Der Federndieb - Kirk Wallace Johnson - E-Book

Der Federndieb E-Book

Kirk Wallace Johnson

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Beschreibung

"Ein aufwühlender Bericht über die katastrophalen Folgen menschlicher Gier für bedrohte Vogelarten, ein starkes Argument für den Umweltschutz – und vor allem: ein fesselnder Kriminalfall." Peter Wohlleben Der Fall lässt ihn nicht mehr los. Als der für sein Erzähltalent gefeierte Autor Kirk Wallace Johnson erstmals davon hört, steht er bis zur Hüfte in einem Fluss, die Leine mit der schillernden Fliege ausgeworfen, und frönt seinem Angler-Hobby. Er flüchtet sich häufig in die Natur als Ausgleich für seine Tätigkeit: Der Autor und Publizist leitet eine Stiftung für Opfer des Irak-Kriegs, und nur das Fliegenfischen verhindert einen Burn-Out. Über die Herkunft der Köderfliegen zum Lachsfischen hat er sich nie Gedanken gemacht. Bis zu dem Tag, als er erstmals von dieser wahnwitzigen Tat hört: Ein junger Mann bricht in die ornithologische Abteilung des Britischen Naturkundemuseums ein und stiehlt unzählige Vogelbälger, darunter Darwins Finken und Federkleider von Paradiesvögeln, einst gesammelt vom Naturforscher Alfred Russel Wallace. Kirk Wallace Johnson macht es sich von da an zur Lebensaufgabe, dem Fall nachzugehen. Der passionierte Angler nimmt die Spur der Federn auf. Seine leidenschaftliche Detektiv-Suche führt ihn zu Hobbykünstlern, die Fliegen zum Lachsfischen nach historischen Vorlagen binden - aus den kostbarsten Federn der Welt. Packend erzählt Kirk Wallace Johnson von seiner abenteuerlichen Recherche, der Begegnung mit dem Täter – und wie er die Hintermänner überzeugt, die Federn wieder zurückzugeben. Und die Abbildungen im Bildteil zeugen von der beeindruckenden Schönheit der Köderfliegen, viel mehr aber noch davon, wie atemberaubend das Vogelkleid der zum Teil ausgestorbenen Spezies wirklich ist. Ein Buch für die Leser von "H wie Habicht", "Das Buch vom Meer" oder "Der Hase mit den Bernsteinaugen", aber auch für Leser, die das Abenteuer suchen wie in: "Die Stadt Z – Expedition ohne Wiederkehr". Kirk Wallace Johnsons Buch ist fesselnde Abenteuer-Geschichte mit dem Sog eines True-Crime-Falles, ein Ausloten menschlicher Abgründe, eine Liebeserklärung an die Schönheit der Natur, aber auch ein Ausflug in die Naturgeschichte auf der Spur der Entdeckungsreisenden Darwin und Wallace: Packend wie ein Krimi, abenteuerlich wie ein Roman und doch basierend auf einer wahren Begebenheit. "Ein Pageturner, der Leser von Popular Science, Geschichtsbüchern und True Crime gleichermaßen anspricht." Publishers Weekly

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Kirk Wallace Johnson

Der Federndieb

Ein passionierter Fliegenfischer kommt dem größten Museumsraub der Naturgeschichte auf die Spur

Aus dem Englischen Jochen Schwarzer

Knaur e-books

Über dieses Buch

Von toten Vögeln, reichen Männern und einem unermesslichen Verlust für die Menschheit

Warum stiehlt ein Dieb aus der ornithologischen Abteilung des Britischen Naturkundemuseums unzählige Vogelbälge, darunter unschätzbar wertvolle Federkleider von Paradiesvögeln, einst gesammelt von Darwins Konkurrent Alfred Russel Wallace?

Der Autor, ein passionierter Fliegenfischer, nimmt die Spur der Federn auf. Seine detektivische Suche führt ihn hinein ins Herz der Naturgeschichte. Er folgt den Fußstapfen von Entdeckern ins viktorianische Zeitalter. Und er trifft Hobbykünstler, die auch heute noch Fliegen zum Forellenfischen nach den historischen Vorlagen binden – aus den kostbarsten Federn der Welt. Doch wird es ihm gelingen, den Federndieb ausfindig zu machen und zur Rückgabe des Diebesguts zu bewegen?

 

»Ein aufwühlender Bericht über die katastrophalen Folgen menschlicher Gier für bedrohte Vogelarten, ein starkes Argument für den Umweltschutz – und vor allem: ein fesselnder Kriminalfall.« Peter Wohlleben

Inhaltsübersicht

WidmungMottoPrologI. Tote Vögel und reiche Männer1 Leben und Leiden des Alfred Russel Wallace2 Lord Rothschilds Museum3 Das Federnfieber4 Geburt einer Bewegung5 Die viktorianische Bruderschaft der Fliegenbinder6 Die Zukunft des FliegenbindensII. Der Einbruch in Tring7 Federlos in London8 Plan für Museumseinbruch.doc9 Der Fall des zerbrochenen Fensters10 »Ein sehr ungewöhnliches Verbrechen«11 Heiße Vögel und eine kalte Spur12 Fluteplayer 198813 Hinter Gittern14 In der Hölle schmoren15 Die Diagnose16 Die Asperger-Verteidigung17 Die fehlenden BälgeIII. Wahrheit und Pflicht18 Das 21. internationale Fly-Tying Symposium19 Das verlorene Gedächtnis der Weltmeere20 Spurenverfolgung per Zeitmaschine21 Doktor Prums USB-Stick22 »Ich bin kein Dieb«23 Drei Tage in Norwegen24 Michelangelo verschwindet25 Der Kreislauf der FedernBildteilDankEinige Bemerkungen zu den QuellenBibliografie
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Für Marie-Josée:

C’était tout noir et blanc

avant que tu aies volé et atterri

dans mon arbre

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Der Mensch begnügt sich selten damit, die Schönheit bloß zu betrachten.

Er muss sie besitzen.

 

Grand Chief Sir Michael Somare,

Premierminister von Papua-Neuguinea, 1979

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Prolog

Als Edwin Rist an der Bahnstation außerhalb von Tring, sechzig Kilometer nördlich von London, aus dem Zug stieg, war es schon recht spät. Die Bewohner des verschlafenen Städtchens hatten ihr Abendessen beendet, die Kinder lagen im Bett. Während er den langen Fußmarsch in die Stadt antrat, glitt der Zug der Bahngesellschaft London Midland in die Dunkelheit davon.

Einige Stunden zuvor war Edwin bei »London Soundscapes« in der Royal Academy of Music aufgetreten, einem Konzert zu Ehren von Haydn, Händel und Mendelssohn. Vor dem Auftritt hatte er ein Paar Latexhandschuhe, eine kleine LED-Taschenlampe, eine Drahtschere und einen Diamant-Glasschneider in einen großen Rollkoffer gepackt und diesen in seinem Spind im Konzertgebäude verstaut. Edwin hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem jungen, schlaksigen Pete Townshend: durchdringende Augen, eine markante Nase und diesen Wuschelkopf, bloß dass er, statt eine Fender zu zertrümmern, Flöte spielte.

Es war Neumond an diesem Abend, was den ohnehin düsteren Straßenabschnitt noch dunkler machte. Fast eine Stunde lang zog er seinen Koffer durch den Schlamm und Kies am Straßenrand, unter knorrigen, alten Bäumen, die mit Efeu überwuchert waren. Nördlich schlummerte Turlhanger’s Wood, südlich Chestnut Wood, dazwischen brachliegende Felder und hier und da ein kleines Wäldchen.

Ein Auto donnerte vorbei, die Scheinwerfer blendeten ihn. Ein Adrenalinschub, und er wusste, es war nicht mehr weit.

Der Ortseingang der Marktstadt Tring wird von einem Pub aus dem 16. Jahrhundert namens The Robin Wood bewacht. Einige Straßen weiter, zwischen der alten Tring-Brauerei und einer HSBC-Filiale, zweigt der öffentliche Fußweg Nr. 37 ab, eine von den Einheimischen Bank Alley genannte Gasse, die von über zwei Meter hohen Ziegelmauern gesäumt ist.

Edwin schlüpfte hinein und verschwand damit in völliger Dunkelheit. Dann tastete er sich voran, bis er direkt hinter dem Gebäude stand, das er monatelang ausgekundschaftet hatte.

Das Einzige, was ihn nun noch davon trennte, war die Mauer. Die drei rostigen Stacheldrahtstränge obendrauf hätten seine Pläne vereiteln können, hätte er keine Drahtschere dabeigehabt. Nachdem er eine kleine Bresche in den Stacheldraht geschnitten hatte, hievte er den Koffer auf die Mauerkrone, stieg selbst hinterher und schaute sich ängstlich um. Vom Wachschutz war nichts zu sehen. Zwischen der Stelle, an der Edwin auf der Mauer saß, und dem nächsten Fenster des Gebäudes klaffte eine Lücke von über einem Meter, die eine kleine Schlucht bildete. Wenn er hineinfiel, würde er sich womöglich verletzen – oder, schlimmer noch, Krach machen und damit den Wachschutz herbeilocken. Doch ihm war klar gewesen, dass diese Etappe kein Spaziergang werden würde.

Auf der Mauer hockend, langte er mit dem Glasschneider zu dem Fenster hinüber und setzte ihn an der Scheibe an. In das Glas zu schneiden, erwies sich jedoch als schwieriger als gedacht, und während er sich damit abmühte, rutschte ihm das Werkzeug aus der Hand und fiel in die Kluft zwischen Mauer und Gebäude. Sein Verstand raste. War das ein Zeichen? Er überlegte schon, das ganze verrückte Vorhaben abzubrechen, doch dann sagte die innere Stimme, die ihn auch in den vergangenen Monaten angetrieben hatte: Moment mal! Du kannst jetzt nicht aufgeben! Du bist schon fast am Ziel![1]

Er stieg hinunter in die Gasse und hob einen Stein auf. Wieder oben auf der Mauer sitzend, hielt er noch einmal Ausschau nach den Wachen. Dann schlug er mit dem Stein das Fenster ein, wuchtete seinen Koffer durch die vor Glassplittern starrende Öffnung und kletterte ins British Natural History Museum, das britische Naturkundemuseum.

Nicht ahnend, dass er soeben im Büro des Wachschutzes einen Alarm ausgelöst hatte, nahm Edwin seine Taschenlampe und folgte ihrem schwachen Lichtschein die Flure entlang zum Magazinbereich des Museums, genauso, wie er es oft in Gedanken durchgespielt hatte.

Leise schob er seinen Rollkoffer durch die Korridore und näherte sich so den schönsten Dingen, die er je gesehen hatte. Wenn ihm das hier gelang, würden sie ihm Ruhm, Reichtum und Prestige einbringen. Es wäre die Lösung all seiner Probleme. Er hatte sich das verdient.

Dann betrat er das Magazin, in dem Hunderte große weiße Stahlschränke Wächtern gleich aufgereiht standen, und machte sich ans Werk. Er öffnete die erste Schublade. Mottenkugelaroma stieg ihm daraus entgegen. Unter seinen Fingerspitzen erbebte ein Dutzend Rotkehlkotingas, die von Naturforschern und Biologen über Jahrhunderte hinweg aus den Wäldern und Dschungeln Südamerikas zusammengetragen und von Generationen von Kuratoren für zukünftige Forschungen sorgfältig konserviert worden waren. Ihre kupferorangefarbenen Federn schimmerten trotz des schwachen Lichts. Die einzelnen Vögel, die von der Schnabel- bis zur Schwanzspitze etwa 45 Zentimeter maßen, lagen wie aufgebahrt auf dem Rücken, die Augenhöhlen mit Watte gefüllt, die Füße eng am Körper. An den zusammengebundenen Beinen hingen Etiketten, auf denen in verblichener Handschrift das Sammeldatum, die geografischen Koordinaten des Sammelorts und weitere wichtige Einzelheiten vermerkt waren.

Edwin öffnete den Koffer und begann, ihn mit Vögeln zu füllen, indem er eine Schublade nach der anderen leerte. Die Unterart occidentalis, die er nun händeweise herausnahm, war hundert Jahre zuvor in der westkolumbianischen Andenregion Quindío zusammengetragen worden. Er wusste nicht genau, wie viele Vögel in seinen Koffer passen würden, schaffte es aber problemlos, 47 der 48 männlichen Exemplare des Museums hineinzustopfen. Dann schob er den Koffer zum nächsten Schrank weiter.

Der Wachmann unten im Büro starrte derweil wie gebannt auf einen kleinen Fernsehbildschirm. In ein Fußballspiel vertieft, hatte er noch gar nicht bemerkt, dass ein Stückchen weiter an einer Tafel ein Alarmlämpchen blinkte.[2]

Edwin öffnete den nächsten Schrank, und zum Vorschein kamen Dutzende Bälge des Quetzal, die in den 1880er-Jahren in den Nebelwäldern der Provinz Chiriquí in Westpanama gesammelt worden waren – eine Vogelart, die heute aufgrund weitreichender Entwaldung als bedroht gilt und unter dem Schutz internationaler Abkommen steht. Diese Vögel waren aufgrund ihrer Länge von über einem Meter schwierig in seinem Koffer zu verstauen, aber indem er ihre langen Schwanzfedern vorsichtig zusammenrollte, bekam er 39 Exemplare hinein.

Ein Stück den Korridor hinab öffnete er die Türen eines weiteren Schranks, der einige Arten süd- und mittelamerikanischer Schmuckvögel enthielt. Er schnappte sich 14 einhundert Jahre alte Bälge des Azurkotingas, eines in Mittelamerika endemischen kleinen türkisfarbenen Vogels mit purpurroter Brust, und erleichterte das Museum dann noch um 37 Exemplare des Purpurlatzkotingas, 21 Bälge des Türkisblauen Kotingas und 10 Bälge des vom Aussterben bedrohten Südlichen Prachtkotingas, von dem es in freier Wildbahn Schätzungen zufolge heute nicht mehr als 250 erwachsene Exemplare gibt.[3]

Die Galapagos-Finken und Spottdrosseln, die Charles Darwin 1835 während seiner Reise auf der HMSBeagle gesammelt hatte – und die bei der Entwicklung seiner Theorie der Evolution durch natürliche Selektion eine maßgebliche Rolle spielten –, ruhten in Schubladen ganz in der Nähe. Zu den wertvollsten Beständen des Museums zählten Skelette und Bälge ausgestorbener Vögel, darunter des Dodos, des Riesenalks und der Wandertaube.

Insgesamt beherbergte das Museum eine der umfangreichsten ornithologischen Sammlungen der Welt: 750000 Bälge, 15000 Skelette, 17000 Alkoholpräparate, 4000 Nester und 400000 Gelege, die im Laufe von Jahrhunderten aus den entlegensten Wäldern, Gebirgen, Dschungeln und Sümpfen der Erde zusammengetragen worden waren.

Doch wegen einiger schmuckloser graubrauner Finken war Edwin nicht in das Museum eingebrochen. Er hätte nicht zu sagen gewusst, wie lange er sich bereits in dem Magazin aufhielt, als er schließlich mit seinem Rollkoffer vor einem großen Schrank stehen blieb. Ein kleines Schild wies auf den Inhalt hin: PARADISAEIDAE. 37 Königs-Paradiesvögel, binnen Sekunden entwendet. 24 Prachtparadiesvögel. 12 Kragenparadiesvögel. 4 Blauparadiesvögel. 17 Goldlaubenvögel. All diese makellosen Exemplare, die 150 Jahre zuvor unter widrigsten Umständen in den Urwäldern Neuguineas und des Malaiischen Archipels gesammelt worden waren, verschwanden in Edwins Koffer, und ihre Etiketten trugen den Namen eines autodidaktischen Naturforschers, der mit einigen bahnbrechenden Erkenntnissen Darwin den Schreck seines Lebens einjagte: A. R. WALLACE.

 

Der Wachmann blickte zu den Bildern der Überwachungskameras hinüber, die auf den Parkplatz und das Museumsgelände gerichtet waren. Dann brach er zu einem Rundgang auf. Er schritt die Korridore ab, überprüfte die Türen und hielt Ausschau nach irgendetwas Ungewöhnlichem.

Edwin hatte unterdessen längst den Überblick darüber verloren, wie viele Vögel schon durch seine Hände gegangen waren. Ursprünglich hatte er von jeder Spezies nur die besten Exemplare mitnehmen wollen, doch im Rausch des Beutemachens hatte er hemmungslos zugegriffen und seinen Koffer vollgestopft, bis nichts mehr hineinpasste.

Der Wachmann ging hinaus und begann einen Kontrollgang über das Gelände. Dabei sah er auch zu den Fenstern des Gebäudeteils hinauf, der an die Ziegelmauer der Bank Alley grenzte, und leuchtete mit seiner Taschenlampe dorthin.

Edwin stand vor dem zerbrochenen Fenster, in dessen Rahmen noch Glassplitter steckten. Bislang war alles nach Plan verlaufen – vom Verlust des Glasschneiders einmal abgesehen. Jetzt musste er nur noch aus dem Fenster steigen, ohne sich dabei zu schneiden, und in der dunklen Gasse verschwinden.

* * *

Als ich den Namen Edwin Rist das erste Mal hörte, stand ich gerade bis zur Taille im Red River, einem Bergbach, der nördlich von Taos, New Mexico, die Sangre de Cristo Mountains durchschneidet. Meine Fliegenschnur schwebte mitten im Wurf hinter mir in der Luft, bereit, nach vorn zu schnellen, hin zu der goldbäuchigen Forelle, von der mein Fliegenfisch-Guide Spencer Seim mir versichert hatte, sie verberge sich hinter einem Pkw-großen Felsblock in der Bachmitte. Spencer konnte Fische überall erspüren – hinter Baumstämmen, durch die Gischt reißender Strömungen, am Grund dunkler Kolke und in Strudeln und Wirbeln. Er war sicher, dass dort ein gut fünfunddreißig Zentimeter langes Exemplar drei Handbreit unter der Wasseroberfläche stand und auf die richtige Fliege lauerte – die ich dem Fisch jetzt nur noch kredenzen musste.

»Er ist in ein Museum eingebrochen, um was zu klauen?«

Von dem abgelenkt, was ich gerade gehört hatte, vermasselte ich den Wurf, ließ die Schnur auf dem Wasser aufklatschen und verscheuchte damit wahrscheinlich sämtliche Forellen in der Nähe. »Tote Vögel?« Wir hatten bis dahin nur mit gedämpfter Stimme gesprochen, um die Fische nicht zu erschrecken, und hatten uns so geschickt wie nur möglich an die tiefen Stellen des Gewässers herangepirscht, immer darauf achtend, wohin die Sonne unsere Schatten warf, doch in diesem Moment war ich schlicht und einfach fassungslos. Ich hatte soeben eine der befremdlichsten Geschichten gehört, die mir je zu Ohren gekommen war, und dabei hatte Spencer gerade erst begonnen, sie zu erzählen.

Normalerweise konnte mich auf dem Fluss nichts aus meiner Konzentration herausreißen. Wenn ich gerade nicht fischte, zählte ich die Wochen und Tage, bis ich wieder eine Wathose anziehen und ins Wasser stiefeln konnte. Ich ließ mein Mobiltelefon im Kofferraum meines Wagens zurück, wo es klingeln durfte, bis der Akku den Geist aufgab, steckte als Proviant eine Handvoll Mandeln ein und trank, wenn ich Durst bekam, aus dem Strom. An guten Tagen arbeitete ich mich acht Stunden am Stück einen Fluss- oder Bachabschnitt hinauf, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Das waren die einzigen kleinen Ruhepausen in dem Stress-Orkan, in den sich mein Leben verwandelt hatte.

Sieben Jahre zuvor – ich koordinierte damals im Auftrag von USAID, der Entwicklungshilfeorganisation des amerikanischen Außenministeriums, den Wiederaufbau der irakischen Stadt Falludscha – war ich während eines Urlaubs in einem Dämmerzustand, der auf eine Posttraumatische Belastungsstörung zurückzuführen war, schlafwandelnd aus einem Fenster gestürzt und wäre dabei um ein Haar ums Leben gekommen. Ich erlitt einen Schädelbruch, brach mir auch die Handgelenke, den Kiefer und die Nase, und mein Gesicht musste mit Dutzenden Stichen genäht werden – von der daraus resultierenden Angst vor dem Schlaf und den Streichen, die mein Gehirn mir im Laufe der Nacht gerne spielte, ganz zu schweigen.

Während meiner langwierigen Genesung bekam ich mit, dass viele meiner irakischen Kollegen – Dolmetscher, Übersetzer, Bauingenieure, Lehrer und Ärzte – von ihren eigenen Landsleuten verfolgt und getötet wurden, weil sie mit den Vereinigten Staaten »kollaboriert« hatten. In einem Artikel in der Los Angeles Times setzte ich mich für sie ein, in der naiven Annahme, dass daraufhin irgendjemand, der über die entsprechende Macht verfügte, die Sache schnell regeln würde, indem er ihnen Visa für die USA verschaffte. Dass bald darauf Tausende E-Mails von Irakern bei mir eingehen würden, die mich eindringlich um Hilfe baten, hatte ich nicht erwartet. Ich war zu diesem Zeitpunkt arbeitslos und schlief auf einem Futon im Keller meiner Tante. Von Flüchtlingshilfe hatte ich nicht die leiseste Ahnung, machte mich aber daran, eine Liste mit den Namen derer zu erstellen, die mir geschrieben hatten.

Einige Monate später gründete ich eine gemeinnützige Organisation, das »List Project«. In den darauffolgenden Jahren rang ich mit dem Weißen Haus, beschwatzte Senatoren, scharte Freiwillige um mich und sammelte Spenden, um meine Mitarbeiter bezahlen zu können. Zwar gelang es uns im Laufe der Jahre, Tausende Flüchtlinge in die USA zu holen, aber es war klar, dass wir niemals in der Lage sein würden, allen zu helfen. Auf jeden Erfolg kamen fünfzig Fälle, die in den Mühlen der amerikanischen Bürokratie festhingen, die diese Dolmetscher, sobald sie aus dem Irak flohen, wie potenzielle Terroristen behandelte. Als im Herbst 2011 der amerikanische Truppenabzug näher rückte, fühlte ich mich wie in einem von mir selbst gebauten Käfig gefangen. Immer noch waren Zehntausende Iraker und Afghanen vor ihren Verfolgern auf der Flucht. Es würde noch ein Jahrzehnt dauern, vielleicht sogar mehrere, sie alle in Sicherheit zu bringen, und ich konnte von Glück sagen, wenn ich ein einziges Jahr im Voraus finanziert bekam. Zudem würde das alles, sobald der Krieg in den Augen der amerikanischen Öffentlichkeit »vorbei« war, sogar noch schwieriger werden.

Jedes Mal, wenn ich kurz davor war aufzugeben, erreichte mich ein weiterer verzweifelter Appell eines ehemaligen irakischen Kollegen, und dann schämte ich mich meiner Schwäche. Dennoch war nicht mehr zu leugnen, dass ich vollkommen erschöpft war. Seit dem Unfall konnte ich nicht mehr einschlafen, ohne mich abzulenken, und ließ dazu die langweiligsten Serien, die ich auf Netflix nur finden konnte, in Dauerschleife laufen. Und jeden Morgen beim Aufwachen empfing mich eine neue Flut von Bittschriften von Flüchtlingen.

Das Fliegenfischen war unerwarteterweise etwas sehr Befreiendes für mich geworden. Auf dem Fluss musste ich keine Journalisten anrufen und keine Spender anflehen, sondern befasste mich ausschließlich mit Strömungen und Insekten und der Aufgabe, Forellen an den Haken zu locken. Die Zeit schien ganz anders zu vergehen: Fünf Stunden dort draußen kamen mir wie dreißig Minuten vor. Wenn ich nach so einem Tag, den ich in meiner Wathose verbracht hatte, die Augen schloss, sah ich schemenhafte Umrisse von Fischen, die stromaufwärts träge vor sich hinfächelten, und versank darüber in tiefen Schlaf.

Einem solchen Akt des Eskapismus war es geschuldet, dass ich mich in jenem Bergbach in New Mexico wiederfand. Ich war in meinem klapprigen Sebring-Cabrio von Boston aus nach Taos gefahren, um in einer Künstlerkolonie an einem Buch über meine Erlebnisse im Irak zu arbeiten. Gleich am ersten Tag stellte sich eine Schreibblockade ein. Ich hatte keinen Verlagsvertrag, hatte nie zuvor ein Buch geschrieben, und mein an Narkolepsie laborierender Agent ignorierte meine zusehends flehentlichen Bitten, mir mit ein paar Ratschlägen unter die Arme zu greifen. Währenddessen wuchs die Liste der Flüchtlinge unaufhörlich weiter. Ich war gerade 31 Jahre alt geworden und wusste nicht, was ich in Taos eigentlich verloren hatte, geschweige denn, was ich als Nächstes tun sollte. Als der Stress unerträglich wurde, suchte ich mir jemanden, der mir die örtlichen Flüsse und Bäche zeigen konnte.

Spencer traf ich im Morgengrauen an einer Tankstelle am State Highway 522. Er lehnte an seinem hellbraunen Toyota 4Runner, auf dessen Heck, unter der Schlammschicht gerade noch sichtbar, ein BIG LEBOWSKI-Aufkleber prangte: »Nicht auf den Teppich, Mann!«

Spencer war Ende dreißig und hatte buschige Koteletten und kurzes Haar. Sein Lachen wirkte ansteckend, und wie alle wirklich guten Guides war er ein sehr umgänglicher Mensch. Wir kamen auf Anhieb bestens miteinander klar. Als wir dann auf dem Fluss waren, verbesserte er meine Wurftechnik und erzählte mir alles Mögliche über die Lebenszyklen diverser in der Gegend vorkommender Insekten. Es gab keinen Strauch, kein Mineral, keinen Vogel und kein Krabbeltier, die der ehemalige Eagle Scout nicht identifizieren konnte, und er schien jede einzelne Forelle persönlich zu kennen. Diese Dumpfbacke habe ich letzten Monat mit der gleichen Fliege hier rausgeholt. Nicht zu fassen, dass sie schon wieder darauf reingefallen ist!

Als mir eine Fliege an einem Wacholder am Ufer hängen blieb, verzog ich gequält das Gesicht. Ich hatte inzwischen ein kleines Vermögen für Forellenfliegen ausgegeben – Elchhaare, Kaninchenfellfetzen und Hahnenfedern, die um einen winzigen Haken gebunden waren, um eine breite Palette von Wasserinsekten nachzuahmen und die Fische damit zum Beißen zu animieren.

Spencer lachte nur. »Scheibenkleister! Aber schau mal, die habe ich alle selbst gebunden!«, sagte er und öffnete seine Fliegenbox, die Hunderte winzige Floater, Spinner, Streamer, Nymphen, Emerger, Stimulators, Parachutes und Terrestrials enthielt. Er hatte auch lokale Spezialitäten dabei, wie den San-Juan-Wurm und das von Breaking Bad inspirierte Crystal-Meth-Ei. Je nachdem, welche Insekten in dem jeweiligen Gewässer gerade schlüpften, variierte er auf subtile Weise die Garnfarbe oder Hakengröße. Und im Mai trug er andere Fliegen bei sich als im August.

Als er meine Neugier bemerkte, öffnete er eine zweite Box und zog eines der sonderbarsten und zugleich schönsten Dinge daraus hervor, die ich je gesehen hatte: eine Jock-Scott-Lachsfliege, die, wie er mir erklärte, nach einem 150 Jahre alten Rezept gebunden war. Sie enthielt Federn von einem Dutzend verschiedener Vögel, die, als er die Fliege hin und her drehte, karminrot und kanariengelb, türkis und sonnenuntergangsorange schillerten. Der lange Hakenschenkel war mit einer unfassbar feinen Goldfadenwindung versehen und lief in eine Schlaufe aus Silkwormgut aus.

»Was ist das denn?!«

»Das ist eine viktorianische Lachsfliege. Dafür braucht man einige der seltensten Federn der Welt.«

»Und wo kriegst du die her?«

»Es gibt im Netz eine kleine Gemeinschaft von uns, die wir solche Fliegen binden«, antwortete er.

»Fischt ihr denn auch mit diesen Dingern?«, fragte ich.

»Nein, eher nicht. Die meisten, die so was binden, haben gar keine Ahnung vom Fischen. Das ist mehr eine Kunstform.«

Wir bewegten uns weiter stromaufwärts und hielten uns dabei geduckt, da wir uns einem fischreich wirkenden Bachabschnitt näherten.

Das war ein seltsames Hobby, fand ich: Seltene Federn aufzutreiben, um damit eine Fliege zu binden, die man gar nicht zu werfen wusste.

»Also, wenn du das schon seltsam findest, solltest du dich mal ein bisschen mit diesem Edwin Rist beschäftigen! Das ist einer der besten Fliegenbinder der Welt. Er ist sogar ins britische Naturkundemuseum eingebrochen, um Vögel für diese Fliegen zu beschaffen.«

Ich weiß nicht, ob es Rists viktorianisch klingender Vorname war, die schiere Befremdlichkeit dieser Geschichte oder der Umstand, dass ich meinem Leben damals dringend eine neue Richtung geben musste – jedenfalls war ich binnen kürzester Zeit von diesem Verbrechen geradezu besessen. Den restlichen Nachmittag konnte ich, während Spencer sein Bestes gab, um mir zu Angelerfolgen zu verhelfen, an nichts anderes mehr denken und wollte nur noch erfahren, was in jener Nacht in Tring geschehen war.

Doch je mehr ich darüber herausfand, desto rätselhafter wurde das Ganze – und umso mehr drängte es mich, dieses Rätsel zu lösen. Ich ahnte noch nicht, dass mich mein Gerechtigkeitsstreben tief in den Feder-Untergrund hineinführen würde, eine Welt voller fanatischer Fliegenbinder und Federdealer, Kokser und Großwildjäger, zwielichtiger Zahnärzte und Kriminalpolizisten a.D. Aus all den Lügen und Drohungen, Gerüchten und Halbwahrheiten, Enthüllungen und Frustrationen lernte ich etwas über die teuflische Beziehung zwischen Mensch und Natur und das unerbittliche Verlangen des Menschen, ihre Schönheiten in Besitz zu nehmen, koste es, was es wolle.

Fünf aufreibende Jahre sollten vergehen, bis ich endlich herausfand, was mit den aus Tring verschwundenen Vögeln geschehen war.

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I. Tote Vögel und reiche Männer

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1 Leben und Leiden des Alfred Russel Wallace

Alfred Russel Wallace stand auf dem Achterdeck eines brennenden Schiffs, sechshundert Seemeilen vor der Küste Bermudas.[4] Die Planken unter seinen Füßen heizten sich auf, und durch die Ritzen drang schon gelber Rauch. Schweiß und Gischt klebten ihm auf der Haut, und unter Deck hörte man den Balsam und Kautschuk kochen. Nicht mehr lange, und die Flammen würden durchbrechen, das spürte er. Die Besatzung der Helen lief hektisch umher und lud Habseligkeiten und Vorräte in die beiden kleinen Rettungsboote, die an der Schiffsflanke herabgelassen wurden.

Diese Boote hatten allerdings so lange auf dem Deck in der Sonne gestanden, dass ihr Holz ausgedörrt war; sobald sie den Ozean berührten, drang Wasser ein. Der Koch eilte los, um Korken zum Stopfen zu holen, und andere Seeleute suchten panisch nach Riemen und Steuerrudern. Kapitän John Turner packte eilig seinen Chronometer und seine Seekarten zusammen, während seine Männer Fässer mit gepökeltem Schweinefleisch, Brot und Trinkwasser in die Boote hinabließen. Sie hatten nicht die leiseste Ahnung, wie lange sie auf dem Meer treiben würden, bis Rettung nahte – falls es überhaupt dazu kam. Der Atlantik erstreckte sich ringsum Hunderte Seemeilen weit.

Vier Jahre lang hatten ihn die ewigen Wolkenbrüche des Amazonas-Regenwaldes bis auf die Knochen durchnässt, während Malaria, Ruhr und Gelbfieber seine Lebenskräfte auslaugten, und dann erwies sich nicht Wasser als das Element, das Wallace’ Mission ins Verderben stürzte, sondern Feuer. Es muss ihm wie ein schrecklicher Albtraum erschienen sein: Die kleine Menagerie aus Affen und Papageien, die er so gewissenhaft vor der feuchten Kälte behütet hatte, huschte und flatterte, aus ihren Käfigen befreit, vor den Flammen davon und zum Bugspriet hin, der wie eine spitze Nase aus der 235 Tonnen fassenden Helen hervorragte.

Wallace stand da und blinzelte durch seine Drahtgestellbrille zu den in Panik versetzten Vögeln hinüber, während ihm das Chaos immer mehr auf den Leib rückte. Er war vollkommen erschöpft, von Vampirfledermäusen ausgesaugt und dank der Sandflöhe, die sich unter seinen Zehennägeln eingegraben hatten, um dort ihre Eier abzulegen, von Entzündungen gepeinigt, sodass er nicht mehr klar denken konnte. Alle seine Notizbücher aus den Jahren, in denen er die Tierwelt an den Ufern des pechschwarzen Rio Negro erforscht hatte, befanden sich in seiner Kajüte.

Während die Flammen zu den Papageien hinzüngelten, leckten sie unter Deck an Kisten, in denen die wahre Ausbeute seiner Amazonas-Expedition enthalten war: Die Bälge von fast zehntausend Vögeln, jeder einzelne sorgfältig konserviert.[5] Außerdem lagerten darin Alligatorschildkröten, aufgespießte Schmetterlinge, Glasgefäße voller Ameisen und Käfer, Skelette von Ameisenbären und Seekühen, ganze Bündel von Zeichnungen zur Metamorphose fremdartiger, unbekannter Insekten und ein Herbarium brasilianischer Flora, das auch den über fünfzehn Meter langen Wedel einer Jupaté-Palme enthielt.

Die Notizbücher, Bälge und weiteren Exemplare stellten eine so umfangreiche Forschungsarbeit dar, dass sich damit der Grundstein zu einer großen Karriere legen ließ. Wallace hatte England als unbekannter Landvermesser mit nur wenigen Jahren Schulbildung verlassen und stand nun, mit neunundzwanzig Jahren und Hunderten unbekannten Arten, die es zu benennen galt, vor einer triumphalen Rückkehr als veritabler Naturforscher. Wurde der Brand jedoch nicht gelöscht, so kehrte er als ein Niemand heim.

 

Wallace kam 1823 als achtes von neun Kindern seiner Eltern in dem walisischen Dorf Llanbadoc zur Welt, am Westufer des Usk, der in den Black Mountains entspringt und schließlich in den Ästuar des Severn mündet. An den Ufern des Severn, 140 Kilometer weiter nördlich, war dreizehn Jahre zuvor Charles Darwin geboren worden, doch es sollten noch Jahrzehnte vergehen, bis sich die Lebenswege der beiden Männer infolge einer erstaunlichen Koninzidenz der Wissenschaftsgeschichte kreuzten.

Mit dreizehn Jahren wurde Wallace, nachdem törichte Fehlinvestitionen seines Vaters ihm den Zugang zu höherer Bildung verbaut hatten, von der Schule genommen und zu seinem ältesten Bruder in eine Lehre als Landvermesser geschickt. An deren Diensten bestand großer Bedarf, da das Aufkommen der Dampflokomotive einen Eisenbahnboom ausgelöst hatte, infolge dessen auf den Britischen Inseln in kurzer Zeit Tausende Kilometer Gleise verlegt wurden.[6] Während andere Jungen seines Alters Vergil übersetzten und Algebra büffelten, verwandelte die Vermessungstätigkeit das ganze Land in ein Klassenzimmer für den jungen Wallace, der viele Täler und Wälder zu Fuß durchquerte und die Grundlagen der Trigonometrie erlernte, indem er Bahnstrecken zu entwerfen half. Als dann die Erdarbeiten begannen, erhielt er ersten Unterricht in Geologie, wenn ausgestorbene Arten, wie etwa die vor 66 Millionen Jahren versteinerten Belemniten, aus der Urgeschichte der Erde zum Vorschein kamen.[7] Der frühreife Junge verschlang Einführungen in die Mechanik und Optik und erspähte mit einem Teleskop, das er aus einer Pappröhre, einem Opernglas und einer bei einem Optiker gekauften Linse gebastelt hatte, die Monde des Jupiter.

Wallace’ informelle Ausbildung fiel in eine Zeit, die nach einem Jahrhundert der Industrialisierung und Urbanisierung von einer Bewegung zurück zur Natur bestimmt war. Die in den rußigen, verdreckten Städten zusammengepferchten Menschen begannen, sich nach der rustikalen Idylle ihrer Vorfahren zu sehnen, doch Fahrten auf zerfurchten Wegen an die Küste oder in entferntere Regionen der Britischen Inseln waren wenig komfortabel und geradezu verboten teuer. Erst die Eisenbahn ermöglichte der überarbeiteten Stadtbevölkerung Großbritanniens solch kleine Fluchten.[8] Gemäß dem Sprichwort »Müßiggang ist aller Laster Anfang« förderten die Viktorianer das naturgeschichtliche Sammeln als ideale Freizeitbeschäftigung, und die Kioske an den Bahnhöfen boten eine reiche Auswahl an allgemein verständlichen Zeitschriften und Büchern über den Aufbau einer Privatsammlung.[9]

Moose und Meeresalgen wurden gepresst und getrocknet, Korallen, Muscheln und Seeanemonen an Land geholt und in Flaschen gefüllt. Hüte wurden mit speziellen Fächern versehen, in denen sich die auf Spaziergängen gesammelten Exemplare verwahren ließen.[10] Die Mikroskope wurden leistungsfähiger und erschwinglicher, was die Sammelwut noch verschärfte: Was dem unbewaffneten Auge bis dahin alltäglich und unscheinbar vorgekommen war – ein Blatt oder Käfer aus dem eigenen Garten –, offenbarte unter der Linse eine vielgestaltige Schönheit. Neue Sammelleidenschaften verbreiteten sich wie Lauffeuer. Bahnbrechend dabei waren die Franzosen mit ihrer Konchiliomanie, im Zuge derer Muschelschalen obszöne Preise erzielten.[11] Es folgte die Pteridomanie, als die Briten wie besessen in allen Winkeln ihrer Inseln Farne für ihre Farnalben ausrupften.[12] Etwas Seltenes zu besitzen, verlieh einen gewissen Status, und die mit Kuriositäten der Natur beladenen Vitrinen in den Salons wurden »von jedem Mitglied der vornehmen Gesellschaftsschichten, das als kultiviert gelten wollte, als unentbehrliche Einrichtungsgegenstände angesehen«, so der Historiker D. E. Allen.[13]

Als der junge Wallace zufällig mit anhörte, wie eine Gouvernante in Hertford Freunden gegenüber mit dem Fund einer seltenen Pflanze namens Monotropa prahlte, weckte das seine Neugier.[14] Ihm war nicht bewusst gewesen, dass die systematische Botanik eine Wissenschaft war und »dass es in der unendlichen Vielfalt von Pflanzen und Tieren […] irgendeine Ordnung gab«.[15] Bald bemerkte er an sich ein unersättliches Verlangen nach Klassifizierung: Er wollte die Namen von allem erfahren, was auf dem Gebiet seiner Vermessungskarten lebte. Er schnitt überall Blüten ab und trocknete sie in dem Zimmer, das er mit seinem Bruder teilte. Er legte sich ein Herbarium an und ging dann zur Entomologie über, drehte Steine um, um zu sehen, was sich darunter regte, und hielt Käfer in kleinen Glasgefäßen gefangen.

Nachdem er mit Anfang zwanzig Charles Darwins Die Fahrt der Beagle gelesen hatte, begann Wallace, von einer eigenen Expedition zu träumen. Er hatte inzwischen alles, was ihm in England an Flora und Fauna untergekommen war, katalogisiert, und war von einem großen Verlangen erfüllt, neue Spezies zu untersuchen. Als die Eisenbahnblase platzte und kaum noch Bedarf an Landvermessern war, hielt er Ausschau nach einer unerforschten Region der Erde, die ihm helfen könnte, die größten wissenschaftlichen Rätsel der damaligen Zeit zu lösen: Wie entstanden neue Arten? Und warum waren andere Arten, wie jene, die er bei den Vermessungsarbeiten entdeckt hatte, ausgestorben? War die Vorstellung wirklich so vermessen, dass er in Darwins Fußstapfen treten und ebenfalls gen Südamerika in See stechen könnte?

Im Jahre 1846 korrespondierte er mit Henry Bates, einem jungen Entomologen, mit dem er sich angefreundet hatte, über die Möglichkeit einer solchen Reise. Nach einem Besuch der Insektenausstellung des British Museum schrieb er Bates, er sei von der geringen Anzahl der Käfer und Schmetterlinge, die er dort hatte betrachten dürfen, enttäuscht. »Ich würde mir gern eine ganze Insektenfamilie vornehmen und sie gründlich studieren, vor allem hinsichtlich der Theorie der Entstehung der Arten. Ich bin der festen Überzeugung, dass auf diesem Wege einige konkrete Ergebnisse erzielt werden könnten.«[16]

Die beiden Männer einigten sich auf ein Reiseziel, nachdem der amerikanische Insektenforscher William Henry Edwards in jenem Jahr sein Werk A Voyage Up the River Amazon veröffentlicht hatte, das mit verlockenden Ausführungen begann: »Wahrhaft verheißungsvoll für Liebhaber des Wunderbaren ist jenes Land, […] wo die mächtigsten Flüsse majestätisch durch Urwälder strömen, die sich schier grenzenlos erstrecken und die schönsten und vielfältigsten Tier- und Pflanzenarten hervorbringen und zugleich verbergen; wo das Gold Perus den gewissenlosen Abenteurer gelockt und Amazoninnen ihn zurückgeschlagen haben; und wo Jesuitenmissionare und glücklose Händler kannibalischen Indianern und epikureischen Anakondas zum Opfer fielen.«[17]

Sie würden in der brasilianischen Hafenstadt Pará, dem heutigen Belém, an Land gehen, sich von dort aus in das Amazonasgebiet vorarbeiten und während ihrer ganzen Expedition Tier- und Pflanzenexemplare nach London schicken. Samuel Stevens, ihr Agent, würde die Reise finanzieren, indem er »Dubletten« von Bälgen und Insekten an Museen und Privatsammler verkaufte. In der Woche vor ihrer Abreise nach Nordbrasilien erlernte Wallace auf dem Anwesen der Familie Bates in Leicester das Schießen und Abbalgen von Vögeln.

* * *

Am 20. April 1848 traten Wallace und Bates an Bord der HMS Mischief die neunundzwanzigtägige Überfahrt nach Pará an, die Wallace größtenteils seekrank in seiner Koje verbrachte. Von Pará aus wagten sie sich ins Herz des Amazonasgebiets vor, fingen Schmetterlinge und glitten in primitiven Booten durch Stromschnellen. Sie aßen Alligatoren, Affen, Schildkröten und Ameisen und saugten den Saft aus frischen Ananas.[18] In einem Brief an Stevens erinnerte sich Wallace an die ständige Gefahr, die von Jaguaren, Vampirfledermäusen und Giftschlangen ausging: »So glaubte ich fast bei jedem Schritt, einen kalten schlüpfrigen Körper unter meinen Füßen zu haben oder scharfe Reißzähne in meinen Beinen zu fühlen.«[19]

Zwei Jahre und über tausend Kilometer später beschlossen Wallace und Bates, ihre Expedition von nun an getrennt fortzusetzen, denn wenn sie nicht anfingen, singuläre Exemplare zu sammeln, konkurrierten sie im Grunde miteinander. Wallace würde den Rio Negro hinauffahren, Bates in Richtung Anden weiterreisen. In regelmäßigen Abständen schickte Wallace Kisten mit Exemplaren flussabwärts, die über Mittelsmänner nach London verschifft werden sollten.

1851 litt Wallace monatelang an Gelbfieber. Es fiel ihm sogar schwer, sich seine Medizin aus Chinin und in Wasser aufgelöstem Weinstein zuzubereiten. »In diesem apathischen Zustande«, schrieb er, »durchging ich halb in Gedanken, halb im Traum mein ganzes vergangenes Leben und meine Hoffnungen auf die Zukunft, die vielleicht alle hier am Rio Negro ihr Ende finden sollten.«[20]1852 beschloss er, seine Reise um ein Jahr abzukürzen.

Er belud das Boot, das ihn nach Pará zurückbringen sollte, mit Kisten voller konservierter Exemplare und mit behelfsmäßigen Käfigen, die 34 lebende Tiere enthielten: Affen, Papageien, Tukane, Sittiche und ein Fasan mit weißem Kamm.[21] Bei Zwischenhalten musste er zu seinem Entsetzen feststellen, dass viele seiner früheren Sendungen vom Zoll als mutmaßliche Schmuggelware aufgehalten worden waren. Er gab ein kleines Vermögen dafür aus, sie alle wieder freizubekommen, und brachte sie an Bord der Helen, die am 12. Juli, vier Jahre nach seiner Ankunft in Brasilien, die Segel setzte.[22]

 

Jetzt kochten im Bauch ebendieser Helen, sechshundert Seemeilen östlich von Bermuda, unzählige Vogelbälge, Eier, Pflanzen, Fische und Käfer, mehr als genug, um ihn als führenden Naturforscher zu etablieren und lebenslange Forschungen zu krönen. Es gab immer noch Hoffnung, dass das Feuer gelöscht werden konnte: Kapitän Turners Männer warfen Ladung über Bord, hackten die Planken auf und suchten verzweifelt und gegen erstickende Rauchschwaden ankämpfend nach dem fauchenden Brandherd. Unter Deck war der Rauch so dick, dass jeder Mann nur ein paar Axthiebe anbringen konnte, ehe er wieder Luft schnappen musste.[23]

Als der Kapitän schließlich den Befehl gab, das Schiff zu verlassen, ließ sich die Besatzung an den Seilen hinab, mit denen die lecken Rettungsboote an der Helen festgemacht waren. Nun setzte sich Wallace endlich in Bewegung und eilte in seine Kajüte, »in der jetzt eine unerträgliche Hitze und dichter Rauch waren«, um zu sehen, was sich noch retten ließ.[24] Er nahm seine Uhr und einige seiner Zeichnungen von Pflanzen und Tieren mit. Es hatte ihn »eine Apathie« erfasst, womöglich eine Folge des Schocks und der körperlichen Erschöpfung, und er unterließ es, seine Notizbücher mitzunehmen, die voller Beobachtungen waren, die zu sammeln er vielfach sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte.[25] All die Vogelbälge, Pflanzen, Insekten und sonstigen Exemplare, die im Lagerraum eingeschlossen blieben, waren verloren.

Als sich der ausgemergelte Wallace von der Helen abzuseilen begann, rutschte er am Tau ab, schürfte sich die Handflächen auf und stürzte in das schon halb gesunkene Rettungsboot. Sogleich half er beim Ausschöpfen, auch wenn ihm das Salzwasser auf den geschundenen Händen brannte.

Die meisten Papageien und Affen waren bereits auf dem Deck erstickt, einige Überlebende aber drängten sich noch auf dem Bugspriet.[26] Wallace versuchte, sie ins Rettungsboot zu locken, doch als die Flammen schließlich auch den Bugspriet erfassten, flogen bis auf einen alle ins Feuer hinein. Der letzte Papagei stürzte, nachdem das Seil, auf dem er saß, abgebrannt war, ins Meer.

Von den Rettungsbooten aus sahen Wallace und die Besatzung mit an, wie das Feuer die Helen verzehrte, und auf das Chaos der Evakuierung folgte die Monotonie des Ausschöpfens. Hin und wieder schoben sie brennende Schiffstrümmer fort, die nah genug herangetrieben waren, um ihnen gefährlich zu werden. Als die Segel, die das Schiff noch stabilisiert hatten, schließlich auch Feuer fingen, geriet die Helen ins Rollen und Stampfen, und die Masten brachen herab. Das Schiff »bot einen herrlichen und zugleich schrecklichen Anblick, als es sich auf die Seite drehte. […] Die ganze Ladung bildete darunter eine einzige rauchende Masse.«[27]

Sie warteten auf Rettung, und schließlich ging die Sonne unter. Ihre Absicht war es, möglichst nah beim Schiff zu bleiben, solange der Brand an Bord noch Licht spendete; wenn sie Glück hatten, würde ein vorbeifahrendes Schiff das Feuer sehen und ihnen zu Hilfe kommen. Jedes Mal, wenn Wallace die Augen schloss und einzunicken begann, schreckte ihn der rote Feuerschein der Helen wieder auf, und vergeblich hielt er Ausschau nach Anzeichen der Rettung.

Als der Morgen graute, war das Schiff nur noch ein verkohltes Wrack. Die Planken der Rettungsboote waren glücklicherweise ausreichend aufgequollen, um die Lecks abzudichten. Kapitän Turner studierte seine Seekarten. Unter günstigen Bedingungen konnten sie binnen einer Woche Bermuda erreichen. Da keine anderen Schiffe in Sicht waren, setzte die marode Flottille die Segel und nahm Kurs auf das nächstgelegene Festland.

Sie fuhren gen Westen, durch stürmisches Wetter, und rationierten ihre rapide schwindenden Vorräte an Trinkwasser und gepökeltem Schweinefleisch. Nach zehn Tagen, die Hände und Gesichter sonnenverbrannt, kreuzten sie den Kurs eines Holzfrachters, der nach England unterwegs war. In dieser Nacht, komfortabel an Bord der Jordeson, machte sich bei Wallace, den sein Überlebensinstinkt bis hierher geschützt hatte, abgrundtiefe Traurigkeit breit. »Jetzt, da die Gefahr vorüber war, begann ich erst, die Größe meines Verlustes vollständig zu fühlen«, schrieb er einem Freund. »Oftmals, vom Schüttelfrost fast niedergedrückt, war ich doch in den Wald gedrungen und durch irgendeine unbekannte und schöne Spezies belohnt worden!«[28]

Schon bald jedoch wurde er wieder in den Überlebensmodus zurückgezerrt. Die Jordeson – eines der langsamsten Schiffe der Welt, das unter günstigen Bedingungen im Schnitt gerade mal zwei Knoten zurücklegte – war gefährlich überladen und hatte viel zu geringe Vorräte an Bord.[29] Als endlich der englische Hafen Deal in Sicht kam, war der Besatzung längst nichts anderes mehr übrig geblieben, als Ratten zu verspeisen. Achtzig Tage, nachdem Wallace triumphierend an der Mündung des Amazonas aufgetaucht war, mit genug Tier- und Pflanzenexemplaren, um ein kleines Museum damit zu bestücken, betrat er in abgerissener Kleidung, durchnässt, hungrig und mit leeren Händen wieder englischen Boden. Seine Knöchel waren so geschwollen, dass er kaum gehen konnte.

 

Als das Desaster schließlich ausgestanden war, zog der nun bettlägerige Wallace eine Bilanz dessen, was er nach seinen Jahren im Amazonasgebiet vorzuweisen hatte: eine Handvoll Zeichnungen tropischer Fische und Palmen. Seine Uhr – von all den Dingen, die er vor dem Feuer hätte retten können! Was ihm in jenen verhängnisvollen letzten Augenblicken an Bord der Helen durch den Kopf gegangen war, vermochte Wallace später nicht mehr nachzuvollziehen.

Samuel Stevens hatte die gesammelten Tier- und Pflanzenexemplare zwar gegen Verlust versichern lassen, doch die Versicherungssumme von 200 Pfund Sterling – nach heutigem Wert ungefähr 30000 Euro – war kein allzu großer Trost.[30] Auf abhandengekommene wissenschaftliche Erkenntnisse ließen sich keine Ansprüche anmelden – von Geschichten für ein eigenes Buch im Geiste Darwins ganz zu schweigen.

Was sollte er jetzt tun? Um die Entstehung der Arten zu ergründen, brauchte Wallace neue Exemplare, was eine weitere Expedition nötig machte. Doch seine Mittel waren begrenzt, sein Körper ausgelaugt und sein Ruf noch nicht einmal begründet. Mitte des 19. Jahrhunderts verschwand die Terra incognita, die einst aus vage verzeichneten unerforschten Wäldern und Inseln bestanden hatte, rapide von den Landkarten. Die neuerdings vorherrschenden Kanonenboote der britischen Marine fuhren fremde Häfen und Buchten an, um unberührte Landstriche zu erobern und altersschwachen Kolonialreichen wie Holland oder Portugal ihre Besitzungen zu entreißen. Meist hatten sie auch einen Naturforscher an Bord. Darwins Cambridge-Professor hatte ihn für die Fahrt auf der HMS Beagle empfohlen, einem Marineschiff, das die Aufgabe hatte, einen Großteil der südamerikanischen Westküste und die Galapagosinseln zu erschließen, und sein Vater hatte während der fünfjährigen Reise alle anfallenden Kosten getragen.[31] Der britische Botaniker Joseph Dalton Hooker, ein enger Freund Darwins, bereiste ab 1839 vier Jahre lang auf der HMS Erebus die Antarktis und ging anschließend an Bord der HMS Sidon, um einige Jahre lang den Himalaja und Indien zu erkunden. Diese Männer waren Mitglieder der Royal Societies, entstammten wohlhabenden Familien und benannten jedes Jahr Hunderte neuer Arten. Wallace hingegen verfügte über keine Cambridge-Connection, die ihn für eine Koje auf bevorstehenden Expeditionen hätte empfehlen können.

Wenn Wallace sich als bedeutender Naturforscher etablieren wollte, hatte er keine Zeit zu verlieren. Sobald er wieder auf den Beinen war, verschaffte er sich brieflich Zutritt zu den heiligen Hallen der wissenschaftlichen Gesellschaften Londons und stützte sich dabei auf seine Erinnerungen und die wenigen Skizzen, die er gerettet hatte. Nur fünf Wochen nach seiner Rückkehr hielt er vor der Entomological Society eine Vorlesung über die Schmetterlinge Amazoniens.[32] Vor der Zoological Society vertrat er bei einer Vorlesung über die Affen des Amazonasgebiets die Theorie, dass, als sich der Ozean zurückzog, der einst die ganze Region bedeckt habe, drei Flüsse – der Amazonas, der Rio Madeira und der Rio Negro – das Festland in vier Sektoren aufteilten. Die daraus resultierenden »großen Aufspaltungen« erklärten seiner These nach die Vielfalt und Verteilung der 21 von ihm dort beobachteten Affenarten.[33]

Wallace besaß hinsichtlich der Entstehung der Arten noch keine Theorie, aber ihm war klar, dass die Geografie dabei eine wesentliche Rolle spielte. Er schimpfte über die nachlässige Art und Weise, in der andere Naturforscher geografische Daten aufzeichneten: »In den verschiedenen Werken zur Naturgeschichte und in unseren Museen haben wir im Allgemeinen nur sehr vage Ortsangaben. Südamerika, Brasilien, Guayana oder Peru heißt es da meistens nur; und wenn einmal ein Exemplar mit ›Amazonas‹ oder ›Quito‹ bezeichnet ist, […] haben wir keine Möglichkeit zu ermitteln, ob es nun aus dem Norden oder dem Süden des Amazonasgebiets stammt.«[34] Ohne genaue Informationen über die Lebensräume einzelner Arten ließ sich unmöglich ermitteln, wie und warum sich Arten auseinanderentwickelt hatten. Die Etiketten waren seiner Auffassung nach fast ebenso wichtig wie die Exemplare, an denen sie befestigt waren.

In den Monaten nach seiner Rückkehr wurde Wallace zu einem regelrechten Stammgast der wissenschaftlichen Gesellschaften Londons, höchste Priorität hatte dabei, ein Ziel für seine nächste Expedition auszuwählen. Eine Rückkehr nach Amazonien wäre zwecklos gewesen – sein Freund Bates baute dort immer noch eine riesige Sammlung auf und war ihm dabei inzwischen uneinholbar weit voraus. Darwins Reiseroute nachzuvollziehen, wäre ebenfalls nicht allzu sinnvoll gewesen, und Alexander von Humboldt hatte bereits die höchsten Berge Mittelamerikas, Kubas und Kolumbiens bestiegen. Wallace musste eine Lücke finden, eine Gegend auf der Weltkarte, die noch nicht von einem rivalisierenden Naturforscher durchkämmt worden war.

Nachdem er eine Schilderung einer »neuen Welt« mit »einem ganz einzigartigen Tierreich« gelesen hatte, fiel seine Wahl auf den Malaiischen Archipel, der noch von keinem Naturforscher erkundet worden war.[35] Im Juni 1853 trat Wallace, der sich in der Zwischenzeit ein beträchtliches Renommee erarbeitet hatte, mit seinem Vorhaben an Sir Roderick Murchison heran, den Präsidenten der Royal Geographical Society, und skizzierte eine ebenso ambitionierte wie langwierige Reiseroute: Borneo, die Philippinen, Sulawesi, Timor, die Molukken und Neuguinea.[36] Wallace plante, sich an jedem dieser Orte jeweils ein bis zwei Jahre aufzuhalten – eine Expedition also, die leicht ein Dutzend Jahre in Anspruch nehmen konnte. Murchison erklärte sich bereit, ihm eine Passage auf dem nächsten in die Region reisenden Schiff zu verschaffen und ihm auch wertvolle Empfehlungen an die jeweiligen Kolonialbehörden zu vermitteln.

Zur Vorbereitung auf die Reise besuchte Wallace oft die Insekten- und Vogelsammlungen des British Museum in London, wobei er stets seine Ausgabe des Conspectus generum avium des Prinzen Charles Bonaparte – ein achthundertseitiges Werk, in dem sämtliche bis 1850 bekannten Vogelarten beschrieben sind – mit sich herumschleppte und mit akribischen Randnotizen versah.[37] Bald wurde ihm klar, dass das Museum von der sonderbarsten und schönsten Vogelfamilie des Planeten, den Paradiesvögeln, nur eine lückenhafte Sammlung besaß.

Die Paradiesvögel nahmen in der Vorstellungswelt der westlichen Öffentlichkeit lange einen Platz ein, der ihres mythischen Namens würdig war. Den ersten Bälgen von ihnen, die Magellans Besatzung 1522 als Geschenk für den König von Spanien nach Europa brachte, fehlten die Füße – vor Ort war es damals üblich, diese beim Präparieren abzuschneiden –, was Carl von Linné, den Begründer der modernen Taxonomie, dazu verleitete, die Spezies Parasidaea apoda zu benennen, »fußlose Paradiesvögel«.[38] Viele Europäer glaubten folglich, die Vögel lebten in einem himmlischen Reich, stets der Sonne zugewandt, ernährten sich von Ambrosia und berührten bis zu ihrem Tode nie den Erdboden. Man glaubte, die Weibchen legten ihre Eier auf dem Rücken ihres Partners ab und bebrüteten sie, während beide durch die Lüfte schwebten.[39] Die Malaien gaben ihnen den Namen Manuk dewata oder »Göttervögel«, und die Portugiesen nannten sie Passaros de sol, »Sonnenvögel«.[40] Linné hatte neun Arten beschrieben, die seither nie wieder gesehen worden waren und die bei den Händlern des Archipels als Burong coati, »tote Vögel«, galten.

Papst Clemens VII. besaß ein Paar der himmlischen Bälge. Der spätere englische König Karl I. posierte 1610 für ein Porträt selbstbewusst neben einem Hut, der mit einem ausgestopften Paradiesvogel geschmückt war.[41] Rembrandt, Rubens und Bruegel der Ältere hielten ihr wallendes Gefieder in Öl auf Leinwand fest.[42] Doch so entzückt der Westen von diesen vermeintlich himmlischen Wesen war, hatte bis dahin kein Naturforscher sie je in freier Wildbahn beobachtet.

* * *

Am 4. März 1854, anderthalb Jahre nach seiner desaströs verlaufenen Rückkehr aus Südamerika, begab sich Wallace an Bord eines Dampfers der Peninsular & Oriental, der ihn durch die Straße von Gibraltar und vorbei an den Burgen von Malta nach Alexandria brachte. Von dort aus reiste er zunächst auf einem Binnenschiff den Nil hinauf nach Kairo und anschließend, nachdem er seine Ausrüstung auf Pferdewagen umgeladen hatte, mit einer Karawane durch die Arabische Wüste nach Suez. Die nächste Etappe der Reise legte er auf der Bengal zurück, einem 38 Meter langen Frachtschiff, das unterwegs in Jemen, Sri Lanka und an den »waldreichen Ufern« an der Straße von Malakka Station machte, ehe es Wallace schließlich in Singapur absetzte.[43]

Innerhalb eines Monats nach seiner Ankunft hatte Wallace bereits fast tausend Käfer aus über siebenhundert Arten an Stevens geschickt.[44] Um eine so enorme Ausbeute zu erzielen, erlegte er sich ein geradezu mörderisches Pensum auf. Er stand allmorgendlich um halb sechs auf und analysierte und verstaute zunächst die am Vortag gesammelten Insekten.[45] Dann wurden Waffen und Munition bereit gemacht und Insektennetze geflickt. Um acht Uhr frühstückte er und begab sich dann für vier oder fünf Stunden zum Sammeln in den Dschungel. Nach seiner Rückkehr tötete er die Insekten und spießte sie auf Nadeln, bis um vier Uhr das Abendessen serviert wurde. Schließlich verbrachte er allabendlich vor dem Schlafengehen noch ein oder zwei Stunden damit, die gesammelten Exemplare in sein Register einzutragen.

Das British Museum kaufte fast alles auf, was Wallace nach Hause schickte. Stevens, der gern noch mehr verkauft hätte, fragte bei ihm an, ob er das Sammeln nicht beschleunigen könne, indem er auch nachts hinausging, handelte sich damit aber eine Abfuhr ein: »Kommt nicht infrage. […] Nachtarbeit mag ja für Amateure gut sein, aber nicht für einen Mann, der ohnehin schon tagtäglich zwölf Stunden an seiner Sammlung arbeitet.«[46]

So anstrengend das Sammeln von Tierexemplaren auch war – dass er sie dann auch noch vor der ständigen Bedrohung durch Aasfresser beschützen musste, trieb ihn schier in den Wahnsinn. Immer wieder nahmen kleine schwarze Ameisen von seinem Haus Besitz, liefen durch papierene Gänge an den Stützbalken hinab auf seinen Arbeitstisch und trugen ihm die Insekten direkt vor der Nase weg.[47] Blaue Schmeißfliegen tauchten schwärmeweise auf und legten Unmengen von Eiern in seinen Vogelbälgen ab. Wurden diese nicht schnell gereinigt, so machten sich die geschlüpften Maden über die toten Vögel her. Seine größten Feinde aber waren die mageren, stets hungrigen Hunde, die sich vor dem Haus herumtrieben: Ließ er einen Vogel, den er gerade abbalgte, auch nur einen Moment lang aus dem Blick, konnte er sicher sein, dass sie ihn sich schnappten.[48] Und wenn Wallace Vogelbälge an den Dachsparren zum Trocknen aufhängte und die Trittleiter zu nahe stehen ließ, stiegen die Hunde hinauf und machten sich mit seinen schönsten Exemplaren aus dem Staub.

Auch der sprichwörtliche Zahn der Zeit stellte eine immense Bedrohung dar. Seit Jahrhunderten hatten sich Präparatoren bemüht, die beste Methode zur Konservierung von Vögeln für die künftige Forschung zu finden. Sie hatten es damit probiert, sie in Essig oder Alkohol einzulegen, in Ammoniak zu baden, mit Schellack zu überziehen und sogar sie in einem Ofen zu backen, doch alle diese Verfahren zerstörten entweder die Haut oder minderten die Schönheit des Gefieders. Erst in den vergangenen Jahrzehnten hatten Naturforscher die Kunst des Abbalgens perfektioniert: Man führte zunächst einen Schnitt vom Gabelbein bis hinab zur Kloake des Vogels, entfernte die Eingeweide, schabte mit einer Feder das Hirn aus, zog die Ohrkanäle heraus, schnitt die Augäpfel ab, stopfte Watte in die Augenhöhlen und behandelte die Haut schließlich mit arsenhaltiger Seife.[49] Mitte des 19. Jahrhunderts wimmelte es in den einschlägigen Handbüchern nur so von abscheulichen Ratschlägen: Man binde ein Taschentuch zu einer Schlinge und erdrossele die angeschossenen Vögel damit, nutze bei der Jagd auf Vögel, die kleiner als Tauben sind, Schrot Nr. 8 und Schrot Nr. 5 bei »größeren Viechern«, und einem verwundeten, aggressiven Reiher versetze man, um ihn zu bezwingen, mit einem Spazierstock einen festen Schlag auf den Kopf.[50] Größeren Greifvögeln solle man die Fußsehnen durchtrennen. Taucher sollten von hinten, nicht von vorn abgebalgt werden. Bei Tukanen solle man die Zunge im Schädel belassen. Kolibris könne man, statt sie aufzuschneiden, auch über einem Ofen trocknen und dann mit Kampfer verstauen.

Einen erst halb präparierten Vogelbalg an Insekten oder räudige Hunde zu verlieren, war fast so schlimm, wie ihn in Flammen aufgehen zu sehen. Damit er ihm bei den täglichen Verrichtungen des Sammelns zur Hand ging, hatte Wallace den sechzehnjährigen Charles Allen auf die Expedition mitgenommen.[51] Anfangs schrieb er noch freudig seiner Mutter, Charles könne »inzwischen ziemlich gut schießen. […] Er wird mir bald eine große Hilfe sein, vorausgesetzt, ich kann ihm seine unverbesserliche Unachtsamkeit austreiben.«[52] Binnen Jahresfrist hatte Wallace jedoch endgültig die Geduld mit Charles verloren und bat seine Schwester eindringlich, einen Ersatz für ihn zu finden: »[…] aber ich plage mich keinesfalls noch einmal mit einem von seinem Schlage ab. […] Wenn er einen Vogel präpariert, hängt der Kopf anschließend zur Seite, am Hals ragt ein großer Watteklumpen hervor, wie ein Grützbeutel, die Füße sind so verdreht, dass die Sohlen nach oben weisen – oder sonst etwas in der Richtung. Es ist bei ihm immer das Gleiche: Was gerade sein sollte, ist schief und krumm.«[53]

Nach anderthalb Jahren trennte sich Wallace von dem jungen Allen. Um sicherzustellen, dass seine Exemplare der Nachwelt erhalten blieben, engagierte er einen jungen malaiischen Assistenten namens Ali, dessen Liebe zum Detail eine willkommene Abwechslung darstellte. In den ersten beiden Jahren seiner Expedition reiste Wallace von Singapur aus nach Malakka, Borneo, Bali, Lombok und Makassar und sammelte circa dreißigtausend Exemplare, die sechstausend verschiedenen Arten angehörten. Vielleicht eingedenk der Lehren der Helen schickte er Stevens regelmäßig Kisten voller Bälge. Die »Überland«-Route der Peninsular & Oriental war die schnellste, aber auch kostspieligste: Sechstausend Seemeilen per Schiff bis Suez, dann mit der Karawane durch die Wüste nach Alexandria und schließlich per Dampfer nach London – eine Reise von 77 Tagen.[54] Die andere Möglichkeit bestand darin, seine Kisten auf eine viermonatige Reise zu schicken, auf Schiffen, die ums Kap der Guten Hoffnung fuhren.

Doch auch nach fast dreijähriger Expedition hatte Wallace noch keinen einzigen Paradiesvogel gesehen.

Als ihm im Dezember 1856 ein Kapitän, halb Holländer, halb Malaie, von einem Ort erzählte, an dem die begehrten Vögel gefangen werden könnten, brach Wallace mit Ali in einer maroden Prau – einem malaiischen Segelschiff – nach Aru auf, einer kleinen Inselgruppe neunhundert Seemeilen weiter östlich.[55] Vor ihm lagen umherschweifende Piratenbanden, unpassierbare Dschungel voller gewaltiger Mahagoni- und Muskatnussbäume, Malaria und Gift und Tausende unbekannte Arten, die es zu entdecken galt. Und irgendwo in den Tiefen dieser Dschungelgebiete harrten die schwer zu findenden Paradiesvögel und einer der größten wissenschaftlichen Durchbrüche aller Zeiten.

* * *

Während die Prau ostwärts durch die Flores- und Bandasee kreuzte, machte Wallace eine Bestandsaufnahme seiner Vorräte: zwei Schrotflinten, ein Beutel Schrot und ein Jagdmesser.[56] Seine Insektenbehälter waren ordentlich in einer Ecke der ihm zugeteilten Bambushütte aufgestapelt, die auf dem Deck der Prau festgezurrt war, zusammen mit einem Beutel Tabak und einer Ansammlung kleiner Messer und Perlen, die er als Zahlungsmittel für einheimische Vogel- und Insektenjäger verwenden wollte. In Glasgefäßen und Beuteln hatte er Arsen, Pfeffer und Alaun dabei, zum Konservieren von Exemplaren, und außerdem Hunderte Etiketten mit dem Aufdruck COLLECTED BY A. R. WALLACE. Während er den Göttervögeln immer näher kam, maß er seinen Proviant in Zeiträumen: Zucker für drei Monate, Butter für acht, Kaffee für neun und Tee für ein ganzes Jahr.

Die Zeit war der Schlüssel, wollte man verstehen, wie Aru und einige weitere Inselgruppen Neuguineas die mysteriösen Paradiesvögel überhaupt hervorgebracht hatten. Vor etwa 140 Millionen Jahren begann auf der Südhalbkugel der Erde ein Gondwana genannter Großkontinent auseinanderzubrechen.[57] Ungefähr 46 Millionen Jahre später trennte sich die Australische Platte ab und begann, nach Norden zu driften. In den 80 Millionen Jahren, in denen sie sich langsam in Richtung tropischer Gewässer bewegte, lebte eine Vielzahl von Vögeln auf diesem Kontinent, darunter auch der gemeinsame Vorfahre der Paradies- und Rabenvögel.[58] Vor 20 Millionen Jahren begannen sich die Paradiesvögel auseinanderzuentwickeln. Zweieinhalb Millionen Jahre, bevor Wallace sich den Inseln näherte, tauchte vor der Nordküste Australiens die Landmasse Neuguineas aus dem Meer auf, die seither nach Grönland die zweitgrößte Insel der Erde bildet. Aufeinanderprallende tektonische Platten falteten einen Gebirgsrücken auf, der immer noch der am schnellsten wachsende auf unserem Planeten ist. Im Zuge der Eiszeiten der nächsten Jahrmillionen variierte die Höhe des Meeresspiegels. Jedes Mal, wenn sich das Meer zurückzog, entstand zwischen Australien und Neuguinea eine Landbrücke, die es Pflanzen, Vögeln und anderen Tieren ermöglichte, zwischen den beiden Landmassen hin und her zu wechseln. Stieg der Meeresspiegel dann wieder, waren die in Neuguinea verbliebenen Vögel aufs Neue isoliert.

Es gab auf diesen entlegenen Inseln keine Schleichkatzen oder andere Katzenartige, die Jagd auf die Vögel gemacht hätten.[59]