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Zwei Dreamer. Drei Schicksale. Milliarden zerrissene Seelen. In einer deutschen Kleinstadt lässt sich ein Lehrer hypnotisieren, um die Ursache für seine Albträume zu finden. Zur gleichen Zeit nimmt eine kalifornische Studentin an einem Klartraum-Experiment teil und beobachtet in ihrem Traum den Hypnotisierten. Bei einer Berührung fallen beide in tiefe Bewusstlosigkeit, aus der sie fernab ihrer Heimat erwachen. Als „Dreamer“ werden sie ungewollt in ein perfides Spiel um Traum und Realität hineingezogen. Ihr skrupelloser Gegenspieler schreckt vor nichts zurück. Können sie ihn aufhalten? Und welchen Preis zahlt man für die Nutzung einer Macht, die kein Mensch besitzen sollte?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Andersträumer
von Michaela Göhr
Urban-Fantasy-Roman
Michaela Göhr lebt in einer kleinen Stadt im Sauerland. Neben ihrer Arbeit als Lehrerin, Mutter und Hausfrau hämmert sie leidenschaftlich gern auf der PC-Tastatur herum. Nur so kann sie ihren Kopf von den drängelnden, schubsen-den und lautstark rufenden Geschichten befreien. Meistens geht es darin um außergewöhnliche Dinge, die sich unbemerkt direkt vor unserer Nase abspielen. Wenn sie mal nicht vor dem Computer sitzt, sieht man sie durch Wald und Flur traben oder im weißen Kampfsport-Outfit in der Sporthalle schwitzen. Ab und zu liest sie auch selbst ein Buch.
Ich danke Elisabeth Marienhagen für die liebevolle, ermutigende und bereichernde Begleitung des Schreibprozesses, Christine Schmidt für ihre kritischen, superhilfreichen Textanmerkungen sowie Christine Föllmer-Maier für ihre Adleraugen beim Korrekturlesen. Außerdem bedanke ich mich bei Katrin Franke-Mois von Coverdesign Epic Moon für die wundervolle Neugestaltung des Covers.
Sämtliche Charaktere in diesem Roman sind frei erfunden und eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen rein zufällig.
Text: © Michaela Göhr
Birkenweg 24, 59553 Halver
www.derfantast.com
www.derfantast.jimdofree.com
Umschlaggestaltung: © Kathrin Franke-Mois Epic Moon – Coverdesignwww.epicmooncoverdesign.com Bildmaterial: stock.adobe.com
Überarbeitete Neuauflage Oktober 2025
Originaltitel: Andersträumer
Er keuchte.
Lunge und Oberschenkel brannten von einem endlosen, unmenschlichen Lauf durch diese fremde, dennoch vertraute Stadt, die vor seinen Augen geräuschlos zerfiel.
Gebäudeteile stürzten ein.
Trümmer und Staub bedeckten die Straßen.
Er erinnerte sich nicht mehr daran, wie er hierhergekommen war oder was er vorher getan hatte. Die Suche nach seinem Gegenstück, das alles wieder in Ordnung bringen würde, beherrschte sein gesamtes Denken.
Orientierungslos rannte er durch dunkle, marode Straßen, sprang über Trümmerstücke und Risse im Boden. Wie sein Pendant aussah, wusste er nicht, lediglich, dass er diesen Menschen unbedingt finden musste.
Und zwar so schnell wie möglich.
Alles hing davon ab.
Die wenigen Gestalten, denen er begegnete, blieben blass, gesichtslos, wirkten gleichgültig. Sie schienen sich nicht dafür zu interessieren, was mit ihnen geschah, falls er seine Aufgabe nicht erfüllte. Anfangs hatte er versucht, sie um Hilfe zu bitten, sie aus ihrer Lethargie wachzurütteln, doch es war vergebliche Mühe gewesen. Jetzt rannte er nur noch, auf den einzig verbleibenden Sinn seines Daseins ausgerichtet.
Dann sah er sie.
Eine junge Frau, fast noch ein Mädchen. Sie saß in sich zusammengesunken am Straßenrand neben einer Ruine, den Kopf in den Händen vergraben. Er wusste instinktiv, dass er am Ziel seiner Suche angekommen war. Sein Herz hämmerte wie wild in der Brust, als wollte es jeden Moment zerspringen. Zugleich schien die Zeit den Atem anzuhalten.
Das Chaos um ihn her verlor jegliche Bedeutung.
Sie hob den Kopf, obgleich er nichts gesagt und keinen Lärm verursacht hatte. Ihre ebenmäßigen, jugendlichen Gesichtszüge faszinierten ihn einen Augenblick lang, bevor er in den tiefblauen Augen versank. Sie war trotz ihrer sichtlichen Erschöpfung das schönste Geschöpf auf Erden. Unendliche Erleichterung ließ ihn tief durchatmen. Leicht wie eine Feder überwand er die letzten Meter zwischen ihnen. Seine Verzweiflung war wie fortgeblasen.
Langsam breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, ließ es erstrahlen. Sie hatten sich gefunden.
Endlich.
Sie streckte ihm die Arme entgegen. Er legte seine Hände in die ihren und spürte, wie ihre Finger sich unendlich zart darum schlossen.
Einen Augenblick lang schien alles wieder im Lot.
Dann zerbarst die Gestalt vor ihm in einer lautlosen Explosion zu Millionen Scherben.
Die Wucht schleuderte ihn zurück.
Er schrie auf. Ein unmenschlicher Schmerz zerriss seine Brust, seine Glieder standen in Flammen, doch er spürte die Hitze nicht.
Mit ohnmächtigem Entsetzen sah er zu, wie seine Hände zerstoben wie Asche im Wind.
Sein Schrei erstarb. Dunkelheit hüllte ihn ein und begleitete seinen Fall ins Bodenlose.
Halver, 16. April 2018, 05:38 Uhr
Mathis erwachte, indem er wie ein Ertrinkender an der Wasseroberfläche nach Luft schnappte. Es kam ihm vor wie der erste Atemzug seines Lebens. Als hätte er es tatsächlich eine ganze Weile lang nicht getan: atmen.
Schweißgebadet saß er senkrecht im Bett, spürte seinen rasenden Herzschlag und merkte, wie sein Adrenalinspiegel langsam wieder sank. Nur ein Traum, der rasch verblasste, sich auflöste, wie es sein gesamter Körper soeben erst getan hatte. Aber warum quälten ihn Nacht für Nacht diese grausamen Bilder? Er sah sich keine Horrorfilme an, las keine Psychothriller und wusste daher absolut nicht, was er mit derart verstörenden nächtlichen Erlebnissen aufarbeiten sollte. Meistens endeten sie damit, dass er starb oder dem Tod nur dadurch entging, dass er aus dem Schlaf aufschreckte. Diesmal war jedoch etwas Neues geschehen, denn er hatte das Ziel seiner Suche gesehen.
Mühsam befreite er sich aus der Umklammerung des Albtraums, der ihn wie üblich sogar im wachen Zustand noch mindestens eine Stunde am Morgen verfolgte, bis er sich auf sein Tagwerk konzentrieren konnte. Heute war es besonders schwierig. Der Traum verblasste, das Gesicht des Mädchens blieb allerdings wie eingebrannt auf seiner Netzhaut. Immer und immer wieder durchlebte er den Moment, in dem sie wie eine Puppe aus Porzellan zersprang, kurz bevor er selbst bei lebendigem Leib verbrannte. Er verstand nicht, warum das geschehen war. Was hatte er falsch gemacht? Die ganze Zeit über hatte er geglaubt, dass alles gut werden würde, wenn er sie bloß fände. Er schalt sich einen Narren, weiterhin darüber nachzusinnen, während er bereits im Auto saß und wie üblich zur Arbeit fuhr.
Um ein Haar hätte er dabei den Fußgänger übersehen, der keine fünf Meter vor ihm auf den Zebrastreifen trat. Mit einer Vollbremsung kam Mathis gerade noch rechtzeitig zum Stehen. Nun war er wach! Ein Jugendlicher stand mit dem Handy in der Hand stocksteif vor seiner Motorhaube und blickte ihn aus weit aufgerissenen Augen an, ehe er wie in Trance die andere Hand hob und sich schließlich weiterbewegte. Das Fahrzeug hinter Mathis hupte, weil dieser nicht sofort wieder anfuhr. Mit weichen Knien betätigte er Kupplung und Gaspedal, vollführte mechanisch die gewohnten Handlungen, um sich dem Verkehrsfluss anzupassen. In seinen annähernd dreißig Jahren als Autofahrer war dies eine der knappsten Beinah-Katastrophen, an die er sich erinnern konnte. Sie lenkte ihn zumindest von seinem Schlafproblem ab. Erst beim Erreichen des Parkplatzes fiel sein Blick auf die Uhr und ließ ihn aufstöhnen. Mist, wo war die Zeit geblieben? Mit raumgreifenden Schritten eilte er auf das Gebäude des Gymnasiums zu, an dem er seit über fünfzehn Jahren als Chemie- und Englischlehrer arbeitete, erreichte es kurz vor dem ersten Schellen und hastete zum Lehrerzimmer.
„Morgen Mathis.“ Sein Vorgesetzter lächelte bei der Begrüßung, runzelte jedoch gleich darauf fragend die Stirn. „Ist was passiert? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“
„Morgen Jan. Es ist nichts weiter. Nur ein Fußgänger, der haarscharf einer Kollision mit meiner Kühlerhaube entronnenen ist.“
Er winkte ab und wollte an dem Schulleiter vorbei zu seinem Fach gehen, um die Kopien des Vokabeltests zu holen, die er dort deponiert hatte. Aber sein Chef hielt ihn zurück. „Ich sehe dir doch an, dass es da mehr gibt. Du wirkst seit Wochen nicht wie du selbst. Wenn es etwas Berufliches ist, du Hilfe brauchst oder jemanden zum Reden … Du weißt, dass meine Tür dir jederzeit offensteht. Sag kurz Bescheid, dann plane ich Zeit dafür ein.“
Mathis nickte mit einem gequälten Lächeln. „Danke. Viel-leicht komme ich bei Gelegenheit auf dein Angebot zurück. Erst mal muss ich jetzt los.“
Hastig griff er nach der Mappe, während er die Blicke seiner Kollegen im Rücken spürte. Mindestens zwei hatten das kurze Gespräch mitgehört. Aha. Das würde neuen Stoff für Mutmaßungen geben. Er wusste, was sie sich erzählten: Er kommt über die Scheidung nicht hinweg, er trinkt heimlich, er leidet unter Depressionen. Das waren nur die häufigsten Gerüchte, die ihm langjährige Freunde im Kollegium zutrugen. Sein physischer Abbau musste ja irgendwelche Ursachen haben. Doch nicht einmal seine engsten Vertrauten an der Schule kannten den wahren Grund für die ständige Erschöpfung, die sich in dunklen Augenringen und Blässe äußerte, manchmal auch in schlechter Laune oder geistiger Abwesenheit. Seine Tochter Isabell war bislang die einzige Person, die sein Leiden kannte. Ihr würde er alles anvertrauen, sogar sein Leben. Aber sonst gab es niemanden mehr, seit seine Exfrau Tanja vor zwei Jahren weggezogen war. Bekannte, Vereinskameraden und Kollegen konnte und wollte er damit nicht behelligen.
Isabell, die während ihres Medizinstudiums weiterhin zu Hause wohnte, hatte rasch gemerkt, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Sie war hartnäckig geblieben, bis er ihr schließlich die Sache mit den Albträumen gebeichtet hatte. Im Gegensatz zu ihm selbst nahm sie seine Symptome ernst. Sie hatte darauf beharrt, dass er sich untersuchen lassen müsse und ihn so lange bearbeitet, bis er mit gemischten Gefühlen einen Termin beim Psychiater vereinbart hatte.
Daran musste er nun wieder denken, während er zum Englisch-Leistungskurs der Q1 eilte. Morgen würde er zum ersten Mal in seinem Leben auf der berüchtigten Couch sitzen und einem Wildfremden preisgeben, dass er unter Albträumen litt. Keine besonders aufmunternde Aussicht, wie er fand. Tief durchatmend durchschritt er die geöffnete Klassenraumtür, schloss sie hinter sich, drehte sich um. „Good morning, Ladies and Gentlemen. Let’s start with a little joke …“
Uni Stanford, 16. April 2018, 16:58 Uhr
„Ein Taxi kommt überhaupt nicht in Frage, Mom, das ist viel zu teuer. Natürlich bringe ich euch zum Flughafen. Das klappt schon.“ Lynn rollte mit den Augen, während sie mit dem Handy am Ohr durch die Gänge hastete.
„Aber dadurch kommst du zu spät zu diesem Projekt, das dir so wichtig ist. Wir können auch einen Mietwagen nehmen, das ist kein Problem, Schatz. Die Uni geht vor.“
„Wo wollt ihr denn jetzt noch so kurzfristig einen Leih-wagen herbekommen? Versprochen ist versprochen, auch wenn sich der Flugtermin geändert hat. Ich krieg das schon hin. Außerdem gehört die Aktion überhaupt nicht zum Studium, jedenfalls nicht richtig. Es ist bloß ein Experiment, das in Zusammenarbeit mit der Fachabteilung Psychologie stattfindet. Einer meiner Dozenten ist dabei, Doktor Kraemer von der ASD in Berkeley und jemand aus Wien vom Institut für Bewusstseins- und Traumforschung. Natürlich möchte ich unbedingt teilnehmen, aber das Experiment geht über etliche Stunden. Auf ein paar Minuten kommt es da sicherlich nicht an.“
„Wir könnten auch früher losfahren.“
„Nicht nötig, das passt alles. Noch eher müsst ihr echt nicht aus dem Bett vor der langen Reise. Du weißt doch, wie gern ich mir euren Wagen ausborge.“
„Na gut, Schätzchen. Wenn dir das nicht zu stressig wird.“
„Nein, Mom, mach dir keine Gedanken. Bis morgen früh um sechs.“
Mit einem innerlichen Augenrollen legte sie auf. Abgesehen davon, dass sie es hasste, ohne Pause unterwegs zu sein, würde der Termin um halb acht in der Tat verdammt knapp werden. Aber sie hoffte einfach, dass Professor Azai ihr die Verspätung verzeihen und sie trotzdem noch am Experiment teilnehmen lassen würde. Immerhin war sie eine seiner eifrigsten Studentinnen. Alles, was mit der Erforschung und Deutung von Träumen zu tun hatte, interessierte sie brennend. Eigentlich stellte das nur einen kleinen Teilbereich ihres Psychologiestudiums dar, allerdings war genau dieses Randgebiet der Hauptgrund für sie gewesen, sich dafür einzuschreiben.
Luzides Träumen forcieren, das klang verrückt und aufregend zugleich. Sie wusste, dass ein solches Schlafexperiment nicht zum ersten Mal stattfand, doch für sie würde es eine Premiere werden. Seit ihren Teenagertagen wünschte sie sich Nacht für Nacht einen Klartraum, las alles darüber, was ihr in die Finger fiel, befolgte die Ratschläge der Experten. Leider bisher ohne Erfolg. Was bei anderen Menschen so leicht wirkte, funktionierte bei ihr einfach nicht. Ihre Träume folgten eigenen Gesetzen, schienen sie zu verhöhnen und es ihr nie, niemals zu erlauben, Kontrolle über sie zu erlangen.
Den Blick gedankenverloren aufs Handy gerichtet stieß sie mit ihrem Kommilitonen Steven Harris zusammen, der aus der Gegenrichtung kam und ebenso wie sie in den Hörsaal eilte.
„Hi, Tagträumerin, was starrst du auf ein tiefschwarzes Display?“, neckte er sie. „Sind da irgendwelche geheimen Zeichen drauf versteckt?“
„Sorry! Ach, es ist nichts. Meine Eltern reisen morgen Vormittag nach Europa und ich darf sie zum Flughafen chauffieren. Eigentlich sollte es abends losgehen, aber die Flugzeiten sind kurzfristig geändert worden.“
„Du Arme! Da hast du ja was vor dir. Erst die tödlich langweilige Dosis Psychoanalyse, dann die Fahrt … Sag mal, hattest du morgen nicht eigentlich was anderes vor? Dave hat erzählt, dass du euer Date zum Mittagessen wegen irgendeines dubiosen Schlafexperiments abgesagt hast.“
„Ach der …“ Sie winkte ab. „Dieses ‚Date‘ existiert höchstens in seinem kranken Hirn. Der Kerl tut mir bloß leid, weil seine Freundin mit ihm Schluss gemacht hat. Er brauchte jemanden zum Reden, also bot ich ihm eine kostenlose Therapiesitzung an. Ist schließlich eine gute Gelegenheit, den Lehrstoff in der Praxis anzuwenden.“
Steven lachte. „Das sag ich ihm besser nicht, sonst haut es ihm völlig den Boden weg. Er war so stolz, dass er dich rumgekriegt hat.“
Lynn grinste verschwörerisch zurück. „Ganz unter uns – ich steh auf Frauen. Das kannst du ihm ruhig stecken. Vielleicht bringt das seinen Testosteronspiegel wieder auf Normalniveau.“
Sie verstummte, weil weitere Studenten sich näherten. Zudem wurde es Zeit, die Plätze einzunehmen, da die Vor-lesung in wenigen Augenblicken beginnen sollte.
„Wenn ich ihm das erzähle, weiß es anschließend die ganze Uni“, raunte Steven ihr im Vorbeigehen zu. Sie schielte ihn von der Seite her an. Irrte sie sich oder stand da Enttäuschung in seinen Augen? Rasch wandte sie den Blick ab. Er sollte nicht merken, dass sie seine Reaktion interessant fand. Schließlich hatte sie ihm gerade eindeutig zu verstehen gegeben, dass er sich keine Hoffnungen zu machen brauchte. Momentan war sie auch nicht zu haben, für niemanden. Es stimmte zwar, dass sie früher einmal Gefühle für ihre beste Freundin Ann entwickelt hatte. Das hieß jedoch keinesfalls, dass Steven sie völlig kaltließ. Er war der begehrteste Junggeselle im Hörsaal und wurde von einem Großteil der weiblichen Teilnehmerinnen angeschmachtet. Dennoch zeigte er ihnen die kalte Schulter und hatte sie, Lynn Carter, angesprochen. Innerlich wurde ihr bei dem Gedanken daran heiß, weil sie sich durchaus vorstellen konnte, irgendwann mal was mit einem Jungen wie Steven anzufangen. Doch Dr. Lennon, Urgestein des Lehrstuhls für Psychologie und mindestens hundertzwanzig Jahre im Dienst, forderte nun ihre gesamte Aufmerksamkeit. Hauptsächlich musste sie diese darauf richten, während seines monotonen Vortrags über Freud’sche Fehlleistungen wach zu bleiben.
Brügge, 17. April 2018, 16:25 Uhr
Mit Herzklopfen sowie einem flauen Gefühl im Magen trat Mathis pünktlich durch die Praxistür von Dr. Schmitter. Mechanisch erwiderte er den Gruß der lächelnden Dame hinter dem Empfangstisch. Er durfte sofort ins Behandlungszimmer durchgehen, wo er wie auf heißen Kohlen ganz am Rand des bequemen Sessels saß, bis der Psychiater erschien.
„Wie geht es Ihnen?“, begrüßte dieser ihn mit einem prüfenden Blick, der bis in seine Seele zu dringen schien.
„Ganz ordentlich“, log Mathis gewohnheitsmäßig, korrigierte sich jedoch gleich darauf. „Nein, eigentlich nicht so prickelnd. Ich schlafe ziemlich schlecht, da mich fast jede Nacht Albträume plagen.“
„Worum geht es in diesen Träumen?“
„Im Grunde ist es immer derselbe Traum, mit leichten Variationen. Ich laufe durch eine Geisterstadt und suche jemanden, den ich dringend finden muss. Dann werde ich entweder von einem zusammenstürzenden Gebäude erschlagen, falle in einen Riss, der sich plötzlich vor mir auftut, werde zerquetscht, verbrenne oder wache vorher auf, weil etwas absolut Tödliches auf mich zufliegt.“
Dr. Schmitter, der aufmerksam zugehört hatte, schwieg einen Moment, wartete anscheinend darauf, dass er noch mehr sagte. Als dies nicht der Fall war, nickte er. „Das klingt nach einem Erlebnis, das Sie sehr mitgenommen hat und nicht so leicht loslässt. Gibt es ein solches in Ihrem Leben?“
„Ja und nein. Ich bin geschieden, aber das ist es nicht. Meine Exfrau und ich hatten uns nichts mehr zu sagen, deshalb gehen wir getrennte Wege. Die Scheidung ist auch bereits zwei Jahre her. Die schlimmen Träume haben aber erst vor etwa sieben oder acht Wochen begonnen. Sie sind so intensiv, dass ich nicht aufhören kann, darüber nachzudenken. Wissen Sie, ich habe schon geforscht, ob die Stadt, durch die im Traum ständig laufe, tatsächlich existiert. Bis jetzt bin ich noch nicht fündig geworden, aber ich kenne mich mittlerweile ziemlich gut dort aus. Wenn sie nicht jedes Mal so zerstört wäre und die Einwohner mit mir reden würden …“
„Sie waren also noch nie an diesem Ort?“
„Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern.“
„Sie sagten, dass Sie im Traum jemanden suchen. Können Sie mir sagen, um wen es sich dabei handelt?“
„Ja“, flüsterte Mathis und schluckte. „Seit letzter Nacht weiß ich es endlich. Da habe ich sie zum ersten Mal gesehen. Hübsch, gute Figur, eher zierlich, ungefähr im gleichen Alter wie meine Tochter.“
Er beschrieb die junge Brünette mit den blauen Augen, deren Gesicht er ohne Probleme hätte zeichnen können. Der Facharzt wandte den Blick nicht von ihm, schien jedes Wort einzusaugen und mitzufühlen. Gleichzeitig strahlte er eine unerschütterliche Ruhe und Gelassenheit aus. Erst als Mathis geendet hatte, begann er sich Notizen zu machen, fragte nach Lebens-, Ess- und Schlafgewohnheiten, der beruflichen und privaten Situation seines Patienten, ließ sich sein Schlafzimmer beschreiben und erkundigte sich nach eventuellen Medikamenten. Der Lehrer beantwortete alles wahrheitsgemäß. Nein, er nahm weder Drogen noch übermäßig viel Alkohol zu sich. Schlafmittel hatte er anfangs ausprobiert, den Gebrauch jedoch stark begrenzt. Mit Tabletten konnte er vielleicht zwei Stunden länger durchschlafen als ohne, die Albträume ersparten sie ihm nicht.
Nachdem er alle notwendigen Fragen gestellt hatte, blickte Dr. Schmitter ihn wieder an. Diesmal lag etwas Nachdenkliches in seinen Augen. „So, wie ich es momentan einschätze, liegt Ihr Problem wahrscheinlich in Ihrer Vergangenheit. Natürlich lässt sich nicht ausschließen, dass das Labor etwas in Ihren Blutwerten findet, selbst wenn ich Ihnen glaube, dass Sie nichts bewusst eingenommen haben. Aber ich vermute die Ursache in verschütteten Erinnerungen. Eventuell gab es einen Auslöser, den Sie gar nicht als relevant wahrgenommen haben, der Sie jedoch dazu gebracht hat, die unangenehmen, verdrängten Dinge wieder zu erleben.“
Mathis seufzte. „Möglich. Aber wie soll ich es rausfinden? Ich erinnere mich an nichts dergleichen, so sehr ich mich auch bemühe.“
Der Arzt wiegte den Kopf. „Ich könnte Ihnen anbieten, Sie zu hypnotisieren. Da Sie privat versichert sind, weiß ich nicht, was Ihre Krankenversicherung dazu sagt. Aber ich versuche, die Kosten so weit wie möglich in die Beratung und die übrigen Maßnahmen zu integrieren, deshalb wird Ihre Zuzahlung moderat ausfallen.“
Mathis schluckte schwer. Hypnose? Er spürte, wie sich seine Nackenhärchen aufrichteten. Sein Herzschlag beschleunigte sich. „Wie sicher sind Sie denn, dass Sie damit Erfolg haben? Ich meine – ist es nur eine vage Vermutung oder denken Sie ernsthaft, dass das bei mir funktioniert?“
„Nun ja, Hypnotherapie erweist sich vor allem bei verdrängten Erinnerungen, Traumata oder Gedächtnislücken als wirksam. Deshalb bin ich guter Dinge, dass wir der Ursache Ihres Problems auf den Grund gehen und es dadurch beheben können. Selbstverständlich gibt es keine hundertprozentige Garantie, dass die Behandlung anschlägt, aber die Erfolgsquote ist hoch.“
„Das mag sein. Ich bin überzeugt davon, dass Sie Ihr Handwerk beherrschen. Trotzdem verstehen Sie vielleicht, dass mir der Gedanke unangenehm ist. Es kommt mir schlimmer vor, als würde ich mich nackt vor Ihnen ausziehen. Zudem habe ich Angst, erneut in diesen schrecklichen Albträumen zu landen und zu sterben. Allein deshalb schätze ich, dass es mir kaum gelingen wird, mich darauf einzulassen.“
Der Mann ihm gegenüber nickte mit einem amüsierten Glitzern in den Augen. „Ich verstehe Sie gut, Herr Berger. Die meisten Patienten, denen ich diesen Vorschlag mache, reagieren ähnlich, deshalb höre ich Ihre Bedenken ungefähr einmal pro Monat. Häufiger wende ich diese Behandlungsmethode überhaupt nicht an, weil sie sich nur bei einem Bruchteil der Probleme eignet, mit denen die Menschen zu mir kommen. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass Sie während der Hypnose keine unangenehmen Erfahrungen machen müssen. Es ist zwar nicht direkt vergleichbar, aber beim Zahnarzt wissen Sie auch, dass eine Wurzelbehandlung eventuell schmerzhaft ist, nehmen das Übel jedoch auf sich, weil die Alternative wesentlich schlimmer wäre.“
Mathis atmete tief durch, dachte an seine Arbeit und an Isabell. Er musste jetzt stark sein, über seinen Schatten springen. Wie oft verlangte er das von seinen Schülern? Als Vertrauenslehrer vermittelte er häufiger bei Mobbing oder Schulangst, suchte mit den Kids gemeinsam nach Lösungen und sprach ihnen Mut zu.
Schließlich nickte er. „In Ordnung. Sie haben recht, schlimmer kann es kaum werden. Hätten Sie eventuell diesen Monat einen Termin dafür frei?“
Der Arzt sah auf die Uhr. „Sie haben Glück. Durch eine Terminabsage bleibt uns sogar heute noch ausreichend Zeit für einen ersten Versuch, sofern von Ihrer Seite aus nichts dagegenspricht. Sie müssten mir bloß vorher diese Einverständniserklärung hier unterschreiben.“
Uni Stanford, 17. April 2018, 07:25 Uhr
Lynn bog einen Hauch zu schnell auf den Parkplatz ein, der dem Unigelände am nächsten lag. Sie kämpfte sich aus dem Sitz, schnappte nach ihrem Rucksack und raste los. Auf ein öffentliches Verkehrsmittel zu warten, würde zu lange dauern, den Uni-Parkplatz konnte sie sich nicht für so viele Stunden leisten. Deshalb rannte sie lieber gegen ihre Gewohnheit die restliche Strecke zu Fuß. Auch so würde sie zu spät kommen, aber hoffentlich nur wenige Minuten.
Beim Erreichen des Gebäudes überlegte sie, wie sie sich möglichst unauffällig unter die Teilnehmer mischen wollte, die ohnehin erst mal den Erklärungen der Fachleute lauschen mussten. Wenn sie bloß auf Anhieb den richtigen Raum fand! Das Labor lag im Untergeschoss, also stürmte sie die Treppe hinab, bog um die Ecke und entging nur knapp einem Zusammenstoß mit Professor Azai, der den Blick auf eine Liste gesenkt hielt.
„Entschuldigen Sie bitte“, stammelte sie ebenso atemlos wie peinlich berührt, als der kleine Mann mit den asiatischen Wurzeln erstaunt zu ihr aufsah. Sie stand keine zehn Zentimeter vor seiner Nase und trat rasch einen halben Schritt zurück. Erkennen schlich sich in die bebrillten dunklen Augen, ein Lächeln breitete sich auf dem gütigen Gesicht aus. „Ach, Sie sind es, Miss Carter. Wie schön, dass Sie es einrichten konnten. Sie haben Glück. Ich war auf dem Weg, um nachzusehen, ob noch jemand kommt, um dann die Eingangstür zu schließen. Hiermit sind Sie als anwesend eingetragen. Jetzt aber rasch zu den anderen in Raum Null-Vierzehn. Doktor Burrington hat bereits mit der Unterweisung angefangen.“ Er deutete auf eine Tür am Ende des Ganges.
„Danke!“, brachte Lynn erleichtert hervor und rannte darauf zu. Vorsichtig quetschte sie sich durch einen Spalt. Wie erhofft, hatte niemand sie bemerkt. Die anwesenden Studenten drehten ihr den Rücken zu, während sie den Worten des Mannes im weißen Arztkittel lauschten, dessen Glatze im Licht der kalten Deckenbeleuchtung glänzte.
„… insgesamt sieben Stunden lang hier sein“, erklärte er. „In dieser Zeit werden Ihnen in jeder REM-Phase über Sensoren am Kopf leichte Stromstöße induziert, um das luzide Träumen anzuregen. Meine beiden Kollegen und ich überwachen Sie dabei bestmöglich. Nach jedem Klartraum wecken wir Sie, wobei wir unser Möglichstes tun, Sie nicht mitten aus dem Traum zu reißen. Doktor Shawn Kraemer aus Berkeley und Doktor Marlene Kesper aus Wien befragen Sie jeweils anschließend in separaten Räumen zu Ihren Erlebnissen. Wir hoffen, dass Sie kooperativ und ehrlich zu uns sind.“
„Müssen wir Ihnen alle Träume berichten?“, fragte ein Student, den Lynn nicht sehen konnte, dessen Stimme ihr allerdings bekannt vorkam. „Soll heißen, wenn ich mit der Freundin meines besten Kumpels geschlafen habe …“
Alles lachte.
„Sie müssen sich selbstverständlich nicht in private Einzelheiten ergehen“, mischte sich ein groß gewachsener Mann in Jeans und offenem Hemd ein. Dies musste Dr. Kraemer sein. „Dennoch unterschreiben Sie gleich eine Einwilligung, die Sie zur Kooperation verpflichtet. Das bedeutet, dass Sie uns zumindest grob von den Inhalten Ihrer Träume berichten sollten und uns idealerweise ehrlich davon in Kenntnis setzen, wenn Sie etwas verschweigen. Je mehr Details Sie preisgeben, desto wertvoller sind Ihre Erlebnisse für uns. Denken Sie daran, dass Sie sich freiwillig für dieses Experiment gemeldet haben. Sie können jederzeit zurücktreten oder abbrechen. Ich hoffe natürlich, dass wir Sie alle heute Nachmittag um einige wunderbare Traumerfahrungen reicher nach Hause schicken und nächste Woche in voller Besetzung wiedersehen. Ich danke Ihnen an dieser Stelle schon einmal herzlich für Ihre Bereitschaft, an der Traumforschung mitzuwirken. Es ist ein hochinteressantes, generell viel zu wenig beachtetes Gebiet.“
Es folgten weitere Fragen von Probanden, die Lynn nur mit halbem Ohr hörte. Sie schob sich vorsichtig in den Raum hinein, wollte sehen, ob sich ihr Verdacht bezüglich des Sprechers von vorhin bestätigte. Aha, da war er. Dave stand ganz vorn, hing scheinbar gebannt an Burringtons Lippen, der soeben das genaue Prozedere erklärte. Der Kommilitone blickte wie zufällig in ihre Richtung und nickte ihr grüßend zu. Nach dem ersten Erstaunen überkam sie ein unwilliges Gefühl. Bei ihrem Gespräch letzte Woche hatte er offensichtlich noch nicht das Geringste über das Projekt gewusst. Er musste sich anschließend kurzfristig dafür gemeldet haben. Wie um alles in der Welt hatte er es geschafft, reinzukommen? Es gab viel mehr Bewerber als Plätze. Lynn kannte einige Studenten, die gerne dabei gewesen wären, jedoch abgewiesen wurden. Die Auswahlkriterien waren sehr streng. Eigentlich standen die vierzehn Teilnehmer seit einem Monat fest. Die wildesten Vermutungen schossen ihr durch den Kopf, von Erpressung über Bestechung hin zu einflussreichen Eltern. Doch es ergab sich keine Gelegenheit, den Studenten deswegen zur Rede zu stellen. Die Probanden wurden nacheinander aufgerufen, um die notwendige Einverständniserklärung zu unterschreiben, und wanderten anschließend sofort in ihre Schlafräume. Als sie an Dave vorbeiging, grinste dieser sie so triumphierend an, dass sie sich lediglich angewidert abwandte. Was bildete er sich ein? Dass sie auf ihn abfuhr? Sie beschloss, ihn einfach zu ignorieren. Sie schliefen in getrennten Räumen, was Dave zu enttäuschen schien. Ihr verschaffte es eine gewisse Genugtuung. Immerhin bekam er doch nicht alles, was er wollte.
„Wir sehen uns später!“, hörte sie die bekannte, selbstsichere Stimme hinter sich, widerstand jedoch der Versuchung, sich umzudrehen und dem unverschämten Kerl den Mittelfinger zu zeigen. Die weibliche Assistentin des Doktors sowie Frau Dr. Kesper begleiteten die sieben Probandinnen in die zwei Frauenschlafräume.
Im Waschraum machte Lynn sich nach dem Rekordspurt rasch etwas frisch und zog sich um. Sie war froh, dass niemand sie ansprach. Wahrscheinlich zeigte ihre Körpersprache deutlich genug, dass sie sich momentan nicht in Redelaune befand.
Obwohl sie nach der durchwachten Nacht hundemüde war, fiel es ihr schwer, zur Ruhe zu kommen. Vor allem, nachdem sie endlich ebenso wie die übrigen Testpersonen an die komplizierten Apparate angeschlossen worden war, die Hirnströme sowie vitale Funktionen anzeigten und aufzeichneten. Wie um alles in der Welt sollte sie so einschlafen? Ihren zwei Bettnachbarinnen schien es ähnlich zu gehen. Gelegentliches Kichern und Kommentare wie: „Boa, das wird der beste Vormittag meines Lebens“, zeugten von der allgemeinen Aufregung im Raum. Schließlich schaltete sich Dr. Kesper ein. Mit sanfter Stimme sagte sie: „Gute Nacht, Ladys. Ich hoffe, dass Sie alle dafür gesorgt haben, müde genug zu sein, um jetzt schlafen zu können. Bitte schließen Sie Augen und Mund, konzentrieren Sie sich auf Ihre Atmung. Lassen Sie sich in die Matratze sinken. Ihre Glieder werden schwerer. Sie merken, wie Ihr Herz langsamer schlägt. Spüren Sie, wie weich Sie liegen und wie angenehm die Müdigkeit ist, die Sie befällt?“
Die Stimme wurde leiser, die Atemzüge um Lynn herum tiefer. Nach wenigen Augenblicken glitt sie in den Schlaf.
???
Sie fand sich an einem unbekannten, zugleich merkwürdig vertrauten Ort wieder. Es war eine ausländische Stadt, die sich von der, in der sie lebte, stark unterschied. Die Häuser sahen alt aus, waren ganz anders gebaut als daheim. Mit Verzierungen an den Fassaden, in verschiedenen Farben gestrichen. Manches Gebäude klebte unmittelbar am nächsten. Wenige Fußgänger eilten über den schmalen Gehweg, keiner davon beachtete sie in ihrem Pyjama. Peinlich berührt rannte sie den Weg entlang, den sie schon mehrfach beschritten hatte. Sie kannte ihr Ziel, eines der hohen alten Häuser, in dem sie jemanden treffen wollte. Schneller, sie musste schneller laufen, sonst würde sie zu spät kommen! Zu was, wusste sie nicht. Es war nicht wichtig, darüber nachzudenken. Als sie an der richtigen Tür ankam, bemerkte sie zum ersten Mal das edel aussehende Metallschild.
‚Dr. Bernd Schmitter, Psychiater‘, stand darauf. Kleiner darunter: ‚Sprechstunde Mo, Di, Do 9–12 und 15–18 Uhr, Fr 9–12 Uhr, mittwochs geschlossen‘.
Die Worte klangen vertraut, obwohl sie in einer Sprache verfasst waren, die ihr lediglich in einigen Fachbüchern übers Klarträumen begegnete. Sie beherrschte sie nicht. Dennoch verstand sie den Inhalt des Schildes, ohne sich darüber zu wundern. Wichtig war jetzt nur, dass sie ihr Rendezvous einhielt, das in ihrem Kopf mächtig viel Raum einnahm, obwohl sie keine Ahnung hatte, wen sie hier warum treffen sollte. Sie stellte die Richtigkeit ihres Tuns nicht in Frage, genauso wenig wie ihre plötzlichen Fremdsprachenkenntnisse. Es kam ihr so vor, als hätte sie das hier schon zigmal getan oder zumindest in Gedanken durchgespielt. Ohne zu zögern, öffnete sie die schwere alte Holztür, betrat ein altmodisches Treppenhaus mit hohen Stufen und reich verziertem Holzgeländer. Einen Lift gab es nicht.
Ergeben seufzend machte sie sich daran, in den zweiten Stock zu steigen.
Uni Stanford, 17. April 2018, 08:10 Uhr
„Doktor, schauen Sie!“ Die Stimme von Dr. Kesper klang heiser vor Aufregung, als sie ihrem Kollegen das ungewöhnliche Hirnwellenmuster der Studentin zeigte. Dieser unterdrückte einen Jubelruf. „Das ist fantastisch!“, raunte er zurück. „Ich habe so sehr gehofft, dass wir jemanden finden.“
„Also sehen Sie es so wie ich?“
„Ja, definitiv. Wir haben den Jackpot! Bereiten Sie alles vor, lassen Sie die übrigen Probanden schlafen, wecken Sie das Mädchen keinesfalls auf. Ich hole die beiden anderen.“
???
Sie schritt rasch am Empfang vorbei. Die Frau dahinter beachtete sie nicht, tippte gedankenversunken auf ihrem Handy herum. Zielsicher bewegte sich Lynn auf die Tür am Ende des Ganges zu, die sich wie von Geisterhand vor ihr öffnete. Ein Mann mittleren Alters lag auf einer Liege, ein zweiter saß auf einem Stuhl daneben, Notizblock und Stift parat. Keiner blickte bei ihrem Eintreten auf. Sie blieb wie angewurzelt zwei Schritte später stehen, starrte auf den Liegenden, der ihr vertraut vorkam. Gleichzeitig wusste sie ganz sicher, dass sie sich noch nie im Leben begegnet waren.
„Erzählen Sie mir von ihrem letzten Traum“, hörte sie die sanfte, dennoch eindringliche Stimme des Sitzenden.
„Ich laufe durch eine Ruinenstadt“, krächzte der Mann auf der Pritsche heiser. Sie wusste mit Bestimmtheit, dass er in wachem Zustand anders klang, heller und fröhlicher. Etwas Furchtbares musste geschehen sein. Beunruhigt trat sie einen Schritt näher, ohne bemerkt zu werden.
„Ich bin auf der Suche nach einer Person, die ich unbedingt finden muss. Mein gesamter Lebensinhalt besteht darin, sie zu treffen. Alles um mich herum zerfällt. Ich weiß, dass mir nur noch sehr wenig Zeit bleibt, um sie zu erreichen, bevor …“ Er stockte.
„Bevor was geschieht?“, hakte der Fragende nach.
„Bevor ich sterbe.“
Lynn sog scharf die Luft ein. Bei den Worten des Fremden entstanden Bilder in ihrem Kopf, äußerst lebendige Imaginationen von zerstörten Straßen, Häusern, orientierungslosen Menschen, die durch das Chaos eilten. Eindrücke eines sinnlosen Krieges ohne Bomben, Angreifer oder Verteidiger.
„Was passiert jetzt?“
Der Interviewer ließ den Kuli eifrig übers Papier sausen, schien vollkommen unbeeindruckt von der Dramatik hinter der Erzählung.
„Ich sehe die junge Frau, laufe auf sie zu, berühre sie … Ah, der Schmerz!“
Der Liegende stöhnte auf, schrie. Lynn zerriss es das Herz. Sie wollte zu ihm, ihn schütteln, damit er aufwachte, doch sie stand dort wie festgewachsen. Irgendwas hielt sie auf ihrem Platz. Der Zuhörer reagierte hingegen blitzschnell. Er sprang auf, um dem Leidenden beruhigend die Hand auf die Schulter zu legen. „Entspannen Sie sich! Es ist nur ein Traum. Sie sind in Sicherheit.“
Der Angesprochene reagierte nicht auf die professionelle Stimme, krümmte sich lediglich noch mehr, schrie erneut auf, stieß seinen Helfer mit einer heftigen Armbewegung von sich fort.
In diesem Augenblick gab es eine winzige Erschütterung, die Lynn Gänsehaut verursachte. Gleich darauf blickte sie sich erstaunt um. Wie kam sie hierher? Was zum Geier tat sie hier und wer waren die Personen vor ihr, die deutsch sprachen? Warum verstand sie es überhaupt? Die verwirrenden Fragen tauchten alle gleichzeitig in ihr auf. Am meisten verblüffte sie, dass sie das Ganze zuvor völlig selbstverständlich hingenommen hatte. Einen Sekundenbruchteil später folgte die Erkenntnis.
„Ich träume!“, sagte sie laut, von einer unbändigen Freude erfüllt. „Ich habe einen Klartraum, endlich!“
Noch immer kämpfte der Mann vor ihr, offensichtlich ein Arzt, darum, den Liegenden ins Bewusstsein zurückzuholen. Dieser schien in einem Albtraum gefangen und tat ihr aus unerfindlichen Gründen furchtbar leid. Sein Schicksal berührte sie, schockte sie geradezu. Sie musste etwas tun! Energisch riss sie sich aus der Starre, erinnerte sich daran, dass im Traum alles möglich war. Mit zwei großen Schritten erreichte sie den Leidenden, streckte die Hand nach ihm aus. Dieser schlug plötzlich die Augen auf. In seinem Blick lag solches Entsetzen, dass sie zurückweichen wollte, doch es war zu spät. Ihre Finger berührten seine Stirn. Ein elektrischer Schlag durchfuhr sie, ungleich stärker als der letzte. Ihr Schrei mischte sich mit dem des Fremden, als die Welt sich drehte, sie das Gleichgewicht verlor und vornüberkippte. Der Körper, an dem sie sich abstützen wollte, bot keinerlei Widerstand. Kopfüber stürzte sie in seine Brust, immer weiter in einen endlosen, finsteren Schacht.
Uni Stanford, 17. April 2018, 08:23 Uhr
„Was ist passiert? Eben war noch alles in Ordnung.“ Dr. Burrington überprüfte verzweifelt die Kabel und Sensoren sowie die Verbindung zum Monitor, der seit einigen Sekunden eine Flatline zeigte.
„Sie hatte eine Art … Überspannung, kurz nach Beginn des Klartraumes“, bemerkte Dr. Kraemer, der den Impuls initiiert hatte. Dr. Kesper hingegen stürzte zu der jungen Studentin, prüfte Puls und Atmung und stieß keuchend die Luft aus. „Sie atmet nicht. Kommen Sie, wir müssen sie wiederbeleben. Schnell!“
„Wie kann das sein?“ Professor Azai ächzte. Er hielt sich am Stuhl fest, bleich wie die Wand hinter ihm. Zwei der Wissenschaftler breiteten hastig eine Decke auf dem Boden aus. Eine der Assistentinnen, der Dr. Burrington den entsprechenden Befehl zugebrüllt hatte, raste los, um das AED-Gerät zu holen, das sich im Erste-Hilfe-Schrank befand.
„Was ’n los? Ist was passiert?“
Die Frage aus dem Bett nebenan sowie die erschrockenen Gesichter der erwachten Testteilnehmerinnen ließen Azai aus der innerlichen Starre aufschrecken. Sein Verstand arbeitete wieder so präzise wie gewohnt, als er den Notruf wählte. Seine Finger zitterten jedoch unkontrollierbar, sodass er zwei Anläufe brauchte, bis das Anrufzeichen ertönte. Die gesamte Situation erschien ihm wie ein Albtraum, der ihn gefangen hielt, während seine Kollegen Herz-Lungen-Wiederbelebung bei der hübschen jungen Frau am Boden durchführten und er mechanisch die Fragen seines Gesprächspartners beantwortete. Als er das rote Symbol zum Beenden des Anrufs drückte, hatten die drei Fachleute die Elektroden des Defibrillators vernünftig angebracht und warteten auf eine Entscheidung des Geräts. Es piepte. Auf dem Display erschien: KEIN SCHOCK NOTWENDIG.
Dr. Burrington seufzte erleichtert. „Sie atmet wieder, sehen Sie.“
Ja, jetzt bemerkte der Psychologieprofessor es ebenfalls. Der Brustkorb von Miss Carter hob und senkte sich regelmäßig, als hätte er nie damit aufgehört. Dr. Kesper zog ihr rasch das Shirt über den Oberkörper, um ihre Blöße zu bedecken. Dann versuchte sie die junge Frau zu wecken – vergeblich. „Sie ist bewusstlos“, stellte sie tonlos fest.
???
Mathis erwachte auf einer Parkbank, holte mindestens ebenso tief Luft wie am Morgen zuvor. Sein neuerlicher Albtraum hatte nur ein schreckliches Gefühl des Entsetzens sowie das Bild der jungen Frau hinterlassen, die ihm schon zum zweiten Mal in seiner Fantasiewelt begegnet war. Die Sonne stand tief, schien jedoch kräftig, sodass es für April recht warm war. Er musste fest geschlafen haben. Aber wo befand er sich genau und warum? Alles, woran er sich erinnerte, war sein Besuch bei Dr. Schmitter. Hatte dieser ihn betäubt und hierhergebracht? Was war geschehen?
Etwas an seiner Kleidung kam ihm merkwürdig vor. Ein rascher Blick bestätigte ihm, dass er nicht mehr seine eigenen Sachen trug. Statt in Jeans und T-Shirt fand er sich in einem schlabberigen Jogginganzug und ausgelatschten Turnschuhen wieder. Alles schlotterte um seinen Körper, der ihm irgendwie dünner vorkam. Hatte er an Gewicht verloren? Das konnte doch nicht sein! Als er sich durchs Gesicht wischte, bemerkte er heftige Bartstoppeln, die seine morgendliche Rasur Lüge straften. Nun erschrak er erst recht. Wie lange war er weg gewesen? Hatte Dr. Schmitter ihn ausgeknockt? Er verspürte plötzlich einen rasenden Hunger. Ihm wurde ein wenig schwindelig, als er sich vorsichtig von der Bank erhob. Ja, es passte alles. Sein körperlicher Zustand, die Gedächtnislücke … Sein Handy war natürlich auch weg, ebenso fehlten Uhr und Brieftasche. Er würde zur Polizei gehen und den Vorfall melden. Gewiss suchte Isabell bereits nach ihm, vielleicht sogar mit Hilfe einer Vermisstenanzeige. Fluchend wartete er, bis sich die Welt um ihn wieder stabilisierte, ehe er sich in Richtung Straße bewegte.
???
Lynn kam zu sich, als jemand sie an der Schulter rüttelte. Er sprach mit ihr, doch die Worte drangen dumpf, undeutlich und unverständlich an ihr Ohr, als befände sie sich unter Wasser. Zunächst bemerkte sie den Schmerz in der Seite, auf die sie unsanft aufgeprallt sein musste, sowie das helle Tageslicht. Stöhnend kniff sie kurz die Lider zusammen, blinzelte. Sie lag verdreht auf einem harten, kalten Untergrund. Um sie herum standen mehrere Personen, die sie anstarrten. Komischerweise war über ihr ein blauer Himmel mit wenigen Wölkchen. Wie kam sie hierher? Die Gestalt, die neben ihr hockte, sagte wieder etwas. Diesmal drangen die Worte deutlicher zu ihr durch, trotzdem verstand sie sie nicht. Verwirrt griff sie schließlich die dargebotene Hand und ließ sich aufhelfen. Es war mühsam, da sie ungewohnte Kleidung trug: ein Kostüm mit Pumps. Etwas wackelig stand sie auf den kleinen Absätzen. Sie zog nie solche Schuhe an, wenn es sich vermeiden ließ. Dennoch fühlten sich ihre Füße darin nicht unwohl. Überrascht blickte sie an sich herab, strich sich den Rock glatt, die Bluse, das Jackett. Träumte sie etwa noch? Sicherheitshalber kniff sie sich in die Hand. Der Schmerz ließ sie zusammenzucken. Nein, sie war eindeutig wach.
„Wo bin ich hier?“, murmelte sie schließlich.
„Ah, Sie sprechen Englisch! Sind Sie in Ordnung?“ Der ältere Mann, der ihr aufgeholfen hatte, warf ihr einen besorgten Blick zu. Lynn erwiderte ihn nachdenklich. Die Menschenmenge um sie herum zerstreute sich bereits wieder. Eine Frau mit Handy sagte etwas Unverständliches. Das ist Deutsch!
Der Gedanke war plötzlich in ihrem Kopf. Sie weigerte sich, die Konsequenzen daraus für sich zu akzeptieren. Es war zu verrückt! Sie konnte doch nicht … Nein, das war unmöglich! Aber so fremd und seltsam, wie es hier aussah … Sie wandte sich an ihren Helfer, blickte ihn beschwörend an. „Wo bin ich genau?“, fragte sie langsam und deutlich.
„In Brügge natürlich“, antwortete der Mann. „Nordrhein-Westfalen, Deutschland. Brauchen Sie Hilfe? Einen Arzt vielleicht? Soll ich Sie zu Ihrem Hotel bringen? Sie kommen ja offensichtlich nicht von hier.“
Sie keuchte. Deutschland! Das musste doch ein Traum sein! Wie kam sie hierher? Vergeblich bemühte sie sich darum, ihre Gedanken zu ordnen.
„Das kann nicht sein!“, flüsterte sie. „Ich war heute Morgen noch in der Stanford University und habe an einem Versuch im Schlaflabor teilgenommen.“
„Stanford? Wo liegt das genau?“
„Kalifornien, in Palo Alto …“
Sie blickte auf ihr Handgelenk, an dem eine ihr unbekannte Armbanduhr mit digitaler Anzeige prangte. Es war kurz nach halb sechs nachmittags, noch immer der siebzehnte April. Sie rechnete rasch. Die Zeitverschiebung zwischen Europa und Kalifornien betrug neun Stunden, also war es bei ihr zu Hause kurz nach halb neun. Wenn das Datum stimmte, war sie in einer knappen halben Stunde von Amerika nach Europa gelangt. Zusätzlich zu ihrer Entführung hatte man ihr unbemerkt neue Kleidung verpasst. Wie man es auch drehte – es blieb unmöglich.
„Sie sehen sehr blass aus. Sind Sie sicher, dass Sie keine ärztliche Hilfe benötigen?“
Die Stimme ihres Helfers riss sie aus ihren Gedanken.
„Nein – oder vielleicht ist es doch besser … Ich weiß es nicht. Hören Sie, es klingt verrückt, aber ich habe keine Ahnung, wie ich auf einmal hierhergekommen bin.“
„Das verstehe ich nicht. Wovon sprechen Sie?“ Ihr Gesprächspartner, mit dem sie inzwischen allein auf dem Bürgersteig stand, sah sie stirnrunzelnd an.
„Haben Sie gesehen, dass mich jemand hier abgelegt hat? Bin ich aus einem Fahrzeug geworfen worden oder vom Himmel gefallen? Irgendwie muss ich doch an diesen Ort gelangt sein!“ Sie merkte, wie ihre Stimme einen leicht hysterischen Klang annahm und versuchte vergeblich, den Kloß in der Kehle runterzuschlucken. Der Ausdruck in den Augen ihres Gegenübers wirkte besorgt, sogar mitleidig. „Sie sind verwirrt. Am besten setzen wir uns erst einmal dort drüben in die Bäckerei und Sie erzählen mir, woran Sie sich erinnern. So wie ich es gesehen habe, sind Sie vorhin vor meiner Nase aus der Sparkasse gestürmt und mindestens hundert Meter in beachtlichem Tempo den Bürgersteig entlanggerast, bevor sie wie vom Blitz getroffen zusammengebrochen sind.“
???
Mathis überquerte die Straße. Diese Stadt erschien ihm unbekannt, gleichzeitig beunruhigend vertraut. Auf grausame Art erinnerte sie ihn an seine Albträume. Träumte er etwa schon wieder? Aber nein, alles war ruhig, er war lebendig, spürte seinen Herzschlag und die Bartstoppeln im Gesicht. Er kam sich unsauber vor, als hätte er tagelang in diesen abgetragenen Klamotten zugebracht. Vermutlich stank er auch genauso. Er wusste ja nicht, wie viel Zeit seit seinem Zusammenbruch bei Dr. Schmitter vergangen war. Ein Paar, das Hand in Hand über den Gehsteig schlenderte, wich ihm aus, blieb auf sein Rufen hin nicht stehen. Eigentlich konnte er es den Leuten nicht verdenken. Wenn er von irgendwem in solch dubiosem Aufzug angesprochen worden wäre … Wahrscheinlich hielten sie ihn für einen Penner. Dennoch brauchte er unbedingt jemanden, der ihm helfen konnte. Es musste morgens sein, da die Sonne höher stieg, anstatt zu sinken. Keine fünfzig Meter entfernt entdeckte er ein Geschäft. Dem Namen nach schien es ein ausländischer Laden zu sein. Rasch betrat er den Shop und ging zur Kasse. Der Mann dahinter entsprach so perfekt dem Klischee eines US-amerikanischen Prolls, dass er unwillkürlich grinsen musste: die Beine hochgelegt, eine riesige Tüte Chips auf dem mächtigen Bauch, auf einen Bildschirm in der Ecke starrend.
„Guten Morgen! Entschuldigen Sie bitte, können Sie mir sagen, wo ich hier bin?“, erkundigte er sich höflich.
Bei seinem Anblick kam Bewegung in die massige Gestalt hinter dem Ladentisch. Doch anders als erwartet kam keine freundliche Erwiderung des Grußes.
„Get out!“, schnauzte der Mann bloß und wies auf die Tür. „If you can’t pay, I won’t give you anything!“
Die amerikanisch klingenden Laute wirkten sehr authentisch, so als käme der Kassierer wahrhaftig aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Die Türglocke bimmelte, eine dunkelhäutige Kundin trat ein. „Hi, Stan, everything okay?“
„Hi, Marge, can’t complain. Just these damn beggars …“
Mathis verstand, dass er hier ebenfalls seine Englischkenntnisse hervorkramen musste, wenn er weiterkommen wollte. „Entschuldigen Sie, aber ich möchte nichts von Ihnen, nur eine Auskunft“, versuchte er es in dieser Sprache.
„Dann schieß los, Junge“, brummte der Amerikaner.
Der Gymnasiallehrer ignorierte die abwertende Ansprache und bemühte sich weiterhin, freundlich zu bleiben, obwohl sich Nahrungsmangel und allgemeine Schwäche zunehmend auf seine Laune auswirkten. „Bitte, Sie müssen mir helfen! Ich wurde betäubt, meiner Kleidung und Brieftasche beraubt und anscheinend an diesem Ort ausgesetzt. Können Sie mir sagen, wo ich mich hier befinde? Ich möchte zu einer Polizeiwache, um Anzeige zu erstatten, und brauche ein Telefon, um meine Tochter anzurufen.“
Der fettleibige Mann vor ihm starrte ihn mit offenem Mund an. Dann brach er in brüllendes Gelächter aus. Er schlug sich auf die Schenkel vor Vergnügen und kriegte sich eine ganze Weile nicht mehr ein.
„Du bist echt der Knaller!“, keuchte er schließlich. „Mit der Vorstellung gewinnst du den Oskar der Straße. Mann, dieser Akzent, diese Wortwahl … Absolute Spitze. Dafür geb ich dir glatt ’n Bier aus – später natürlich, ’s ist ja noch nicht mal neun …“
„Nein, danke. Ein Schluck Wasser wäre nett, etwas zu essen ebenfalls. Ich komme um vor Hunger. Sobald ich meine Tochter erreicht habe, bezahle ich ihnen alles.“
Mathis verstand immer weniger, was hier vor sich ging. Hielt der Amerikaner ihn wirklich für einen Obdachlosen, der auf bizarre Art bettelte? Es erschien ihm unglaublich.
Stan winkte ab. „Vergiss die Masche. Ich kenn dich doch, du wohnst direkt nebenan im Park. Wem willst du etwas vormachen? Da musst du dir jemand anderen suchen.“
„Sie kennen mich? Das glaube ich kaum. Ich war noch nie hier in der Gegend. An Sie würde ich mich gewiss erinnern. Könnten Sie mir bitte ein Telefon geben oder mir zumindest sagen, wo ich mich befinde? Mir geht es nicht besonders gut.“
In diesem Moment wurde ihm schwindlig, sodass er sich an der Ladentheke abstützte. Seine Knie gaben nach. Ihm flimmerte vor den Augen.
„Ey, Alter! Nicht in meinem Laden zusammenbrechen!“, vernahm er dumpf, konnte jedoch nicht verhindern, dass sein Körper zusammensackte. „Komm schon! Was haste wieder gesoffen? Oder gab’s echt nix zu futtern? Warte!“ Mit einer Behändigkeit, die man dem schweren Mann gar nicht zutraute, hechtete er um die Ecke und fing Mathis rechtzeitig auf, bevor dieser auf dem Boden aufschlug.
„Hilf mir mal, wir bringen ihn nach hinten“, ächzte der amerikanische Ladenbesitzer. „Ist schlecht fürs Geschäft, wenn er hier rumliegt …“
Zwei weitere Hände griffen zu. Mathis fühlte sich hochgehoben und an einen dunkleren Ort getragen, dann auf einem harten, leidlich warmen Untergrund abgelegt – eine Decke auf dem Fußboden. Er konnte sich weder wehren noch etwas erwidern, da er gegen die drohende Ohnmacht kämpfte.
„Was machste denn jetzt mit ihm, Stan?“, hörte er die Frauenstimme, die nun ziemlich besorgt klang. „Er sieht nicht besonders gut aus. Vielleicht ist er nicht mehr ganz dicht oder hat zu lange nichts gegessen.“
„Ich ruf die Bullen, was sonst? Sollen die sich mit ihm befassen. Auf die Straße setzen kann ich ihn so jedenfalls nicht.“
Klinikum Lüdenscheid, 17. April 2018, 17:55 Uhr
„Setzen Sie sich“, bat die Ärztin, die sich des Falles angenommen hatte. „Ich hoffe, Sie können mir weitere Informationen geben, Doktor Schmitter. Ihr Patient ist also ohne erkennbaren Grund während einer Hypnotherapie ohnmächtig geworden, habe ich das richtig verstanden?“
Der Angesprochene folgte der Bitte und nickte matt. „So ist es. Er hat von mir keinerlei Medikamente erhalten, gar nichts. Er wirkte weder narkotisiert noch unter Drogeneinfluss, als er zu mir in die Praxis kam, lediglich müde und nervös. Er befand sich wegen Schlafstörungen und Albträumen in Behandlung. Nach eigenen Aussagen hatte er nichts eingenommen.“
„Die Blutuntersuchung steht noch aus“, gab die Medizinerin zurück. „Bisher ist sein Zustand absolut rätselhaft.“
„Ja. Am erschreckendsten fand ich seinen Herzstillstand.“
„Sie sagten, Sie hätten ihn erfolgreich wiederbelebt?“
„Meine Assistentin und ich wollten soeben mit der Herzmassage beginnen, als er spontan von allein wieder zu atmen anfing. Lange vor dem Eintreffen des Notarztes. Denken Sie, er könnte bleibende Schäden davongetragen haben?“
„Danach sieht es nicht aus. Das EEG ist völlig normal, weder beim CT noch beim MRT waren Auffälligkeiten zu erkennen. Und es gab keinerlei erkennbaren Auslöser dieses Phänomens?“
„Nein. Wenn man davon absieht, dass er zuvor äußerst lebhaft in einem Albtraum gefangen war, aus dem ich ihn trotz aller Bemühungen nicht lösen konnte. Das fand ich extrem seltsam. Er öffnete kurz die Augen, wobei er etwas zu sehen schien, das ihm unbeschreibliches Entsetzen bereitete. Gleich darauf hörte er auf zu atmen, sein Herzschlag setzte aus. Ich dachte zuerst, der Schock hätte ihn getötet.“
Er verstummte. Die Erinnerung quälte ihn, wurde jedoch gemildert durch das Wissen, dass sein Patient lebte.
Frau Dr. Jantzen ergänzte etwas auf dem Krankenblatt, dann erhob sie sich und reichte ihrem Kollegen die Hand. „Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben und persönlich hergekommen sind.“
„Keine Ursache“, murmelte Dr. Schmitter verlegen. „Sie können sich sicher denken, dass mich dieser Vorfall außerordentlich beschäftigt.“
Nach dem Verlassen des Sprechzimmers stand er gleich darauf unschlüssig auf dem Gang, ehe er sich einen Ruck gab und eines der Krankenzimmer betrat, in dem ein erschöpft wirkender, jedoch ruhig und friedlich schlafender Mittvierziger lag. Der Überwachungsmonitor zeigte einen stabilen, regelmäßigen Puls, die tiefen Atemzüge konnten perfekter nicht sein. Es machte alles den Eindruck, als könne man den Lehrer jederzeit wecken, doch das funktionierte nicht.
Nach einem zaghaften Klopfen wurde die Tür geöffnet und gab eine schlanke, hochgewachsene Gestalt preis.
„Vater!“ Die blonde Besucherin trat zu dem Bewusstlosen ans Bett, griff nach der schlaffen Hand. „Was ist mit ihm? Was haben Sie mit ihm gemacht?“
Diese und weitere Fragen prasselten auf den Psychiater ein. Dieser wartete geduldig, bis die junge Frau, deren blaue Augen ihn anklagend anblitzten, verstummte. Schließlich bedeutete er ihr, sich auf den Stuhl neben dem Krankenbett zu setzen. Als sie seiner Einladung folgte, berichtete er noch einmal ausführlich das, was er am Handy bereits angedeutet hatte. Schweigend hörte sie zu, fixierte dabei jedoch die Gestalt im Bett. Ihre zusammengepressten Lippen sowie das Kneten ihrer Finger zeugten von Schuldgefühlen und innerer Unruhe. Schließlich stieß sie heiser hervor: „Das ist wirklich kaum zu glauben! Und ich habe ihm geraten, zu Ihnen zu gehen, weil ich dachte, er sei in guten Händen …“
Ein trockenes Schluchzen entrang sich ihrer Brust. Hilflos breitete sie die Arme aus. „Was soll ich denn jetzt tun?“
„Wir alle können nur abwarten und hoffen, dass Ihr Vater bald wieder zu sich kommt. Es tut mir schrecklich leid, was geschehen ist. Bitte glauben Sie mir, dass mich dieser rätselhafte Vorfall überrascht und bis ins Tiefste erschüttert hat.“
„Das will ich hoffen!“, stieß die junge Frau heftig aus. In einer fließenden Bewegung erhob sie sich. „Wenn Sie oder die Ärzte ihn nicht zurückholen können, dann …“
Ihre Stimme brach. Sie schien kurz in sich zusammenzusinken, straffte sich jedoch gleich darauf und blickte ihm direkt in die Augen. „Finden Sie heraus, was mit ihm passiert ist. Sonst sorge ich dafür, dass Sie nie wieder einen Patienten bekommen!“ Mit dieser Drohung stürmte sie aus dem Krankenzimmer.
Dr. Schmitter atmete tief durch. Das kurze Gespräch eben hatte ihm nicht nur emotional mehr abverlangt als die therapeutischen Sitzungen der letzten fünfzehn Jahre, sondern ihn darüber hinaus auf einer viel tieferen Ebene getroffen. Nicht allein wegen der Drohung, die er als verständlichen Ausdruck von Hilflosigkeit und Verzweiflung wahrnahm. Wesentlich mehr beunruhigte ihn die Tatsache, dass er sich dem mysteriösesten Rätsel seiner gesamten Karriere gegenübersah, das er unbedingt lösen musste. Andernfalls würde er vermutlich nie wieder den Mut aufbringen, einen Menschen zu hypnotisieren.
Brügge, 17. April 2018, 18:05 Uhr
Lynn fühlte sich wie betäubt. Die Bemerkung des freundlichen Passanten, der ihr so selbstverständlich geholfen hatte, warf all ihre Theorien über den Haufen. So kläglich sie gewesen sein mochten, die Alternative überforderte sie maßlos. Der Mann hatte sich vor wenigen Minuten verabschiedet und gemeint, er müsse endlich nach Hause zu seiner Familie. Natürlich verstand sie das. Dennoch hätte sie ihn am liebsten festgehalten und gebeten, sie nicht allein zu lassen. Stattdessen hatte sie sich bedankt, auch für die Handtasche, die er ihr zwischendurch gereicht und gemeint hatte, es sei ihre. Sie hatte noch nicht gewagt, hineinzusehen. Sie wusste nicht, welcher Gedanke ihr mehr Angst einjagte: darin den Ausweis einer fremden Person oder ihren eigenen zu finden.
Noch immer saß sie in dem kleinen Café, ihren halb ausgetrunkenen Kaffee vor sich. Sie mochte dieses Getränk nicht, selbst mit einem Berg Zucker und sämtlicher verfügbarer Kondensmilch war es ihr zu stark. Das süße Gebäck hatte ihre Lebensgeister hingegen wieder etwas geweckt. Sie war versucht, ein weiteres zu kaufen, sofern sie überhaupt Geld besaß. Schließlich öffnete sie doch die kleine Tasche und fischte eine Geldbörse heraus. Ein Blick hinein bestätigte ihr, dass sie reich genug war, um sich noch mindestens zwanzig Teilchen zu leisten. Mit zitternden Fingern zog sie ein ziemlich neu aussehendes Dokument im Scheckkarten-Format hervor, von dem ihr unbewegt und ernst ihr eigenes Gesicht entgegensah. Name, Geburtsdatum und -ort stimmten überein. Mit wackligen Knien stand sie auf und wankte auf die Tür mit dem internationalen Zeichen für das stille Örtchen zu. Aus dem Spiegel starrte ihr das gewohnte Konterfei entgegen. Perfekt geschminkt, blass, mit veränderter Frisur, in ungewohnt schickem Outfit. Dies konnte, nein, es durfte nicht real sein! Dennoch erlebte sie den Augenblick völlig bewusst. Würde sie träumen, könnte sie jetzt Dinge tun, die im wachen Zustand unmöglich waren. Leider funktionierte es nicht. Es gelang ihr weder abzuheben noch ihre Hand durch den Spiegel zu stecken. Alles wirkte so unglaublich echt. Das Handy, das sie in der Tasche fand, ließ sich mit keiner der beiden Zahlenkombinationen entsperren, die ihr spontan einfielen. Den dritten Fehlversuch sparte sie sich lieber.
Stattdessen verließ sie den kleinen Raum und wandte sie sich an die Bedienung hinter der Theke. „Entschuldigen Sie, gibt es hier irgendwo ein öffentliches Telefon?“
Die Frau sah sie erst etwas verwirrt an. Dann schien sie zu begreifen, dass sie ihre dürftigen Englischkenntnisse rauskramen musste. „Nein, nehmen Sie meins.“
Sie reichte ihr ein Gerät.
„Ich muss in die USA anrufen“, sagte Lynn. „Ist das okay? Ich bezahle Ihnen das Gespräch.“
Die Frau verstand sie offensichtlich nicht, aber es war ihr gleich. Wie lautete die Vorwahl von Kalifornien? Sie rief das Internet auf, suchte die Adresse ihres Internats, fand die richtige Nummer. Es tutete lange, bis sich eine unbekannte Stimme meldete.
„Hier ist Lynn Carter“, sagte sie belegt. „Könnten Sie bitte Ann Rose eine Nachricht zukommen lassen?“
„Wem bitte?“
„Ann Rose“, wiederholte Lynn langsam und deutlich.
„Einen Moment … Eine Studentin mit diesem Namen wohnt hier nicht, tut mir leid.“
„Sind Sie sicher? Sie ist meine Mitbewohnerin, Zimmer Nummer sechzehn.“
„Warten Sie … Das Zimmer ist an zwei Studentinnen vergeben, weitere Auskünfte darf ich Ihnen nicht erteilen. Wie war Ihr Name noch gleich?“
„Lynn Carter. Ich wohne seit letztem Herbst in Ihrem Haus.“
„Es tut mir leid, Miss Carter, aber nach meinen Unterlagen sind Sie nicht hier gemeldet. Sie müssen sich irren. Wahrscheinlich rufen Sie im falschen Wohnhaus an.“
„Nein, ich … Vergessen Sie es. Vielen Dank.“
Ihre Stimme versagte. Blinzelnd versuchte sie, die Tränen zurückzuhalten. Es funktionierte nicht. Halb blind gab sie der jungen Bedienung das Handy zurück und einen kleinen Geldschein dazu.
„Danke“, flüsterte sie. Zumindest dieses Wort beherrschte sie auf Deutsch. Die Antwort verstand sie nicht, begriff jedoch, dass die Frau ihr Geld nicht wollte. Lynn hatte keine Kraft, mit ihr zu streiten, wandte sich um und verließ tränenüberströmt die Bäckerei. Sie würde das schöne Makeup verschmieren, doch es war ihr gleich. Sie war in einem real gewordenen Albtraum gelandet, aus dem sie einfach nicht wieder aufwachte, gefangen im Leben einer anderen Lynn Carter, während ihr eigenes nicht mehr zu existieren schien. Ann Rose, ihre beste Freundin, gehörte offensichtlich nicht dazu. Vermutlich wohnte sie ganz woanders, genau wie sie selbst, lebte ebenfalls ein völlig anderes Leben. Vielleicht kannten sie sich nicht einmal …
Wo befanden sich ihre Eltern? Sie hoffte, dass diese wenigstens noch in dem kleinen Vorort von San José wohnten, in dem sie aufgewachsen war. Leider konnte sie ihr dämliches Handy nicht bedienen. Erneut jemanden zu fragen, war ihr zu peinlich.
Sie lief ziellos die Straße entlang. Ihre Füße begannen in dem ungewohnten Schuhwerk zu schmerzen, doch es gab weit und breit keine Bank. Die Sonne stand bereits tief und im Schatten fröstelte sie trotz der überraschend angenehmen Temperatur.
Beim Anblick eines prägnanten Gebäudes überkam sie ein merkwürdiges Déjà-vu, als sei sie schon einmal hier gewesen. Der Klartraum!
Ein leichtes Schwindelgefühl machte sich in ihr breit. Mit weichen Knien ging sie langsamer weiter, sog jedes Detail in sich ein. Dann sah sie das glänzende Metallschild mit der bekannten Aufschrift: Dr. Bernd Schmitter, Psychiater.
Mit zitternden Händen drückte sie gegen die Tür, die sich im Traum so leicht geöffnet hatte. Sie war verschlossen. Also presste sie den kleinen Klingelknopf und wartete mit klopfendem Herzen. Ein Summer ertönte, der ihr den Ein-tritt gewährte. Auch das etwas düstere Treppenhaus mit den hohen Stiegen kam ihr so unheimlich vertraut vor. Alles war genauso wie in ihrem Traum!
War ich tatsächlich hier? Genau hier? Aber warum?
Diese Gedanken waren beklemmend, dennoch beinhalteten sie einen Funken neuer Hoffnung. Ihr Hiersein hatte einen Grund, einen wichtigen. Im Traum hatte sie das gewusst. Nun lag es an ihr, ihn herauszufinden. Vielleicht befand sich darin auch der Schlüssel, in ihr bekanntes Leben zurückzukehren.
Mit neuem Mut klopfte sie höflich an die Tür im zweiten Stock, an der das Praxisschild prangte und trat ein, da diese nur angelehnt war. Selbst die Dame am Empfang erkannte sie aus ihrem Traum wieder. Sie war versucht, erneut einfach an ihr vorbeizugehen, doch anders als bei ihrem letzten Besuch wurde sie freundlich begrüßt.
„Ich möchte zu Doktor Schmitter“, sagte sie zögerlich, auf die Tür am Ende des Ganges deutend.
„Es tut mir leid, aber die Sprechstunde ist bereits vorbei. Der Doktor ist zudem außer Haus. Ich mache nur noch die Rechnungen fertig und warte, bis er zurückkommt.“
„Kann ich mit Ihnen warten? Es ist wirklich wichtig.“
„Dann gebe ich Ihnen einen Termin. Diese Woche ist nichts mehr frei. Ich könnte Sie Montag um fünfzehn Uhr einschieben, da hat jemand abgesagt. Sie waren noch nicht bei uns, nehme ich an. Wie ist Ihr Name?“
„Lynn Carter“, antwortete sie mit brechender Stimme. „Sie wissen nicht zufällig, wer ich bin? Ich war vorhin schon hier.“
„Nein, das wüsste ich“, gab die Assistentin lächelnd zurück. „Daran würde ich mich auf jeden Fall erinnern. Vor allem, da Sie Englisch sprechen. Das haben wir hier nicht oft. Wo kommen Sie her?“
„Kalifornien“, flüsterte Lynn. Ihre Knie gaben nach, sodass sie sich an dem Tresen festhielt.
„Geht es Ihnen nicht gut? Sie wirken, als bräuchten Sie einen starken Kaffee. Setzen Sie sich doch!“
Die Frau deutete auf einige Stühle, die an einer Seite des Flures standen. Dankbar stakste Lynn hinüber. Sie hatte das Gefühl, jeden Moment zusammenzusacken.
„Sie sehen so aus, als müsste ich heute noch einen zweiten Krankenwagen rufen. So blass, wie Sie sind.“
„Nein, nein!“, wehrte sie erschrocken ab. „Ich bin okay – körperlich, meine ich. Aber ich brauche ganz dringend den Rat eines guten Psychologen oder Psychiaters. Hatten Sie schon mal das Gefühl, in einem real gewordenen Albtraum gefangen zu sein?“
Die Frau seufzte. „Jeden Dienstagabend, wenn ich nach Feierabend in unsere Küche gucke, in der mein Sohn gekocht hat.“
Lynn lächelte schwach.
„Entschuldigen Sie den Galgenhumor“, fuhr die Sprechstundenhilfe rasch fort. „Mir ist klar, dass Sie ein ernsthaftes Problem haben, sonst wären Sie nicht hier. Doktor Schmitter kann Ihnen sicherlich besser helfen als ich. Aber ich fürchte, dass er Sie heute nicht mehr empfangen wird, selbst wenn er mir versprochen hat, gleich noch mal kurz vorbeizuschauen. Er hatte einen harten Tag. Ich musste die restlichen Termine für diesen Nachmittag verschieben und die Leute abwimmeln.“
„Einen harten Tag, sagen Sie? Es hat nicht zufällig etwas damit zu tun, dass ein Patient von ihm vorhin nicht mehr aus der Hypnose erwacht ist?“
Uni Stanford, 17. April 2018, 09:25 Uhr
Dr. Marlene Kesper saß gemeinsam mit einem extrem blassen und fahrig wirkenden Psychologieprofessor in dem kleinen Aufenthaltsraum, den Dr. Burrington ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Sie hatten das Experiment sofort abgebrochen und alle Studenten bis auf Lynn Carter nach Hause geschickt. Das Mädchen lag noch immer an die Messinstrumente angeschlossen im Versuchsraum. Dr. Kraemer war bei ihr, um ihre vitalen Funktionen zu überwachen. Die Werte blieben stabil, deshalb hatten die Wissenschaftler beschlossen, die Sanitäter abzuwimmeln und mit einer kleinen Notlüge unverrichteter Dinge fortzuschicken. Hier im Labor konnten sie wesentlich genauer überprüfen, was sich im Gehirn der Patientin tat. Momentan war dies relativ unspektakulär, sie schlief tief und traumlos.
„Was ist nur geschehen?“, hörte sie Professor Azais tonlose Stimme. Er schien mit sich selbst zu reden, denn sein Blick ging dabei ins Leere. Dennoch fühlte sie sich angesprochen. Sie konnte seine Verwirrung nur allzu gut nachvollziehen, da es ihr in Bezug auf die jüngsten Ereignisse ähnlich ging. Allerdings besaß sie ihm gegenüber einen Wissensvorteil, der sie die Dinge in einem anderen Licht betrachten ließ. Sie haderte einen Moment lang mit sich, überlegte, ob es wirklich notwendig war, einen weiteren Menschen in ihre Forschungen einzuweihen. Dann fiel ihr ein, dass Azai durch das, was er gesehen und gehört hatte, bereits zu tief in die Angelegenheit verwickelt war, um ihn mit Halbwahrheiten und harmlosen Erklärungen abzuspeisen. Außerdem kannte er die Studentin zumindest oberflächlich und würde so eventuell wertvolle Hilfe leisten können.
„Es gibt da eine Theorie, der wir nachgehen“, erklärte sie deshalb. „Aber ich möchte Sie bitten, diese Informationen vertraulich zu behandeln, da wir noch nicht so weit sind, unsere Ergebnisse zu veröffentlichen. Die Hirnaktivitäten von Miss Carter kurz vor ihrem Kreislaufzusammenbruch zeigten ein Muster, das wir bisher weltweit nur bei einem halben Dutzend Menschen messen konnten. Wir vermuten, dass die junge Dame besondere Eigenschaften besitzt.“
