich sah, wie die Lichter in den anderen Wohnungen angingen. Wie die Nachbarn die Fenster öffneten, um zu sehen, was denn los war. Ein letztes Mal drehte ich mich um. Dann lief ich weiter die nasse Straße entlang. Ich achtete nicht darauf, wo ich lang lief. Ich wollte einfach nur weg.

Ich hatte jedes Gefühl für Raum und Zeit verloren. Ich musste bestimmt eine gute Stunde gelaufen sein. Irgendwann wusste ich nicht mehr, wo ich war. Der Regen wurde immer stärker. Ich schaute auf mein Handy. Es war weit nach Mitternacht. Ich setzte mich auf eine Parkbank und atmete durch. Nach und nach fing ich an zu realisieren, was passiert war. Und ich wurde von Sekunde zu Sekunde nervöser.

Dann wählte ich die Nummer der Polizei.

Eine Frau meldete sich. »Polizei Berlin, was können wir für Sie tun?«

»Ich brauche Hilfe«, stammelte ich. »Ich muss hier weg. Ich muss weg aus meinem Leben.«

»Bleiben Sie ganz ruhig«, versuchte mich die Beamtin zu beruhigen. »Atmen Sie tief durch. Sagen Sie mir, wie Sie heißen, wo Sie sind und was passiert ist.«

Aber ich war so nervös, ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich stammelte irgendetwas vor mich hin. Der Regen wurde immer heftiger und meine nassen Haare fielen mir in mein Gesicht.

»Bitte kommen Sie und holen Sie mich ab«, sagte ich. »Ich heiße Aylin. Ich will einfach nur weg. Bitte bringen Sie mich weg.«

»Was ist denn passiert?«

»Ich wurde geschlagen … bitte … bitte bringen Sie mich einfach weg«, flehte ich schon beinahe und spürte, wie sich mein Hals langsam zuschnürte.

»Wo sind Sie?«

Ich schaute mich um. Ich hatte wirklich keine Ahnung, wo ich war.

»Gibt es irgendeinen Laden, irgendein Restaurant, das Sie sehen?«, fragte die Polizistin.

»Ja«, sagte ich. Auf der anderen Straßenseite war ein italienisches Restaurant. Es war noch offen. Ich gab der Polizistin den Namen und legte auf.

Es dauerte eine Weile, aber als die zwei Polizisten endlich kamen, war ich unendlich erleichtert. Das ist meine Rettung, dachte ich. Diese Männer werden mich retten.

Ich atmete tief durch. Zum ersten Mal seit Monaten hatte ich das Gefühl, dass jetzt endlich alles gut werden könnte. Dass es zumindest die Chance gäbe, dass alles eine Wendung nimmt. Dass ich dieses Gefängnis, das mein Leben war, hinter mir lassen könnte.

Die beiden Polizisten setzten sich zu mir und ich erzählte ihnen, was passiert war.

»Möchten Sie Anzeige gegen Ihren Vater erstatten?«, fragten sie mich.

»Nein. Ich will keine Anzeige erstatten. Ich will einfach nur weg. Verstehen Sie? Ich will weg von dieser Familie.«

»Gibt es einen Ort, an den Sie gehen könnten?«

Ich dachte kurz nach. Nein. Es gab keinen Ort, an den ich gehen könnte. Alles, was ich hatte, war meine Familie.

»Keine Sorge«, sagte einer der Polizisten. »Es gibt Frauenhäuser. Dort wird man sich um Sie kümmern. Dort sind Sie geschützt.«

Ich nickte. Als ich aufstand, um mit den Polizisten zum Streifenwagen zu gehen, bemerkten sie, dass ich keine Schuhe trug.

»Haben Sie keine Schuhe dabei?«, fragten sie mich.

Ich schüttelte den Kopf.

»Wir müssen Sie in ein Krankenhaus bringen«, sagte einer der Beamten und zeigte auf meine Kopfwunde. »Das muss untersucht werden. Aber erst einmal fahren wir zu Ihnen nach Hause und holen Ihre Sachen. Vor allem Ihre Schuhe.«

Mir stockte der Atem. »Nein!«, protestierte ich sofort. »Auf keinen Fall! Ich will auf keinen Fall zurück.« Ich blieb stehen.

»Sie müssen nicht zurück, das versprechen wir Ihnen. Sie müssen nur Ihre Sachen holen. Wir sind ja bei Ihnen. Machen Sie sich keine Sorgen.«

Die Polizisten drückten mich sanft Richtung Ausgang. Mein Herz überschlug sich. »Nein! Nein! Ich will auf keinen Fall wieder in die Wohnung! Bitte! Ich brauche keine Schuhe. Es geht auch so. Alles, nur nicht zurück nach Hause.« Meine Kehle schnürte sich zu.

Der Polizist legte seine Hand auf meine Schulter.

»Vertrauen Sie uns. Wir versprechen Ihnen, dass Ihnen nichts passieren wird. Aber Sie müssen Ihre Sachen holen. Sie brauchen einen Ausweis. Sie brauchen Klamotten. Sie brauchen Schuhe.«

Es hatte keinen Sinn. Ich konnte flehen, wie ich wollte. Die Polizisten wollten unbedingt meine Sachen holen. Ich setzte mich in den Streifenwagen. Alle meine Hoffnungen wurden in diesem Moment zunichtegemacht. Ich wusste, dass das nicht gut ausgehen konnte. Ich musste zurück. Zurück in die Hölle.

Der Streifenwagen fuhr los und ich schaute aus dem Fenster. Es regnete noch immer, auf den Straßen hatten sich mittlerweile große Pfützen gebildet. Das Licht einer roten Ampel wurde vom nassen Asphalt reflektiert, als wir durch Kreuzberg fuhren. Das überlebe ich nicht, dachte ich. Ich werde diese Nacht nicht überleben.

Dann bog der Streifenwagen in unsere Straße ein. Mein Herz schlug wie verrückt.

»Oh, scheiße«, hörte ich einen der Polizisten sagen.

»Was?«, fragte ich und sah in diesem Moment, dass vor unserer Haustür fünfundzwanzig, vielleicht dreißig Männer standen.

»Gehören die zu Ihrer Familie?«, fragte mich einer der Polizisten, der nun auch sichtlich nervös war.

»Ja«, sagte ich. Das waren meine Brüder, meine Cousins, deren Schwiegerväter und meine Onkel.

Mein Puls raste wie verrückt.

»Bitte, fahren Sie wieder weg. Das wird nicht gut enden.«

»Wir kriegen das hin«, sagte der Beamte wohl mehr zu sich selbst als zu mir und forderte über Funk Verstärkung an. Dann sprach er mir noch einmal gut zu. »Wir kriegen das hin. Kommen Sie.«

Wir stiegen aus dem Auto aus und sofort kam mein älterer Bruder Seyed auf mich zugelaufen.

»Aylin, pfuu, was machst du? Was kommst du hier mit der Polizei an? Hast du den Verstand verloren?«

Ich ging instinktiv einen Schritt zurück. Ich hatte Todesangst. Der Polizist stellte sich vor mich.

»Ganz ruhig«, sagte er zu meinem Bruder. »Ganz ruhig. Wir haben hier das Sagen und nicht …«

»Da scheiß ich drauf!«, schrie mein Bruder ihm aggressiv ins Gesicht. Das artet hier gleich aus, dachte ich. Doch der Polizist blieb ruhig.

»Entweder«, sagte er und blickte meinem Bruder fest in die Augen. »Entweder du verschwindest – oder wir buchten dich ein. Verstanden?«

Dann gingen wir an den kopfschüttelnden Verwandten vor der Haustür vorbei und betraten den Hausflur. Ich rechnete die ganze Zeit damit, dass ich von hinten angegriffen würde. Dass mir irgendjemand ein Messer in den Rücken stechen würde. Auch die Polizisten waren nervös. Beide hielten eine Hand an ihrer Waffe.

»Damit kommst du nicht durch, du Miststück!«, schrie mein Bruder uns hinterher. »Egal, wo du hingehst, egal, was du tust, wir werden dich finden! Wir werden uns rächen! Verrat ist unentschuldbar!«

Er hörte nicht auf.

»Blutschande!«, schrie er. Und mit jedem seiner Worte wurde ich noch unsicherer. Mit jeder Stufe, die wir in den vierten Stock hochgingen, wurde ich panischer.

»Machen Sie schnell«, flüsterte mir der Polizist zu, als wir die Wohnung betraten. Ich lief in mein Zimmer und packte schnell die wichtigsten Sachen zusammen. Tatsächlich hatte ich schon seit Wochen eine Reisetasche vorbereitet. Ich weiß nicht, wieso ich das getan hatte. Ich hatte nicht vor wegzugehen. Aber ich spürte, dass der Tag kommen würde, an dem alles eskalierte. Es hatte sich so viel aufgestaut. Ich wusste, dass ich das nicht ewig durchhalten würde.

Als wir die Wohnung verließen, lag meine Mutter weinend auf dem Wohnzimmerboden. Sie krümmte sich, als hätte sie große Schmerzen. Mein Vater saß nur auf dem Sofa und hielt sich die Hände vor sein Gesicht. Der ganze Raum wurde von Blaulicht eingefärbt. Man hörte die Polizisten unten mit meinen Verwandten verhandeln.

»Was willst du, Aylin? Was willst du denn?«, fragte meine Mutter noch, doch da fiel die Tür bereits ins Schloss.

Ja, was möchte ich?, fragte ich mich selbst. Ich wollte nicht viel. Ich verlangte nie viel. Ich wollte nur nicht den Cousin meiner Mutter heiraten. Einen Mann, den ich nicht liebte. Ich wollte raus aus dieser Gefangenschaft. Ich wollte nicht mehr geschlagen werden. Aber ich wollte auch nicht, dass es so endet, wie es gerade endete. Ich wollte nicht, dass meine Familie leiden muss. Obwohl ich jahrelang unter ihr litt. Wenn mein Herz nicht schon lange gebrochen gewesen wäre – den Anblick meiner weinenden Mutter hätte ich nicht ertragen können.

Auf der Treppe hörte ich, wie sich die Tür oben öffnete.

»Aylin, wir machen, was du willst. Wir lösen die Verbindung. Hauptsache, du gehst jetzt nicht. Hauptsache, du bleibst. Dein Bruder wird dich umbringen. Das weißt du. Du wirst nicht am Leben bleiben, wenn du dieses Haus jetzt mit der Polizei verlässt. Bitte bleib, wir machen, was du verlangst«, schrie meine Mutter mir hinterher.

Ich hätte ihr so gern geglaubt. Ich hätte so gern geglaubt, dass es besser werden würde. Aber es wurde nie besser. Es wurde nur immer schlimmer.

Ich drehte mich nicht mehr um. Ich werde das jetzt beenden, sagte ich mir. Auch wenn es schmerzhaft ist. Auch wenn ich meine Familie tief in meinem Herzen noch immer über alles liebte. Aber wenn ich das heute nicht schaffte, dann würde ich niemals ein richtiges, ein glückliches Leben haben.

Wenn ich jetzt nicht gehe, werde ich niemals gehen. Das sagte ich mir wie ein Mantra immer und immer wieder.

Die Polizisten nahmen mich in ihre Mitte. Stufe für Stufe stiegen wir den Hausflur hinunter. Mit jeder Stufe ging ich einem neuen Leben entgegen. Jeder Schritt fiel mir schwer. Es fiel mir schwer, meine Familie hinter mir zu lassen. Sie waren doch alles, was ich hatte. »Wir haben es beinahe geschafft«, sagte einer der Polizisten.

Als wir im Erdgeschoss angekommen waren, stand plötzlich Bero in der Eingangstür. Der Schwiegervater meines Bruders. Er war ein großer, breiter Mann mit einem freundlichen Gesicht und einem grauen Bart. Er hatte Tränen in den Augen, als er mich sah.

»Aylin«, sagte er mit leiser Stimme und öffnete seine Arme. »Aylin, mein Kind. Was ist nur los? Was ist nur passiert?«

Seine Stimme war zärtlich und voller Mitgefühl. Ich sah seinem Gesicht an, dass er aufrichtig mit mir litt. Er kam auf mich zu. Ich schüttelte nur leicht den Kopf und spürte, wie mir die Tränen wieder in die Augen schossen. Sei stark, Aylin, sprach ich mir selbst Mut zu.

Aber auf einmal konnte ich nicht mehr stark sein.

»Aylin, du bist doch unser Kind. Geh nicht. Lass uns eine Lösung finden. Wir lieben dich.«

Meine letzte Kraft, die ich noch hatte, war weg. Es war alles weg. Ich fiel Bero in die Arme und brach völlig zusammen.

»Mein Kind«, wiederholte er. »Wir werden das hinbekommen. Wir werden das alles wieder hinbekommen. Wir sind doch eine Familie. Die Familie hält immer zusammen.«

»Kommen Sie, Aylin«, sagte der Polizist. »Wir müssen gehen.«

Aber ich konnte nicht mehr. Ich war fertig.

»Sie bleibt bei mir«, sagte Bero. »Sie bleibt bei der Familie. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir achten auf sie. Wir klären das unter uns. Wir brauchen keine Polizei.«

Der Polizist schaute mich an.

»Gehen Sie …«, flüsterte ich.

»Nein, wir können Sie nicht hierlassen.«

»Gehen Sie!«, schrie ich ihn an. »Es ist meine Entscheidung.«

»Gut so, Aylin«, sagte Bero.

Ich schloss die Augen und sackte innerlich zusammen. Ich hatte es nicht geschafft. Ich bin nicht von dieser Familie losgekommen. Und obwohl es meine eigene Entscheidung war zu bleiben, spürte ich instinktiv, dass diese Nacht erst das Vorspiel zu einem noch viel größeren Drama sein sollte. Und dieses Drama, das war mein Leben.

KAPITEL 1

Der Beginn

Die Geschichte meines Lebens ist auch die Geschichte meiner Eltern. Und wenn ich diese Geschichte erzählen will, dann muss ich sie als die Geschichte einer bedingungslosen Liebe erzählen. Einer Liebe, die ihren Ursprung im Krieg findet.

Meine Eltern sind Palästinenser. Doch geboren und aufgewachsen sind sie im Libanon. Es gab eine Zeit, da galt der Libanon als ein Sehnsuchtsort. Als orientalisches Paradies. Eine Zeit, in der man die libanesische Hauptstadt Beirut auch als das »Paris des Orients« bezeichnete. Der Libanon war schon immer ein Ort von extremen Gegensätzen. Es gibt auf der einen Seite die staubige Wüste und auf der anderen Seite das schneebedeckte Libanongebirge. Es gibt das pulsierende Beirut und kleine, kaum an den technologischen Fortschritt angepasste Dörfer und Siedlungen. Und es gibt im Libanon Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen und Religionen, die für die gegensätzlichsten politischen Anschauungen einstehen. In den 1970er-Jahren prallten diese Vorstellungen aufeinander. In der Zeit, in der meine Eltern sich kennenlernten, war der Libanon kein Sehnsuchtsort mehr. In der Zeit, in der meine Eltern sich kennenlernten, versank der Libanon schon seit Jahren in einem fürchterlichen Chaos. Es herrschte Bürgerkrieg. 100 000 Menschenleben sollte dieser Krieg noch fordern. Die Situation im Land war angespannt. Beinahe täglich explodierten Sprengsätze, die Nahrungsvorräte waren knapp und die Menschen verunsichert.

Wie fast alle Männer wurde auch mein Vater in den 1980er-Jahren als Soldat eingezogen. Er hielt nicht viel vom Krieg. Er hielt nicht viel davon, eine Waffe zu tragen, mit der er auf seine eigenen Landsleute schießen müsste. Aber er hatte keine Wahl. Auf Befehlsverweigerung stand eine lange Haftstrafe. Doch mein Vater hatte Glück gehabt. Er wurde in ein kleines Dorf am anderen Ende des Landes versetzt. Ein Dorf, in dem es ruhig war. In dem es nicht zu Kämpfen kam. Es war das Dorf, in dem meine Mutter lebte. Und es dauerte nur ein paar Wochen, bis sie sich kennenlernten. Es passierte ganz zufällig. Die Aufgabe meines Vaters war es, für die Sicherheit in dem Ort zu sorgen. Er musste tagsüber mit seinen Kollegen patrouillieren. In seiner Mittagspause setzte er sich gern an einen schönen Brunnen, der in der Mitte des Dorfes stand. Und dort kam eine junge Frau vorbei.

Mein Vater sagte später oft, dass er niemals vorher und niemals danach so eine hübsche Frau gesehen hat. Aber er traute sich nicht, sie anzusprechen. Mein Vater trug zwar eine Uniform und eine Maschinenpistole, aber er war ein schüchterner Mann. Am nächsten Tag saß er zur selben Zeit am selben Brunnen und dieselbe Frau kam erneut vorbei. Doch noch immer hatte mein Vater nicht genügend Mut, sie anzusprechen. Seine Kollegen lachten ihn aus. Also beschloss mein Vater, es darauf anzulegen. Würde das Mädchen am nächsten Tag wieder zur selben Zeit am selben Ort sein, dann, so schwor er, würde er sich dieses Mal überwinden und wirklich auf sie zugehen. Und so kam es. Am dritten Tag war das Mädchen wieder da und mein Vater nahm all seinen Mut zusammen.

»Ich habe nicht viel Zeit«, sagte das Mädchen. Aber sie fühlte sich geschmeichelt, dass ein Soldat sie ansprach. Sie müsse gleich wieder nach Hause. Sie wurde nur geschickt, um frisches Wasser von dem Brunnen zu holen. Mein Vater begleitete sie ein wenig. Das schmeichelte ihr noch mehr. Es waren sieben Minuten. Das wusste mein Vater auch noch viele Jahre später. Sieben Minuten Fußweg von dem Brunnen bis zu dem Haus, in dem das Mädchen wohnte. Sieben Minuten, die für einen Mann in diesem Moment die ganze Welt bedeuteten. Am nächsten Tag begleitete er sie wieder. Das ging über viele Wochen so. Sieben Minuten Glück. Sieben Minuten Hoffnung. Und das mitten im Krieg. Mein Vater verliebte sich in diese Frau. Meine Mutter.

Doch ihre Liebe stand unter keinem guten Stern. Die Familie meiner Mutter war gegen die Verbindung. Sie hatten ein Problem mit der Herkunft meines Vaters. Die Familie meines Vaters gehört zu dem Stamm der Beduinen. Die Beduinen waren früher Nomaden. Sie lebten hauptsächlich in der Wüste der arabischen Halbinsel, der Syrischen Wüste oder im Sinai. Sie zogen von Ort zu Ort und hatten keine feste Heimat. Einige gelangten sogar bis nach Afrika. Als mein Vater geboren wurde, war meine Familie zwar bereits im Libanon ansässig, aber der Stammbaum zählt bei Arabern sehr viel mehr als in anderen Kulturen. Wenn man sich um einen Job bewirbt, dann wird man häufiger nach seinen Eltern und seiner Familie gefragt als nach den Qualifikationen, die man vorweisen kann. Im arabischen Kulturraum ist es eine Familie, die einen Menschen bestimmt. Die Beduinen gelten als sehr konservativer Stamm. Bei der Familie meiner Mutter handelt es sich um einen Stamm, der eher dem Bürgertum zugeordnet werden kann. Sie lebten schon immer in den Städten, sind sehr liberal und modern eingestellt. Und diese moderne Familie wollte nicht, dass ihre Tochter mit meinem Vater, einem Mann aus einem konservativen Stamm, zusammenlebt. Als er um die Hand meiner Mutter anhielt, lehnten sie ab.

Aber sie verboten meinen Eltern nicht bloß die Hochzeit, sie untersagten meiner Mutter auch, sich weiter mit meinem Vater zu treffen. Mein Vater war am Boden zerstört. Er dachte lange darüber nach, was er machen sollte. Und irgendwann kam er zu dem Entschluss, dass er die Entscheidung nicht akzeptieren konnte. Er wusste, dass das eine Ungeheuerlichkeit war. Sich gegen den Willen der Eltern der potenziellen Braut zu stellen, war eine große Respektlosigkeit. Und auf Respektlosigkeiten reagierte man im Libanon sehr drastisch. Aber mein Vater war bereit, dieses Risiko zu tragen. Jeden Tag stand er nun vor der Tür meiner Mutter und klingelte. Jeden Tag bat er meinen Großvater um die Hand seiner Tochter. Und jeden Tag wurde er weggeschickt. Aber mein Vater ließ sich nicht davon abhalten, es am nächsten Morgen wieder zu versuchen. Nach zwei Wochen fragte mein Opa ihn, warum er nicht endlich aufhöre, jeden Tag an seine Tür zu kommen.

»Weil ich Ihre Tochter liebe«, entgegnete mein Vater.

»Wenn du sie lieben würdest, würdest du ein Nein akzeptieren«, sagte ihm mein Opa. »Hast du denn keine Würde? Jeden Tag hier wieder und wieder aufzukreuzen?«

»Wenn Ihre Tochter mir ins Gesicht sagt, dass sie mich nicht liebt, würde ich nie wieder vor Ihrer Tür stehen. Aber ich weiß, dass sie es tut. Und weil mir meine Liebe zu ihr mehr bedeutet als meine Würde, werde ich auch morgen wiederkommen.«

Und mein Vater kam wieder. Und wieder und wieder und wieder. Und irgendwann waren meine Großeltern entweder so genervt oder so beeindruckt von ihm, dass sie die Hochzeit gestatteten. Meine Eltern haben mir diese Geschichte oft erzählt. Sie ist eine Art Familienmythos. Sie hat sich mir tief in mein Gedächtnis gebrannt. So tief, dass sie unbewusst irgendwann mein eigenes Leben beeinflussen sollte. Meine Eltern heirateten und schon bald bekamen sie ihr erstes Kind. Eine Tochter. Leyla. Es folgte mein älterer Bruder Seyed. Und dann war meine Mutter ein drittes Mal schwanger. In dieser Zeit klopfte es an ihre Tür. Es waren zwei Männer vom Militär, die ihr mitteilten, dass ihr Mann in Kriegsgefangenschaft geraten war. Mittlerweile musste mein Vater nämlich nicht mehr bloß in sicheren Stadtteilen patrouillieren, er wurde auch in unsicherere Gebiete geschickt. Feindkontakt gehörte jetzt zum Alltag. Für meine Mutter war die Nachricht ein Schock. Sie hatte große Angst um ihren Mann. Sie kannte die Geschichten von den unwürdigen Bedingungen in Militärgefängnissen. Sie wusste von der Folter, die einige Häftlinge durchmachen mussten. Die Vorstellung, dass man meinem Vater etwas Schlimmes antun könnte, machte sie fast wahnsinnig. Sie steigerte sich immer mehr in ihre Angst hinein. Und wurde krank. Als mein Vater nach drei Monaten entlassen wurde und nach Hause kam, hatte meine Mutter eine schlechte Nachricht für ihn. Sie hatte ihr Kind verloren. Die beiden setzten sich auf ihr Bett und weinten. Und mein Vater verfluchte diesen Krieg. In einem anderen Land hätte man meiner Mutter wahrscheinlich sehr leicht helfen können. Aber im bürgerkriegsgeplagten Libanon gab es kaum Medikamente und nur schlechte medizinische Versorgung.

Und dann passierte etwas, was das Leben meiner Familie nachhaltig verändern sollte. Die Geschichte wiederholte sich. Meine Mutter wurde erneut schwanger. Mein Vater wieder inhaftiert. Dieses Mal ging zwar alles gut. Aber als mein Vater nach neun Monaten wieder freigelassen wurde und mich als neugeborenes Baby in den Armen hielt, beschloss er, uns ein besseres Leben zu ermöglichen. Er kämpfte hier einen Kampf, der nicht sein Kampf war. Und er wollte nicht mehr kämpfen. Alles, was er wollte, war seine Familie. Für diese Menschen wollte er da sein. Diese Menschen wollte er beschützen. Mein Vater sagte, dass er zum ersten Mal in seinem Leben Angst hatte. Angst, dass weitere Kinder sterben würden. Angst, dass seine Familie in diesem Land, in diesem Krieg zerbrechen könnte. Angst, dass er den Menschen, die er am meisten liebte, keine Zukunft bieten könnte. So konnte es für ihn nicht weitergehen. Also setzte er sich mit meiner Mutter zusammen. Die beiden überlegten, was sie tun könnten. Sie riefen ihre Verwandten und Bekannten an, holten sich Ratschläge von ihren Brüdern und Cousins ein. Viele Monate vergingen. Und dann trafen sie eine Entscheidung, von der sie wussten, dass sie ihr Leben komplett auf den Kopf stellen würde. Sie beschlossen, aus dem Libanon wegzugehen. Einige Cousins meines Vaters wohnten bereits in Deutschland. Sie erzählten nur Gutes von diesem Land. In Deutschland konnte man durch ehrliche Arbeit auch ehrliches Geld verdienen. In Deutschland gab es keine Kriminalität auf den Straßen, zumindest wurde in Deutschland nicht einfach so jemand erschossen, nur weil irgendwem sein Gesicht nicht gefallen hat. Und in Deutschland, da wurden alle Menschen gleich behandelt. Jeder hatte dieselben Rechte. Ob Mann oder Frau. Ob jung oder alt. Ob Einheimischer oder Zugezogener. Für meinen Vater klang das nach einem Versprechen. Er wusste aber auch: Jedes Versprechen fordert seinen Tribut.

Es gab für ihn keinen einfachen Weg nach Deutschland. Allein die Vorbereitungen dauerten Ewigkeiten. Er musste in einem kleinen Boot über das Mittelmeer reisen. Und sich von Italien aus auf dem Landweg durchschlagen, um dann vor Ort Asyl beantragen zu können. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Wenn er erst einmal in Deutschland war, wollte er die Familie nachholen. Seine Cousins erklärten es ihm. Nachdem mein Vater Asyl beantragt hatte, konnte er den sogenannten Familiennachzug in Anspruch nehmen. Der Rest der Familie könnte dann mit dem Flugzeug ganz legal und gefahrlos in Deutschland landen. Mein Vater hat nie über seine Reise gesprochen. Er hat nie erzählt, was ihm auf seinem Weg in die Fremde wiederfahren ist. Er sagte immer nur, dass er den Willen hatte, seine Familie zu schützen, und dieser Wille hat ihn Weltmeere bezwingen lassen. Das war typisch für meinen Vater. Ich war noch zu klein, um das alles mitzubekommen, aber meine Mutter hat mir später oft erzählt, dass diese Reise ihn verändert hat. Er ist härter geworden. Er hat die Dinge nicht mehr an sich herangelassen. Wer weiß, was er auf seinem Weg alles sehen oder erdulden musste. Was ihm in den ganzen Monaten durch den Kopf ging. Vielleicht dachte er an seine Zeit als Kriegsgefangener zurück. Vielleicht blickte er aber auch einfach nach vorne. Und freute sich auf sein neues Leben, von dem er hoffte, dass es ein besseres werden würde.

***

Der Rest meiner Familie erreichte Deutschland im Dezember 1989. Ich war zwei Jahre alt. Es war tiefster Winter. Für meine Mutter ein Kulturschock. Sie erzählte mir immer wieder davon, wie sie damals durch den Tiefschnee stapfen musste. Wie sie fremde Menschen ansprach, die ihr halfen, das ganze Gepäck zu tragen. Wie sie mit vier Kleinkindern an den Händen und auf dem Rücken die Flüchtlingsunterkunft am Rande der Stadt erreichte. Und wie mein Vater dort schon auf uns wartete. Das war ihr erster Eindruck von Berlin. Schnee, Kälte, Chaos. Das Gefühl dieser Überforderung sollte noch einige Zeit anhalten.

Vier Jahre wohnten wir in einem Flüchtlingsheim. Meine Erinnerungen an diesen Ort sind verschwommen, aber ich weiß noch sehr genau, dass das Heim kein angenehmer Ort war. Es roch streng und alles war unhygienisch. Die Badezimmer waren eklig. Die Betten waren unbequem. Wir lebten mit acht Personen zusammengefercht in zwei Zimmern. Ich fühlte mich dort sehr unwohl. Aber immer, wenn meine Geschwister es nicht mehr aushielten, kam mein Vater zu uns und sagte, dass wir noch ein wenig durchhalten müssten. Es würde der Moment kommen, wo alles besser wird. Immer wieder sagte er das. Es war sein Versprechen an uns Kinder, die nicht verstanden, warum wir plötzlich in einem fremden Land waren. Mit fremden Leuten. Mit einer fremden Sprache, die wir nicht verstanden. Unsere Eltern merkten natürlich, wie schwer diese Umstellung für uns war. Und sie versuchten, das Beste daraus zu machen. Jede Woche machten wir Ausflüge. Erkundeten gemeinsam die große, fremde Stadt. Wir sollten uns vorstellen, dass wir auf einem riesigen Abenteuerspielplatz seien, sagte mein Vater. Manchmal fuhren wir auch mit dem Bus bis zur Endhaltestelle. Dort gab es einen kleinen Wald und mitten in diesem Wald war ein Kinderbauernhof. Dort gab es auch ein Jugendhaus, wo viele Kinder waren. Die Betreuer kümmerten sich ganz liebevoll um uns. Wir durften die Ziegen streicheln und alle waren sehr nett. Wir bekamen auch immer Kekse und Milch. Einfach so. Das waren die schönen Momente, die die nicht so schönen Momente ein klein wenig erträglicher machten.

In dem Flüchtlingsheim lernten wir auch viele weitere Familien kennen, die aus dem Libanon kamen. Ich freundete mich mit den anderen Kindern an und wir spielten zusammen im Hof. Es ist schon merkwürdig. Obwohl die äußeren Umstände für uns alle extrem schwer waren, habe ich diese frühe Zeit in Deutschland als eine schöne Zeit in Erinnerung. Nicht, weil es uns in irgendeiner Weise besonders gut ging, sondern weil wir in dieser Zeit als Familie so stark zusammengehalten haben. Dieses Gefühl, dass die Familie immer noch sich selbst hat, auch wenn alles um dich herum in Trümmern liegt, dieses Gefühl habe ich nie vergessen. In den ersten Jahren in Deutschland ist auch mein jüngerer Bruder auf die Welt gekommen. Selim.

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Im Alter von fünf Jahren wurde ich eingeschult. Ich kam in die erste Klasse. Eigentlich war ich dafür noch zu jung. Ich wollte in den Kindergarten. Oder in die Vorschule. Weil die ganzen anderen Mädchen aus dem Flüchtlingsheim mir damals so viel Gutes davon erzählt hatten. Sie erzählten mir von den lustigen Spielen und den schönen Ausflügen. Die Schule hingegen sei etwas sehr Ernstes, hieß es. Aber im Schulamt sagte man uns, ich wäre weit genug, um in der ersten Klasse einzusteigen. Im Gegensatz zu meinem Bruder sprach ich schon sehr gutes Deutsch. Meine Eltern achteten darauf, dass wir zu Hause möglichst viel deutsch und möglichst wenig arabisch sprachen. Also kam ich in die erste Klasse. Und sie war nicht so schlimm, wie ich es befürchtet hatte. Ich fand schnell neue Freunde, mit denen ich die Nachmittage verbrachte. Meine Leistungen waren auch ziemlich gut.

1994 bezogen wir dann unsere erste eigene Wohnung im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Meine Eltern waren überglücklich. Eine eigene Wohnung zu haben, bedeutete, in einem gewissen Maße wirklich zu Hause zu sein. Die Dreizimmerwohnung war zwar nicht wirklich groß, aber das spielte überhaupt keine Rolle. Es war unsere Wohnung. Unsere Wohnung in unserer neuen Heimat. Wir vier Kinder lebten in einem der drei Zimmer zusammen. Ein anderes Zimmer war das Schlafzimmer meiner Eltern und der dritte Raum war unser Wohnzimmer. Und obwohl sich eigentlich alles sehr positiv entwickelte, wurde die Stimmung zu Hause mit der Zeit immer schlechter. Meine Eltern fingen an, sich häufiger zu streiten. Es ging meistens nur um Kleinigkeiten, aber sie schrien rum und schmissen sich unschöne Wörter an den Kopf.

Das heile Familienbild bekam erste Risse. Vielleicht waren die auch schon vorher da und wurden nur verdeckt. Vielleicht sprachen meine Eltern bislang nicht darüber, weil sie dachten, wir hätten doch genug andere Sorgen in dem Flüchtlingsheim, mit denen wir zurechtkommen mussten. Vielleicht schluckten meine Eltern ihre Ängste einfach für ein paar Jahre herunter, weil sie dachten, sie müssten stark sein für uns Kinder. Dass sie aber viel nachdachten, das sah man ihnen an. Es gab ja auch viele Gründe dafür. Zehn Jahre lang hatten wir keine Aufenthaltserlaubnis. Wir waren nur geduldet. Und über unsere weitere Duldung wurde jedes Jahr neu entschieden. Das war nicht nur psychisch ein Albtraum. Es stellte unsere Familie auch vor ganz konkrete Probleme. Meine Eltern wollten unbedingt arbeiten. Aber sie durften nicht. Für meine Eltern gab es damals keinen Sprachkurs. Sie brachten sich Deutsch selbst bei. Hätten sie von Anfang an die Chance bekommen, sich richtig in die Gesellschaft zu integrieren, ein Teil von ihr zu werden, dann wären viele Dinge vielleicht nicht so gekommen, wie sie später gekommen sind. Nach zehn Jahren schließlich bekamen meine Eltern eine Arbeitserlaubnis. Meine Mutter arbeitete dann Vollzeit in einem Hotel. Mein Vater kam später auch dazu. Aber zu diesem Zeitpunkt war schon vieles passiert, was nicht hätte passieren dürfen.

Für meine Geschwister und mich war die unklare Situation mit der Duldung besonders schlimm. Wir sprachen oft davon, wie es denn wäre, wenn wir wieder zurück in den Libanon müssten. Außer meiner Schwester erinnerte sich niemand mehr so richtig an das Land. Für mich war das eine Horrorvorstellung. Ich träumte nachts oft davon, dass die Polizei kommen und uns zwingen würde, mit einem Flugzeug nach Beirut zu fliegen. Ich hatte keine Vorstellung von dieser fremden Welt. Aber schon der Klang des Namens war für mich befremdlich: Li-ba-non. Zwar versuchten meine Eltern, mich immer wieder zu beruhigen und erklärten mir, dass wir auch im Libanon ein schönes Leben führen könnten, wenn wir denn wirklich wieder zurückmüssten – aber ich konnte ihnen das nicht glauben. Sie waren doch aus diesem Land geflohen. In ihren Erzählungen ging es immer wieder um Menschen, die auf offener Straße erschossen wurden. Um Kriegsgefangenschaft. Es ging darum, dass die Menschen zu wenig zum Essen hatten. Wie sollten wir in so einem Land ein schönes Leben führen? Für mich klang das eher nach einem fürchterlichen Albtraum. Und ich hatte panische Angst, dass er eines Tages Realität werden könnte.

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Als ich acht Jahre alt war, sah ich das erste Mal, wie mein Vater meine Mutter schlug. Ich schrie laut auf vor Angst. Ich wusste nicht, was da gerade passierte und warum das passierte. Mein Bruder kam angerannt und versuchte, meinen Vater zu beruhigen, der wie ein Verrückter tobte. Ich verstand damals nicht, was sein Problem war. Aber ich sah, wie er und meine Mutter sich veränderten. Wie Deutschland sie veränderte. Mein Vater liebte meine Mutter über alles, das wusste ich. Aber in der neuen Situation, in diesem neuen Land hatte er Angst, sie zu verlieren. Diese Angst nagte an ihm. Und sie wurde befeuert von den neuen Freunden, die mein Vater im Flüchtlingsheim kennengelernt hatte. Meine Mutter war eine hübsche Frau. Er hatte Angst, dass sie sich in einen anderen Mann verlieben könnte. Einen Mann, der ihr mehr bieten könnte als mein Vater. Das redeten ihm seine Freunde ein. Sie saßen wie kleine Teufel in seinem Ohr. Du musst streng sein mit deiner Frau. Du musst sie im Blick haben. Du darfst ihr nicht zu viel durchgehen lassen. Gerade hier in Deutschland. Die Deutschen nehmen es nicht so ernst mit der Moral. Das verdirbt die Leute. Aber der Einzige, der durch solche Aussagen wirklich verdorben wurde, war mein Vater. Er veränderte sich. Eigentlich war er eine liebenswerte, zärtliche Person. Aber die Paranoia, die seine Freunde ihm einpflanzten, machte aus ihm einen verbitterten und strengen Mann.

Die Angst stieß auf einen fruchtbaren Boden, weil mein Vater tatsächlich das Gefühl hatte, er würde in Deutschland nicht das erreichen können, was er wollte. Zehn Jahre lang durfte er nicht arbeiten. In seinem Selbstverständnis war er der Mann im Haus – und der Mann, der verdient das Geld. Er jedoch wurde zum Nichtstun verbannt. Das große Versprechen, von dem er träumte – es blieb ein Traum. Genährt von Gerüchten und Halbwahrheiten, die nichts mit der Realität eines Asylanten zu tun hatten. Und so saß er den ganzen Tag in unserer Wohnung und machte sich Gedanken über Dinge, über die er sich keine Gedanken machen sollte. Das machte ihn fast wahnsinnig. Seine neuen Freunde redeten ihm auch ein, dass die Menschen in Deutschland keine Werte mehr hätten. Dass Frauen Freiwild seien. Dass die Männer alle Drogen nahmen. »Pass gut auf deine Kinder auf, sonst werden sie auch so«, flüsterten sie meinem Vater ein. Und er wurde auch uns gegenüber immer strenger und strenger. Er tat das nicht aus Boshaftigkeit. Er wurde so, weil er dachte, nur so könne er uns schützen. Und so wurde unser ehemals harmonisches Familienleben immer schlimmer und schlimmer. Ich verstand nicht, was mit ihm los war. Ich merkte nur, dass der gute Vater, der sich damals so liebevoll zu uns Kindern setzte und uns erzählte, wir sollten uns keine Sorgen machen, es würde bald alles besser werden, dass dieser Vater nicht mehr da war. Von ihm geblieben war ein zorniger Mann. Besonders litten meine Schwester Leyla und ich unter ihm. Er war zu uns besonders streng. Ich sprach ihn öfters darauf an. Aber er blockte das ab. Eines Tages, sagte er immer, würden wir verstehen, dass er uns nur schützen will.

Aber ich verstand es nicht. Ich hatte schon als Kind einen ziemlich ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Und es hat mich wahnsinnig gestört, dass mein Vater dauernd zwischen mir und meinen Brüdern unterschieden hat. Sie durften viel mehr als ich. Sie durften lange draußen bleiben. Sie durften mit ihren Freunden ausgehen und spielen. Sie durften auf Klassenfahrten mit. Es war ein ewiger Kampf. In der dritten Klasse hatte ich Schwimmunterricht. Damit ich schwimmen lernen durfte, musste ich aber mein Kopftuch abnehmen. Mein Vater war strikt dagegen. Dann würde ich eben nicht lernen zu schwimmen. Nicht jeder Mensch muss schwimmen können, sagte er. Wir leben auf der Erde und nicht im Wasser.

»Aber, was ist, wenn ich in einen See falle?«

»Warum solltest du in einen See fallen?«

»Na, wenn mich jemand reinschubst?«

»Niemand schubst dich einfach in einen See.«

»Das weißt du doch gar nicht. Du sagst doch, dass du nur mein Bestes willst. Wenn mich aber jemand in den See schubst und ich nicht schwimmen kann, dann werde ich ertrinken.«

»Aylin, so etwas wird nicht passieren.«

»Aber wenn es passiert, willst du für meinen Tod verantwortlich sein?«

Er dachte nach.

»Was ist mit deinem Kopftuch? Man legt es nicht ab.«

»Ich habe mich selbst dazu entschlossen es zu tragen. Und ich werde es nur für den Schwimmunterricht ablegen. Sonst nicht.«

»Dann mach doch, was du willst«, gab er endlich nach.

Mit den Jahren wurde es aber immer schwieriger, ihn zu überzeugen. Irgendwann hatte mein Vater keine Lust mehr zu diskutieren. Das Kopftuch zu tragen, war tatsächlich meine Entscheidung. Ich traf sie, als ich acht Jahre alt war und mich das erste Mal mit dem Islam befasste. Ich fand, dass es ein schönes Zeichen war, um mich zu meiner Religion zu bekennen. Der Islam war für mich keine Religion der Unterdrückung. Im Gegenteil. Er war für mich eher eine Religion der Befreiung.

Auch das Verhältnis zu meiner Mutter und zu meinen Brüdern wurde