Der Flammenträger - Bernard Cornwell - E-Book
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Der Flammenträger E-Book

Bernard Cornwell

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Beschreibung

«Und mein Speer fuhr in das Drachenauge, und der Schaft bebte, als das Schiff an uns vorüberglitt zu den ruhigeren Gewässern des Hafens, der vor dem Sturm geschützt wurde durch den gewaltigen Felsen, auf dem die Festung stand. Meine Festung. Bebbanburg.» Viele Jahre hat Uhtred gegen die Dänen und Norweger gekämpft. Inzwischen wird nur noch ein englisches Reich von einem Nordmann regiert, Northumbrien, dessen König Uhtreds Schwiegersohn ist. Die Zeit der Kriege scheint vorbei, und Uhtred sieht die Stunde gekommen, endlich Bebbanburg, den Sitz seiner Vorväter, zurückzuerobern. Doch der Frieden gebiert den Wunsch nach Krieg. Bald steht Uhtred drei mächtigen Gegnern gegenüber. Da hilft es nicht, nur tapfer in der Schlacht zu sein. Man muss auch klug sein wie eine Schlange.

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Bernard Cornwell

Der Flammenträger

Historischer Roman

Aus dem Englischen von Karolina Fell

Über dieses Buch

«Und mein Speer fuhr in das Drachenauge, und der Schaft bebte, als das Schiff an uns vorüberglitt zu den ruhigeren Gewässern des Hafens, der vor dem Sturm geschützt wurde durch den gewaltigen Felsen, auf dem die Festung stand. Meine Festung. Bebbanburg.»

 

Viele Jahre hat Uhtred gegen die Dänen und Norweger gekämpft. Inzwischen wird nur noch ein englisches Reich von einem Nordmann regiert, Northumbrien, dessen König Uhtreds Schwiegersohn ist. Die Zeit der Kriege scheint vorbei, und Uhtred sieht die Stunde gekommen, endlich Bebbanburg, den Sitz seiner Vorväter, zurückzuerobern. Doch der Frieden gebiert den Wunsch nach Krieg. Bald steht Uhtred drei mächtigen Gegnern gegenüber. Da hilft es nicht, nur tapfer in der Schlacht zu sein. Man muss auch klug sein wie eine Schlange.

Vita

Bernard Cornwell, geboren 1944, machte nach dem Studium Karriere bei der BBC, doch nach seiner Übersiedlung in die USA entschloss er sich, einem langgehegten Wunsch nachzugehen, dem Schreiben. Im englischen Sprachraum gilt er als unangefochtener König des historischen Abenteuerromans. Seine Werke wurden in über 20 Sprachen übersetzt – Gesamtauflage: weit über 20 Millionen. Die erfolgreiche Fernsehserie zu den Abenteuern von Uhtred, dem Krieger, geht inzwischen in die zweite Staffel.

Der Flammenträger

ist für Kevin Scott Callahan

1992–2015

Wyrd bið ful āræd

Ortsnamen

Die Schreibung der Ortsnamen im angelsächsischen England war eine unsichere und regellose Angelegenheit, in der nicht einmal über die Namen selbst Übereinstimmung herrschte. London etwa wurde abwechselnd als Lundonia, Lundenberg, Lundenne, Lundene, Lundenwic, Lundenceaster und Lundres bezeichnet. Zweifellos hätten manche Leser andere Varianten der Namen vorgezogen, die unten aufgelistet sind, doch ich habe mich in den meisten Fällen nach den Schreibungen gerichtet, die entweder im Oxford Dictionary of English Place-Names oder im Cambridge Dictionary of English Place-Names für die Jahre um die Herrschaft Alfreds von 871 bis 899 zu finden sind. Doch selbst diese Lösung ist nicht narrensicher. So wird die Insel Hayling im Jahr 956 sowohl Heilincigae als auch Hæglingaiggæ geschrieben. Auch bin ich selbst nicht immer konsequent geblieben; ich habe die moderne Bezeichnung Northumbrien dem älteren Norðhymbralond vorgezogen, weil ich den Eindruck vermeiden wollte, dass die Grenzen des alten Königreiches mit denjenigen des modernen Countys identisch sind. Aus all diesen Gründen folgt die unten stehende Liste ebenso unberechenbaren Regeln wie die Schreibung der Ortsnamen selbst.

Ætgefrin Yeavering Bell, Northumberland

Alba Ein Königreich, das einen Großteil des heutigen Schottlands umfasste

Beamfleot Benfleet, Essex

Bebbanburg Bamburgh Castle, Northumberland

Beina Fluss Bain, Lincolnshire

Cair Ligualid Carlisle, Cumberland

Ceaster Chester, Cheshire

Cent Kent

Cirrenceastre Cirencester, Gloucestershire

Cocuedes Insel Coquet, Northumberland

Contwaraburg Canterbury, Kent

Cumbrien Cumberland

Dumnoc Dunwich, Suffolk (heute größtenteils im Meer versunken)

Dunholm Durham, County Durham

Eoferwic York, Yorkshire (Dänisch: Jorvik)

Ethandun Edington, Wiltshire

Godmundcestre Godmanchester, Cambridgeshire

Grimesbi Grimsby, Humberside

Gyruum Jarrow, County Tyne and Wear

Hornecastre Horncastle, Lincolnshire

Humbre Fluss Humber

Huntandun Huntingdon, Cambridgeshire

Ledecestre Leicester, Leicestershire

Lindcolne Lincoln, Lincolnshire

Lindisfarena Heilige Insel Lindisfarne, Northumberland

Lundene London

Mældunesburh Malmesbury, Wiltshire

Ouse Fluss Ouse, Northumbrien: ebenso Fluss Große Ouse, Ostanglien

Steanford Stamford, Lincolnshire

Sumorsæte Somerset

The Gewæsc Ästuar Wash

Tinan Fluss Tyne

Wavenhe Fluss Waveney

Weallbyrig Erfundener Name für ein Kastell des Hadrianswalls

Wiire Fluss Wear

Wiltunscir Wiltshire

Wintanceaster Winchester, Hampshire

Erster TeilDer König

Eins

Es begann mit drei Schiffen.

Jetzt waren dort vier.

Die drei Schiffe waren an die Küste Northumbriens gekommen, als ich ein Kind war, und binnen Tagen war mein älterer Bruder tot, und binnen Wochen folgte ihm mein Vater ins Grab, mein Onkel raubte mein Land, und ich war ein Vertriebener geworden. Nun, so viele Jahre später, beobachtete ich von demselben Strand aus vier Schiffe, die auf die Küste zukamen.

Sie kamen aus dem Norden, und aus dem Norden kommt nur Schlechtes. Der Norden bringt Frost und Eis, Norweger und Schotten. Er bringt Gegner, und ich hatte schon genügend Gegner, denn ich war nach Northumbrien gekommen, um Bebbanburg zurückzuerobern. Ich war gekommen, um meinen Cousin zu töten, der sich meine Stellung angeeignet hatte. Ich war gekommen, um mir mein Heim zurückzuholen.

Bebbanburg lag weiter südlich. Seine Wälle konnte ich von dort, wo unsere Pferde standen, nicht sehen, weil die Dünen zu hoch waren, aber ich sah den Rauch von den Kochfeuern der Festung, den der stürmische Wind nach Westen trieb. Der Rauch wurde landeinwärts geweht und verschmolz mit den niedrigen, grauen Wolken, die auf die dunklen Hügel Northumbriens zujagten.

Es war ein scharfer Wind. An den Sandbänken, die sich in Richtung der Insel Lindisfarena erstreckten, brachen sich tosende Wellen, die schnell und weiß schäumend auf das Ufer zuliefen. Weiter draußen waren die Wogen schaumgekrönt, gischtsprühend und verwirbelt. Zudem war es bitterkalt. In Britannien mochte gerade der Sommer eingekehrt sein, doch an der northumbrischen Küste schwang immer noch der Winter seine scharfe Klinge, und ich war froh um den Bärenfellumhang.

«Ein schlechter Tag für Seefahrer», rief mir Berg zu. Er war einer meiner jüngeren Männer, ein Norweger, der sein Können als Schwertmann allzu gern unter Beweis stellte. Er hatte im vergangenen Jahr sein Haar noch länger wachsen lassen, bis es wie ein Pferdeschweif unter dem Rand seines Helms herausflatterte. Ich hatte einmal einen Sachsen gesehen, der einen Mann an seinem langen Haar rücklings aus dem Sattel gezogen und ihn mit dem Speer durchbohrt hatte, während der Mann noch mit rudernden Armen auf der Erde lag.

«Du solltest dein Haar schneiden», mahnte ich Berg.

«Beim Kampf binde ich es hoch!», rief er zurück, dann deutete er mit einem Nicken zur See hinüber. «Sie werden Schiffbruch erleiden! Sie sind zu nah am Ufer!»

Die vier Schiffe folgten dem Ufer, kämpften jedoch darum, weiter draußen zu bleiben. Der Wind drohte, sie an den Strand zu treiben, sie auf den Sandbänken auflaufen zu lassen, sie dort umzukippen und auseinanderzubrechen, doch die Ruderleute hängten sich in die Riemen, während die Steuermänner versuchten, ihren Bug von den Brechern wegzuzwingen. Wellen zerbarsten am Bug der Schiffe und überrollten weiß schäumend die Decks. Der quer einfallende Wind war zu stark, um Rah oder Segel aufzuziehen, und so hatten sie das schwere Segeltuch an Deck verstaut.

«Wer sind sie?», fragte mein Sohn, während er sein Pferd an meine Seite lenkte. Der Wind hob seinen Umhang und peitschte Mähne und Schweif seines Pferdes.

«Wie soll ich das wissen?», fragte ich.

«Hast du sie nicht früher schon einmal gesehen?»

«Nie», sagte ich. Ich kannte die meisten Schiffe, die sich vor der northumbrischen Küste herumtrieben, aber diese vier waren mir fremd. Es waren keine Handelsfahrer, sondern sie hatten den hohen Bug und das niedrige Freibord von Kampfschiffen. Sie hatten Tierköpfe auf dem Bug, was sie als Heiden auswies. Die Schiffe waren groß. Jedes, so schätzte ich, war mit vierzig oder fünfzig Mann besetzt, die nun in der tückischen See und dem rauen Wind um ihr Leben ruderten. Die Flut kam, was eine starke, nordwärts ausgerichtete Strömung bedeutete, und die Schiffe kämpften sich nach Süden. Um ihre drachengekrönten Buge spritzte die Gischt, während Querseen gegen ihre Rümpfe donnerten. Ich beobachtete, wie sich das Schiff, das am dichtesten vor der Küste war, auf einer Welle aufrichtete und dann halb hinter den kalten Wogen verschwand, die um seinen Schegg zerbarsten. Wussten sie, dass es eine schmale Fahrrinne gab, die hinter Lindisfarena herumlief und Schutz bot? Diese Fahrrinne war bei Ebbe leicht zu sehen, doch nun, bei anlaufender Flut, die vom Wind zu strudelnder Raserei aufgepeitscht wurde, war die Passage von dahinjagender Gischt und schäumenden Wellen verborgen, und die vier Schiffe wurden, blind für die Sicherheit der Fahrrinne, an ihrem Eingang vorbeigerudert und kämpften sich weiter zum nächsten Ankerplatz, der ihnen Sicherheit bieten würde.

Sie hielten auf Bebbanburg zu.

Ich lenkte mein Pferd Richtung Süden und führte meine sechzig Mann am Strand entlang. Der Wind trieb mir stechende Sandkörner ins Gesicht.

Ich wusste nicht, wer sie waren, aber ich wusste, wohin die vier Schiffe fuhren. Sie hielten auf Bebbanburg zu, und damit, so dachte ich, war das Leben schlagartig schwieriger geworden.

 

Wir brauchten nur wenige Augenblicke, um die Fahrrinne von Bebbanburg zu erreichen. Die brechenden Wellen schlugen auf den Strand und liefen zischend in den Hafeneingang, füllten die schmale Zufahrt mit strudelndem grauem Schaum. Die Zufahrt war nicht breit, als Kind hatte ich sie oft durchschwommen, jedoch nie, wenn die starke Strömung der Ebbe geherrscht hatte. Eine meiner frühesten Erinnerungen war die an einen Jungen, der ertrank, als ihn die Strömung aus der Hafenzufahrt hinauszog. Sein Name hatte Eglaf gelautet, und er war wohl sechs oder sieben Jahre alt, als er starb. Er war der Sohn eines Priesters, der einzige Sohn. Seltsam, wie mir Namen und Gesichter aus der fernen Vergangenheit in den Sinn kommen. Er war ein kleiner, zarter Junge gewesen, dunkelhaarig und schelmisch, und ich hatte ihn gemocht. Mein älterer Bruder hatte ihn dazu herausgefordert, durch die Zufahrt zu schwimmen, und ich erinnerte mich daran, wie mein Bruder lachte, als Eglaf in dem Wirbel aus dunklen Wellen und weißen Schaumkronen verschwand. Ich hatte geweint, und mein Bruder hatte mir einen Schlag auf den Hinterkopf gegeben. «Er war schwach», sagte mein Bruder.

Wie wir die Schwäche verachten! Nur Frauen und Priestern ist es gestattet, schwach zu sein. Vielleicht auch Dichtern. Der arme Eglaf war gestorben, weil er ebenso furchtlos erscheinen wollte wie wir Übrigen, doch letztlich hatte er nur bewiesen, dass er ebenso dumm war. Während wir den vom Wind gepeitschten Strand entlangtrabten, sprach ich seinen Namen laut aus: «Eglaf.»

«Was?», rief mein Sohn.

«Eglaf», sagte ich wieder, ohne mich mit Erklärungen aufzuhalten, aber ich denke, solange wir uns an Namen erinnern, leben diese Menschen weiter. Ich weiß nicht genau, wie sie leben; ob sie Geister sind, die wie Wolken umherziehen, oder ob sie in der Nachwelt leben. Eglaf konnte nicht nach Wallhall gegangen sein, weil er nicht in der Schlacht gestorben war, doch wie sich versteht, war er auch Christ, also musste er in ihren Himmel gekommen sein, weswegen er mir noch mehr leidtat. Christen erklären mir, dass sie dort alle Zeit damit verbringen, ihrem angenagelten Gott Loblieder zu singen. Alle Zeit! Bis in alle Ewigkeit! Was für ein aufgeblasener Gott will jederzeit sein eigenes Loblied hören? Dieser Gedanke rief mir Barwulf ins Gedächtnis, einen westsächsischen Thegn, der vier Harfenisten dafür bezahlt hatte, Lieder von seinen Taten in der Schlacht zu singen, die es so gut wie nicht gegeben hatte. Barwulf war ein fettes, selbstsüchtiges, habgieriges Schwein von einem Mann gewesen; genau die Sorte, die immer ihr eigenes Loblied hören will. Ich stellte mir den Christengott als einen fetten, missmutigen Thegn vor, der in seinem Metpalas saß und Schmeichlern lauschte, die ihm erzählten, wie großartig er sei.

«Sie drehen bei!», rief mein Sohn und unterbrach damit meine Gedanken. Ich schaute nach links und sah, wie sich das erste Schiff auf die Fahrrinne ausrichtete. Es war eine gerade Zufahrt, doch ein unerfahrener Schiffsmeister konnte von den starken Gezeitenströmungen nahe der Küste in die Irre geführt werden. Dieser Mann aber war erfahren genug, um die Gefahr vorauszuahnen, und er führte den langen Rumpf gerade und sicher. «Zähl die Männer an Bord», befahl ich Berg.

Wir zügelten die Pferde am Nordufer der Zufahrt, wo sich auf dem Sand schwarzer Blasentang, Muscheln und ausgebleichte Holzstücke häuften. «Wer sind sie?», fragte Rorik. Er war noch ein Junge, mein neuer Diener.

«Es sind wahrscheinlich Norweger», sagte ich, «wie du.» Ich hatte in einer wirren Schlacht, mit der die Heiden aus Mercien vertrieben worden waren, Roriks Vater getötet und Rorik verletzt. Es hatte mir Gewissensbisse bereitet, ein Kind verletzt zu haben. Er war erst neun Jahre alt gewesen, als ich ihm einen Hieb mit meinem Schwert Schlangenhauch versetzt hatte, und mein Schuldgefühl hatte mich dazu gebracht, den Jungen wie einen Sohn anzunehmen, ebenso wie Ragnar der Ältere mich vor so langer Zeit aufgenommen hatte. Roriks linker Arm war verheilt, auch wenn er niemals so stark werden würde wie sein rechter Arm, aber er konnte einen Schild halten und wirkte glücklich. Ich mochte ihn.

«Es sind Norweger!», wiederholte er vergnügt.

«Das nehme ich an», sagte ich. Ich war nicht sicher, aber die Schiffe wirkten eher norwegisch als dänisch. Die Tiergestalten auf dem Bug waren prächtiger und die kurzen Masten stärker nach achtern geneigt als bei den meisten dänischen Schiffen. «Reit nicht zu weit hinein!», rief ich Berg zu, der sein Pferd bis zu den Fesseln in die wirbelnden Untiefen getrieben hatte.

Die Flut schoss durch die Fahrrinne, die Wellen wurden vom Wind gepeitscht, aber ich schaute zum anderen Ufer, das nur fünfzig oder sechzig Schritt entfernt war. Dort lag ein schmaler Sandstreifen, der bald von der hereinkommenden Flut überschwemmt werden würde, und darauf folgten dunkle Felsen, die zu einer hohen Mauer hin anstiegen. Es war eine Steinmauer, die, wie so vieles in Bebbanburg, nach der Zeit meines Vaters erbaut worden war, und in der Mitte dieser Mauer befand sich das Seetor. Jahre zuvor hatte mein Onkel, der sich vor einem Angriff von mir fürchtete, das Untertor und das Obertor, die zusammen den Hauptzugang zu der Festung bildeten, verschließen lassen, und er hatte das Seetor errichtet, das nur mit einem Schiff oder über einen Strandpfad erreicht werden konnte, der unterhalb der seewärts gelegenen Festungsanlage entlangführte. Mit der Zeit hatte sich seine Angst gelegt, und weil die Versorgung Bebbanburgs durch das Seetor sowohl umständlich als auch langwierig war, hatte er die beiden südlichen Tore wieder geöffnet, doch das Seetor gab es weiterhin. Dahinter stieg ein steiler Pfad zu einem höher gelegenen Tor an, das die Holzpalisade durchbrach, welche den gesamten Felsgipfel umgab, auf dem Bebbanburg erbaut worden war.

Männer sammelten sich nun auf der Kampfplattform der hohen Palisade. Sie winkten, nicht uns, sondern den ankommenden Schiffen, und ich glaubte Jubel von dieser hochgelegenen Befestigungsanlage zu hören, aber vielleicht bildete ich es mir auch nur ein.

Den Speer jedoch bildete ich mir nicht ein. Ein Mann schleuderte ihn von der Palisade, und ich beobachtete, wie sich der Speer im Flug dunkel vor den düsteren Wolken abhob. Einen Herzschlag lang schien er in der Luft zu hängen, um dann wie ein niederstoßender Falke abwärtszurasen und nur vier oder fünf Schritt vor Bergs Pferd in das seichte Wasser zu fahren. «Hol ihn», hieß ich Rorik.

Jetzt hörte ich den Jubel von dem Wall. Der Speer mochte vor dem Ziel niedergegangen sein, aber es war dennoch ein mächtiger Wurf gewesen. Zwei weitere Speere gingen nieder, doch beide jagten spritzend und ungefährlich in die Mitte der Fahrrinne. Dann brachte mir Rorik den ersten Speer. «Halt die Klinge tief», sagte ich.

«Tief?»

«Nah an den Sand.»

Ich stieg ab, hievte das schwere Kettenhemd hoch, zog die Schnürbänder auf und zielte. «Halt sie ganz still», befahl ich Rorik, und dann, als ich sicher war, dass die Männer im Bug des ersten Schiffs zusahen, pisste ich auf die Klinge. Mein Sohn feixte, und Rorik lachte laut. «Und jetzt gib ihn mir», hieß ich den Jungen und übernahm den Eschenschaft von ihm. Ich wartete. Das erste Schiff schoss in die Fahrrinne, die brechenden Wellen zischten an seinem Rumpf entlang, während die Ruderer ihre Riemen durchzogen. Der hohe Bug, den ein Drache mit offenem Maul und stechendem Blick krönte, erhob sich über das weiß schäumende Wasser. Ich zog meinen Arm zurück, wartete ab. Es würde ein schwieriger Wurf werden, der durch den starken Wind und das Gewicht des Bärenfellumhangs, der meinen Arm nach unten zog, noch schwieriger wurde, aber ich hatte keine Zeit, das schwere Fell aufzuhaken. «Das», rief ich zu dem Schiff hinüber, «ist Odins Fluch!»

Dann schleuderte ich den Speer.

Zwanzig Schritt.

Und die von Pisse triefende Klinge traf genau dort, wohin ich gezielt hatte. Sie fuhr in das Drachenauge, und der Schaft bebte, als das Schiff von der Flut getrieben an uns vorüberglitt, zu den ruhigeren Gewässern des weiten, flachen Hafens, der vor dem Sturm geschützt wurde durch den gewaltigen Felsen, auf dem die Festung stand.

Meine Festung. Bebbanburg.

 

Bebbanburg.

Seit dem Tag, an dem sie mir geraubt worden war, hatte ich davon geträumt, Bebbanburg zurückzuerobern. Der Dieb war mein Onkel gewesen, und nun wurde die große Festung von seinem Sohn gehalten, der sich erdreistete, sich Uhtred zu nennen. Es hieß, sie könne nicht erobert werden, es sei denn durch Verrat oder Aushungern. Sie war mächtig, sie war auf einem enormen Felsen erbaut, der beinahe eine Insel war, sie konnte von der Landseite aus nur über einen einzigen schmalen Pfad erreicht werden, und sie war mein.

Einmal wäre es mir um Haaresbreite gelungen, die Festung zurückzuerobern. Ich hatte meine Männer durch das Untertor gebracht, doch das Obertor war gerade noch rechtzeitig geschlossen worden, und so herrschte in der gewaltigen Festung am stürmischen Meer immer noch mein Cousin. Sein Banner mit dem Wolfskopf wehte dort, und seine Männer jubelten auf dem Wall, als wir davonritten und die vier Schiffe durch die Fahrrinne jagten, um in dem flachen Hafen einen sicheren Ankerplatz zu finden.

«Hundertfünfzig Mann», sagte Berg zu mir und fügte hinzu, «denke ich.»

«Und ein paar Frauen und Kinder», sagte mein Sohn.

«Was bedeutet, dass sie gekommen sind, um zu bleiben», sagte ich, «wer immer sie auch sind.»

Wir umrundeten den nördlichen Rand des Hafens. Über den Strand zog der Rauch von Feuern, an denen die Pächter meines Cousins Heringe räucherten oder Salz gewannen, indem sie Meerwasser kochten. Diese Pächter kauerten nun in ihren Hütten, die landeinwärts am Hafenufer standen. Sie fürchteten sich vor uns und vor den neu eingetroffenen Schiffen, die ihre Ankersteine zwischen den kleineren Fischerbooten fallen ließen, die bei dem tückischen Wind in den sicheren Gewässern Bebbanburgs abwarteten. Ein Hund bellte in einer der mit Erdschollen gedeckten Hütten und wurde augenblicklich zum Schweigen gebracht. Ich trieb mein Pferd zwischen zwei der Behausungen hindurch und den Hang dahinter hinauf. Ziegen flohen vor uns, und die Ziegenhirtin, ein kleines Mädchen von vielleicht fünf oder sechs Jahren, wimmerte und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Auf dem niedrigen Hügelrücken ließ ich mein Pferd umdrehen und sah die Mannschaften der vier Schiffe mit schweren Bündeln auf der Schulter zum Strand waten. «Wir könnten sie niedermachen, wenn sie an den Strand kommen», schlug mein Sohn vor.

«Das können wir jetzt nicht», sagte ich und deutete zum Untertor, das die schmale Landbrücke versperrte, die zu der Festung führte. Dort tauchten Reiter unter dem schädelgeschmückten Torbogen auf und galoppierten zum Hafen.

Berg lachte in sich hinein und deutete auf das vorderste Schiff. «Euer Speer steckt immer noch, Herr!»

«Das war ein Glückstreffer», sagte mein Sohn.

«Es war kein Glück», sagte Berg vorwurfsvoll, «Odin hat die Waffe gelenkt.» Er war ein gottesfürchtiger junger Mann.

Die Reiter führten die neu eingetroffenen Seekrieger in Richtung der Dorfhütten statt zu dem großen Bollwerk auf seinem hohen Felsen. Die Schiffsmannschaften warfen ihre Bündel auf den Strand und schleppten garbenweise zusammengeschnürte Speere, Stöße von Schilden und Unmengen von Äxten und Schwertern nach. Frauen brachten kleine Kinder an den Strand. Der Wind trug Gesprächsfetzen und Gelächter zu uns herüber. Die Neuankömmlinge waren offenkundig gekommen, um zu bleiben, und wie um zu zeigen, dass das Land nun ihnen gehörte, pflanzte ein Mann mit knirschendem Geräusch eine Flagge in den Kies der Gezeitenzone. Es war eine graue Flagge, die im kalten Wind hin und her schlug. «Kannst du sehen, was drauf ist?», fragte ich.

«Ein Drachenkopf», antwortete Berg.

«Wer führt einen Drachenkopf?», fragte mein Sohn.

Ich zuckte mit den Schultern. «Niemand, den ich kenne.»

«Ich würde gern einmal einen Drachen sehen», sagte Berg sehnsüchtig.

«Es könnte das Letzte sein, was du siehst», bemerkte mein Sohn.

Ich weiß nicht, ob es Drachen gibt. Ich habe nie einen gesehen. Mein Vater hat mir erzählt, sie würden in den hohen Bergen leben und sich von Rindern und Schafen ernähren, aber Beocca, einer der Priester meines Vaters und der Lehrmeister meiner Kindertage, war sicher, dass alle Drachen in der Erde schlafen. «Sie sind die Kreaturen Satans», hatte er mir erklärt, «und sie verstecken sich tief unter der Erde und warten auf den Jüngsten Tag. Und wenn das himmlische Horn erklingt, um die Wiederkehr Christi zu verkünden, werden sie wie Dämonen aus der Erde brechen! Sie werden kämpfen! Ihre Flügel werden die Sonne verdunkeln, ihr Atem wird die Erde versengen, und ihr Feuer wird die Gerechten verzehren!»

«Also sterben wir alle?»

«Nein, nein, nein! Wir kämpfen gegen sie!»

«Wie kämpft man gegen einen Drachen?», hatte ich ihn gefragt.

«Mit Gebeten, Junge, mit Gebeten.»

«Also sterben wir alle», hatte ich gesagt, und er hatte mir einen Schlag auf den Hinterkopf gegeben.

Nun hatten vier Schiffe die Drachenbrut nach Bebbanburg gebracht. Mein Cousin wusste, dass er angegriffen wurde. Jahrelang hatte er in Sicherheit gelebt, geschützt von seiner uneinnehmbaren Festung und den Königen Northumbriens. Diese Könige waren meine Feinde gewesen. Um Bebbanburg anzugreifen, hätte ich mich durch Northumbrien kämpfen und die Streitmächte der Dänen und Norweger schlagen müssen, die sich gesammelt hätten, um ihr Land zu verteidigen. Doch nun war der König in Eoferwic mein Schwiegersohn, meine Tochter war seine Königin, die Heiden von Northumbrien waren meine Freunde, und ich konnte unbehelligt von der mercischen Grenze bis zu den Wällen von Bebbanburg reiten. Und einen ganzen Monat lang hatte ich diese neue Freiheit dazu genutzt, um zu den Weiden meines Cousins zu reiten, seine Gehöfte zu plündern, seine Schwurmänner zu töten, sein Vieh zu stehlen und in Sichtweite seiner Wälle herumzustolzieren. Mein Cousin war nicht herausgekommen, um mir entgegenzutreten, er hatte es vorgezogen, sicher hinter seinen respekteinflößenden Festungsanlagen zu bleiben, nun aber verstärkte er seine Kampfkräfte. Die Männer, die ihre Schilde und Waffen an Land trugen, mussten angeheuert worden sein, um Bebbanburg zu verteidigen. Ich hatte Gerüchte gehört, nach denen mein Cousin bereit war, Gold für solche Männer zu bezahlen, und wir hatten nach ihrer Ankunft Ausschau gehalten. Nun waren sie da.

«Wir sind in der Überzahl», sagte mein Sohn. Ich hatte beinahe zweihundert Mann, die in den Hügeln Richtung Westen lagerten, und ja, wenn es zum Kampf käme, wären wir gegenüber den Neuankömmlingen in der Überzahl, aber nicht, wenn mein Cousin ihre Reihen mit seinen Garnisonstruppen verstärkte. Er befahl nun über vierhundert Speere, und das Leben war in der Tat schwieriger geworden.

«Wir gehen hinunter, um sie zu treffen», sagte ich.

«Hinunter?», fragte Berg überrascht. Wir waren an diesem Tag nur sechzig Mann, weniger als die Hälfte der gegnerischen Krieger.

«Wir sollten wissen, wer sie sind», sagte ich, «bevor wir sie töten. Das gebietet die Höflichkeit.» Ich deutete auf einen vom Wind gekrümmten Baum. «Rorik!», rief ich meinem Diener zu. «Schneid einen Zweig von dieser Hainbuche und halte ihn wie ein Banner hoch.» Ich erhob meine Stimme, damit alle meine Männer mich hören konnten. «Dreht eure Schilde mit der Oberkante nach unten!»

Ich wartete, bis Rorik einen zerfledderten Zweig als Symbol der Waffenruhe schwenkte und meine Männer umständlich ihre Schilde auf den Kopf gestellt hatten, damit das Symbol des Wolfskopfs umgedreht war, und dann ließ ich Tintreg, meinen dunklen Hengst, den Hang hinabschreiten. Wir bewegten uns nicht schnell. Ich wollte die Neuankömmlinge sicher wissen lassen, dass wir in Frieden kamen.

Sie ritten uns entgegen. Ein Dutzend Mann, die von etwa zwanzig Reitern meines Cousins begleitet wurden, trotteten auf das Stück Grasland, auf dem die Ziegen der Dörfler Disteln abweideten. Die Reiter wurden angeführt von Waldhere, der Bebbanburgs Haustruppen befehligte und den ich vor kaum zwei Wochen kennengelernt hatte. Er war mit einer Handvoll Männer, einem Zweig als Zeichen der Waffenruhe und der dreisten Forderung zu meinem Lager in den westlichen Hügel gekommen, dass wir das Land meines Cousins verlassen sollten, bevor wir noch getötet würden. Ich hatte das Angebot verächtlich ausgeschlagen und Waldhere geschmäht, aber ich wusste, dass er ein gefährlicher und erfahrener Krieger war, kampferprobt durch viele Auseinandersetzungen mit räuberischen Schotten. Wie ich trug er einen Bärenfellumhang und zur Linken ein wuchtiges Schwert. Sein flächiges Gesicht wurde von einem Eisenhelm umrahmt, den der Fang eines Adlers krönte. Sein kurzer Bart war grau, der Blick aus seinen grauen Augen grimmig, und sein Mund ein breiter Schlitz, der aussah, als hätte er niemals gelächelt. Das Bild auf seinem Schild war das gleiche wie meines, der graue Wolfskopf. Das war das Zeichen von Bebbanburg, und ich hatte es nie aufgegeben. Waldhere hob eine behandschuhte Hand, um die Männer, die ihm folgten, anzuhalten, dann trieb er sein Pferd ein paar Schritt näher zu mir. «Seid Ihr gekommen, um Euch geschlagen zu geben?», wollte er wissen.

«Ich habe Euren Namen vergessen», sagte ich.

«Bei den meisten Leuten kommt die Scheiße aus dem Arsch», gab er zurück, «bei Euch kommt sie aus dem Mund.»

«Eure Mutter hat Euch durch den Arsch geboren», sagte ich, «und Ihr stinkt immer noch nach ihrer Scheiße.»

Die Beleidigungen waren Gepflogenheit. Man kann keinen Gegner treffen, ohne ihn herabzusetzen. Wir beleidigen uns, dann kämpfen wir, obwohl ich bezweifelte, dass wir an diesem Tag das Schwert ziehen würden. Dennoch mussten wir es vorgeben. «Zwei Minuten», sagte Waldhere, «dann greifen wir euch an.»

«Aber ich komme in Frieden.» Ich deutete auf den Zweig.

«Ich zähle bis zweihundert», sagte Waldhere.

«Aber Ihr habt doch bloß zehn Finger», warf mein Sohn ein und brachte damit meine Männer zum Lachen.

«Zweihundert», knurrte Waldhere, «und dann ramme ich Euch Euren Friedenszweig in den Arsch.»

«Und wer seid Ihr?» Ich richtete die Frage an einen Mann, der den Hang zu uns heraufgekommen war, um sich Waldhere anzuschließen. Ich hielt ihn für den Anführer der Neuankömmlinge. Er war groß und bleich, mit einem Schopf blonder Haare, die von einer hohen Stirn nach hinten gestrichen waren und ihm bis über den Rücken hingen. Er war prächtig gekleidet, mit einer goldenen Halskette und goldenen Armringen. Ich schätzte ihn auf etwa dreißig Jahre. Er war breitschultrig, hatte ein längliches Gesicht und mit Tinte eingestochene Drachenköpfe auf den Wangen. «Sagt mir Euren Namen», verlangte ich.

«Antwortet nicht!», knurrte Waldhere. Er sprach Englisch, obwohl ich meine Frage auf Dänisch gestellt hatte.

«Berg», sagte ich, sah aber weiter den Neuankömmling an, «wenn mir dieses Drecksmaul noch einmal ins Wort fällt, gehe ich davon aus, dass der Bastard die Waffenruhe gebrochen hat, und du kannst ihn töten.»

«Ja, Herr.»

Waldhere starrte finster vor sich hin, sagte jedoch nichts. Er war in der Unterzahl, doch jeder Augenblick, den wir auf der Weide blieben, brachte mehr von den Neuankömmlingen, und sie kamen mit Schilden und Waffen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie in der Überzahl waren.

«Also, wer seid Ihr?», fragte ich erneut.

«Ich heiße Einar Egilson», antwortete er stolz, «man nennt mich Einar den Weißen.»

«Seid Ihr Norweger?»

«Das bin ich.»

«Und ich bin Uhtred von Bebbanburg», erklärte ich ihm, «und man hat mir viele Namen gegeben. Der, auf den ich am stolzesten bin, ist Uhtredærwe. Uhtred der Gottlose.»

«Ich habe von Euch gehört», sagte er.

«Ihr habt von mir gehört», sagte ich, «aber ich habe nicht von Euch gehört! Seid Ihr deshalb gekommen? Glaubt Ihr, Euer Name wird berühmt werden, wenn Ihr mich tötet?»

«Das wird er», sagte er.

«Und wenn ich Euch töte, Einar Egilson, wird das zu meinem Ruhm beitragen?» Ich schüttelte den Kopf, wie um meine eigene Frage zu beantworten. «Wer wird Euch betrauern? Wer wird sich an Euch erinnern?» Ich knurrte in Waldheres Richtung. «Diese Männer haben Euch Gold bezahlt, damit Ihr mich tötet. Wisst Ihr, warum?»

«Erklärt es mir», sagte Einar.

«Weil sie schon versuchen, mich zu töten, seit ich ein Kind war, und sie gescheitert sind. Immer wieder gescheitert. Wisst Ihr, warum sie gescheitert sind?»

«Erklärt es mir», sagte er wieder.

«Weil sie verflucht sind», sagte ich. «Weil sie den angenagelten Gott der Christen anbeten und er sie nicht schützt. Sie verachten unsere Götter.» Ich konnte einen aus weißem Knochen geschnitzten Hammer um Einars Hals hängen sehen. «Aber vor Jahren schon, Einar Egilson, habe ich sie mit Odins Fluch belegt, habe ich den Zorn Thors auf sie herabgerufen. Und Ihr nehmt ihr dreckiges Gold?»

«Gold ist Gold», sagte Einar.

«Und ich werde Euer Schiff mit dem gleichen Fluch belegen.»

Er nickte, berührte den weißen Hammer, doch er sagte nichts.

«Entweder ich töte Euch», erklärte ich Einar, «oder Ihr schließt Euch uns an. Ich werde Euch kein Gold anbieten, damit Ihr Euch uns anschließt, ich biete Euch etwas Besseres. Euer Leben. Kämpft für diesen Mann», wieder knurrte ich in Waldheres Richtung, «und Ihr werdet sterben. Kämpft für mich, und Ihr werdet leben.»

Einar sagte nichts, sondern starrte mich nur mit ernster Miene an. Ich wusste nicht genau, ob Waldhere die Unterhaltung verstand, aber er musste sie gar nicht verstehen. Er wusste auch so, dass unsere Worte gegen seinen Herrn gerichtet waren. «Genug!», knurrte er.

«Ganz Northumbrien hasst diese Männer», sprach ich weiter zu Einar, ohne Waldhere zu beachten, «und Ihr wollt mit ihnen sterben? Und wenn Ihr Euch dazu entscheidet, mit Ihnen zu sterben, werden wir das Gold nehmen, und das Gold wird nicht Euer Gold sein. Es wird mein Gold sein.» Ich richtete den Blick auf Waldhere. «Seid Ihr mit dem Zählen fertig?»

Er antwortete nicht. Er hatte darauf gehofft, dass sich ihm mehr Männer anschließen würden, genügend Männer, um uns zu überwältigen, doch wir waren nun etwa gleich stark, und er hatte nicht die Absicht, einen Kampf anzufangen, den er nicht sicher gewinnen würde. «Sagt Eure Gebete auf», erklärte ich ihm, «denn Euer Tod ist nah.» Ich biss mir auf den Zeigefinger und schnippte dann damit in seine Richtung. Er bekreuzigte sich, während Einar nur beunruhigt zusah. «Wenn Ihr den Mut habt», erklärte ich Waldhere, «erwarte ich Euch morgen bei Ætgefrin.» Erneut schnippte ich in seine Richtung, das Zeichen dafür, dass ein Fluch herabbeschworen wird, und dann ritten wir Richtung Westen.

Wenn ein Mann nicht kämpfen kann, sollte er Flüche herabbeschwören. Die Götter mögen das Gefühl, gebraucht zu werden.

 

Wir ritten in der Abenddämmerung nach Westen. Der Himmel war mit dunklen Wolken verhangen und die Erde getränkt vom tagelangen Regen. Wir beeilten uns nicht. Waldhere würde uns nicht folgen, und ich bezweifelte, dass mein Cousin die Herausforderung zum Kampf bei Ætgefrin annehmen würde. Er würde kämpfen, dachte ich, nun, wo er Einars hartgesottene Krieger seinen eigenen zur Seite stellen konnte, aber er würde auf einem Gelände seiner eigenen Wahl kämpfen, nicht auf einem, das ich bestimmt hatte.

Wir folgten einem Tal, das langsam zu den höheren Hügeln hin anstieg. Es war ein Land für Schafe, reiches Land, doch die Weiden waren verlassen. Die wenigen Gehöfte, an denen wir vorüberkamen, waren dunkel, und kein Rauch stieg aus den Abzugslöchern im Dach. Wir hatten dieses Land heimgesucht. Ich hatte ein kleines Heer nach Norden gebracht, und einen Monat lang hatten wir die Pächter meines Cousins überfallen. Wir hatten ihre Herden vertrieben, ihre Rinder gestohlen, ihre Lagerhäuser niedergebrannt und die Fischerboote in den kleinen Häfen nördlich und südlich der Festung abgefackelt. Wir hatten kein Volk getötet außer den Leuten, die das Zeichen meines Cousins trugen, und den wenigen, die uns Widerstand geleistet hatten, und wir hatten keine Sklaven genommen. Wir waren gnädig gewesen, weil diese Leute eines Tages meine Leute sein würden, also hatten wir sie stattdessen nach Bebbanburg geschickt, wo mein Cousin sie ernähren musste, obwohl wir ihm die Lebensmittel raubten, die sein Land erzeugte.

«Einar der Weiße?», fragte mein Sohn.

«Nie von ihm gehört», sagte ich herablassend.

«Ich habe von Einar gehört», warf Berg ein. «Er ist ein Norweger, der Grimdahl folgte, als dieser die Flüsse des weißen Landes hinaufgerudert ist.» Das weiße Land war der unübersehbare Landstrich, der irgendwo zwischen der Heimat von Dänen und Norwegern lag, ein Land der langen Winter, der weißen Bäume, weißen Ebenen und dunklen Himmel. Es hieß, dort würden Riesen leben und ein Volk, das Fell am Leib habe statt Kleidung und das Klauen besitze, die einen Mann entzweireißen konnten.

«Das weiße Land», sagte mein Sohn, «wird er deshalb der Weiße genannt?»

«So wird er genannt, weil er seine Gegner ausbluten lässt, bis sie weiß sind», sagte Berg.

Darüber grunzte ich höhnisch, berührte jedoch trotzdem das Hammeramulett, das um meinen Hals hing. «Ist er gut?», fragte mein Sohn.

«Er ist Norweger», sagte Berg stolz, «also versteht es sich von selbst, dass er ein großer Kämpfer ist!» Er hielt inne. «Aber ich habe auch von einem anderen Namen für ihn gehört.»

«Einem anderen Namen?»

«Einar der Glücklose.»

«Warum der Glücklose?», fragte ich.

Berg zuckte mit den Schultern. «Seine Schiffe gehen unter, seine Frauen sterben.» Er berührte den Hammer, der um seinen Hals hing, damit ihm das Unglück, das er beschrieb, nichts anhaben konnte. «Aber er ist auch dafür bekannt, Schlachten zu gewinnen!»

Glücklos oder nicht, dachte ich, Einars hundertfünfzig hartgesottene norwegische Krieger waren eine ehrfurchtgebietende Ergänzung der Kampfkraft Bebbanburgs, so ehrfurchtgebietend, dass es mein Cousin offenbar ablehnte, sie in seine Festung einzulassen, weil er fürchtete, sie würden sich gegen ihn wenden und die neuen Besitzer von Bebbanburg werden. Stattdessen brachte er sie im Dorf unter, und ich war sicher, dass er ihnen bald Pferde geben und sie mit dem Auftrag losschicken würde, meine Streitkräfte zu behelligen. Einars Männer waren nicht hier, um Bebbanburgs Wälle zu verteidigen, sondern um meine Männer weit von diesen Befestigungsanlagen wegzutreiben. «Sie werden bald kommen», sagte ich.

«Sie werden kommen?»

«Waldhere und Einar», sagte ich. «Morgen wohl noch nicht, aber sie werden bald kommen.» Mein Cousin würde diese Sache schnell zu Ende bringen wollen. Er wollte meinen Tod. Das Gold um Einars Hals und um seine Handgelenke war ein Hinweis auf das Geld, das mein Cousin bezahlt hatte, um Krieger heranzuholen, die mich töten sollten, und je länger sie blieben, umso mehr Gold würden sie ihn kosten. Wenn nicht morgen, dachte ich, dann kommen sie innerhalb der nächsten Woche.

«Dort, Herr!», rief Berg und deutete nordwärts.

Ein Reiter war auf dem Hügel im Norden.

Der Mann rührte sich nicht. Er trug einen Speer, die Klinge gesenkt. Er beobachtete uns einen Moment lang, dann drehte er sich um und verschwand hinter dem Hügelrücken. «Das ist heute der Dritte», sagte mein Sohn.

«Gestern zwei, Herr», sagte Rorik.

«Wir sollten ein oder zwei von ihnen töten», sagte Berg rachsüchtig.

«Warum?», fragte ich. «Ich will meinen Cousin wissen lassen, wo wir sind. Ich will, dass er zu unseren Speeren kommt.» Die Reiter waren Kundschafter, und nach meiner Vermutung hatte sie mein Cousin geschickt, um uns zu beobachten. Sie verstanden ihr Handwerk. Seit Tagen hatten sie nun schon eine lose Späherkette um uns gebildet, die während der meisten Zeit unsichtbar blieb, doch ich wusste, dass sie immer da war. Als die Sonne hinter den Hügeln im Westen unterging, entdeckte ich im letzten Licht einen weiteren Reiter. Die erlöschende Sonne spiegelte sich blutrot in seiner Speerspitze, dann verschwand er in den Schatten, in Richtung Bebbanburg.

«Sechsundzwanzig Stück Vieh heute», berichtete mir Finan, «und vier Pferde.» Während ich meinen Cousin herausgefordert hatte, indem ich Männer bis zu seiner Festung führte, hatte Finan südlich von Ætgefrin nach Beute gejagt. Er hatte die eingefangenen Rinder auf eine Viehtrift getrieben, über die sie schließlich nach Dunholm gelangen würden. «Erlig und vier Mann haben sie übernommen», erklärte er mir, «und weiter südlich waren Späher, aber nur wenige.»

«Wir haben im Norden und im Osten welche gesehen», sagte ich, «und sie sind gut», fügte ich widerwillig hinzu.

«Und jetzt hat er hundertfünfzig neue Kämpfer?», fragte Finan zweifelnd.

Ich nickte. «Norweger, allesamt angeheuerte Speermänner unter einem Mann namens Einar der Weiße.»

«Also noch einer zum Töten», sagte Finan. Er war Ire und mein ältester Freund, mein stellvertretender Befehlshaber und mein Gefährte in ungezählten Schildwällen. Er hatte inzwischen graues Haar und ein tief zerfurchtes Gesicht, aber das traf wohl auch auf mich zu. Ich wurde alt, und ich wollte friedlich in der Festung sterben, die von Rechts wegen mein war.

Ich hatte geschätzt, dass es mich ein Jahr kosten würde, Bebbanburg zu erobern. Zunächst, über Sommer, Herbst und Winter, würde ich die Lebensmittelversorgung der Festung zunichtemachen, indem ich die Rinder und Schafe auf den weiten Ländereien und grünen Hügeln tötete oder stahl. Ich würde die Kornkammern zertrümmern, die Heuschober verbrennen und Schiffe aussenden, um die Fischerboote meines Cousins zu zerstören. Ich würde seine verängstigten Pächter dazu bringen, hinter seinen hohen Wällen Zuflucht zu suchen, sodass er viele Mäuler zu stopfen und wenig Vorräte haben würde. Wenn der Frühling käme, würden sie hungern, und hungernde Männer sind schwach, und wenn sie dann anfingen, Ratten zu essen, würden wir angreifen.

Jedenfalls hoffte ich das.

Wir machen Pläne, doch über unser Schicksal entscheiden die Götter und die drei Nornen am Fuße des Weltenbaumes Yggdrasil. Mein Plan bestand darin, meinen Cousin und seine Männer zu schwächen, auszuhungern und schließlich zu töten, aber wyrd bið ful āræd.

Ich hätte es wissen müssen.

 

Das Schicksal ist unausweichlich. Ich hatte gehofft, meinen Cousin in das Tal östlich von Ætgefrin zu locken, wo wir zwei Ströme mit ihrem Blut rot färben konnten. Bei Ætgefrin gab es wenig Schutz. Es war eine Festung auf einer Hügelkuppe, erbaut von dem alten Volk, das einst in Britannien lebte, noch bevor die Römer kamen. Die Wälle des alten Erdwerks waren seit langem eingesunken, doch die Überreste des Grabens liefen immer noch als flache Rinne um die hochgelegene Kuppe. Es gab dort keine Siedlung, keine Gebäude, keine Bäume, nur den hohen Hügel im unaufhörlichen Wind. Es war ein unbequemer Ort für ein Lager. Es gab kein Feuerholz und Wasser erst in einer halben Meile Entfernung, doch man hatte einen weiten Ausblick. Niemand konnte sich ungesehen nähern, und wenn mein Cousin es wagte, Männer zu schicken, dann würden wir sie herankommen sehen, und wir würden die höher gelegene Stellung halten.

Er kam nicht. Stattdessen sahen wir, drei Tage nachdem ich Waldhere entgegengetreten war, einen einzelnen Reiter von Süden kommen. Es war ein kleiner Mann, der ein kleines Pferd ritt, und er trug ein schwarzes Gewand, das der immer noch heftig und kalt aus der Richtung des Meeres wehende Wind flattern ließ. Der Mann blickte zu uns empor, dann trieb er sein zwergenhaftes Pferd auf den steilen Hang zu. «Es ist ein Priester», sagte Finan säuerlich, «was heißt, dass sie reden wollen, statt zu kämpfen.»

«Denkst du, mein Cousin hat ihn geschickt?»

«Wer sonst?»

«Warum kommt er dann von Süden?»

«Er ist Priester. Er würde seinen eigenen Hintern nicht finden, selbst wenn du für ihn hineintrittst.»

Ich suchte nach einem Späher, der uns beobachtete, doch ich sah nicht einen einzigen. Wir hatten nun schon seit zwei Tagen keinen mehr gesehen. Diese Abwesenheit von Spähern überzeugte mich davon, dass mein Cousin Unheil ausbrütete, und so waren wir früher an diesem Tag nach Bebbanburg geritten, wo wir beim Anblick der Festung das Unheil mit eigenen Augen gesehen hatten. Einars Männer bauten eine neue Palisade über die sandige Landenge, die zu dem Felsmassiv von Bebbanburg führte. Das, so schien es, war die Verteidigung der Norweger, ein neuer Außenwall. Im Inneren der Festung traute mein Cousin ihnen nicht, und so errichteten sie ein neues Rückzugsgelände, das wir durchqueren mussten, bevor wir zuerst das Untertor und dann das Obertor angreifen konnten. «Der Bastard versteckt sich», hatte Finan geknurrt, «er wird nicht im offenen Land gegen uns kämpfen. Er will, dass wir an seinen Wällen sterben.»

«Davon hat er jetzt drei», sagte ich. Wir würden erst die neue Palisade überwinden müssen, dann das beeindruckende Bollwerk des Untertors, und dann wäre da immer noch die hohe Mauer, die vom Obertor durchbrochen wurde.

Doch der neue Wall war nicht die schlimmste Neuigkeit. Es waren die beiden neuen Schiffe im Hafen von Bebbanburg, die meinen Mut sinken ließen. Eines war ein Kampfschiff, kleiner als die vier, deren Ankunft wir beobachtet hatten, aber genau wie sie führte es Einars Banner mit dem Drachenkopf, und neben ihm lag ein Handelsfahrer mit breitem Rumpf. Männer trugen Fässer an Land, wateten durch das flache Wasser, um die Vorräte auf dem Strand vor dem Untertor abzuladen.

«Einar bringt ihm Verpflegung», sagte ich finster. Finan sagte nichts. Er wusste, was ich fühlte: Verzweiflung. Mein Cousin hatte jetzt mehr Männer und eine Flotte, die seine Garnison verpflegte. «Jetzt kann ich sie nicht mehr aushungern», sagte ich, «nicht, solange diese Bastarde dort sind.»

Und nun, am späten Nachmittag unter einem düsteren Himmel, kam ein Priester nach Ætgefrin, und ich ging davon aus, dass mein Cousin ihn mit einer hämischen Botschaft zu mir geschickt hatte. Er war nun nahe genug, dass ich sein langes, schwarzes Haar erkennen konnte, das ihm fettig um ein blasses, verängstigtes Gesicht hing. Er starrte zu uns hinauf und winkte, wollte vermutlich, dass wir sein Winken erwiderten, damit er sicher sein konnte, dass er willkommen war, doch keiner meiner Männer rührte sich. Wir sahen einfach zu, wie sein erschöpfter Wallach den Anstieg hinter sich brachte und den Priester über den Erdwall trug. Nachdem er abgestiegen war, schwankte der Priester ein wenig. Er sah sich um und erschauerte bei dem Anblick, der sich ihm bot. Meine Männer. Männer in Kettenhemden und Leder, harte Männer, Männer mit Schwertern. Niemand sagte etwas zu ihm, wir warteten einfach alle darauf, dass er seine Ankunft erklärte. Schließlich fiel sein Blick auf mich, er sah das Gold um meinen Hals und an meinen Unterarmen, und er kam zu mir und fiel auf die Knie. «Seid Ihr Herr Uhtred?»

«Ich bin Herr Uhtred.»

«Mein Name ist Eadig. Pater Eadig. Ich habe Euch gesucht, Herr.»

«Ich habe Waldhere doch gesagt, wo er mich finden kann», sagte ich schroff.

Eadig sah verwirrt zu mir auf. «Waldhere, Herr?»

«Seid Ihr von Bebbanburg?»

«Bebbanburg?» Er schüttelte den Kopf. «Nein, Herr, wir kommen von Eoferwic.»

«Eoferwic!» Ich konnte meine Überraschung nicht verbergen. Und ‹wir›? «Wie viele seid ihr?» Ich schaute Richtung Süden, doch ich sah keine weiteren Reiter.

«Wir sind zu fünft in Eoferwic aufgebrochen, Herr, aber wir wurden angegriffen.»

«Und Ihr allein habt überlebt?», fragte Finan mit anklagendem Unterton.

«Die anderen haben die Angreifer abgelenkt, Herr.» Pater Eadig richtete sich eher an mich als an Finan. «Sie wollten, dass ich Euch erreiche. Sie wussten, dass es wichtig ist.»

«Wer schickt Euch?», wollte ich wissen.

«König Sigtryggr, Herr.»

Ich spürte ein kaltes Pochen in der Brust. Einen Moment lang wagte ich nicht zu sprechen, aus Furcht vor dem, was dieser junge Priester sagen würde. «Sigtryggr», sagte ich schließlich, und ich fragte mich, welche Notlage meinen Schwiegersohn dazu gebracht hatte, einen Boten zu mir zu schicken. Ich fürchtete um meine Tochter. «Ist Stiorra krank?», fragte ich drängend. «Die Kinder?»

«Nein, Herr, die Königin und ihre Kinder sind wohlauf.»

«Dann …»

«Der König erbittet Eure Rückkehr, Herr», stieß Eadig aus und zog eine Pergamentrolle unter seiner Robe hervor. Er streckte sie mir entgegen.

Ich nahm das zerdrückte Pergament, entrollte es jedoch nicht. «Warum?»

«Die Sachsen haben uns angegriffen, Herr. Northumbrien befindet sich im Krieg.» Noch immer lag er auf den Knien und sah zu mir empor. «Der König will Eure Kampfeinheiten, Herr. Und er will Euch.»

Ich fluchte. Also musste Bebbanburg warten. Wir würden nach Süden reiten.

Zwei

Wir ritten am nächsten Morgen los. Ich führte hundertvierundneunzig Mann mit mir und etwa zwanzig Jungen als Diener, und wir ritten südwärts durch Regen und Wind und unter Wolken, die so dunkel waren wie Pater Eadigs Gewand. «Warum hat mein Schwiegersohn einen Priester geschickt?», fragte ich ihn. Sigtryggr betete wie ich selbst die alten Götter an, die wahren Götter aus Asgard.

«Wir verrichten seine Schreibarbeiten, Herr.»

«Wir?»

«Wir Priester, Herr. Sechs von uns dienen König Sigtryggr, indem wir seine Gesetze und Urkunden schreiben. Die meisten …» Er zögerte. «Der Grund ist, dass wir lesen und schreiben können.»

«Und die meisten Heiden können es nicht?», fragte ich.

«Ja, Herr.» Er wurde rot. Er wusste, dass diejenigen von uns, die den alten Göttern huldigten, es nicht mochten, als Heiden bezeichnet zu werden. Aus diesem Grund hatte er gezögert.

«Du kannst mich ruhig einen Heiden nennen», sagte ich. «Ich bin stolz darauf.»

«Ja, Herr», sagte er mit Unbehagen.

«Und dieser Heide hier kann lesen und schreiben», erklärte ich ihm. Ich besaß diese Fähigkeiten, weil ich als Christ erzogen worden war, und die Christen schätzen das Schreiben, was wohl eine ganz nützliche Sache ist. König Alfred hatte überall in Wessex Schulen errichtet, in denen Jungen von Mönchen belästigt wurden, wenn sie nicht gerade gezwungen wurden, das Alphabet zu lernen. Sigtryggr, der neugierig darauf war, wie die Sachsen im südlichen Britannien regierten, hatte mich einmal gefragt, ob er das Gleiche tun sollte, doch ich hatte ihm geraten, Jungen darin zu unterrichten, wie man ein Schwert gebraucht, einen Schild hält, einen Pflug führt, ein Pferd reitet und Schlachtvieh zerlegt. «Und dafür brauchst du keine Schulen», hatte ich ihm erklärt.

«Und er hat mich geschickt», fuhr Pater Eadig fort, «weil er wusste, dass Ihr Fragen haben werdet.»

«Die Ihr beantworten könnt?»

«So gut ich es vermag, Herr.»

Sigtryggrs Nachricht auf dem Pergament besagte lediglich, dass westsächsische Kräfte im südlichen Northumbrien eingefallen waren und dass er meine Einheiten so bald als möglich in Eoferwic brauchte. Die Nachricht war mit einem Krakel unterzeichnet, der die Unterschrift meines Schwiegersohns sein mochte, aber sie trug auch sein Siegel mit der Axt. Die Christen behaupten, einer der großen Vorteile des Lesens und Schreibens sei die sichere Gewissheit, dass eine Nachricht echt ist, dennoch fälschen sie ohne Unterlass Dokumente. In einem Kloster in Wiltunscir verfügt man über die Kunstfertigkeit, Urkunden zu erstellen, die aussehen, als wären sie zweihundert oder dreihundert Jahre alt. Sie kratzen alte Pergamente ab, lassen aber gerade genügend von der alten Beschriftung übrig, dass die neuen Worte, mit schwacher Tinte über die alten geschrieben, schwer zu entziffern sind, und sie schnitzen Nachbildungen alter Siegel, und die gefälschten Urkunden machen allesamt geltend, dass irgendein König aus alter Zeit der Kirche wertvolle Ländereien oder die Einkünfte aus Wegezöllen zugestanden habe. Dann bringen die Äbte oder Bischöfe, von denen die Mönche für die gefälschten Dokumente bezahlt worden sind, sie zum Hof des Königs, um irgendeine Familie von ihrem Gehöft vertreiben zu lassen, damit die Christen noch reicher werden können. Also sind Lesen und Schreiben wohl in der Tat ganz nützliche Fähigkeiten.

«Westsächsische Kräfte», sagte ich zu Pater Eadig, «keine Mercier?»

«Westsachsen, Herr. Sie haben eine Armee bei Hornecastre, Herr.»

«Hornecastre? Wo ist das?»

«Östlich von Lindcolne, Herr, am Fluss Beina.»

«Und das ist Sigtryggrs Land?»

«Oh ja, Herr. Die Grenze ist nicht weit entfernt, aber es ist northumbrisches Land.»

Ich hatte nie von Hornecastre gehört, was wohl hieß, dass es keine bedeutende Stadt war. Die bedeutenden Städte waren jene, die an den Römerstraßen erbaut worden waren oder die man zu Wehrstädten ausgebaut hatte, aber Hornecastre? Die einzige Erklärung, die ich mir vorstellen konnte, war, dass die Stadt einen günstigen Ort bot, um Truppen für einen Angriff auf Lindcolne zu sammeln. Als ich diesen Gedanken laut aussprach, nickte Pater Eadig eifrig. «Ja, Herr. Und wenn der König nicht in Eoferwic ist, dann wünscht er, dass Ihr Euch ihm in Lindcolne anschließt.»

Das ergab Sinn. Wenn die Westsachsen Eoferwic einnehmen wollten, Sigtryggrs Hauptstadt, dann würden sie Richtung Norden über die Römerstraße vorrücken, und sie würden die hohen Mauern von Lindcolne stürmen müssen, bevor sie sich Eoferwic nähern konnten. Doch was keinen Sinn ergab, war, dass sie überhaupt angriffen.

Es ergab keinen Sinn, weil ein Friedensvertrag zwischen den Sachsen und den Dänen bestand. Sigtryggr, mein Schwiegersohn und König von Eoferwic und Northumbrien, hatte den Friedensvertrag mit Æthelflæd von Mercien geschlossen, und als Preis für diesen Frieden hatte er Ländereien und Wehrstädte abgetreten. Einige Männer verachteten ihn dafür, doch Northumbrien war ein schwaches Königreich, und die sächsischen Reiche Mercien und Wessex waren stark. Sigtryggr brauchte Zeit, Männer und Geld, wenn er dem sächsischen Angriff standhalten wollte, von dem er wusste, dass er kommen würde.

Er kam, weil König Alfreds Traum allmählich wahr wurde. Ich bin alt genug, um mich an die Zeiten zu erinnern, in denen die Dänen über nahezu alles herrschten, was jetzt England ist. Sie hatten Northumbrien erobert, Ostanglien eingenommen und ganz Mercien besetzt. Dann war Guthrum der Däne in Wessex eingedrungen und hatte Alfred und eine Handvoll Männer in die Marschen von Sumorsæte getrieben, doch Alfred hatte den unwahrscheinlichen Sieg bei Ethandun errungen, und seither hatten sich die Sachsen unaufhaltsam nach Norden vorgearbeitet. Das alte Königreich Mercien war jetzt in sächsischer Hand, und Edward von Wessex, Alfreds Sohn und der Bruder Æthelflæds von Mercien, hatte Ostanglien zurückerobert. Alfreds Traum, seine Leidenschaft, hatte darin bestanden, alle Länder zu vereinen, in denen die sächsische Sprache gesprochen wurde, und von diesen Ländern stand nun nur noch Northumbrien aus. Es mochte einen Friedensvertrag zwischen Northumbrien und Mercien geben, doch wir wussten alle, dass der sächsische Angriff kommen würde.

Rorik, der norwegische Junge, dessen Vater ich getötet hatte, hörte meinem Gespräch mit Pater Eadig zu. «Herr», fragte er unruhig, «auf wessen Seite stehen wir?»

Ich lachte. Ich war als Sachse geboren, doch von Dänen aufgezogen worden, meine Tochter hatte einen Norweger geheiratet, mein bester Freund war Ire, meine Frau war Sächsin, die Mutter meiner Kinder war Dänin gewesen, meine Götter waren heidnisch, und meinen Eid hatte ich Æthelflæd geleistet, einer Christin. Auf wessen Seite stand ich?

«Alles, was du wissen musst, Junge», knurrte Finan, «ist, dass Herrn Uhtreds Seite diejenige ist, die gewinnt.»

Es regnete inzwischen in Strömen, der Pfad, dem wir folgten, verwandelte sich in zähen Morast. Es regnete so stark, dass ich meine Stimme erheben musste, um mit Eadig zu sprechen. «Ihr sagt, die Mercier sind nicht einmarschiert?»

«Nicht, soweit wir wissen, Herr.»

«Nur Westsachsen?»

«Es scheint so, Herr.»

Und das war seltsam. Bevor Sigtryggr den Thron von Eoferwic gewann, hatte ich versucht, Æthelflæd von einem Angriff auf Northumbrien zu überzeugen. Sie hatte abgelehnt, mit der Begründung, dass sie keinen Krieg beginnen würde, solange nicht die Truppen ihres Bruders an der Seite ihrer Männer kämpften. Und Edward von Wessex, ihr Bruder, hatte darauf bestanden, dass sie ablehnte. Er hatte hartnäckig behauptet, Northumbrien könne nur durch die vereinten Streitkräfte von Wessex und Mercien erobert werden, und doch war er jetzt allein losgezogen? Ich wusste, dass es am westsächsischen Hof eine Gruppe gab, die darauf pochte, dass Wessex Northumbrien ohne mercische Hilfe erobern könne, Edward aber war stets vorsichtiger gewesen. Er wollte die Truppen seiner Schwester an der Seite seiner eigenen Kräfte. Ich befragte Eadig eindringlich, doch er war sicher, dass es keinen mercischen Angriff gegeben hatte. «Zumindest nicht, bis ich Eoferwic verlassen habe, Herr.»

«Das sind alles nur Gerüchte», sagte Finan spöttisch. «Wer weiß, was tatsächlich vorgeht? Wenn wir ankommen, stellt sich heraus, dass es nichts weiter war als ein verdammter Raubzug, um Vieh zu stehlen.»

«Kundschafter», sagte Rorik. Ich glaubte, er meine, eine Handvoll westsächsischer Kundschafter seien für eine einmarschierende Truppe gehalten worden, doch stattdessen deutete er hinter uns, und als ich mich umdrehte, sah ich zwei Reiter, die uns von einer Hügelkuppe aus beobachteten. Sie waren durch den strömenden Regen schwer zu sehen, doch sie waren unverwechselbar. Die gleichen kleinen, schnellen Pferde, die gleichen langen Speere. Wir hatten seit einigen Tagen keine Späher gesehen, doch nun waren sie zurück und folgten uns.

Ich spie aus. «Jetzt weiß mein Cousin, dass wir abziehen.»

«Das wird ihn freuen», sagte Finan.

«Sie sehen aus wie die Männer, die uns in den Hinterhalt gelockt haben», sagte Pater Eadig, der zu den Kundschaftern hinüberstarrte und sich bekreuzigte. «Es waren sechs, auf schnellen Pferden und mit Speeren.» Sigtryggr hatte den Priester mit bewaffneten Begleitern losgeschickt, und sie hatten ihr Leben geopfert, damit Eadig entkommen konnte.

«Das sind die Männer meines Cousins», erklärte ich Eadig, «und wenn wir welche von ihnen gefangen nehmen, überlasse ich sie Euch zum Töten.»

«Das könnte ich nicht tun!»

Ich sah ihn stirnrunzelnd an. «Wollt Ihr keine Rache?»

«Ich bin Priester, Herr, ich kann nicht töten!»

«Ich bringe es Euch bei, wenn Ihr wollt», sagte ich. Ich glaube, ich werde das Christentum nie verstehen. «Du sollst nicht töten!», lehren ihre Priester, um dann die Krieger zu Schlachten gegen die Heiden zu ermuntern oder gar gegen andere Christen, wenn nur die geringste Aussicht besteht, Land, Sklaven oder Silber zu gewinnen. Pater Beocca hatte mich die Zehn Gebote des angenagelten Gottes gelehrt, aber ich hatte schon lange herausgefunden, dass das oberste Gebot der Christen hieß: «Du sollst meine Priester reich machen.»

Zwei weitere Tage folgten uns die Kundschafter nach Süden, bis wir an einem feuchten Abend die Mauer erreichten. Die Mauer! Es gibt viele Wunder in Britannien; das alte Volk hat geheimnisvolle Steinkreise hinterlassen, während die Römer Tempel, Paläste und große Säle bauten, doch von all diesen Wundern ist es die Mauer, die mich am meisten in Staunen versetzt.

Wie sich versteht, hatten die Römer sie errichtet. Sie hatten eine Mauer quer durch Britannien gebaut, mitten durch Northumbrien, eine Mauer, die sich vom Fluss Tinan an der östlichen Küste Northumbriens bis zur cumbrischen Küste an der Irischen See erstreckte. Sie endete nahe bei Cair Ligualid, auch wenn dort viele Mauersteine gestohlen worden waren, um Gehöfte zu bauen, doch der größte Teil der Mauer stand noch. Und es war nicht einfach nur eine Mauer, sondern ein mächtiges steinernes Bollwerk, breit genug, dass Männer nebeneinander darauf gehen konnten, und vor der Mauer waren ein Graben und ein Erdwall, hinter dem sich ein weiterer Graben befand, während sich alle paar Meilen ein Kastell erhob, wie das, das wir Weallbyrig nennen. Eine ganze Kette von Kastellen! Ich hatte sie nie gezählt, doch einmal hatte ich die Mauer von Küste zu Küste abgeritten, und was waren das für Kastelle! Es gab Türme, von denen aus Wachen bis zu den Hügeln im Norden sehen konnten, Zisternen für Wasservorräte, es gab Baracken, Stallungen, Lagerräume, und alles war aus Stein gebaut! Ich erinnerte mich, wie mein Vater stirnrunzelnd zu der Mauer hinübergesehen hatte, die sich in unserem Blickfeld in ein Tal hinab- und den nächsten Hügel wieder hinaufwand, und er hatte staunend den Kopf geschüttelt. «Wie viele Sklaven haben sie wohl gebraucht, um das zu bauen?»

«Hunderte», hatte mein älterer Bruder gesagt, und sechs Monate später war er tot, und mein Vater hatte mir seinen Namen gegeben, und ich wurde der Erbe von Bebbanburg.

Die Mauer markierte die südliche Grenze der Ländereien von Bebbanburg, und mein Vater hatte immer etwa zwei Dutzend Krieger in Weallbyrig eingesetzt, um Zölle von den Reisenden einzunehmen, die auf der größten Straße entlangzogen, die Schottland mit Lundene verband. Diese Männer waren schon lange nicht mehr da, das versteht sich, sie waren vertrieben worden, als die Dänen Northumbrien eroberten, bei jenem Einmarsch, der meinen Vater das Leben gekostet und mich als Waise mit einem adligen Namen und ohne Land zurückgelassen hatte. Ohne Land, weil mein Onkel es sich angeeignet hatte. «Du bist der Herr von gar nichts», hatte mich König Alfred einmal angefahren, «der Herr von gar nichts und der Herr von nirgends. Uhtred der Gottlose, Uhtred der Landlose und Uhtred der Hoffnungslose.»

Er hatte selbstredend recht gehabt, nun aber war ich Uhtred von Dunholm. Ich hatte diese Festung eingenommen, als wir Ragnall geschlagen und Brida getötet hatten, und es war eine große Festung, beinahe ebenso gewaltig wie Bebbanburg. Und Weallbyrig bezeichnete die nördliche Grenze der Ländereien von Dunholm, genauso wie es den südlichen Rand der Besitzungen von Bebbanburg markierte. Sofern das Kastell einen anderen Namen gehabt hatte, kannte ich ihn nicht, wir nannten es Weallbyrig, was einfach Kastell der Mauer bedeutet, und es war dort errichtet worden, wo die große Mauer über einen niedrigen Hügel lief. Die Jahre und der Regen hatten die Gräben abgeflacht, doch die Mauer selbst war noch stark. Die Dächer der Gebäude waren eingefallen, aber wir hatten die Trümmer von dreien weggeräumt und aus den Wäldern bei Dunholm Sparren geholt, um die Dächer zu erneuern, die wir dann mit Grassoden bedeckten, und danach hatten wir ein neuen Unterstand auf dem Wachturm gebaut, sodass die Späher vor Wind und Regen geschützt waren, während sie nach Norden Ausschau hielten.

Immer nach Norden, darüber dachte ich häufig nach. Ich weiß nicht, vor wie vielen Jahren die Römer Britannien verlassen haben. Pater Beocca, der Lehrer meiner Kindertage, hatte mir erzählt, es sei mehr als fünfhundert Jahre her, und vielleicht hatte er recht, doch selbst damals, ganz gleich, wie lange es her war, hielten die Späher Ausschau nach Norden. Immer nach Norden, in Richtung der Schotten, die damals ebenso viel Ärger gemacht haben müssen, wie sie es heute tun. Ich erinnere mich, wie mein Vater auf sie fluchte und wie seine Priester darum beteten, dass der angenagelte Gott sie erniedrigen möge, und das wunderte mich stets, denn die Schotten waren ebenfalls Christen. Als ich gerade acht Jahre alt war, hatte mir mein Vater erlaubt, mit seinen Kriegern auf einen Vergeltungszug gegen die Viehdiebe nach Schottland zu reiten, und ich erinnere mich an eine kleine Stadt in einem weiten Tal, in der sich Frauen und Kinder in einer Kirche zusammendrängten. «Ihr rührt sie nicht an!», hatte mein Vater befohlen. «Sie sind dort geschützt!»

«Sie sind der Gegner!», widersprach ich. «Wollen wir denn keine Sklaven?»

«Sie sind Christen», erklärte mein Vater knapp, und so hatten wir ihre langhaarigen Rinder genommen, die meisten ihrer Häuser niedergebrannt und waren mit Schöpfkellen, Spießen und Kochtöpfen nach Hause geritten, mit allem, was unser Schmied einschmelzen konnte, die Kirche jedoch hatten wir nicht betreten. «Weil sie Christen sind», hatte mein Vater noch einmal erklärt, «verstehst du das nicht, du törichter Junge?»

Ich verstand es nicht, und dann waren natürlich die Dänen gekommen, und sie rissen die Kirchen ein, um das Silber von den Altären zu stehlen. Ich weiß noch, wie Ragnar einmal darüber lachte. «Die Christen sind so liebenswürdig! Sie bringen ihre Reichtümer in ein einziges Gebäude und kennzeichnen es mit einem großen Kreuz! Das macht uns das Leben wahrhaftig leicht.»

Ich erfuhr also, dass die Schotten Christen waren, aber sie waren auch der Gegner, genauso wie sie der Gegner gewesen waren, als Tausende römischer Sklaven Steine über die northumbrischen Hügel geschleppt hatten, um die Mauer zu bauen. In meiner Kindheit war auch ich ein Christ, ich wusste es nicht besser, und ich erinnere mich noch, dass ich Pater Beocca fragte, wie andere Christen unsere Gegner sein konnten.

«Sie sind in der Tat Christen», hatte Pater Beocca mir erklärt, «aber sie sind auch Wilde!» Er hatte mich zum Kloster von Lindisfarena mitgenommen, und er hatte den Abt, der nur ein halbes Jahr später von Dänen abgeschlachtet werden sollte, darum gebeten, mir eines der sechs Bücher des Klosters zu zeigen. Es war ein riesenhaftes Buch mit knisternden Seiten, und Beocca blätterte sie ehrfürchtig um, folgte den Linien der kaum leserlichen Zeilen mit einem schmutzigen Fingernagel. «Ah!», sagte er. «Hier ist es!» Er drehte das Buch so, dass ich die Schrift sehen konnte, doch weil es Latein war, sagte es mir nicht das Geringste. «Dieses Buch», erklärte Beocca, «ist von Sankt Gildas geschrieben worden. Es ist ein sehr seltenes Buch. Sankt Gildas war Britannier, und sein Buch berichtet von unserer Ankunft! Der Ankunft der Sachsen! Er mochte uns nicht», bei diesen Worten hatte er in sich hineingelacht, «weil wir damals natürlich keine Christen waren. Aber ich möchte, dass du das siehst, weil Sankt Gildas aus Northumbrien kam, und er kannte die Schotten gut!» Er drehte das Buch wieder um und beugte sich über die Seite. «Hier ist es! Hör zu! ‹Sobald die Römer nach Hause zurückkehrten›», übersetzte er, während sein Finger über die Zeile kratzte, «‹kamen hastig die schändlichen Horden der Schotten hervor, wie schwarzes, wimmelndes Gewürm, das aus Felsspalten kriecht. Sie gierten danach, Blut zu vergießen, und verhüllten eher ihre scheußlichen Gesichter mit Haar als ihr Geschlecht mit Kleidung.›» Beocca bekreuzigte sich, nachdem er das Buch geschlossen hatte. «Nichts ändert sich! Sie sind Diebe und Räuber!»

«Nackte Diebe und Räuber?», hatte ich gefragt. Die Stelle über ihre Geschlechtsteile hatte mich neugierig gemacht.

«Nein, nein, nein. Sie sind jetzt Christen. Sie bedecken jetzt ihre Scham, Lob sei Gott.»

«Dann sind sie also Christen», sagte ich, «aber plündern wir nicht auch ihr Land?»

«Gewiss tun wir das!», hatte Beocca gesagt. «Weil sie bestraft werden müssen.»

«Wofür?»

«Dafür, dass sie unser Land plündern, natürlich.»

«Aber wir plündern ihr Land», beharrte ich. «Sind wir dann nicht auch Diebe und Räuber?» Mir gefiel die Vorstellung, dass wir genauso wild und gesetzlos waren wie die verhassten Schotten.

«Das verstehst du, wenn du erwachsen bist», hatte Beocca gesagt, wie er es immer tat, wenn er keine Antwort wusste. Und jetzt war ich erwachsen, und ich verstand Beoccas Begründung, dass unser Kampf gegen die Schotten eine gerechte Strafe war, noch immer nicht. König Alfred, der sich nichts vormachen ließ, hatte oft gesagt, der Krieg, der in Britannien wütete, sei ein Kreuzzug der Christenheit gegen die Heiden, doch jedes Mal, wenn sich dieser Krieg auf walisisches oder schottisches Gebiet ausdehnte, wurde er unversehens zu