Ich trug ein grünes Kleid, der Rest war Schicksal - Gina Bucher - E-Book

Ich trug ein grünes Kleid, der Rest war Schicksal E-Book

Gina Bucher

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Beschreibung

Was bleibt am Ende des Lebens von der Liebe? Das hat sich die junge Journalistin Gina Bucher gefragt: sie führte zahlreiche Gespräche mit Menschen zwischen 60 und 96 und lässt sie hier ihre Geschichten erzählen. Wie haben sie die Liebe kennengelernt, erlebt, gefunden und verloren? Gibt es die eine große Liebe? Wie sind sie mit Krisen umgegangen, zum Beispiel wenn der Partner fremdgegangen ist? Oder wie haben sie ihr Leben bewältigt, wenn der geliebte Mensch gestorben ist? Die bewegenden Geschichten verdichten sich zu einem Psychogramm der Lebenserfahrung. Sie geben viele kluge Antworten auf die Frage, was eine glückliche Beziehung eigentlich ausmacht, und zeigen, dass man auch mit 80 noch Schmetterlinge im Bauch haben kann! Einzigartige Liebesgeschichten, wie sie nur das Leben schreiben kann.

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Gewidmetder Liebe meiner Eltern,ohne die mein Herz nicht schlagen würde.

ISBN 978-3-492-97297-0März 2016© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München Covermotiv: Bert Hardy / Getty ImagesDatenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Liebe ist alles

Was bleibt am Ende von der Liebe übrig? Dann, wenn man zurückblickt und Bilanzen zieht. Wenn man sein Herz befragt, ob das Leben gut war, wie es war. Wie denkt man über das Leben, wenn es nichts war mit der Liebe oder kompliziert? Und wie hält man die Liebe fest, wenn man sie einmal gefunden hat? Wie lässt man sie los, wenn sich der Gefährte, wenn sich die Geliebte verabschiedet, um nicht wiederzukommen?

Liebe ist alles. Das glauben die Jungen, und das bestätigen uns die Alten. Sucht man sie, meinen manche, das Glück hänge allein an der Liebe. Hat man sie gefunden, stellen viele fest: Es dreht sich tatsächlich alles um die Liebe. Beim Wort Liebe fällt mir der junge Mann ein, den ich an einem Sonntag dabei beobachte, wie er ungeschickt den Arm um die Taille seiner Freundin legt. Sein Versuch, sie festzuhalten, gerät derart steif, dass sie spazieren, als würden sie auf rohen Eiern laufen und nicht auf einem asphaltierten Bürgersteig. Was wird wohl aus der Liebe der beiden werden? Mir fällt das Liebespaar ein, dem ich zufällig eines Montagmorgens im Zug begegne. 89 Jahre alt sind sie, halten sich an den Händen und küssen sich, als ob sie sich nie mehr wiedersehen würden. Beim Anblick beider Paare verglüht mir fast das Herz. Mir fällt aber auch die ältere Frau ein, die mir an einer Bushaltestelle ungefragt mitteilt, dass niemand auf sie warte und dass das auch gut so sei. Denn von der anderen Straßenseite her lacht uns von einer Plakatwand ein übergroßer, penetrant lächelnder, ergrauter Parship-Mann an, der uns beiden verspricht: »Jemand wartet auf dich.« Doch diese sichtlich zufriedene, ebenfalls grauhaarige Frau neben mir überführt die Werbeabteilung von Parship der Unwahrheit: Alleine durchs Leben zu gehen muss nicht schwerer sein als zu zweit. Letztendlich geht es ums Teilen und darum, dass man jemanden hat, der einen ständig auch ein bisschen verändert. Doch das können genauso gut Freunde sein.

Diese Beobachtungen waren Grund genug nachzufragen: Wie stellte man sich die Liebe mit zwanzig vor, und was ist später tatsächlich passiert? Gefragt habe ich keine Soziologinnen, Psychologen oder Liebesforschende, sondern Experten und Expertinnen, die aus ihrem Alltag erzählen. Gefunden habe ich sie über Inserate in unterschiedlichsten Zeitungen, über Bekannte oder über Gesprächskreise. Manchen begegnete ich, weil ihre Enkel, ihre Töchter oder Söhne neugierig auf die Geschichte ihrer Eltern und Großeltern waren. Und manche traf ich im Zug, in der Straßenbahn oder auf der Straße. Dass mehr Frauen das Bedürfnis hatten, ihre Geschichte zu erzählen, ist kein Zufall: Bei vielen Frauen ist der Mann bereits gestorben, und es ist einfacher, darüber zu reden, wenn er nicht mehr da ist. Abgesehen davon, dass Männer wohl tatsächlich weniger gern über Gefühle sprechen als Frauen. Auch dass die meisten Gesprächspartner Mütter und Väter sind, ist kein Zufall: In den älteren Generationen war es viel selbstverständlicher als heute, Kinder zu haben. Die Namen der Gesprächspartner und ihrer Angehörigen sind oft nicht dieselben wie jene Namen, die auf den jeweiligen Klingelschildern stehen. Denn manches Gegenüber wollte zwar gerne seine Geschichte erzählen, jedoch nicht die Gefühle seiner Kinder oder seiner Exgeliebten verletzen. Viele der Namen sind deshalb geändert. Und manche Passagen wollten einige Protagonisten dann doch nicht im Buch lesen: die Erkenntnis, dass der andere Aids in die Beziehung gebracht hat; der Seitensprung, von dem man dem Partner nie erzählt hatte; das Kind, das auch ein Kuckuckskind sein könnte. Gründe, die die Erzähler Lügen straften, die anfänglich behaupteten, sie hätten wahrhaft nichts Interessantes zu erzählen.

Auch wenn es ganze Bücherregale zum Thema Liebe gibt, tun sich die meisten Menschen schwer, über die selbst erlebte Liebe viel zu sagen: Ist sie glücklich, ist sie ein Aggregatzustand, der schwer zu beschreiben ist. Die naivste Frage, die man Verliebten stellen kann, ist denn auch, warum sie sich in ihr Gegenüber verliebt haben. Mag der entscheidende Blick noch so fern erinnert sein, die Antwort lautet stets ähnlich ratlos: »Warum? Keine Ahnung, darum.« Trotz solcher Antworten habe ich diese Frage gerne gestellt, immer wieder. Denn Liebesgeschichten sind immer auch Projektionen: Es gibt tausend Varianten von Liebe, und jeder und jede hat dazu seine eigene Definition. Die einzelnen Aggregatzustände des Verliebtseins, des Geliebtwerdens und Loslassens sind rückblickend einfacher zu beschreiben, als wenn man mittendrin steckt. Doch Erinnerung ist meistens unzuverlässig. Erinnert sie sich an den Heiratsantrag in Würzburg, erinnert er sich an denselben Antrag in Paris. Andererseits: Spielt es eine Rolle, dass Erinnerung tatsächlich Erlebtes vergrößert, beschönigt oder auch verschlimmert? Am Ende bleiben für die Gegenwart die subjektiven Erfahrungen der Vergangenheit, von denen man bestenfalls zehren kann.

Überhaupt, was, wenn die große Liebe nur ein Konstrukt ist? Ein Antrieb, um lebenslang auf der Suche zu sein nach »jemandem, der auf dich wartet«? Um dabei vielleicht auch etwas ganz anderes zu finden? Sodass man am Ende wenigstens sagen kann: Ich habe danach gesucht. Auf die großen Fragen wird auch dieses Buch keine großen Antworten geben, sondern allerhöchstens viele kleine Erfahrungen auslegen. Erfahrungen, die sich übrigens von heutigen Liebessorgen und Ängsten gar nicht so groß unterscheiden, auch wenn sich die Umstände seit den Sechzigerjahren mit der Antibabypille und der BRAVO, mit der Aufhebung des Konkubinatsverbots, dem Gender Trouble und der gleichgeschlechtlichen Ehe grundlegend verändert haben: Die Nervosität vor dem ersten Mal, das Ausloten von Freiheit in der Zweisamkeit und die Angst vor der Einsamkeit, das alles kommt heute genauso vor. Nur dass die Achtzigjährigen noch viel weniger Worte für ihre Erfahrungen kennen als die Siebzigjährigen, die die sexuelle Revolution und Emanzipationsbewegung der 68er aktiver miterlebt haben. Dass gerade die Frauen – anders als heute – vieles mit sich selbst ausgemacht haben, ohne groß mit anderen darüber zu reden. Und dass Hollywood unser Bild von der Liebe wesentlich kitschiger gefärbt hat: Die Liebe, da würde mir meine Großmutter bestimmt zustimmen, wurde romantischer, seit sie weniger von ökonomischen Zwängen abhängig ist. Wobei sie wahrscheinlich ergänzen würde: Es sind vor allem die Ansprüche an die Liebe, die bei den jungen Leuten größer geworden sind. Schließlich kann ich heute alles auch alleine – weil die Frauen emanzipierter geworden sind und selbst arbeiten, weil die Männer emanzipierter sind und auch Kinder erziehen können. Übrig bleibt oft die pure Romantik: »Ich will dich, weil du es bist.« Was die Liebesbeziehungen nicht einfacher macht.

Spricht man mit den Jungen über die Liebe, bleibt der Eindruck, dass die Liebe ein schwer erklärbares, undefinierbares Wunder ist. Während die Alten oft nur verlegen die Achseln zucken und Banales hervorstreichen – »Tja, ich war halt fünfzig Jahre verheiratet. Keine Ahnung, wie das mit der Liebe ist« – oder schlicht Kleinigkeiten ihres Alltags erwähnen. Ernüchternd ist das nicht, sondern vielmehr beruhigend, weil sie eine Liebesgeschichte greifbarer machen. Es braucht kein Wunder zu geschehen – unter Umständen kann ein Glas Orangensaft als Auslöser genügen, um die große Liebe zu finden. Denn von den erzählten Geschichten bleiben am Ende viele Stichworte, die zum Anfangs-, Wende- oder Endpunkt einer Liebe führten: diverse Parkbänke, Orangensaft, ein Aftershave von Cacharel, eine Kuschelparty, ein Münztelefon, Grießbrei oder eben ein grünes Kleid. Und Stichworte, die das Glück entscheidend mitprägten, denn Geschichten über die Liebe sind immer auch Geschichten über das Leben: ein Grundstück, der Kirschbaum, aber auch Lohnkonten oder die Zahnpastatube.

Teil 1Die Sehnsucht nach Nähe suchen, finden, frei bleiben

Was ist denn eigentlich Liebe? Cornelia Feller, 82 Jahre

Ich war immer gerne für mich alleine. Erst jetzt mit 82 Jahren vermisse ich jemanden. Ich wünsche mir eine Freundin, noch lieber einen Freund, den ich morgens unkompliziert anrufen könnte, um zu fragen: »Was machst du heute – essen wir zusammen?« Nicht einer, der ständig anrufen oder vor der Türe stehen, sondern jemand, den ich regelmäßig treffen würde. Keine Ahnung, wo man solche Männer trifft. Computer und Internet habe ich nicht, aber so würde ich sowieso niemanden kennenlernen wollen. Eher stelle ich mir vor, dass wir uns zufällig begegnen würden. Wahrscheinlich bin ich eine Romantikerin.

Zweimal war ich verheiratet. Heute frage ich mich, ob ich tatsächlich je geliebt habe. Die, in die ich mich verliebt hatte, wollten mich nicht. Und die, die mich unbedingt haben wollten, in die war ich womöglich gar nicht richtig verliebt. Ich habe mir nie Liebesfilme angesehen, die haben mich gelangweilt. Erst in letzter Zeit habe ich mir ein paar angeschaut, und sie haben mich sehr berührt. Haben mich aber auch traurig und wehmütig gemacht. Selbst wenn es in diesen Filmen oft nur darum geht, wie sich zwei Menschen begegnen. Und selten darum, was danach passiert – wenn zum Beispiel einer der beiden besitzergreifend wird. Seither frage ich mich: Was ist denn eigentlich Liebe?

Meinen ersten Mann habe ich beim Jazz kennengelernt. Ich lebte da schon länger nicht mehr zu Hause, sondern wohnte mit einer Freundin zusammen. Wann immer möglich, gingen wir tanzen. Jeans und Pulli zogen wir erst im Klub an, denn Anfang der Fünfzigerjahre trugen Frauen noch keine Hosen, sondern Rock oder Jupe. Einmal auf einem Jazzball, ich tanzte gerade zu Bebop, kam ein Mann herein. Verkleidet als Neandertaler, ein Fell über die Schultern geworfen, blieb er an der Türe zum Saal stehen und starrte mich einfach an. Ich spürte seine Blicke. Sah ihn aber kaum, weil ich nie gerne meine Brille trug. Noch am selben Abend auf der Tanzfläche sagte er mir, dass er mich liebe. Das war verrückt! Er fragte, ob wir uns wiedersehen könnten. Auf einen festen Freund hatte ich nicht so richtig Lust. Ganz im Gegenteil: Ich habe nie explizit nach einem Mann gesucht. Das Leben, das ich hatte, gefiel mir ganz gut. Ich tanzte mit verschiedenen Männern und wohnte mit einer Freundin zusammen. Gerne wäre ich Schauspielerin geworden und nach Paris gegangen, doch das traute ich mich nicht.

Dass mich einer so sehr wollte, das beeindruckte mich. Ich war gerade erst zwanzig Jahre alt, er fünf Jahre älter – er hatte aber ein Leben hinter sich, das ihn zwanzig Jahre älter machte. Er war unehelich aufgewachsen, in einem kleinen Dorf, war mit 16 Jahren von zu Hause weggegangen, landete schließlich in der Psychiatrie und bekam einen Vormund. Während unserer Ehe wurde er ein angesehener linker Schriftsteller, in meiner Generation ist er sehr bekannt. Als wir zusammenkamen, hatte er kaum Geld, nur wenig Kleider und hauste in einem winzigen Zimmer, in dem es sogar fast ein wenig stank. Er faszinierte mich. Also blieb ich. Am Anfang hatten wir lediglich, was ich verdiente. Er schrieb und begann sofort, mit einflussreichen Leuten Kontakt aufzunehmen. Dass sich unser Leben anders entwickelte, als ich mir das ursprünglich vorstellte, realisierte ich erst nach ein paar Jahren. Ich hatte mir mein Leben mit ihm anders, freiheitlicher vorgestellt: Schreiben kann er überall, also würden wir herumreisen, er würde schreiben und ich in einem Büro arbeiten, wenn wir Geld brauchten. Seine Manuskripte tippte ich ja ohnehin ab. Er aber bestimmte, und ich machte mit. Er wollte möglichst schnell Karriere machen, dafür brauchte er eine Familie. Und er wollte nicht, dass ich Schauspielerin wurde.

Wir heirateten, und bald darauf kam unser Sohn zur Welt. Damals sind Kinder häufig einfach passiert, ich wusste ja nicht einmal richtig, wie man verhütet. Obwohl ich da bereits eine Abtreibung hinter mir hatte: Als ich mit 18 von meinem damaligen Freund das erste Mal schwanger wurde, war ich furchtbar verzweifelt. Sie sollten mich nicht suchen, schrieb ich meinen Eltern in einem Abschiedsbrief. Denn ich dachte, in meiner Situation gebe es keine andere Lösung, als von einer Brücke zu springen. Meine Mutter fand mich, und zusammen gingen wir zu einem Spezialisten. Berührt hatte mich das nicht so sehr, auch Gewissensbisse hatte ich keine. Eher habe ich mich geschämt. Und gesprochen wurde darüber nicht. Auch meinem Mann erzählte ich später nie davon.

Über die Geburt unseres Sohnes freute er sich sehr. Ich selbst wusste zuerst gar nichts anzufangen mit dem Kind. Es war eigenartig. Ich kann nicht sagen, ich hätte dieses Kind gewollt. Früher wusste ich: Ich will nie ein Kind, nie! Schlicht, weil ich selbst die Welt sehr negativ erlebt hatte. Und weil ich nicht wollte, dass ein Kind ähnliche Erfahrungen wie ich machen musste. Doch als ich meinen Sohn zum ersten Mal in den Armen hielt, fühlte sich das großartig an. Hilflos auch, weil ich ja keine Ahnung hatte, wie man mit Kindern umgeht. Ich spürte, dass ich ab da eine ganz besondere Verantwortung trug. So sehr, dass ich seit jenem Moment auch keine Selbstmordgedanken mehr hatte.

Zwei, drei Jahre bestimmt waren wir sehr glücklich. Die ersten Jahre blieb ich zu Hause, Kinderhorte gab es noch keine. Mein Mann arbeitete tagsüber beim Radio, um etwas Geld zu verdienen. Abends saß er bis 22 Uhr an seiner Schreibmaschine. Das weiß ich deshalb so genau, weil ab 22 Uhr die Nachtruhe galt und die alten Schreibmaschinen unheimlich laut waren. Er fing ja ganz unten an, mit einer Bürostelle, und machte innerhalb kurzer Zeit Karriere als Schriftsteller. Heute denke ich, dass ich sehr viel dazu beigetragen habe, dass er überhaupt schreiben konnte. Denn ich ließ ihn einfach. Konflikten aber ging er aus dem Weg. Wollte ich mit ihm über unsere Beziehung reden, sagte er nur: »Ich liebe dich, ich sorge für dich. Was willst du denn mehr?« Das reichte mir aber nicht. Denn seine Liebe spürte ich nicht, und er ging ja überhaupt nicht auf mich ein. Er bestimmte, wie ich zu fühlen hatte. Ich weiß nicht, ob er mich tatsächlich so sehr liebte, wie er das immer behauptete. Mittlerweile weiß ich, dass er vor allem nicht alleine sein konnte.

Wir waren 16 Jahre verheiratet. Treu waren wir beide nicht. Ich wusste von ihm, dass er ein Verhältnis mit einem Abteilungsleiter im Radio hatte, obwohl er keineswegs schwul war. Als ich ihn darauf ansprach, stritt er es ab. Heute würde ich mich wehren! Damals aber war ich schüchtern und verklemmt und nahm das einfach so hin. Heute bin ich ein ganz anderer Mensch. Eifersüchtig war ich nicht, aber es ärgerte mich. Erst viel später erfuhr ich, dass er auch andere Freundinnen hatte, und sogar mit einer Frau ein Kind. Davon hatte ich nichts gemerkt. Oder vielleicht war es mir auch egal. Es gibt viele Nebengeschichten, die ich nicht alle erzählen kann. Eine Liebesbeziehung hatte ich mit seinem Halbbruder. Ihn habe ich tatsächlich geliebt – und er mich. Er bewunderte mich als Frau seines großen Bruders. Er war ganz anders, wahnsinnig herzlich. Wir standen uns sehr nahe, mit ihm konnte ich träumen und Pläne schmieden. Nur zusammen sein konnten wir nicht, schließlich war er ja mein Schwager. Wir fürchteten, mein Mann, sein Bruder, könnte uns alle beide umbringen. Ich habe meinem Mann nie davon erzählt, aber er hatte es gemerkt, das weiß ich. Die Geschichte endete tragisch, als sein Bruder sich das Leben nahm.

Zweimal trennte ich mich von meinem Mann und kehrte beide Male wieder zurück. Hauptsächlich wegen meines Sohnes. Ich vermisste ihn, liebte ihn so sehr, dass ich es einfach nicht ertrug. Später bekamen wir noch eine Tochter. Erst die dritte Trennung war definitiv, weil da der Mann eine Rolle spielte, den ich später heiratete. Begegnet sind wir uns in den Ferien, die ich mit meinem ersten Mann verbrachte. Auch andere Künstler und Freunde waren da. Auch dieser zweite Mann sah mich und wusste sofort: »Du gefällst mir. Du bist die erste Frau, die ich liebe.« Eine Nacht lang wägte ich ab, überlegte hin und her – und entschied mich schließlich für ihn, verließ meinen ersten Mann noch während der Ferien. Wahrscheinlich wusste ich, dass ich es nicht alleine schaffen würde, von meinem ersten Mann wegzukommen. Doch die Trennung war happig. Mein erster Mann plagte mich, schrieb uns fürchterliche Schandbriefe, ich sei die letzte Hure und was weiß ich was alles. Später heiratete er noch zweimal. Die Erste sei mir ähnlich gewesen, sagte man. Sie trug wohl das Haar kurz, war auch groß und schlank – das war aber auch alles. Und doch: Er suchte mich offenbar wieder. Vielleicht war ich doch seine große Liebe?

Auch beim zweiten Mann würde ich heute sagen: Richtig in ihn verliebt war ich nicht, nein. Er war Fotograf, einer, der viel arbeitete. Ich mochte ihn. Er spielte den Clown, der er aber gar nicht war, wenn man ihn besser kannte. Er wolle mir ein Haus bauen, sagte er. Ich wollte aber gar kein Haus. Noch immer wäre ich lieber nach Paris gegangen. Warum ich wieder den Vorstellungen eines Mannes folgte, statt meine eigenen Pläne zu verwirklichen, weiß ich nicht. Heute glaube ich, dass ich vor allem auf der Suche nach jemandem war, der mich gerne mochte, der mich liebte. Denn ich bin ohne viel Liebe aufgewachsen.

Mein zweiter Mann hatte ein gut gehendes Fotoatelier in einer anderen Stadt, also zog ich zu ihm. Wir heirateten, weil ein befreundeter Anwalt mir das nahegelegt hatte. Er kannte meine finanziellen Verhältnisse. Er wusste, dass ich nichts besaß, dass ich bei meinem ersten Mann auf alles verzichtet hatte. Geld war mir zwar nicht so wichtig, aber die Argumente sah ich ein. Auch mein zweiter Mann freute sich über die Gelegenheit, ein großes Fest zu machen, und so heirateten wir. Nicht in der Kirche, sondern in unserem neuen Haus mit einem richtig großen Künstlerfest. Für meine Kinder war jene Zeit schwierig, sie mochten diesen zweiten Mann nicht. Nach sieben Jahren Ehe trennten wir uns schließlich. Er hatte irgendwann eine Freundin, eine ganz junge. Wirklich wehgetan hat mir das nicht, nein. Es kam sehr überraschend, und ich hatte kein Geld. Ich suchte mir eine Stelle und zog weg. Auch wenn es keine lustige Zeit war, wirklich Angst hatte ich nie. Ich war nie verzweifelt. Ich merkte immer, dass das Leben weitergehen wird. Und das tut es faszinierenderweise auch immer!

Mein wirkliches Leben begann für mich erst nach der zweiten Scheidung. Da musste ich mein Leben wieder selbst in die Hand nehmen. Ich erinnere mich noch gut, wie ich nach dem ersten Schock am Küchentisch in meiner neuen Wohnung saß und dachte: Jetzt bin ich wirklich alleine, und alles, was ich tue, liegt in meiner Verantwortung. Das war ein wunderbarer Moment. Seither habe ich mich sehr verändert. In eine Richtung, die ich mir eigentlich schon vor dreißig Jahren gewünscht hätte. Und doch: Mein Leben war gut so, wie es war. Nur so konnte ich an den heutigen Punkt gelangen.

Auch wenn ich selbst die Liebe eher als Abhängigkeit erlebt habe: Ich glaube nach wie vor an sie. An die Liebe, die beide frei sein lässt und wo zwei sich gegenseitig helfen. Ich weiß, dass es sie gibt, ich kenne solche Ehen. Mir ist es noch nie so gut gegangen wie jetzt. Nur das Alleinsein bereitet mir plötzlich Mühe. Mir fehlt der Garten, den ich vor drei Jahren aufgeben musste, als ich gestürzt bin, die Kinder, die unterdessen erwachsen, und die Enkel, die auch schon groß sind. Mir fehlt jemand, besonders morgens, wenn der Tag beginnt.

Einmal war ich mit einem Architekten befreundet. Von Anfang an stellte ich klar, dass ich gerne mit ihm zusammen sei, Ausflüge machte oder Ausstellungen besuchte: »Aber mehr ist nicht.« Er akzeptierte das und wusste: »Wenn eine Frau nicht will, dann ist nichts zu wollen.« Mit ihm entwickelte sich eine tolle Freundschaft. Wir wohnten nicht zusammen, aber unternahmen viel. Unterdessen ist er gestorben. So einen wie ihn vermisse ich. Es ist eine Binsenwahrheit, aber sie stimmt: Die guten Männer sind immer besetzt. Einem gestand ich einmal, dass ich mich in ihn verliebt hätte. Von nichts kommt ja schließlich nichts. Also fragte ich ihn, ob wir uns wieder einmal treffen würden. Er freue sich sehr, sagte er mir, aber er sei in festen Händen. Andere klopfen anzügliche Sprüche und Witze. Solche alten Glüschtler [1] gibt es viele. Von denen habe ich schon einige kennengelernt. Das finde ich ekelhaft.

Wäre ich nicht an meinen ersten Mann geraten, ich hätte vielleicht nie geheiratet. Es gefiel mir alleine. Es gefiel mir, zu arbeiten, mit einer Freundin zu wohnen. Ich hätte mir durchaus auch vorstellen können, ledig zu bleiben. Vielleicht hätte ich dann irgendwann den Mut gehabt, endlich wegzugehen. Am liebsten nach Paris. Dorthin wollte ich schon immer, geschafft habe ich es nie. Nach meiner Trennung hätte ich gehen können. Aber auch da traute ich mich einfach nicht. Ich hatte immer Sehnsucht nach der Freiheit, wusste aber eigentlich nie, was das überhaupt bedeutete.

Cornelia Feller freut sich sichtlich auf unser Gespräch. Denn, das hatte sie mir bereits am Telefon erklärt, sie denke in letzter Zeit öfter über die Liebe nach. Ihr Leben beschreibt sie als turbulent genug: »Ich bin froh, dass ich so alt geworden bin, damit ich alles Erlebte überdenken kann.« Wir treffen uns in einem Tearoom in ihrer Nachbarschaft, den sie vorher nicht kannte: Sie verkehrte ihr Leben lang in Bars, die in meiner Generation längst zu Legenden geworden sind. Die Kaffeemaschine steht etwas zu nah bei uns, und das Café ist besser besucht, als ich es angenommen hatte, gewisse Fragen stelle ich mehrmals. Erst mit der Zeit merke ich, dass sie ein Hörgerät trägt.

Den schwarzen Rollkragenpullover, sagt sie schüchtern, trage sie heute zum ersten Mal seit Langem wieder. Früher habe sie sich ausschließlich schwarz oder violett gekleidet: »Da hatte ich auch noch längere Haare, wie Juliette Gréco. Sagt Ihnen dieser Name etwas?« Unterdessen trägt sie ihr Haar kurz mit einem Seitenscheitel. Cornelia Feller ist groß und schlank. Sie wirkt mit ihren grazilen Bewegungen um einiges jünger, als sie ist, auch wenn ihre rechte Gesichtshälfte manchmal zuckt und sie das Hörgerät je nach Geräuschlage neu einstellen muss. Dass sie mit ihrer entrückten Erscheinung für die Männer eine Muse gewesen ist, kann man sich leicht vorstellen.

Viele Passagen ihres Lebens, die sie mir an diesem schummrigen Winternachmittag erzählt, kommentiert Cornelia Feller mit einem hilflosen Achselzucken, mit einer seltsamen Distanz und einer Lakonie in der Stimme, als ob es nicht ihr Leben gewesen wäre: Sagt, dass sie sich an gewisse Situationen nicht mehr erinnere. Dass sie selbst nicht verstehe, warum sie so oder so gehandelt habe. Vieles bleibt vage. Und viele meiner Fragen erübrigen sich, weil sie sich diese genauso selbst stellt. Ihr Staunen über sich und die Welt ist entwaffnend, weil sie Fragen in den Raum stellt und keinen Hehl aus ihrer Melancholie macht, die sie schon immer begleitet habe. Selbstmordgedanken, sagt sie, seien ihr schon seit eh und je sehr vertraut: »Ich dachte immer schon: Wenn ich es einmal nicht mehr aushalte im Leben, dann springe ich einfach von einer Brücke.«

Stellenweise zögert sie, mir alles zu erzählen. Sie will, schweigt dann aber doch. Ich frage sie, ob es ihr zu persönlich sei. Sie verneint. Sagt, dass sie viele Therapiegespräche, einzeln und in Gruppen, gebraucht habe, um offener, zufriedener, ja dankbarer für ihr Leben zu werden. Auch spirituelle Erfahrungen waren wichtig, sich selbst näherzukommen. Sprechen wir über die Gegenwart, blüht sie auf. Unterdessen flirte sie wieder mit jungen Männern, sie lächelt und streicht sich zufrieden die Armstulpen mit Leopardenmuster zurück: »Was Männer immer tun, gilt bei Frauen ja als peinlich. Aber als ältere Frau kann ich das jetzt.« Natürlich würde sie mit dem heutigen Wissen die Welt erobern, wäre sie nochmals zwanzig Jahre alt. Aber: »Es ist wichtig, das alles erlebt zu haben, um überhaupt an einen gewissen Punkt zu kommen, um etwas über das Leben zu erkennen.« Dadurch etwa, dass sie immer mehr Verantwortung für ihr Tun übernommen habe, sei sie auch ihrem Traum von Freiheit näher gekommen.

Seit der Pensionierung tanzt sie regelmäßig in einem Tanztheater. In der letzten Saison zusammen mit acht Frauen im Stück »Rendez-vous«, in dem es darum ging, wie sich mehrere Frauen auf die Kontaktanzeige eines Mannes melden. In dieser Saison pausiert sie, denn es gehe um die Beatles, doch mit dieser Musik werde sie einfach nicht warm, schließlich hätten ihre Kinder die Beatles gehört und nicht ihre Generation, lacht sie.

Als wir uns Monate später wiedersehen, strahlt Cornelia Feller. Sie habe sich kurz nach unserem ersten Gespräch verliebt, und warnt im gleichen Atemzug, es sei allerdings kompliziert. Denn der Mann, den sie über ein Theaterprojekt kennengelernt habe, habe seit Jahren eine Lebenspartnerin. Trotzdem verabredet er sich mit Cornelia Feller und macht ihr Komplimente, zum Beispiel zu ihrem Haar, das sich wie Seide anfühle. Wir sprechen jetzt plötzlich über Schmetterlinge im Bauch und über die Aufregung, sich im Badeanzug mit einem neu kennengelernten Mann im Thermalbad zu treffen. Cornelia Feller freut das zuerst einmal, auch wenn sie skeptisch bleibt: »Es ist ein großes Geschenk, dass es einen Mann gibt, dem ich gefalle.« Überrascht, dass sie plötzlich wieder flirtet, ist sie nicht. Auch wenn andere Frauen in ihrem Alter mit diesem Thema längst abgeschlossen hätten: »Ich denke nie, dass es vorbei ist. Warum auch?«

Ich möchte sie gern wieder einmal umarmen Helmut Becher, 68 Jahre

Wir treffen uns an einem Freitagnachmittag in einem sehr belebten Tearoom in der Innenstadt. Links und rechts von uns setzen sich zwei Damen, die sich etwas zu essen bestellen und Zeitung lesen – und uns vermutlich vor allem zuhören. Ich fürchte um die Ehrlichkeit meines Gegenübers: Doch der 68-Jährige mit feinen Fältchen und kurzem Haar lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.

Viele Männer haben ein Bild von ihrer Idealfrau. Das hatte ich eindeutig auch. Als ich einmal als Student aushilfsweise Mathematik unterrichtete, saß eine Schülerin in der Klasse, von der ich wusste: Sie entspricht exakt dem Typ Frau, von dem ich träume. Ich vergaß sie danach nie mehr. Ein paar Jahre später traf ich sie im Zug. Wir erkannten uns sofort wieder. Kitschig, ja doch, so muss man das wohl nennen: Das war Liebe auf den ersten Blick – wenigstens meinerseits. Unterdessen sind wir seit 36 Jahren verheiratet. Ich heiratete relativ spät, mit 32 Jahren – sie ist acht Jahre jünger, war da also 24 Jahre alt. Viele heirateten, um von zu Hause wegzukommen. Bei uns aber war es Liebe.

Liebschaften gab es schon vorher, mehrere – eine Frau war für mich besonders wichtig: denn sie hatte mich verführt. Sie war das Dienstmädchen meines Onkels, war elf Jahre älter und hatte ein Kind. Das war eine sehr schöne Liebe. Auch, weil wir uns im Geheimen treffen mussten. Wir wohnten am Stadtrand. Also erzählte ich zu Hause, ich würde statt sonntags elf Uhr in die Kirche am Abend in der Stadt in die Kathedrale gehen. Dort trafen wir uns zwar, gingen aber von dort weiter hinauf zu den Drei Weihern. Die Aufklärung war in meiner Zeit katastrophal. Obwohl meine beiden Eltern Ärzte waren: Aufgeklärt wurde ich nie. Nicht einmal medizinisch. Und meine Mutter hielt sogar Aufklärungsvorträge an Mädchenschulen! Meine Schwestern nahm sie jeweils mit, aber ich passte wohl nicht ins Schema. Also erfuhr ich alles auf der Straße.

Die Idee zu heiraten kam, soweit ich mich erinnere, von meiner Frau. Heute diskutiert man darüber, ob man überhaupt heiraten soll. Früher war das umgekehrt: Da sagte man bewusst, ich will nicht heiraten. Sonst war eh klar, dass man heiratete. Lange Zeit, ein paar Jahre bestimmt, war unsere Ehe sehr schön. Wir hatten zwar beide eine schwierige Vergangenheit und hätten wahrscheinlich beide Hilfe gebraucht, um diese zu bewältigen. Sie hatte ein sehr schwieriges Verhältnis zu ihrer Familie, war depressiv und suizidgefährdet. Und mein Vater war Alkoholiker. Was ich aber wirklich verdamme, ist der Alltag, dieser unheimlich tödliche Alltag. Bestimmt macht er ganz viele Ehen kaputt. Nicht, dass er die unsere kaputt gemacht hätte. Aber auch in unserer Ehe wurde es plötzlich ruhig. Wir waren müde, haben nichts mehr miteinander unternommen. Klar, es waren dann die Kinder da. Zwei Kinder, die drei und fünf Jahre nach der Heirat zur Welt kamen – und uns von Anfang an ungeheuer wichtig waren.

Meine Frau kam mit ihrer Energie sehr an ihre Grenzen, während ich gleichzeitig beim Aufbau einer Firma mitarbeitete. Ich bin Mathematiker, wir programmierten Software für Banken. Ich war nie ein Karrieremensch, aber es gab immer zu viel zu tun. Das war eine sehr anstrengende Zeit für uns beide. Nach etwa zehn Jahren Ehe begann meine Frau eine Beziehung zu einer anderen Frau. Und wie das so ist: Am Anfang verspricht man sich alles, sagt sich: »Wenn etwas ist, dann sagst du es mir, ja?« So aber war es natürlich nicht. Ich musste es selbst herausfinden. Das hat mein Urvertrauen sehr erschüttert. Meine Frau betonte zwar immer wieder, sie fühle sich überhaupt nicht als eine Lesbe. Trotzdem tat mir diese Untreue unheimlich weh. Jene Geliebte ging offenbar viel mehr auf meine Frau ein, als ich es tat. Als ich herausfand, dass meine Frau eine Affäre hat, bin ich fast verzweifelt. Es war schrecklich. Immerhin war ihre Affäre eine Frau, kein Mann, der mir noch viel mehr Konkurrent hätte sein können.

Unterdessen können wir wieder miteinander reden. Und: Wir sind trotzdem zusammengeblieben. Die Beziehung der beiden scheiterte schließlich, weil meine Frau unsere Familie nicht verlassen wollte. Und weil uns beiden die Kinder unheimlich wichtig sind. Von Anfang an hatten sie für uns einen enorm hohen Stellenwert. Wenn ich sie mir heute ansehe, dann denke ich oft, dass sich manches Opfer gelohnt hat. Wir haben bis heute beide ein sehr enges, sehr herzliches Verhältnis zu den Kindern. Auf jeden Fall ganz anders, als das Verhältnis zu unseren eigenen Eltern war. Man sagt ja, dass es sich nicht lohnen würde, wegen der Kinder zusammenzubleiben. Ganz ehrlich: Da bin ich mir nicht so sicher. Unsere Idee einer Familie jedenfalls haben wir uns erfüllt. Und meine Frau hat sich sehr verändert: Sie ist viel selbstbewusster und unabhängiger geworden, sie ist nicht mehr die problembeladene, unsichere Frau, die ich damals im Zug angetroffen hatte. Ich bin froh, dass sie sich in diese Richtung verändert hat. Auch wenn sie zeitweilig glaubte, sich unbedingt von mir emanzipieren zu müssen.

Mittlerweile haben wir miteinander eine sehr schöne Beziehung. Nur ist sie seit dieser Geschichte ohne Sex. Auch wenn Sex womöglich heute viel zu viel Bedeutung beigemessen wird: Sexualität fehlt mir, Küsse auch, Berührungen. Lange Zeit war die Distanz zwischen uns für Sex zu groß, wir hätten uns das beide nicht vorstellen können. Damals, als meine Frau mit der anderen Frau zusammen war, schlug sie mir vor, dass ich mir selber eine Freundin suchen solle. Das aber konnte ich nicht. Ich wusste, dass ich mich auf eine Geschichte, wenn, dann nur richtig einlassen kann. Und das wiederum würde viel Zeit kosten, die ich ja offensichtlich auch vorher nicht in die Beziehung zu meiner Frau investieren konnte. Ganz abgesehen davon, dass ich mich gar nicht in der Lage fühlte, mich zu verlieben – zumindest damals nicht. Und eine grundsätzlich offene Beziehung konnte ich mir schlicht nicht vorstellen. Auch wenn wir darüber gesprochen hatten. Wir kommen ja nur schwer mit uns zusammen aus, wie wollen wir da noch mit zwei Personen mehr auskommen? Das verkompliziert doch nur alles. Sicher habe ich dadurch vieles verpasst. Da ich aber andererseits nicht weiß, was genau, kann ich auch nicht sagen, ob ich es bereue.

Später habe ich durchaus Bekanntschaften ausprobiert; bei der Arbeit zum Beispiel oder in einer Weiterbildung. Da ging es mir darum zu merken: Doch, ich wäre wieder fähig, Gefühle zu empfinden für jemanden. Und trotzdem ist daraus nie etwas entstanden, große Gefühle waren da nie im Spiel. Erst in den letzten Jahren habe ich mich einmal ganz fürchterlich verliebt, in eine viel jüngere Frau. Leider nicht gegenseitig, nein. Sowieso: Mit 68 Jahren glaube ich, dass mir das nicht mehr zusteht, mich in eine jüngere Frau zu verlieben. Der einzige Freund, den ich um Rat bat, meinte nur: »Entweder sie will das Geld, oder du machst dich lächerlich.« Und ich glaube, er hat recht. Gesagt habe ich ihr jedenfalls nie etwas.

Auch wenn sich für mich im letzten Jahr viele Dinge relativiert haben: Während einer Operation am Herzen wurde ich in ein künstliches Koma versetzt und habe nur knapp überlebt. Seither plane ich nicht mehr längerfristig, sondern nur noch in kleinen Schritten. Und wer weiß, vielleicht wäre ich unterdessen in Liebesdingen waghalsiger? Andererseits: Was ich mit meiner Frau habe, ist nicht wenig. Denn als kollegial oder geschwisterlich würde ich unsere Liebe keineswegs beschreiben, überhaupt nicht. Wir sind nicht so unverkrampft miteinander, wie es wahrscheinlich Geschwister miteinander sind. Dafür ist viel zu viel passiert. Und ich habe nach wie vor das Gefühl, dass sich die Distanz zwischen uns wieder verringern könnte – diese Option besteht nach wie vor. Jedenfalls würde ich diese Beziehung nicht aufs Spiel setzen für etwas, bei dem ich nicht weiß, wie es wird. Gerade da ich ja selbst erfahren habe, wie komplex und zerbrechlich Beziehungen sein können. Es gibt zum Beispiel niemanden, mit dem ich lieber in die Ferien fahre als mit meiner Frau. Reisen mit ihr ist das Größte! Auch wenn sie das Meer sehr liebt, wir liegen beide nicht gern am Strand. Stattdessen gehen wir spazieren, unternehmen etwas, sehen uns die Kultur an; wir interessieren uns für dieselben Dinge, und der Alltag ist weit fort.

Darüber, was vor fast dreißig Jahren passiert ist, reden wir heute nicht mehr. Höchstens, wenn uns Besuch sagt: »Oh, ihr seid ein so schönes Ehepaar!« Dann lachen wir komplizenhaft und denken nur: Wenn die wüssten … Natürlich, jetzt, wo die Kinder aus dem Haus sind, könnten wir uns trennen. Nur glaube ich, dass uns beiden die Schwelle dafür zu hoch ist. Wir müssten etwa die Pensionskasse aufteilen … Machbar wäre das natürlich. Allerdings: Sie könnte sich ja auch von mir trennen – das tut sie aber genauso wenig. Und gerade haben wir uns eine Eigentumswohnung fürs Alter gekauft. Damit haben wir – ohne groß darüber zu reden – abgesprochen, dass wir zusammen alt werden wollen. In letzter Zeit habe ich ein paarmal darüber nachgedacht, ob wir nicht vielleicht wieder einmal über uns reden sollten. Ich möchte sie gern wieder einmal umarmen.

Dass ihm das Familienglück wichtig ist, daran lässt er keinen Zweifel: Voller Bewunderung erzählt er von seinen mittlerweile erwachsenen Kindern, einem Sohn und einer Tochter, er Physiker und sie Pilotin, gerade ist ein Enkel dazugekommen. Die Kinder hätten sie regelrecht zu Hause rauswerfen müssen, lacht er, lange hätten sie keine Anstalten gemacht auszuziehen. Und heute noch kämen sie stets spontan und sehr oft zu ihnen zu Besuch, um für die Eltern zu kochen und aus ihrem Leben zu erzählen.

Dem Klischee eines nerdigen Mathematikers entspricht der zurückhaltende, noch immer gut aussehende Mann gar nicht: Präzise erzählt er von seinen Gefühlen, zögert nur hie und da, wenn er sich selbst nicht sicher ist, ob es richtig war, wie er in der einen oder anderen Situation reagiert hat. Er verneint, als ich ihn frage, ob seine Kinder die ganze Geschichte ihrer Eltern kennen würden. Und gesteht, dass er eigentlich gerne einmal mit ihnen darüber sprechen würde – jetzt, da sie Anfang dreißig sind und selber über Familie nachdenken. Sie würden es nicht mögen, wenn die Eltern ab und an mal stritten, sagt er und fügt schmunzelnd an: »Wobei wir das kaum tun, ich würde das eher als ›ernsthaft diskutieren‹ bezeichnen.« Reiben würden sie sich unterdessen vor allem noch in Haushaltsdingen. Er, der bereits Pensionierte, ist für den Einkauf und den – »übrigens keineswegs pflegeleichten!« – Garten zuständig. Sie, die immer noch Arbeitende, macht jeweils Montag den Haushalt. Viel zu perfekt, seiner Meinung nach: »Warum muss immer alles so tipptopp geputzt sein? Ich verbringe manchmal lieber meine Zeit mit einem guten Buch …«

Lange sprechen wir über die Distanz, die in seiner Ehe seit jener Geschichte vor dreißig Jahren Einzug gehalten hat. »Neu kennenlernen, ja, das könnten wir«, sagt er nachdenklich, um aber gleich anzufügen: »Aber wir haben beide Angst, dass wir wieder in alte Muster zurückfallen könnten. Und auch ich müsste weit zurückgehen für einen Neuanfang.« Würde er das Rad der Zeit nochmals zurückdrehen wollen? Die Antwort kommt prompt: »Nein, selbst wenn ich die Erfahrung von heute mitnehmen könnte.«

Man will ja doch das Dornröschen sein Sabine Ledoux, 75 Jahre

Wir treffen uns in einer Zürcher Straßenbahn und haben beide das gleiche Ziel: Wir wollen an die Endstation des Neuners und zurück, um Zeit in der warmen Straßenbahn totzuschlagen. Ich mit meinem Sohn, weil an diesem trüben Nachmittag eines Novembersonntags nicht viel passiert; sie, weil das Konzert, das sie unbedingt hören will, erst in einer Stunde im Zunfthaus zur Waag beginnt. Schuberts Winterreise, sagt sie, wahnsinnig traurig zwar, aber wunderschön. Langsam kommen wir miteinander ins Gespräch. Sie sprüht vor ungeduldiger Freude, spricht bewusst mal leise, dann wieder laut, mal mit hoher, dann mit tiefer Stimme. Sie erzählt von Schubert und schweift zu Liszt ab. Es ist einfach, zu erraten, dass sie Musikerin ist. Gesungen habe sie, nun aber winkt sie ab: Jetzt sei sie zu alt, 75 Jahre. Die Stimme singe nicht ewig. Ich habe keine Ahnung von Musik und lasse mir gern erklären, dass Singen eine sehr physische Angelegenheit sei, dass man stark atmen müsse und Kraft brauche – und dass nicht jeder so lange singt wie Pavarotti.

Als sie mich nach meinem Beruf fragt und ich das Buch über die Liebe erwähne, rückt sie sofort näher und sagt: »Uh, da habe ich Ihnen viel zu erzählen.« Wir tauschen unsere Adressen aus und sind gleich beim Du. Noch vor der Endstation erzählt sie mir die Liebesgeschichte ihrer Eltern, eines Franzosen und einer Deutschen, die sich in der Zwischenkriegszeit in Paris kennengelernt und nach dem Zweiten Weltkrieg getrennt haben. Geboren ist Sabine Ledoux wenige Monate vor Kriegsausbruch in Paris, aufgewachsen ist sie in Basel. Nach der Endstation, auf der Rückfahrt in die Stadt, erwähnt sie ihren Freund, über den sie nichts in meinem Buch lesen möchte, weil es gerade so wehtut. Warum, das erzählt sie mir einen Monat später bei herzförmigen Zitronenbutterkeksen aus dem Supermarkt, als wir uns in ihrer kleinen Wohnung oberhalb der Stadt treffen. Natürlich interessiert mich diese Geschichte am meisten.