Der Fehler, der mein Leben veränderte - Gina Bucher - E-Book

Der Fehler, der mein Leben veränderte E-Book

Gina Bucher

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Beschreibung

In unserer Leistungsgesellschaft ist Scheitern ein Tabu. Aber jeder Mensch macht Fehler. Und deshalb will die Journalistin Gina Bucher in ihrem neuen Buch ergründen, wie andere damit umgehen. Was passiert in einem, sobald man erkennt, dass man einen Fehler mit ernsthaften Konsequenzen begangen hat? Wie betrachtet man sich danach morgens im Spiegel? Wie denkt man später über einen solchen Fehler nach, über Schuld und vielleicht auch über Reue? Wie reagiert das Umfeld darauf? Wie begegnet man den Konsequenzen? Und natürlich: Wie hat man sich durch diesen Fehler verändert? Diese Fragen hat Gina Bucher Menschen gestellt, die in ihrem Leben kleinere oder auch größere Fehler gemacht haben. Ohne zu urteilen lässt sie sie ihre Geschichten erzählen und gibt uns einen intimen Einblick in eine Welt abseits von Erfolg und Ruhm.

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Für U.

ISBN 978-3-492-97966-5© Piper Verlag GmbH, München 2018Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenCovermotiv: H. Armstrong Roberts/ClassicStock/Getty ImagesDatenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Motto

Prolog mit Fragen

Balanciert und ausgerutschtÜber die Krux von Berufsrisiken

Wie eine Ärztin über ihre Arbeit denkt, nachdem sie einen Behandlungsfehler entschuldigte

Die Krankenschwester, die nicht mehr schweigen will

Der Jungunternehmer, der Scheitern aus Gründersicht erklärt

Wie man nach einer falsch ausgefüllten Steuererklärung über Pech und Glück denkt

Der Bankräuber, der keiner sein wollte

Der Pyrotechniker, der fahrlässig einen Brand verursachte

Der Mann, der sich in seiner Arbeit verlor

Gewütet und bereutÜber die Kraft der Wut und des Rauschs

Der Mann, der seine Familie verlor

Der Kleinkriminelle, der zu Gott fand

Der Mann, der achtzehn Jahre im Gefängnis war

Der Heroinabhängige, der mit vierzehn Drogen ausprobierte und nie mehr davon loskam

Der Jugendliche, der seinen Opfern vor Gericht begegnete

Der Mann, der lebenslänglich im Gefängnis war

Verliebt, vertraut, verdrängtÜber die Neugier auf der Suche nach Liebe und Lebenssinn

Der Zeuge Jehovas, der plötzlich Fragen stellte und sich mit den Antworten nicht mehr zufriedengab

Der Mann, der sich mit HIV ansteckte

Die Millionärin, die einem Hochstapler vertraute

Der Mann, der sich immer wieder verschuldete

Der Vater, der möchte, dass sich seine beiden Söhne einmal kennenlernen

Was man denkt, wenn man ein zweites Mal Heroin nimmt, obwohl man genau weiß, dass das ein Fehler ist

Der Mann, der seiner Familie nach dreißig Jahren von seinem Doppelleben erzählte

Epilog mit Antworten

Bibliografie

Dank

Anmerkungen

»Wenn du ein zum Scheitern Berufener bist, so scheitere vor allem nicht irgendwie.«

Henri Michaux**Henri Michaux, Eckpfosten, aus dem Französischen von Werner Dürrson© Carl Hanser Verlag München 1982

Prolog mit Fragen

Auf einer FuckUp Night in Berlin-Mitte 2017: Eine lange Schlange vor dem Lokal, dicht gedrängtes Publikum drinnen – alle wollen jene hören, die sich auf die Bühne stellen, um von ihren gescheiterten Geschäftsideen zu erzählen. Meistens ernten sie viel Applaus: weil sie mutig über ihr Scheitern sprechen, weil sie davon erzählen, was sie aus ihren Fehlern gelernt haben. Fehler zuzugeben hat hier nicht den Anstrich einer angestrengt optimistischen Selbsthilfegruppe, sondern ist Treibstoff für neue Ideen. Solche FuckUp Nights finden als Eventformat in immer mehr Städten statt, organisiert werden sie meist von Leuten der Gründerszene.

An diesem Abend erzählen zwei Männer im lässigen Start-up-Sprech von ihren beruflichen Niederlagen. Ein Dritter aber erzählt von seinem – wie er es selbst formuliert – »persönlichen« Scheitern: Erfolgsverwöhnt hätte er sich nie Gedanken zu einer Karriere gemacht, er war immer der Beste, wurde stets befördert. Bis ihm diese zwar beschwingte, aber letztlich ziellose Karriere zu langweilig wurde und er ein Studium begann. Womit er jedoch kläglich gescheitert sei (zu anspruchsvoll der Stoff, zu alt er selbst), was ihm eine Depression einbrachte, die schließlich sechs Jahre andauerte. Jetzt erst baue er langsam sein Selbstbewusstsein wieder auf. Auch deswegen stehe er heute auf der Bühne einer solchen FuckUp Night. Wie es weitergehen soll? Unklar, Hauptsache langsam. Eine berührende Geschichte mit viel Lampenfieber und noch mehr Charme erzählt. Doch interessant ist die Reaktion des Publikums. Das applaudiert zwar auch bei seiner Geschichte, und auffallend viele (Frauen!) stellen ihm im Anschluss Fragen. Doch aus dem Gemurmel der Zuhörer und draußen bei den Rauchern ist bald zu hören: Diese Geschichte gilt nicht als FuckUp, »das kann doch jedem passieren«, sagt einer zu seinem Kumpel und nimmt einen Schluck Bier.

Auch wenn das Scheitern in den letzten Jahren zu einem feuilletonistischen Modethema geworden ist – als Small Talk eignet es sich noch lange nicht. Richard Sennett bezeichnete es Ende der Neunzigerjahre als »das große moderne Tabu«. Groß verändert hat sich daran nichts, im Gegenteil: In unserer Kultur wird nach wie vor ungern über Fehler, Fehlentscheidungen, Naivität oder zu große Risiken gesprochen – besonders, wenn sie das eigene Privatleben nachhaltig erschüttern. Es sei denn, es sind kleinere Fehler, mit denen sich gut kokettieren lässt (die hohe Buße für viel zu schnelles Autofahren etwa). Oder Fehler, die konstruktiv genutzt oder kapitalisiert werden können, weil sie zu einer Erfindung, einer positiven Überraschung oder einem anderen glücklichen Zufall führen.

Es gibt Bereiche – weniger Lebensbereiche als vielmehr Berufsgebiete –, die essenziell vom Fehler leben: etwa die Wissenschaft, die durch Irrtümer Unwissen verkleinert und Wissen festigt; das Design, das durch Fehler patentierbare Zufälle entdeckt; überhaupt die Kunst, die vom Fehlermachen und Scheitern zehrt, um sich an der Wirklichkeit zu reiben. Bis zu einem gewissen Grad die Wirtschaft, die Fehler als Motor für Innovation erkannt hat und durch Risiken Niederschläge bewusst in Kauf nimmt, um Märkte effizienter zu erschließen. Ein Stück weit vielleicht auch der Sport, wenn Niederlagen zum Sieg anspornen – Stanislas Wawrinkas linker Unterarm mit dem tätowierten Beckett-Zitat erzählt bei jedem Tennismatch davon: »Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.« (Immer versucht. Immer gescheitert. Egal. Versuche es wieder. Scheitere wieder. Scheitere besser.)

Was aber ist mit den Fehlern und gescheiterten Lebensträumen, die einfach nur wehtun? Die zuerst einmal keinen – und womöglich auch später nicht – direkten Nutzen mit sich gebracht haben, außer dass man »fürs Leben« gelernt hat? Die ganz grundsätzlich hinterfragen, wer man denn eigentlich ist und warum? Wie geht es Menschen, die eine ganz persönliche Niederlage erlitten haben? Deren Leben seither einen Riss bekommen hat, weil das Leben seine Leichtigkeit verloren hat?

Die Suche nach Fehlergeschichten: Es ist nicht ganz einfach, Menschen zu finden, die über Risiken und ihre Nebenwirkungen sprechen. Fehler, Schuld, Sühne, Scham sind schließlich Begriffe, die in unserer europäischen Kultur moralisch stark aufgeladen sind. Auch deswegen hatte ich bei jedem Gespräch selbst das Gefühl zu scheitern: weil ich als Gegenüber immer Gefahr lief, moralisch angehauchte Fragen zu stellen. Durch mein Fragen repräsentiere ich bis zu einem gewissen Grad immer auch die Gesellschaft, die hören möchte, ob und wie jemand bereut, ob und wie sich jemand bestraft fühlt, ja, wie es überhaupt so weit hat kommen können? Oft verbunden mit dem Anspruch, ob man denn wenigstens etwas gelernt hätte?

Gut möglich aber, dass man aus Fehlern gar nicht so sehr lernt, wie der Volksmund behauptet. Und nur weil die Wirtschaft ein flottes Narrativ gefunden hat, über Fehler öffentlich zu reden, und eine möglichst offene Kultur des Scheiterns pflegen will, heißt das noch lange nicht, dass die Gesellschaft bereit ist, entspannt übers Fehlermachen zu sprechen. Aus Fehlern lernt man nicht unbedingt, aber Irren ist menschlich. Wie würden wir über Fehler sprechen, wenn nicht ständig nach deren Sinn und Zweck gefragt würde?

Dieses Buch versammelt in drei Kapiteln Begegnungen, die vom Fehlermachen als Alltagserfahrung erzählen. Sie beschreiben exemplarisch, wie das Leben spielen kann, wie man auf die Schattenseite des Lebens geraten – und durchaus auch wieder in die Sonne zurückfinden kann. Dabei ging es nie darum, wer genau wie Schuld am Fehler trägt. Vielmehr stand am Anfang jedes Gesprächs die Frage: Was ist passiert? Gefolgt von der in meinen Augen weitaus wichtigeren Frage: Wie kommt man da wieder raus? Denn Fehlermachen bedeutet immer auch, Verantwortung zu übernehmen.

Wer wie über Fehler spricht, entscheidet oft der Kontext. Mit Fehlern umgehen kann man immer nur so offen und spontan, wie es die Rahmenbedingungen erlauben (»Balanciert und ausgerutscht: Über die Krux von Berufsrisiken«). Selbst wenn Ärzte ihren Chefärztinnen oder dem Krankenhaus gegenüber Fehler melden können, ist es noch einmal eine ganz andere Sache, wie sie den Patienten und ihren Angehörigen gegenübertreten – und damit auch sich selbst in die Augen sehen können. Da ist zum Beispiel die Ärztin, der ein Behandlungsfehler passiert ist. Sie wurde verurteilt und bestraft. Wie aber lebt sie viele Jahre später mit den Schuldgefühlen?

Gerade Fehler im zwischenmenschlichen Bereich können oftmals erst im Nachhinein verstanden werden, weil sich die Protagonisten in ihrem Kampf zwischen Vernunft und Emotion verloren haben (»Gewütet und bereut: Über die Kraft der Wut und des Rauschs«): Wie hat das alles passieren können? Da ist der junge Mann, der sich von seiner Gefängnisstrafe nicht beeindrucken ließ, aber plötzlich im Angesicht der Opfer realisierte, welches Leid er ihnen bei seinen Raubüberfällen zugefügt hatte.

Auch wer Freiheit auskostet, riskiert Fehler (»Verliebt, vertraut, verdrängt: Über die Neugier auf der Suche nach Liebe und Lebenssinn«): Manche/r handelt, als ob er oder sie komplett in seinem/ihrem Handeln frei wäre. Doch natürlich ist man nie ganz frei, sondern riskiert immer auch einiges mit seiner Freiheit. Da ist der Vater mit den zwei Söhnen, die aber nichts voneinander wissen, weil der eine als Kuckuckskind in einer anderen Familie bei einem anderen Vater aufwächst. Und da ist der Mann, der zwanzig Jahre lang einer Sekte angehörte und plötzlich erkennt, dass er mit den Grundsätzen dieser Ideologie eigentlich gar nichts anfangen kann.

Natürlich sind die Geschichten jener, die bereit sind zu reden, am Ende meistens positive, weil sie sich mit den Konsequenzen ihres Tuns auseinandergesetzt und sich selbst stark hinterfragt haben. Viele von ihnen erzählen hier ihre Geschichte nicht unter ihrem richtigen Namen und mit verfremdeten Details. Besonders wenn ihr Tun Angehörige oder andere Menschen in Mitleidenschaft gezogen hat.

Die Abgrenzung zu »tragischen« Schicksalen oder Pech ist zuweilen schwer auszumachen. Überhaupt, was sind Fehler, und was ist Scheitern? Ich habe nach Menschen gesucht, die übers Fehlermachen sprechen. Gefunden habe ich oftmals Menschen, die auch vom Scheitern sprachen. Und jede Geschichte hätte auch anders erzählt werden können: Wer in einer Hauptsache scheitert, muss nicht automatisch auch in Nebengeschichten verlieren und umgekehrt.

Balanciert und ausgerutscht

Über die Krux von Berufsrisiken

»Was passiert ist, hat alles verändert.«

Wie eine Ärztin über ihre Arbeit denkt, nachdem sie einen Behandlungsfehler entschuldigte

Knapp an der Stadtgrenze einer größeren deutschen Stadt, hier wohnt Ava Keller in einem Doppelhäuschen, das zu einem einzigen umfunktioniert wurde. Der Mann außer Haus, der Sohn mit einer Spielzeugpistole zu den diesjährigen Karnevalhits im hellen Wohnzimmer herumfuchtelnd. Draußen im Garten stochern fünf Hühner mit ihren Schnäbeln in der winterharten Wiese – Ava Keller lacht und sagt, dass sie gerne auch Schafe halten würde, ein kleiner Bauernhof in der Stadt, warum nicht? Sie brüht Tee auf, Pfefferminztee, und legt Limettenschnitze daneben. An der Wand hinter ihr hängen Fotos mit vielen lachenden Gesichtern.

Auch wenn das Leben von Ava Keller wieder in Ordnung ist, hadert sie immer noch mit ihrem Fehler an einer Patientin, der ihr vor sechzehn Jahren passierte. Sie erzählt sachlich, wie das geschah, und dennoch hat sie mehrfach Tränen in den Augen, die sie sich heimlich wegwischt. Unmittelbar nach dem Studium arbeitete sie als Ärztin im Praktikum in einer Uniklinik einer größeren Stadt in Norddeutschland, auf einer Station, auf der ausschließlich Chemotherapien an Krebspatienten verabreicht wurden. Schon nach drei Monaten führte sie Therapien selbst aus, weil sie alleine – lediglich mit einer noch unerfahreneren Kollegin – auf der Station war. Beide noch nicht als Ärztinnen anerkannt, aber die Arbeit war eben trotzdem zu tun – wie das im Berufsalltag halt so ist. Nicht zum ersten Mal also verabreichte Ava Keller während jenes Freitagsdiensts vor sechzehn Jahren eine Chemotherapie an eine ältere Patientin.

Diese Chemotherapien werden üblicherweise über die Venen gegeben, aber es gibt auch Therapien, die in das Gehirnwasser hineingegeben werden. Dafür wird ein Stich hinten zwischen den Wirbeln gemacht, um eine Spritze ins Rückenmark zu setzen. Das habe ich getan, und das hat auch alles gut funktioniert. Die Spritzen, die wir verabreichten, wurden jeweils in einem anderen Raum für alle Patienten zurechtgelegt. Bei der zweiten Spritze an jenem Freitag merkte ich plötzlich, dass etwas nicht stimmte: dass die erste Spritze, die ich bereits gegeben hatte, für die Vene bestimmt war und nicht fürs Gehirnwasser.

Zuerst konnte ich überhaupt nicht einschätzen, wie schlimm das ist: Welche Konsequenzen hatte dieser Fehler für die Patientin? Ich suchte sofort meinen Kollegen vom Nachtdienst, der zum Glück noch da war. Er war deutlich erfahrener und alarmierte alle: den Neurologen, den Chef der Klinik, den Oberarzt. Sie verlegten die Patientin sofort auf die neurochirurgische Intensivstation, wo sie ihr das Gehirnwasser spülten. Niemand wusste, ob das klappen würde. Die Frau war ungefähr 73 Jahre alt und nicht sterbenskrank. Sie wäre normal wieder gesund geworden. Das weiß man natürlich bei solchen Tumoren nie, aber ihre Chancen standen vor diesem Ereignis sicher nicht schlecht.

Danach habe ich sie dort ein paarmal besucht. Auch noch, als sie wieder auf eine normale Station verlegt wurde. Ich hatte mich entschuldigt, hatte ihr gesagt: Ich habe etwas falsch gemacht. Wir sehen zu, dass wir das wieder hinkriegen. Ich hatte ihr erklärt, dass ich die Chemotherapie verwechselt hatte, dass ich die Spritze für die Vene ins Gehirn gespritzt hatte. Niemand wusste, was passieren wird. Zu Beginn ging es ihr noch gut, dann aber begannen nach und nach die Lähmungen, die dieses Medikament verursachte. Das war das Bittere: In der ersten Woche, als nichts passierte, hoffte ich noch. Doch als die Fingerspitzen, dann die Hände taub wurden, die Zehenspitzen und dann die Füße, wusste ich, dass das nichts Gutes verhieß. Die Nerven sind außen am sensibelsten, sodass also Lähmungen peripher passieren, von außen zum Zentrum des Körpers, auch wenn der Schaden am Rücken passierte. Woche für Woche wurden die Lähmungen mehr.

Meine Besuche bei ihr wurden immer schrecklicher. Weil sie natürlich durchaus merkte, wie bitter ich meinen Fehler bereute. Was sie überforderte, da ich ja – nicht direkt, aber insgeheim – eine Art Absolution von ihr einforderte. Das war nicht gut für uns. Weder für sie noch für mich. Deswegen hörte ich mit den Besuchen irgendwann auf. Weil ich es nicht aushalten konnte, da reinzugehen und zu sehen, wie es ihr von Tag zu Tag schlechter ging, wofür ich verantwortlich war. Und weil ich umgekehrt gemerkt habe, dass ihr meine Besuche auch nichts bringen. Im Gegenteil, ich konnte ihr damit lediglich zeigen, wie sehr ich mich quälte. Sie konnte mir aber keine Absolution erteilen, weil das, was da mit ihr passierte, so viel schlimmer wog, dass das in keiner Relation zu meinem Befinden stand.

Auch mit ihrer Tochter hatte ich danach direkt gesprochen. Sie war insofern vorgeschädigt, als dass sie nun zwei querschnittsgelähmte Elternteile zu Hause hatte, zwei Pflegefälle, beide durch medizinische Fehler. Ihre Mutter war zuletzt bis zum Hals gelähmt. Sie konnte die Arme nicht mehr bewegen und wurde zum Schwerstpflegefall. Sie hatte eine sehr geringe Lebensqualität.

Der Chef der Klinik rief mich direkt danach an: »Frau Keller, das tut mir sehr leid, dass Ihnen das schon so früh passieren muss.« Darüber war ich zuerst sehr irritiert. Aber im Prinzip hatte er nicht unrecht: Jedem passieren Fehler, das ist so. Und natürlich haben auch wir Ärzte eine Fehlerrate. Nur wird sie uns nicht zugestanden. Die Erwartungshaltung an die Ärzte ist nach wie vor riesig: Einerseits sind wir nicht mehr die Götter in Weiß – zum Glück! –, trotzdem erwarten die Patienten, dass man arbeitet wie ein Gott. Nämlich fehlerfrei. Obwohl jeder weiß, dass kein Mensch hundertprozentig richtig arbeitet.

Das funktioniert nicht. Denn Fehler werden stets unterschiedlich bewertet. Wenn ich davon erzähle, versteht das jeder: Spritzen verwechselt, beide lagen nebeneinander, beide sahen gleich aus. Das bleibt ein Fehler, keine Frage. Aber da denkt jeder, gerade die Kollegen: Zum Glück ist mir das nicht passiert. Und auch: Das kann einfach jedem passieren. Doch wenn es einen selbst oder einen Angehörigen trifft, dann sieht man das plötzlich ganz anders. Das verstehe ich auch. Wenn mir als Patientin jemand etwas Falsches geben würde, dann hätte ich dafür auch kein Verständnis. Patienten brauchen ein Grundvertrauen zu ihrem Arzt oder ihrer Ärztin. Diesen Widerspruch finde ich sehr schwierig auszuhalten.

Das wusste offenbar auch mein damaliger Chef. Worüber er seufzte, war der Zeitpunkt: So jung, wie ich war, hatte ich noch keinen Ausgleich, den ich dagegensetzen konnte. Würde mir jetzt wieder ein solcher Fehler unterlaufen, wäre das immer noch sehr furchtbar. Ich könnte aber immerhin eine Liste machen mit Menschen, die ich gerettet habe. Doch wenn man jung ist, hat man noch keine Plus-Seite: Ich konnte meinen Fehler mit nichts aufwiegen. Hatte ich doch mit der Motivation studiert und angefangen zu arbeiten, Menschen zu helfen. Wenn man dann genau das Gegenteil tut und sich dafür sogar vor anderen Menschen und vor Gericht verantworten muss, ist das harter Tobak. Das war genau das Gegenteil von dem, was ich wollte.

Dieser Fehler passierte kurz vor dem Wochenende: Alles ging sowieso drunter und drüber auf der Station, alle wollten nach Hause. Zum Glück vermittelte mir meine Kollegin, die an jenem Tag mit mir arbeitete, eine Psycho-Akut-Intervention. Sie kannte jemanden auf der Abteilung für Psychosomatik und sprach mit ihrem ehemaligen Chef, sodass ich gleich am nächsten Tag eine Stunde bei ihm bekommen habe. Die ersten zwei Wochen war ich arbeitsunfähig, zwei Jahre lang besuchte ich einen Psychotherapeuten und diskutierte mit ihm die Schuldfrage: Wie komme ich mit der Schuld zurecht, wie kann ich damit leben?

Ich schämte mich vor mir selbst so wahnsinnig. Da hat mir die Psychotherapie sehr geholfen. Denn da ist keiner, vor dem man sich irgendwie schämen muss. Deswegen ist es mir ja auch so schwergefallen, meinen Freunden und vor allem meiner Familie davon zu berichten. Während ich bei der Psychotherapie jemandem Professionellen gegenübersitze, der dafür Geld kriegt. Wie der mich beurteilt, ist mir eigentlich völlig wurscht, weil ich ihn so ja nicht kenne. Ich erwarte von ihm keine Gegenliebe in irgendeiner Form. Das hat mir gutgetan.

Die Scham ist immer noch da. Deswegen möchte ich auch öffentlich keine Namen nennen. Weil ich mich immer noch dafür schäme, dass ich jemanden derart stark geschädigt habe. Obwohl sich diese Scham- und Schuldgefühle relativiert haben. Ich weiß, dass ich zwar einen Fehler gemacht habe, aber dass auch andere Fehler machen. Dass es leider zum Leben dazugehört, Fehler zu machen. Und dass das in meinem Fall maximale Konsequenzen hatte. Die Frage ist auch: Wer will das hören? Und das andere ist immer auch die Angst. Wenn man versucht, die eigene Seite darzustellen, wie man das selber erlebt hat, stellt man sich selber ja auch ein Stück weit als Opfer dar.

Mein Leid steht in keiner Relation zu dem Schaden, den ich angerichtet habe. Anders gesagt: Wenn ich die Patientin wäre, der das geschehen ist, würde ich zu mir selbst sagen: »Du blöde Kuh! Stellst dich hin und sagst: Ha, ha, war die falsche Spritze.« Natürlich habe ich als Täterin auch ein Bedürfnis zu sagen, dass das für mich eine schwierige Situation ist und dass ich extrem darunter gelitten habe oder noch immer leide – dass sich mein ganzes Leben dadurch verändert hat. Und dass ich eigentlich glaube, dass das ein durchaus verzeihbarer Fehler war, der aber leider schreckliche Konsequenzen hatte. Doch würde ich das als Patientin auch so sehen? Die Patientin bleibt immer das Opfer.

Zuerst lief ein zivilrechtliches Verfahren wegen Schadenersatz, den die Klägerin auch ziemlich zügig bekommen hat. Als Krankenhaus ist man für solche Fälle über die Haftpflicht versichert. Etwa ein Jahr später begann der Strafprozess. Dagegen kann man sich nicht versichern. Dieser Prozess dauerte über sechs Jahre und versuchte herauszufinden, wo die Schuld lag und wie groß sie ist. Was hätte man vermeiden können? War meine Handlungsweise grob fahrlässig oder nur fahrlässig? Nach über sechs Jahren wurde ich wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt, wurde aber nicht vorbestraft. Ab 90 Tagessätzen ist man vorbestraft, ich kriegte ein paar Tage weniger, sodass meine Strafe nicht als Vorstrafe galt. Ich musste eine Geldbuße bezahlen und Sozialstunden ableisten.

Das Strafmaß war sehr überschaubar, das war nicht das Drama. Belastend war eher, wie langwierig ein solches Verfahren ist. Alle drei, vier Monate kam ich nach Hause und fand einen braunen Umschlag im Briefkasten. Wieder ein Gutachten, wofür irgendjemand meinen Fall aufgerollt hatte, der vorher nicht damit betraut war. Einer, der erneut alles prüfte, in zwei Tagen alles noch einmal ganz genau durchlas, mit der Beurteilung von jemandem, der gar nicht dabei war – manchmal waren auch Vorwürfe enthalten. An solchen Tagen fühlte ich mich meistens erst einmal mitgenommen. Ich schrieb meinem Anwalt meine Sicht der Dinge, der dazu ein Schreiben aufsetzte und dieses weitergab. Dann war wieder Ruhe, ein halbes Jahr, vielleicht auch nur drei Monate. Bis wieder irgendwann so ein Umschlag im Briefkasten lag. So ging das ganze sechs Jahre.

Seither habe ich ein gestörtes Verhältnis zu Post. Das ist Psychoterror, da kommt man nicht zur Ruhe. Auch wenn man immer wieder zwischendurch ruhige Phasen hat. Es ist ja nicht so, dass man sechs Jahre lang ständig daran denkt. So ist es nicht. Aber die Angst bleibt. Weil man sich ständig überlegt: Was kommt dabei heraus?

Trotzdem hat mich unser Rechtssystem positiv überrascht. Bis dahin hatte ich immer gedacht, dass Gerichtsverfahren und Staatsanwälte einem immer nur an den Kragen wollen. Doch alle, die an diesem Verfahren beteiligt waren, waren extrem differenziert im Umgang mit den Fakten. Vor Gericht wurde mir nie das Gefühl gegeben, ich sei böse und müsse bestraft werden. Obwohl die Anwälte und Richter keine Mediziner waren, hatte ich den Eindruck, dass sie sich wirklich bemühten, diesen Fall von allen Seiten zu beleuchten. Und sie haben sich auch sehr menschlich gezeigt. Ich glaube sogar, die Richter hätten komplett auf eine Strafe verzichtet, wenn sie nicht Sorge gehabt hätten, dass die Medien das wiederum aufgreifen und sagen: Mediziner dürfen alles, und denen passiert nichts.

Als mich damals der ehemalige Chef der Klinik informierte, dass nun ein Verfahren gegen mich eröffnet wurde, wusste ich zuerst nicht, was zu tun ist. Als Mediziner hat man ja mit Gerichtsverfahren überhaupt keine Erfahrung. Ich schaute in die Gelben Seiten und erfuhr bald, dass eine Beratungsstunde 150 Euro kostet. Ich hatte ein Gehalt von 1000 Euro pro Monat. Glücklicherweise kannte ich vom Studium her einen Freund, dessen Freund in einer Kanzlei mit Spezialgebiet medizinische Strafverfahren arbeitete. Sein Chef war Universitätsprofessor für Medizinrecht, eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Er bekam das damals mit und versprach, sich meinen Fall anzusehen. Und dieser ältere Herr, dem tat das leid. Er half mir zu einem günstigeren Tarif. Das hat natürlich immer noch sehr viel Geld gekostet, aber er war absolut seriös, und das war sehr angenehm. Die Gegenseite packte alles aus, was sie irgendwann über mich zu hören bekommen hatte, warum ich an jenem Tag schlecht drauf gewesen wäre und psychisch neben mir gestanden hätte und ich weiß nicht was alles. Mein Rechtsanwalt dagegen war sehr sachlich. Er hat auch zugesehen, dass ich kein offenes Gerichtsverfahren bekam und dass man einen Vergleich suchte. Er war für mich ein wichtiger Anker. Ich weiß nicht, was ich ohne ihn gemacht hätte.

Das Gericht war der Meinung, dass eine solch junge Ärztin, die noch nicht einmal richtig zugelassen war, nicht hundertprozentig alleine die Schuld tragen könne. Und in dem Gerichtsverfahren ging es am Ende hauptsächlich darum, dass der Oberarzt seine Haut retten wollte. Er behauptete, dass das, was ich da zu tun hatte, völlig adäquat für meinen damaligen Ausbildungsstand gewesen wäre. Ich sei bestens vorbereitet, aber offenbar in einer labilen psychischen Situation gewesen. Und das sei mein Pech gewesen. Während ich der Meinung war, dass alles, was man hätte tun können, um diesen Fehler zu vermeiden, nicht getan worden sei. Zwar hatte ich diesen Fehler gemacht, aber es war mir auch wirklich leicht gemacht worden. Ich habe nie verfolgt, welche Konsequenzen das Verfahren für den Oberarzt hatte, da es für mich keine Auswirkungen gehabt hätte.

Gut ging es mir in dieser Zeit natürlich nicht. Anfangs katastrophal, da war ich kurz davor, mir das Leben zu nehmen. Das war schon heftig. Es hat sicher geholfen, unmittelbar mit jemandem über Schuld reden zu können. Wie geht man damit um: mit Schuld, mit schlechtem Gewissen? Warum zum Beispiel fiel mir das offenbar schwer? Es gab Kollegen, die das sicherlich besser weggesteckt hätten. Es gibt ganz unterschiedliche Wege, um mit Schuld zurechtzukommen. Das lernt man ja bereits in Familiensituationen. Da gibt es bestimmt auch Menschen, die das besser lernen, da bin ich sicher. Wenn man aber nicht so ein Mensch ist und so etwas passiert – und man ist jung –, dann kann das wirklich sehr, sehr schwierig sein.

Nach den ersten zwei Wochen Krankschreibung arbeitete ich wieder in der Uniklinik. Der Oberarzt meinte sinngemäß: »Schön, dass Sie wieder da sind. Wenn mir etwas passiert, hilft mir die Arbeit am besten, damit zurechtzukommen.« Das empfand ich als sehr zynisch.

Ich hatte mir lange überlegt, ob ich überhaupt wieder dort arbeiten kann. Doch ich war mir sicher: Wenn ich nicht gleich wieder arbeiten gehe, dann nie wieder. Ich wollte weitermachen und einen Umgang damit finden, mit dem ich gut leben konnte. Diese Geschichte ging damals durch die Klinik, jeder wusste davon. Auch wenn ich heute mit Kollegen von damals telefoniere, weil sie unterdessen im niedergelassenen Bereich arbeiten oder Chef in einer anderen Klinik sind, begrüßen sie mich mit: »Ja, ja, ich weiß, wer Sie sind.« Das ist das, was bleibt.

Wenn man sich auf eine neue Stelle bewirbt, wird man auf dem Standardfragebogen gefragt, ob gegen einen ein Verfahren läuft. Sechs Jahre lang habe ich dort »Ja« angekreuzt. Das heißt, immer, wenn ich mich woanders vorgestellt habe, durfte ich im Vorfeld meine Geschichte erzählen, denn spätestens beim Einstellungsgespräch oder bei der Personalabteilung kam das auf den Tisch. Die Reaktionen waren immer sehr verständnisvoll: Die Ärzte kennen das alle. Will heißen: Wenn jemand einem was Böses will, kann er das gegen einen ausnutzen – aber verstehen tun sie es alle. Überhaupt sind mir seither so viele Geschichten zugetragen worden … Die meisten haben Glück gehabt: Entweder ist es nicht rausgekommen oder die Konsequenzen wogen weniger schwer als bei mir. Aber Fehler passieren, natürlich.

Deswegen bin ich damals auch zurückgegangen: Ich wollte die Möglichkeit haben, mich nochmals unter Beweis zu stellen – ohne diesen Stempel zu tragen. Unterdessen, sechzehn Jahre später, weiß ich, dass das für mich richtig war, sofort wieder zur Arbeit zu gehen. Anfangs habe ich keinem davon erzählt. Weil ich mich so geschämt habe. Weil ich dachte, das kann ich keinem erzählen. Nur ein paar Kollegen haben das mitbekommen. Nach und nach haben es Freunde erfahren, auch meiner Familie habe ich es gesagt. Es hat mir keiner Vorwürfe gemacht, überhaupt nicht, zu keinem Zeitpunkt. Ich musste vor allen Dingen selbst damit klarkommen und für mich lernen, einen Fehler gemacht zu haben. Das zu lernen ist schwierig.

Ich weiß zwar inzwischen, dass ich auch viel Gutes getan habe. Trotzdem würde es mir nie – ich glaube zu keinem Zeitpunkt – leichtfallen zu sagen, ich habe diese Frau zu etlichen Lähmungen, vielleicht zum Tode geführt, und das lässt mich kalt. Das wird nie passieren. Das geht einfach nicht. Wie wenn man versehentlich jemanden anfährt: Sie fahren mit dem Auto, Sie biegen rechts ab. Sie machen vielleicht sogar einen Schulterblick, aber Sie reagieren nicht schnell genug und überfahren ein Kind. Damit klarzukommen, egal wie sehr das jeder versteht – man muss selbst damit klarkommen, dass man jemanden auf dem Gewissen hat.

In den letzten Jahren ist mir aufgefallen, dass vor allem erstaunlich viele Männer deutlich besser mit Fehlern zurechtkommen. Viele sagen etwa, das sei nun mal Berufsrisiko. Sie sagen, wenn ich den Job mache, dann stirbt halt auch mal einer. Das sehe ich – und auch viele Kollegen und Kolleginnen – nicht so. Ich kenne etliche Kollegen, die deswegen den Beruf gewechselt haben, weil sie sagen: Ich habe einen Fehler gemacht und komme damit überhaupt nicht klar. Ich will diese Verantwortung nicht mehr. Ich will am liebsten in einem Geschäft an der Kasse sitzen. Ich kann das nicht mehr: jeden Tag zu wissen, wenn ich nicht hundertprozentig da bin oder einfach mal nicht aufpasse, irgendetwas übersehe, überlese, nicht die richtige Assoziation habe usw., dass da jemand sterben oder Schaden nehmen kann. Denn wenn das Berufsrisiko darin besteht, dass man Menschen, die mitten im Leben stehen und eine Familie haben, schädigt, dann bleibt es trotzdem dabei, dass man jemanden geschädigt hat. Egal, ob einem das im Beruf oder außerhalb des Berufs passiert. Wenn ich jemanden verletze, dann verletze ich ihn. Und wenn das durch meine Unachtsamkeit geschieht, egal, ob ich beim Autofahren nicht aufpasse oder im Job, bleibt das für mich als Gefühl dasselbe.

Die Schuldgefühle sind heute immer noch da. Anfangs waren sie viel, viel größer, viel präsenter. Jetzt sind sie weniger präsent, weil ich sie bis zu einem gewissen Grad rationalisieren konnte. Mit dem Wissen darum, dass das jedem passieren kann und dass man auch viel Gutes getan hat, relativiert sich das. Denn diese Liste, die ich erwähnt habe, mindert die Schuld schon: dass man über die Jahre merkt, ich habe auch viel Gutes geleistet. Auch wenn das damals ein Fehler war, dafür habe ich aber … dieses Wiedergutmachschema, das funktioniert durchaus. Die Schuld ist zwar immer noch da, aber ich kann damit leben. Aber: Seitdem das passiert ist, habe ich diese Leichtigkeit verloren, die ich immer hatte. Die Grundeinstellung »Ach, alles wird gut werden!« oder »Wird schon nicht schiefgehen!«. Ein solcher Spruch kommt mir nicht mehr über die Lippen! Denn was passiert ist, hat alles verändert. Auch wenn man irgendwann aufhört, tagtäglich darüber nachzudenken, und es diese Präsenz vom Anfang verliert.

Auch die Prioritäten haben sich seither verändert. Arbeit, Beruf, Karriere waren mir anfangs sehr wichtig. Durch diese Erfahrung aber habe ich realisiert, dass ich nicht nur darauf bauen kann, dass Familie und Freundschaft mindestens so wichtig sind. Wenn ich nicht so wahnsinnig viel Unterstützung von meiner Familie und von meinen Freunden bekommen hätte, wenn die nicht gewesen wären, weiß ich nicht, ob ich heute noch da wäre. Das war enorm. In jeglicher Beziehung.

Anfangs habe ich bei der Arbeit alles überprüfen lassen, was ich getan habe. Ich war sehr, sehr nervös. Ich hole mir seither bei Eingriffen stets jemanden dazu, mache nichts ohne Absprache. Deswegen sehe ich durchaus auch etwas Positives in dieser Erfahrung: Über all die Jahre habe ich viele Kontrollmechanismen in mein Handeln eingebaut. Dieser Fehler, der mir passiert ist, ist schon häufiger passiert. Interessanterweise gab es in derselben Uniklinik in einer anderen Abteilung genaue Verfahrensanweisungen dafür, wie man mit diesem Medikament umgehen soll, damit so etwas nicht passiert. Andere Spritzen, die nicht auf die Anschlüsse passen, verschiedene Tage, an denen man sie verabreicht – ganz einfache Vorkehrungen. Als ich danach fragte, warum wir diese nicht übernehmen, war die Antwort: »Wenn wir das jetzt ändern, wäre das ein Eingeständnis, dass das vorher falsch gelaufen ist.«

Nach solchen und anderen Erfahrungen habe ich immer versucht, Arbeitsplätze zu finden, die besser funktionieren. Zumindest in Deutschland wechseln Mediziner relativ selten den Arbeitsplatz. Ich selbst habe die Kliniken oft gewechselt. Denn immer wieder wurden extrem viele Überstunden verlangt, was ich nach jener Erfahrung einfach nicht verantworten konnte. Fehlermanagement hat auch viel mit den Umständen zu tun. Unterdessen bin ich seit Jahren in einer gut strukturierten Praxis. Hier habe ich nicht die zusätzliche Belastung durch Notfälle, muss nicht akut schnell handeln. Ich habe viel Ruhe und Zeit, um zu überlegen. Und ich arbeite mit Kollegen, die mir sehr nahe sind. Vor denen ich auch keine Angst hätte, Fehler einzugestehen. Im Vergleich zu vielen anderen Ärzten ist meine Verantwortung überschaubar. Das habe ich mir ganz bewusst so ausgewählt.

Nach wie vor glaube ich, dass es richtig war, der Patientin und ihrer Tochter sofort gesagt zu haben, dass mir ein Fehler passiert ist. Obwohl mir das später von der Klinik vorgeworfen wurde, weil das natürlich für das Verfahren mit der Haftpflicht negative Auswirkungen hatte. Es ging nicht mehr darum, ob es überhaupt Schuld gibt, sondern nur noch darum, wer wie viel Schuld trägt. Trotzdem bin ich heilfroh, dass ich mich sofort entschuldigt hatte. Heilfroh. Anders könnte ich heute nicht mehr in den Spiegel schauen.

Es war nicht einfach, jemanden wie Ava Keller zu finden, die über Behandlungsfehler spricht. Sie sagt: »Stellt man sich hin und erzählt davon, macht man sich selbst immer ein Stück weit zum Opfer, weil man seine Tat rechtfertigt.« Sie sei aber keineswegs Opfer, sondern in diesem Fall die Täterin. Das wolle sie auf keinen Fall relativieren, stellt sie bereits im telefonischen Vorgespräch klar. Sie hat nicht etwa Angst um ihren jetzigen Arbeitsplatz – ihre Kollegen und Kolleginnen wissen Bescheid –, sondern vor Patienten, die das Eingeständnis von Fehlern seitens ihrer Ärzte nichtsdestotrotz als Vertrauensbruch sehen. Wir einigen uns schließlich darauf, dass sie ihre Geschichte anonym erzählt und der Name der Klinik nicht genannt wird.

Konstruktive Fehlerkultur, sagt sie, hätte sie in den Kliniken nie erlebt. Dagegen beobachte sie, dass die jetzigen Oberärzte doppelt belastet seien. Sie, die damals als Ärzte in Ausbildung allein gelassen wurden, würden jetzt von der jüngeren Generation gefordert, weil sie selbstbewusster Hilfe holten. Das habe auch mit veränderten Arbeitsbedingungen zu tun: Im Gegensatz zu ihrer Generation arbeiten die jüngeren Kollegen und Kolleginnen nicht mehr nur mit Monats- und Halbtagesverträgen, sondern auf der Basis von Jahresverträgen. Damit machten sie leidige Aufgaben nicht mehr einfach »mal eben schnell, schnell«, wie das noch bei ihr gang und gäbe gewesen sei, weil man sonst die Arbeit verloren hätte.

Ein anderes Problem ist die Hierarchie: »Durch die nach wie vor herrschenden hierarchischen Strukturen werden Fehler zwar auf derselben Ebene kommuniziert, nicht aber vertikal. Das Wichtigste, um das zu vermeiden, ist, dass die Älteren und Erfahreneren mit ins Boot geholt werden.« Außerdem gäbe es unterdessen im Studiengang Fächer wie Ethik und Moral oder Fehlermanagement. Immer noch viel zu wenig zwar, aber doch so, dass mehr Hilfe von oben eingefordert würde. »So werden die Leute in Verantwortung gebracht, die auch die Verantwortung tragen müssen. Und die sich in meiner Zeit noch viel mehr als heute geduckt haben, weil’s halt so üblich war.«

Länger sprechen wir darüber, ob Männer und Frauen unterschiedlich mit Fehlern umgehen. Sie bestätigt meinen Eindruck, warum ich womöglich Schwierigkeiten habe, Frauen für dieses Buch zu finden: »Pauschalisierungen sind immer schwierig, aber ich habe schon auch den Eindruck, dass Männer besser mit Fehlern klarkommen, dass Frauen ihre Fehler schlechter akzeptieren. Das beginnt bereits bei Kritik: Frauen nehmen Kritik viel eher an, saugen diese regelrecht auf. Männer sind da professioneller: hören sich kritische Einwände an und kommentieren diese – je nachdem, wie gut sie ausgebildet sind – besser oder schlechter.«

»Wie kann man nach einem solchen Fehler Verantwortung übernehmen?«

Die Krankenschwester, die nicht mehr schweigen will

Nur wenige Meter gegenüber der alten Feuerwache würde ich sie finden, schreibt Annemarie Rüter. Später im Gespräch markiert diese Beschreibung den Radius, auf den sich ihre Spaziergänge jahrelang beschränkten: Die ehemalige Krankenschwester ist von starkem Rheuma geplagt, besonders in jenen Jahren, in denen sie sich mit niemandem über die mutmaßlich tödlichen Pflegefehler austauschen konnte. Das Vertuschen und die versäumte Selbstanzeige hätten viele Jahre ihres Lebens geprägt.

Annemarie Rüter begann in den Siebzigerjahren als Krankenschwester zu arbeiten, mittlerweile ist sie seit Jahren pensioniert. Erst ihre diversen Krankheiten, zuletzt das Rheuma, das sie leicht hinken lässt, hätten sie auf die Fehler hingewiesen, die ihr passiert seien. Jahrelang hat sie sie erfolgreich verdrängt, bis sie sich eines Tages erinnerte:

Ich saß in der Küche und sah sie beide plötzlich ganz plastisch vor mir: Die zwei ehemaligen Patienten, die ich vor Jahrzehnten pflegte und die damals gestorben sind.

Beim ersten Vorfall war ich im dritten Ausbildungsjahr, das war in Bonn. Es war Mitte Mai, ich war 22 Jahre alt: Kurz vor der Abschlussprüfung arbeitete ich auf der Dialysestation der Uniklinik, wo Patienten regelmäßig dreimal die Woche zur Blutwäsche kamen. Ihr Blut wurde ausgetauscht und gesäubert. Wir Krankenschwestern zogen dafür jeweils Perfusorspritzen mit Liquemin und Natriumchlorid auf. Eigentlich hätte ich das ohne Aufsicht gar nicht machen dürfen, doch das ist jetzt zweitrangig. Denn das kann man nachher ja immer behaupten. Jedenfalls nahm ich einmal Natriumcitrat statt Natriumchlorid. Diese Fläschchen standen nebeneinander, und ich hatte sie verwechselt. Allerdings habe ich das in jenem Moment nicht gemerkt. Ich zog die Spritze auf und hängte sie als Infusion an den Patienten. Die Patienten kamen jeweils täglich morgens um acht Uhr in die Klinik, wurden angeschlossen und gingen um vierzehn Uhr wieder.

Nach meiner Schicht ging ich nach Hause. Erst am nächsten Tag erfuhr ich in der Pause, dass einer der gestrigen Patienten beim Nachhausegehen, noch in der großen Eingangshalle der Uniklinik, einen Herzstillstand bekommen hatte. Man hatte ihn nicht wiederbeleben können, er war gestorben. Der Patient hätte 45 sein können oder auch 55, das war schlecht zu schätzen.

Wir saßen also in der Pause am Tisch: der Pfleger, der Arzt und ich. Der Arzt erzählte dem Pfleger, dass der Patient einen unheimlich hohen Natriumwert gehabt hätte von 300 oder sogar noch mehr. Das ist unüblich, ein normaler Natriumwert liegt bei 140 bis 145. Als der Arzt diese Werte erwähnte, erinnerte ich mich plötzlich, dass ich die Fläschchen vertauscht haben musste. Eine halbe Stunde, nachdem er von der Maschine abgehängt wurde, sei er zusammengebrochen, weil wahrscheinlich das Medikament diesen Herzstillstand verursacht habe.

Ich habe nichts gesagt, nein. Warum nicht? Ja, warum nicht! Ich habe mich nicht getraut. Es wäre mir überhaupt nicht eingefallen, etwas zu sagen. Ich hatte nur Angst. Damals war es überhaupt noch nicht üblich, über Fehler zu reden. Und auch heute ist das meines Wissens noch nicht üblich. Man versucht es vielleicht, aber wirklich über Fehler gesprochen wird auch heute nicht.

Zuerst einmal war ich geschockt, als ich hörte, der Natriumwert sei so hoch gewesen, dass er gestorben sei. Ich dachte, die sehen vielleicht, dass ich einen roten Kopf bekam, und hatte Angst, dass sie etwas merken könnten. Doch ich wurde überhaupt nicht darauf angesprochen oder gefragt. Obwohl sie ja wussten, dass ich die Spritze vorbereitet hatte. Ich wurde nicht gefragt, und ich habe meinen Mund gehalten. Das unangenehme Gefühl dauerte lediglich so lange an, wie wir zu dritt am Tisch gesessen haben und der Arzt in meine Richtung sagte: »Der Wert war so hoch.« Passiert ist aber nichts. Danach ging ich weiter wie gewöhnlich zur Arbeit, und mit der Zeit war diese Geschichte nicht mehr in meinem Kopf.

Beim zweiten Patienten war es ähnlich: Mehr als zehn Jahre später, nach der ersten Kinderpause, arbeitete ich auf einer Hals-Nasen-Ohren-Station. Dort machte ich jeweils einmal die Woche Nachtwache. Ein Patient bekam eine Chemo als Infusion. Ich musste ihm eine Infusion mit einer bestimmten Anzahl Ampullen geben. Es hätten insgesamt vielleicht 80 mg sein müssen, ich tat aber 800 mg rein. Zehnmal zu viel. Ich wunderte mich zwar, dass ich so viel aufziehen musste. Aber ich las es nicht noch mal nach. Erst nach einer halben Stunde prüfte ich die Angabe und merkte, dass das verkehrt war. Sofort hängte ich die Infusion ab und hängte eine neue, lediglich mit Natriumchlorid gefüllte an. Nun fehlten mir aber die Ampullen. Ich wollte meinen Fehler vertuschen.

In jenem Moment war ich so kalt, so berechnend – ich dachte einzig daran, dass ich die Ampullen von irgendwoher wiederkriegen musste, damit es nicht weiter auffällt. Ich rief eine andere Station an und holte mir dort welche. Fragte noch, ob ich welche nachbestellen sollte, um sie zurückzugeben, was man in der Regel tat. Aber die Kollegin sagte lediglich: »Ne, braucht ihr nicht.« Das war mein Glück, ich musste sie nicht wieder zurückgeben. Ich hatte dieses Problem also gelöst, und dann war meine Nachtwache zu Ende. Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, den zuständigen Arzt anzurufen – weil das einfach so schlimm war. Deswegen versuchte ich auch gleich, das Ganze zu verheimlichen.

Als ich eine Woche später wieder zur Nachtwache kam, erfuhr ich, dass die verabreichte Menge doch etwas ausgemacht hatte und dass dieser Patient ganz plötzlich einen erneuten Herzinfarkt bekommen hatte. Er war auf die Intensivstation verlegt und reanimiert worden, hatte aber dann doch nicht überlebt. Es hieß, er hätte bereits eine Vorgeschichte mit einem Herzinfarkt gehabt. Und so kam auch diesmal niemand auf die Idee zu denken, dass da was falsch gelaufen ist.

In jenem Moment war ich einfach nur froh, dass ein Kollege von dieser Vorgeschichte mit dem Herzen sprach. Da habe ich gedacht: Ja, Gott sei Dank! Kurz darauf kündigte ich. Deswegen – was ich aber natürlich nicht sagte. Ich war zum Glück noch in der Probezeit und hatte vierzehn Tage Kündigungsfrist. So war ich schnell weg. Ich wollte dort nicht mehr arbeiten. Natürlich habe ich mich schuldig gefühlt! Aber ich hab nur gedacht: Hoffentlich kommt’s nicht raus.

Mit Arbeitskollegen sprach ich über solche Erfahrungen nicht, gar nicht. Das habe ich alles mit mir selbst ausmachen müssen. Dass man etwas verwechseln kann oder falsche Dosen gibt, solche Fehler wurden in meiner Ausbildung nie thematisiert. Und im Klinikalltag mussten wir damals so viel machen. Es war zum Beispiel üblich, als Schülerin drei Wochen am Stück Nachtwache zu machen. Als ich mich einmal mit einer Kollegin über diese Belastung unterhielt, sagte sie: »Zum Glück ist nie etwas passiert«, und ich dachte: »Wenn du wüsstest.« Wir mussten viel machen, was nicht statthaft war. Das war das eine, aber das andere war ja die Verantwortung: Wenigstens die hätte ich übernehmen müssen.

Ende der Leseprobe