Der Geist des Saxofons - Jens Walter - E-Book

Der Geist des Saxofons E-Book

Walter Jens

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Beschreibung

Ein Roman über die Liebe zum Meer, über die Musik und über eine ungewöhnliche Reise von Varel nach Indien. Onno Oltmanns, Ostfriese und Musiker, trifft sein großes Vorbild bei einem Workshop. Dieser lädt ihn anschließend ein, sich an seiner renommierten Summer School in Indien ausbilden zu lassen. Damit geht für ihn ein lange gehegter Traum in Erfüllung. Sein Segelabenteuer führt Onno nicht nur in fremde Länder und zu neuen Menschen, sondern schickt ihn auch auf eine Reise zu sich selbst.

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Seitenzahl: 485

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Jens Walter

Sonnenschein,danke dass es Dich gibt.

Ich liebe Dich bis zum Mond und wieder zurück

Jens Walter

Der Geist des Saxofons

Umschlaggestaltung: Andrey Gradetchliev, Oldenburg

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-7308-1201-6

© 2015 Isensee Verlag, Haarenstraße 20, 26122 Oldenburg – Alle Rechte vorbehalten.

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software

Der Geist des Saxofons

Ich traue meinen Augen nicht, als ich heute morgen die Zeitung aufschlage. Herbiwan ist in Hannover. »Schaatz!! Hast du heute schon Zeitung gelesen?«

Der Mann, der mein Leben in frühen Kindertagen prägte.

Nur er war der Grund, weshalb ich schließlich mein Hobby zum Beruf gemacht habe und Saxofonist geworden bin. Der, auf dessen Konzert ich nicht durfte, weil mir das meine Eltern nicht erlaubten. Nur wegen eines Zuspätkommens, wo ich noch nicht einmal etwas für konnte. Dumm war nur, dass es noch keine Handys gab. Heutzutage ist doch vieles einfacher geworden. Wenn es einmal später wird als geplant, ruft man eben kurz durch und sagt Bescheid. Früher ging das nicht.

Langsam purzeln die Details wieder aus meinem Gedächtnis. Ich hatte schon so viele Jahre nicht mehr daran gedacht. Damals, als alles begann...

Mit meinem Freund Karl spielte ich oft als Kind auf dem alten Speicher seines Opas. Er ist viel durch die Welt gereist, da er als Gutachter ein gefragter Mann war. Sein Leben lang brachte er die verschiedensten Mitbringsel zusammen, die es zu entdecken galt. Überall standen Kisten voller Zeug, alte Landkarten, Kleidung, Spielzeug und jede Menge Koffer herum. Da ging mir immer das Herz auf. Spannung pur. Hinter jeder neuen Kiste, die wir öffneten, verbarg sich eine neue Gedankenreise voller Abenteuer und Gefahren.

Ein Koffer, ganz hinten in der Ecke, hatte eine ganz merkwürdige Form. So oval und krumm. Der hatte es mir an diesem Tag besonders angetan. Die Verschlüsse gingen ganz schön schwer auf. Da habe ich mir fast meine Finger geklemmt. Doch als ich ihn öffnete, strahlte mich dieses wunderschöne Saxofon an. Golden glänzte es, wie ein Schatz aus fernen Ländern... Der Opa hat die Faszination in mir wohl entdeckt, die ich dafür verspürte. Er sagte, wenn ich es schaffen würde, seine Lieblingsmelodie zu spielen – und er hat es nie geschafft – dürfte ich es behalten. Wenn nicht, müsste ich es irgendwann wieder zurücklegen.

Großartig! Phänomenal! Gigantisch! Von nun an verbrachte ich jede freie Minute mit dem Spielen. Ich ging, glaube ich, ganz Bad Zwischenahn gehörig auf die Nerven. Aber Stück für Stück fand ich Zugang zu diesen Klängen und zu der Stimmung, die dieses Instrument in mir auslöste. Mir gelang es, das Saxofon ohne Lehrer und Anleitung zu spielen. Und viele Jahre später, auf dem Sterbebett des alten Opas, gelang es mir, ihm „My Way“ von Frank Sinatra vorzuspielen. Dieses Lächeln und diesen Blick werde ich in meinem ganzen Leben nie wieder vergessen. Nur ein paar Wochen später verstarb dieser Mann im Alter von 95 1/2 Jahren. Er ist einfach eingeschlafen.

Ich wurde natürlich nicht über Nacht zum Musiker. Aber mein Ehrgeiz, verbunden mit der natürlichen Anlage und ganz vielen Übungsstunden, verhalfen mir zu dem heutigen Stand. Zu Beginn wurde ich gefragt, ob ich bei dem ein oder anderen Familienfest vortragen wollte. Erst danach kamen langsam öffentliche Veranstaltungen wie z. B. Adventssingen, betriebliche Weihnachtsfeiern, Stadtfeste u. ä. hinzu.

Als ich vierzehn Jahre alt war, hatte die Schule einen Musiker zu Gast. Herbiwan. Er war einer der besten Saxofonisten seiner Zeit. Die Klänge, die er aus diesem Instrument herausholte, haben mich von Beginn an verzaubert. Der Atem war so spürbar präsent; das ging einem durch Mark und Bein. Nur die Liebe meines Herzens konnte in meinem Leben dieses Gefühl übertrumpfen. Zumindest war es bei mir so. Für mich war ganz klar, dass ich irgendwann einmal dieses Instrument genauso perfekt spielen wollte, wie einst Herbiwan.

Am letzten Abend seines Besuches wurde ein kleines Konzert im Schiefen Stiefel in Oldenburg von der Schule organisiert. Und ich hatte das Glück, eine Karte zu ergattern. Doch dazu später.

Mein Vater teilte nie meine Leidenschaft fürs musizieren. Er hielt es stets für Zeitvergeudung und brotlose Kunst. Der Ursprung dieses Gedankengutes hatte ein Vorleben. Denn er musste in seiner Jugend funktionieren. Der elterliche Hof hat seinen Tribut gezollt. Es wurde nicht zugelassen, dass der junge Sohn das macht was er wollte. Nein, denn es war vorbestimmt, dass er einmal den Hof übernimmt, ohne wenn und aber. Dabei wäre er gern zur See gefahren. Immer, wenn er sich auch nur ein wenig Zeit rausgenommen hatte, ist er das kurze Stück über den Deich gelaufen. Zu seinem Vater sagte er dann einfach, er würde nach den Schafen sehen und die Zäune auf Löcher prüfen. Wenn er dann dort oben ganz alleine stand und der Wind ihm das Salz des Meeres spüren ließ, waren alle seine Gedanken auf Hoher See. Er war der Fischer, der morgens früh leise tuckernd den Hafen verlässt und viele Tage später mit prall gefüllten Netzen wieder zurückkommt. Er erdachte sich Stürme und wundervolle Sonnenuntergänge, Ruhe und Stille. Hier auf dem Deich war alles vergessen. Manchmal verträumte er damit den halben Nachmittag und bekam riesigen Ärger, wenn er wieder zurückkam. Aber das machte ihm nichts aus. Seinen Traum durfte er jedoch nie ausleben. Er übernahm den damals schon recht wackligen Hof und konnte ihn nicht halten. Nachdem seine Eltern gestorben waren, hielt ihn hier nichts mehr. Mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen verließ er Ostfriesland, um sich in Bad Zwischenahn niederzulassen. Die Gärtnerei Struns suchte damals Arbeitskräfte. „Ein junges und aufstrebendes Unternehmen“.

So verwundert es auch niemanden, dass er künstlerische Tätigkeiten nicht mit seinen Vorstellungen von rechtmäßiger Arbeit vereinbaren und somit auch nicht tolerieren und fördern konnte.

Es hatten sich so viele Leute um diese Karte bemüht. Und weil das so war, konnten sie nicht einfach so verteilt werden. Schließlich hatte die Frederikenschule das Konzert organisiert und dafür Sorge zu tragen, dass ihr guter Ruf von Fairness und Ansehen vor und nach der Veranstaltung gewährleistet war. Das Konzert war frei, da der Künstler keine Gage verlangte. Ganz im Gegenteil. Für ihn war es eine Ehre, mit einer solchen Institution wie der Frederikenschule in Oldenburg arbeiten zu dürfen, denn deren Ruf war über die Landesgrenzen hinaus, sehr groß. Aus diesem Grund wollte Herbiwan pro Karte einen obligatorischen Pfennig. Und dieses Geld wollte er mit in seine Heimat nach Indien nehmen. Denn dort gab es ein Musikprojekt, welches er ins Leben gerufen hatte. Den »Indian Summer«. Einmal im Jahr im August lud er talentierte Kinder zu sich ein, um mit ihnen zu musizieren. Kinder, die keinerlei Hilfe bekommen. Und dafür wollte er das Geld nehmen. Das Aufsehen war so stark, dass man seitens der Schule zu neuen Taten schritt. Somit wurde eine Verlosung organisiert und jeder der dieses besondere Konzert besuchen wollte, konnte sich auf einer durchnummerierten Liste vermerken lassen. Die Nummer war gleichzeitig die Losnummer. Man konnte sich gar nicht vorstellen, was in dieser Zeit hier los war. Die halbe Stadt hatte sich eingeschrieben. Auch viele, die das Lauffeuer ereilte und mit dieser Art von Musik eigentlich nichts am Hut hatten. Das gab es hier noch nie.

Ich hatte die Losnummer 13. Dreizehn von 53.000 anderen Karten, die für 2.000 Plätze bestimmt waren. Meine Hoffnung war nicht besonders groß, denn soo viele Menschen wollten eine Eintrittskarte. Die Verlosung war am kommenden Mittwoch. Das Konzert sollte dann am Samstag darauf stattfinden. Die Zeit bis zur Verkündung dauerte für mich eine halbe Ewigkeit. Nach unzähligen wartenden Minuten und Stunden, war es dann endlich soweit. Aus organisatorischen Gründen wurde der Pferdemarkt ausgewählt, denn nur hier war es halbwegs möglich, so eine Vielzahl von Menschen unterzubringen. Schon am Morgen begannen die Aufbauarbeiten. Auf einem alten Drehspießgestell wurde eine riesige alte Öltonne quer montiert. Die Tonne wurde vorne und hinten genau in der Mitte durchbohrt und durch das Loch dann eine Art Deichsel geschoben. Sie war so lang, dass die Tonne auf der Halterung des Drehspießes frei schweben konnte. Am Ende wurde eine provisorische Kurbel angebracht. Ein altes Lenkrad von einem Traktor. An der Seite hatte man ein Fenster reingeschnitten. Dieses wurde provisorisch mit einem Lederlappen verschlossen. In diese Lostrommel wurden nun die Lose aller 53.000 Teilnehmer eingefüllt.

Die ersten Neugierigen kamen schon so gegen 11:00 Uhr, obwohl die Verlosung erst um 15:00 Uhr anfing. Ein Volksfest kündigte sich an diesem Tage an. Jeder brachte Stühle, Tische, Decken und Geschirr mit. Sämtliche Speisen und Getränke wurden aufgefahren, denn niemand wusste genau, wie lange das Spektakel gehen würde. In einer Ecke wurde musiziert. In der anderen war man schon fleißig damit beschäftigt, den Grill anzuwerfen. Ein regelrechtes Verkehrschaos herrschte überall. Man tat gut daran, sein Fahrrad oder Automobil weit entfernt abzustellen. Seine mitgebrachten Utensilien wurden dann unter die Arme geklemmt. Nur so hatte man überhaupt die Chance, noch rechtzeitig einen guten Platz zu ergattern. Natürlich haben nicht alle einen auf dem Pferdemarkt bekommen. Vielen blieb nichts anderes übrig, als sich auf den diversen Nebenstraßen niederzulassen. Wichtig war nur, dass man eine gute Sicht auf das Podest hatte. Hier wurde eine große Gewinner-Tafel aufgestellt, auf der die Losnummern geschrieben werden sollten.

Ich konnte es natürlich nicht abwarten und war einer der ersten, die es morgens an den Ort des Geschehens brachten. Mit dem Fahrrad bin ich in der Frühe von Bad Zwischenahn nach Oldenburg geradelt. Ich hatte den besten Platz von allen. Direkt neben dem Podium. Und so verbrachte ich den ganzen Tag dort. Meine Eltern hatte das alles nicht interessiert. Sie erlaubten mir zwar allein nach Oldenburg zu fahren, ich solle aber bitte nicht nach 22:00 Uhr wieder daheim sein.

Um 16:00 Uhr war es dann soweit. Als die Fanfare ertönte und die Flagge von Herbiwan, ein weißer Elefant, der einen Notenschlüssel trägt, gehisst wurde, erschien Herr Claasen, der Direktor der Frederikenschule zusammen mit Herbiwan höchstpersönlich auf dem Podest. Und drei Gute Feen noch dazu, die die Nummern aus der Öltonne ziehen sollten. Da es ja so viele waren, wurden die Lose auf drei Personen verteilt, damit es für eine Fee nicht so anstrengend war. Das Fest konnte somit beginnen. Bei jeder Nummer kam irgendein Aufschrei aus einer Ecke. Es wurde gejubelt, man schloss sich in die Arme und prostete einander zu. Ich war voller Hoffnung, habe zu Gott gebetet, er möge mich benennen. Es war mein größter Traum... Und dann wurde die Losnummer dreizehn gezogen. Ich konnte es nicht fassen. ich hatte es geschafft. Ich war dabei. Ich, der es nie für möglich gehalten hatte, durfte am kommenden Samstag zusammen mit den anderen 1999 Glücklichen zum Konzert des unglaublichen Herbiwan gehen. Freudestrahlend machte ich mich auf die Heimtour und kam gegen 23:35 Uhr zu Hause an. Als ich um die Ecke in unsere Straße bog, war ich über die nächtliche Tageslichtbeleuchtung in unserem Haus ganz verwundert. Noch seltsamer stimmte mich, dass vor unserem Haus stehende fremde Auto. Als ich den Schlüssel ins Schloss steckte und die Tür aufmachen wollte, kam mir schon drinnen jemand zuvor. Ich wäre vor Schreck fast hingefallen. Meine Mutter lief mir halb weinend halb strahlend entgegen und drückte mich ganz fest. Wo ich denn gewesen wäre. Ich sollte doch bis zehn wieder da sein. Sie dachten schon, es wäre etwas passiert. Gott sei Dank, dass ich wieder da bin. Ich wollte gerade anfangen zu erklären, da hat mir auch schon mein Vater vor Wut und Erleichterung eine gescheuert. Der Fremde entpuppte sich auch noch als Polizeibeamter. Er hätte sich das ja schon gedacht, dass es mit der Verlosung in Oldenburg zu tun haben könnte. Sie sollten sich mal keine Gedanken machen. Ihr Junge kommt bestimmt bald. So weit er wüsste, wäre die Veranstaltung vorbei. Er sei bestimmt schon auf dem Rückweg. Und genauso war es ja auch.

Mein größter Traum zerplatzte im selben Augenblick, in dem er in mein Leben kam. Meine Eltern verboten mir den Besuch des Konzertes aufgrund der Tatsache, dass sie sich von mir betrogen fühlten. Und die Negativgedanken, die sie über die Musik generell schon hatten, trugen zu diesem Entschluss bei. Da sie mir zutrauten, dass ich heimlich ging, ließen sie sich die Eintrittskarte von mir aushändigen und schlossen sie dann weg. Das war meine erste und auch die größte Enttäuschung in meinem Leben.

„Nein, ich habe die Zeitung noch nicht gelesen, Onno. Warum fragst du?“ entgegnet Marie. „Was ist denn los mit dir? Warum starrst du denn so? Ist etwas passiert?“ Ganz verdattert erwache ich aus meinen Gedanken. »Erinnerst du dich noch an Herbiwan?« Marie nickt kräftig mit dem Kopf. „Aber natürlich, was glaubst du denn!“ »Er ist in Hannover und macht Werbung für sein Projekt, den „Indian Summer“. Er ist die ganze nächste Woche da. Da muss ich einfach hin.« „Natürlich fährst du – und ich komme dann am Mittwoch nach, da ich nicht die ganze Zeit freimachen kann,“ erwidert Marie. »Du bist echt super, womit habe ich nur so eine tolle Frau verdient? Ich liebe dich unendlich.« „Ich liebe dich auch. Träume nicht dein Leben – lebe deinen Traum. Ich habe dir doch schon immer gesagt, dass du irgendwann noch mal die Gelegenheit bekommst. Und nun nutze sie. Wer weiß, was aus dieser Begegnung noch entstehen kann. Hast du dir schon das Programm zusammengestellt?“ »Ja klar!« antworte ich ihr. „Seit wann machst du dir denn ein Konzept, du planloser Mensch?“ fragt Marie forsch. »Ist doch ganz logisch«, grinse ich zurück. »Montag früh um 10:00 Uhr geht’s los und Samstagabend um 18:00 Uhr ist Ende. So ist der Plan, ganz einfach.« „Hätte ich mir ja gleich denken können,“ erwidert meine Herzallerliebste. „Und wo willst du schlafen?“ »Das Steinhuder Meer ist nicht weit, ich nehme die »Alte Dame« mit und schlafe darauf. Und wenn du kommst, machen wir es uns so richtig gemütlich. Ist wie ein kleiner Kurzurlaub, du wirst schon sehen.« „Das ist eine tolle Idee, Onno – das haben wir schon so lange nicht mehr gemacht. Ich muss nun los. Heute Abend um 08:00 Uhr bin ich wieder da. Auf dem Rückweg bringe ich von unserem Lieblingsitaliener etwas Leckeres mit und dann stoßen wir auf deinen Traum an, was hältst du davon?“ »Ja super, wenn das Wetter so bleibt, machen wir ein Picknick auf der »Alten Dame«. Ich packe schon mal alle Sachen ein, Decken, eine Flasche Rotwein und Gläser, sowie Teller und Besteck. Dann verlieren wir keine Zeit und können noch ein wenig die Abendsonne genießen. Bis heute Abend. Ich liebe dich.« „Ich liebe dich auch.“ Marie gibt mir einen intensiven Kuss und verlässt freudestrahlend das Haus.

Nach einem fantastischen Sonnenuntergangsdinner an Bord der »Alten Dame«, fange ich sogleich am nächsten Morgen an, sie reisefertig zu machen. Einfach super dieses Schiff. Dieser Traditionssegler, eine Zeeschouw aus dem Jahre 1975, ist durch Zufall in meine Hände gelangt. Während meiner Banklehre, die ich bei Onkel Gutfried in Oldenburg gemacht habe, hörte ich von einem Vorgesetzten, dass da noch ein altes Schiff im Schuppen stehe, was nicht mehr gebraucht wird. Ich fragte vorsichtig an und bums, nun hatte ich sie. Ich habe mich gleich darin verliebt. Diese schöne und klassische Linie, die seitlichen Schwerter, und innen ist alles in Holz. Es fühlt sich an, als wenn man nach Hause kommt. Genau richtig für Bootstouren in seichten Gewässern. Denn der geringe Tiefgang von 60 cm – da steht einem jeder See zur Verfügung. Ein wenig heruntergekommen war sie schon. Erinnerungen an meine liebe Oma wurden sogleich geweckt. Die gemütliche Wohnstube, wo ich immer ihren unglaublich leckeren Apfelkuchen in Windeseile verspeiste. Betagt, aber elegant war sie, wahrlich eine Grand Dame. Und so taufte ich zu Ehren und Gedenken an meine Oma diesen Gaffelsegler auf den Namen »Alte Dame«. Der Name hielt, wofür er stand. Nachdem ich sie mit meinem Freund Karl auf Vordermann gebracht hatte, konnten wir es gar nicht erwarten, die Segel zu hissen und einen ersten Törn auf dem Zwischenahner Meer zu machen. Etwas ungewohnt war es zunächst schon, denn ein Gaffelsegler ist anders zu handhaben als die Jollen, auf denen ich normalerweise segelte. Und es brauchte auch die ein oder andere zusätzliche Übungsrunde, bevor ich die seitlichen Holzschwerter richtig einsetzen konnte. Aber die Segeleigenschaften übertrafen voll und ganz meine Erwartungen. Elegant und mit vollen Segeln war sie von nun an der Star. Mein Star.

„Onno, träumst du?“ Ganz verdattert erwache ich aus meinem Dornröschenschlaf. Beim Warten auf das Starten des Hebekrans, habe ich ein wenig in alten Geschichten geschwelgt. Herbert, der Mann für alle Fälle, ist der Kranmann hier am Zwischenahner Meer. Jeder, der etwas in oder aus dem Meer zu heben hat, muss über Herberts Grundstück. Das ist Gesetz, denn durch einen geschickten Schachzug konnte er sich in den 50ern die Kranrechte sichern. Ein unschätzbarer Wert. Das hat ihn vermögend gemacht. Abgehoben ist er dadurch aber nicht. Herbert ist immer Herbert geblieben. Ein Urgestein, der mit Leib und Seele Kranführer ist. Immer da, wenn man ihn braucht. Mit den Jahren ist er ein wenig vergesslich geworden. Als ich heute Vormittag kam, stand Herbert noch unter der Dusche. Aber es wäre nicht Herbert, wenn das nicht so wäre.

Nun geht es aber los. Den Mast habe ich schon vorher am Steg gelegt. Das geht ganz schnell mit der praktischen Mastlegevorrichtung. Ein unentbehrliches Hilfsmittel für Bootstouren durch die Niederlande oder bei Kanalfahrten.

Herbert legt nun die beiden Gurte um den Bauch. Ich bin ganz aufgeregt, denn es ist nun schon etwas länger her, dass ich mit ihr unterwegs war. Man muss immer den richtigen Punkt treffen, damit das Boot nicht nach vorn oder hinten kippen kann. Aber alles läuft bestens. Der Kran hebt die »Alte Dame« mühelos aus dem Wasser und bettet sie auf den Bootsanhänger, der an meinem Geländewagen hängt. Zusammen verzurren wir das Boot, damit es die Reise zum Steinhuder Meer gut übersteht. Ich verabschiede mich und setze mich in den Wagen. In Gedanken gehe ich noch mal mein Gepäck durch: Anziehsachen, Espresso, Kocher, Vorräte, Saxofon..., ja, ich glaube es ist alles vollständig. Und wenn etwas fehlen sollte, kann das am Mittwoch meine liebe Marie mitbringen. Ich rufe meinen besten Freund Karl an und informiere ihn, dass ich jetzt im Begriff bin, loszufahren. Ich freue mich auf ein Wiedersehen. Er hat sich ein paar Tage frei genommen und wird mir helfen, die »Alte Dame« zu Wasser zu lassen. Seit er in Hannover wohnt, sehen wir uns leider nicht mehr so oft. Ich drehe den Zündschlüssel. Das zuverlässige Dieselgeräusch meines mir lieb gewordenen Treckers, ein Defender Station Wagon 110 macht sich breit. Ich lege eine CD ein und gehe auf Nr. 6. »Girl von Epanema« ertönt in einer fantastischen Aufnahme. Ich schließe für einen Augenblick die Augen und lausche dem Klang des Saxofons. Ich nicke zufrieden. Dann lege ich den ersten Gang ein. Langsam setze ich mich mit meinem Traumfängergespann in Bewegung. Ein unbeschreiblicher Augenblick, bin aufgeregt und freudig zugleich. Ich hätte niemals gedacht, dass es noch eine Steigerung zu meinen Gigs geben könnte. Aber jetzt in diesem Moment... bin ich total geflashed. Wie wird er wohl aussehen? Hat Herbiwan noch diese Faszination, die ich in meiner Jugend erlebte? Unzählige Gedanken schießen mir durch den Kopf. »Denk nicht soviel, Onno. Sei froh, dass es passiert. Genieße die Zeit. Das wird bestimmt eine ganz tolle Sache.«

Meine Route führt mich über die Landstraße. Die Verbindung ist so gut ausgebaut, dass sich die voll gestopfte Autobahn nicht lohnt. Außerdem liebe ich es, wie sich langsam die Landschaft verändert. Nach ca. 1 Stunde bekomme ich Hunger. Kein Wunder, denn seit den frühen Morgenstunden habe ich nichts Gescheites mehr gegessen. »Wie spät ist es eigentlich?« Ich schaue auf die Uhr. Es ist gerade zwölf durch. Ich überlege – eine gute Zeit für den Handwerkertrick. Wenn du Hunger hast, fahre einfach den Handwerkern hinterher. Das funktioniert immer, weltweit. Sie wissen am besten, wo man gut essen kann. Meistens machen sie gegen 12:00 Uhr Mittagspause. Und diese Zunft arbeitet in der Regel regional, d. h., die meisten Firmen, die hier arbeiten, sind ortsansässig. Mal sehen; ich fahre mal den Fahrzeugen mit der Aufschrift „Elektrischer Schlag“ und „Die Bohrlöcher“ hinterher. Jetzt muss ich aufpassen, hier links, dann um die Ecke. Volltreffer! Eine kleine, unscheinbare Landschlachterei ist heute mein Hauptgewinn. Ich muss allerdings recht weit mit meinem Gespann ausholen, bevor ich einen Parkplatz bekomme. Doch das hat sich gelohnt. An der Eingangstür ist ein Schild angebracht. „Heute hausgemachte Frikadellen mit Salatbeilage“. Und die Ankündigung hält, was sie verspricht. Frisch aus der Pfanne, mit ein wenig Feigensenf, dazu ein knackfrischer Salat. Toll! Der absolute Hammer. Ich nehme mir natürlich noch eine ordentliche Portion mit für den heutigen Abend. Karl ist ja auch noch da. Dann geht es gestärkt und gut gelaunt weiter Richtung Süden. Die Landschaft verändert sich ein wenig, alles ist hier etwas karger und nicht so lieblich und idyllisch. Mehr praktisch eben. Langsam wird der Boden etwas sandiger. Mehr und mehr Kiefernwälder erscheinen, die Böden werden mooriger. Hier und da kommen mehr Fachwerkhäuser in Sicht. Meistens in weiß mit schwarzem Fachwerk, aber weniger Reithdächern als im Ammerland. Nach einer weiteren Stunde erreiche ich den Fischerort Steinhude am Steinhuder Meer. Nett hier, denke ich. Karl wartet schon am Anleger in einer kleinen Nebenstraße auf mich. Wir schließen uns ganz herzlich in die Arme. Ich habe ihn wirklich gern. Keiner kennt mich so gut wie er, und umgekehrt. Schließlich sind wir zusammen aufgewachsen. „Hat alles gut geklappt, Onno?“ »Ja Karl, danke. Meinst du, ich kann hier drehen? Die Straße ist recht eng und dieser kleine Parkplatz... – ich weiß nicht, ob das reicht.« „Doch doch“, meint Karl. „Da waren schon ganz andere hier. Ich passe auf, dass alles stehen bleibt, Onno. Fahr am besten hier rechts auf den kleinen Parkplatz und versuche, grob in Richtung Schuppenende zu kommen. Dann kommst du bequem hier rum. Wenn der Hänger an der Ecke ist, gebe ich dir ein Zeichen. Dann kannst du das Lenkrad einschlagen, der Rest geht wie von selbst. Du wirst schon sehen.“ Ich fahre nun langsam auf den Parkplatz. Kurz vor dem Schuppen ruft Karl von hinten: „Das reicht, Onno. Und nun setz langsam zurück!“ Ich schaue in die Rückspiegel und schiebe die »Alte Dame« langsam an die Ecke. Als ich Karls Zeichen sehe, lenke ich scharf und der Hänger schiebt sich rückwärts die Straße runter bis zum Anleger. »Geschafft. Das läuft ja wie am Schnürchen. Wer bedient denn hier den Kran?« „Machen wir selbst“. Karl hält den Schlüssel hoch. Dann öffnet er die Verriegelung und holt die Fernbedienung raus. Gemeinsam schwenken wir den Arm über die »Alte Dame« und legen die beiden Gurte unter den Rumpf. Dann testen wir, ob sie gut hängt und nicht kippt, indem wir das Boot kurz anheben. Die »Alte Dame« schwebt genau waagerecht. Die Gurte sitzen gut und können nicht wegrutschen. Wir heben das Boot so weit hoch, bis wir den Hänger an die Seite fahren können. Dann lassen wir sie langsam ins Wasser gleiten und machen sie an der Mauer fest. Gemeinsam setzen wir dann den Mast und überführen sie zu ihrem Liegeplatz.

Erst jetzt kann ich diese herrliche Aussicht genießen. Das Steinhuder Meer zeigt sich von seiner schönsten Seite. Überall blühen die Pflanzen und in der Ferne sehe ich Vogelschwärme ihre Bahnen ziehen. Der See ist noch um ein vielfaches größer als das Zwischenahner Meer. Ein tolles Segelrevier. Der leichte Wind lässt die Tampen an die Masten schlagen. Sie singen ihr eigenes Lied. Es berührt mich und lässt in mir das Gefühl von Freiheit und Abenteuer aufsteigen. Dazu dieser wolkenlose, wunderschöne Nachmittag. Es schreit förmlich nach einer Erstbefahrung in die Nachmittagssonne. »Karl, was meinst du, hast du Lust auf ‘nen Probetörn?« „Na klar, Onno. Super Idee. Wir brauchen ja nur noch aufzuriggen, aber das geht ganz schnell.“ antwortet Karl. Nun klotzen wir richtig ran, um die »Alte Dame« segelfertig zu machen. Und obwohl mein Freund schon seit ewigen Zeiten keinen Gaffelsegler mehr betreten hat, sitzt jeder Handgriff. Es ist wie früher, als wir noch fast jedes Wochenende zusammen segelten. Als wären wir nie getrennt gewesen. Plötzlich prustet Karl los und bekommt einen Lachkrampf. »Was ist denn mit dir los?« frage ich ihn. Als ich an seinem Finger meine Unterhose baumeln sehe, weiß ich Bescheid. „Weißt du noch damals, der Trip nach Groningen?“ Da kann auch ich mich nicht mehr halten. Mir schießen die Tränen in die Augen, vor lauter Lachen. Wir liegen uns in den Armen.

Auf einmal fegt eine Windböe über das Heck und lässt die Segel schlagen. Ein Tampen verfängt sich in meinem Bein. Ich stolpere, verliere das Gleichgewicht und halte mich krampfhaft an Karls Arm fest. Doch auch Karl findet keinen Halt mehr. Im hohen Bogen landen wir im Wasser. Gut, dass der Grund hier nicht so tief ist, denn bei dieser Lachattacke wären wir zwei prustenden Walrosse ohne fremde Hilfe bestimmt nicht mehr aus dem Wasser gekommen.

Nach dieser unplanmäßigen, herzerfrischenden Ermunterung fällt die Anspannung des Tages von mir ab. Karl und ich geben uns das Versprechen, dass wir uns in Zukunft wieder öfter treffen wollen und werden. Denn eine so gute Freundschaft wie die unsrige ist kostbar und muss auch gepflegt werden. Der große Spaß, den wir beide schon nach so kurzer Zeit wieder miteinander haben, bestätigt das nur. Und diese Geschichte ist nur eine von vielen gemeinsamen und spontanen Aktionen.

Es kam uns in den Sinn, von Oldenburg nach Groningen zu fahren. Ein Freund eines Freundes von dessen Bekannten erzählte von einer sensationellen Kneipe dort und von dem „Fliegerbier“. Da sind wir dann mal eben hingefahren. Das Bier war ganz Ok, aber nicht der Brüller. Aber der Pannekoken, das war der Oberhit. Irgendwann in der Nacht sind wir dann retour. Schließlich war es mitten in der Woche und wir mussten beide am nächsten Morgen arbeiten. Wir kamen bis zur Grenze. Da war erstmal Zwangspause angesagt. Die Niederlande haben natürlich noch andere Schätze für Heranwachsende zu bieten und diese wurden bei den Grenzbeamten bei uns vermutet.

„Haben Sie etwas zu verzollen?“ »Nein.« „Was war ihr Beweggrund für das Einreisen in die Niederlande?“ »Wir haben Pannekoken gegessen«, antworteten Karl und ich. „Ihre Pässe bitte!“ Ich fühlte mich leicht in die Deutsche Demokratische Republik versetzt, wo ich mit vierzehn Jahren einmal mit der Familie ein Wochenende verbrachte. Dort waren die Beamten auch so unglaublich zuvorkommend. Und auch dort wurden unsere Pässe erst einmal eingezogen und verwahrt. In mir kam langsam ein gewisses Unwohlsein auf. »Haben wir etwas verbrochen, Herr Zollbeamter?« fragte ich vorsichtig an. In einem forschen und bestimmten Ton erwiderte er: „Sie geben mir jetzt ihre Autoschlüssel und gehen mit meinem Kollegen dort drüben hinein! Dort warten sie bis auf Weiteres.“ Verschreckt folgten wir dem Kollegen. Hinter uns hörten wir, wie der neue Autobesitzer unseren Wagen anfing, auseinander zu nehmen. Rrrrratsch, rrrrrrritsch – Sitze vor und zurück. Rückbank raus, wieder rein. Kofferraum – Ersatzrad – Motorhaube... Alles, was nicht Niet- und Nagelfest war, wurde nach Drogen untersucht. Die im Wagen befindlichen Utensilien wurden neben dem Fahrzeug aufgestapelt – mitten in der Nacht. Und wir? Wir mussten hilflos zusehen. Nach gefühlten Stunden kam der Kollege zurück in die Grenzstube. Natürlich ohne Befund. Aber wir waren ja auch noch da. Wir wurden ja schließlich noch nicht untersucht... „Ausziehen!!!“ Wir zogen Jacke und Pulli aus. Uns ist eh schon ein wenig warm geworden. Das passte ganz gut. „Hose auch!“ Na denn, jetzt wurde es peinlich. Ich habe einmal gelesen, dass die beliebteste deutsche Unterhose Karl-Heinz genannt wurde: klassisch, Doppelripp, mit Eingriff. Und genau so ein Modell hatte ich an. Nicht so ein knackiges, enges, modernes Höschen oder einen coolen Boxershort? Nein, genau die waren es nicht. Da staunten mein Freund Karl und die Beamten nicht schlecht. Und ich glaube, ab diesem Moment ahnten sie auch, dass es bei dem Bauern vom Lande nichts zu holen gab. Trotzdem zogen sie noch das ganze Programm ab und wir durften uns nackig machen. Naja nicht ganz. Schuhe und Strümpfe durften wir gnädiger Weise anbehalten. Vielleicht war die Fußbodenheizung nicht an oder die Kollegen hatten Angst vor Fußpilz. Die genauen Hintergründe jedoch habe ich nie in Erfahrung bringen können. Nach zwei Stunden Zwangsaufenthalt plus einer Stunde Wagen einräumen – denn der Gesetzgeber hat zum Leid der Geschädigten in diesen Fällen kein Vetorecht hinterlegt – fuhren wir zurück nach Oldenburg.

Damals gab es die Europäische Gemeinschaft noch nicht. Aber auch heutzutage, mit mehr oder minder „offenen“ Grenzen, werden noch Stichproben gemacht. Dieses Erlebnis hat uns noch stärker verbunden und heute können wir darüber auch herzhaft lachen. Damals nicht, damals haben wir uns dafür geschämt.

Nach dieser traditionellen Moortaufe hissen wir dann doch noch die Segel, um als Dank einen Bilderbuchsonnenuntergang erleben zu dürfen. Danach machen wir wieder am Steg fest. Während ich das Schiff aufräume, tritt Karl sein Amt als Mobilkellner an und organisiert aus der nahe gelegenen Hafenklause einen Schub Ankommensbier. Als er wiederkommt, erzählt er von einem Vogel, der in einem Käfig vor dem Lokal sitzt und die Leute beschimpft. Es ist ein Beo. Heute ist wohl sein »Arschloch-Tag«. Denn jeder, der dort vorbeikommt, wird lauten Halses so empfangen... Mal sehen, wie er morgen so drauf ist. Vielleicht ist morgen der Idiotentag. Wer weiß.

Wir stoßen auf unser Wiedersehen, ein paar spannende Tage und natürlich auf Herbiwan an. Denn er ist schließlich der Grund meiner Reise.

Karl und ich tagen noch bis tief in die Morgenstunden und erzählen uns Geschichten von wer weiß was wo. In der letzten halben Stunde erfrische ich noch mein Umfeld mit einem Ständchen. Ganz leise spiele ich ein paar Melodien, die mir im Kopf umherschwirren. Karl döst irgendwann weg. In meditativer Stimmung lege ich das Saxofon an die Seite und begebe mich ebenfalls in die Horizontale. »Morgen ist Herbiwantag«, denke ich und schlafe zufrieden ein.

»Platsch!!!« Am nächsten Morgen wache ich früh auf und stürze mich von der Alten Dame in die Fluten. Herrlich, diese Morgendusche. Ich schwimme bis zur nahen Badeinsel. »Platsch!« macht es hinter mir. Karl tut es mir gleich. Und nach einem ausgiebigen Frühstück an Bord verschließen wir das Boot sorgfältig und machen uns auf den Weg nach Hannover. Vor der Tür des Congress Zentrums hängt ein großes Banner mit der Aufschrift »Indien hat seinen Sommer geschickt«. Schon von weitem ertönen Saxofonklänge. Am Eingang werden T-Shirts mit der Aufschrift „Indian Summer – Handmade“ angeboten. Die nette Inderin fragt, was ich vorhabe. Ich erkläre, dass ich mich zum Workshop angemeldet habe. Daraufhin reicht sie mir eines über den Tresen. „Du bekommst aber später noch eines. Dafür brauchst du nichts zu bezahlen.“ sagt sie zu mir. Die Klänge ziehen mich in den Bann. Ich kann einfach nicht widerstehen und folge Ihnen.

Und dann sehe ich ihn. Er ist vielleicht an die siebzig Jahre alt, aber dieser Sound..., ich habe noch nie einen besseren vernommen. Seine Aura erfüllt den Raum mit Wärme. Bis in die Zehenspitzen bin ich von Demut erfüllt, die dieser Mann ausstrahlt. Nach dieser kurzen Demonstration erklärt Herbiwan, was es ausmacht, ein guter Musiker zu sein und dass seine Basis eine Art Meditation auf musikalischer Ebene ist. Zusammen mit einem von Natur aus ausgestatteten Talent ist es möglich, noch mehr aus seinen Gaben herauszuholen, als es normale Musiker schaffen können. Das erfordert jedoch eine gute Schulung, ganz viel Übung, Disziplin und Kontrolle der erlernten Grade durch Fachkundige. „Auf diesem Kongress stelle ich euch die vier wichtigen Bereiche vor die nötig sind, um sich zu vervollkommnen:

1. das „Sonnenblitzen“ ist der erste Grad dieser musischen Reise. Jeder Teilnehmer bekommt eine Einführung und wird auf seine Fähigkeiten getestet.

2. die „Nebellichtung“ ist der zweite Grad. Die Reise zu sich Selbst, das Finden, Tasten und Entschlüsseln.

3. der „Weg der Hoffnung“ ist der dritte Grad. Atemtechniken in Stille, Blasformationen und Klangerzeugung im Einklang mit der Natur.

4. die „Musische Einsicht“ ist der vierte und letzte Grad. Ayurvedische Klänge verändern die Welt.

„Jeder der möchte“, so Herbiwan, „kann sich für diese Woche anmelden und kostenlos jeden dieser Schritte durchlaufen. Am Ende der Woche werde ich die Teilnehmer bewerten. Den für mich talentiertesten Kandidaten lade ich zu mir in die „Indian Summer Schule“ nach Indien ein. Dort hat er dann die Möglichkeit, sich zu vervollkommnen.

Das wär’s fürs Erste. Ich wünsche euch allen ganz viel Freude, Kreativität und Gemeinsamkeit. Ach so, eines habe ich noch vergessen. Dabei hebt er kurz die Hand hoch. Am letzten Abend wird es die Indian Summer Party im Gallo Gallo geben, um die Woche im ausgelassenen Einklang zu beschließen und um zu verkünden.“

Wie gerne hätte ich ihn noch näher kennen gelernt. Ich habe so viele Fragen an ihn, zum Projekt, u.u.u. Aber das muss wohl warten. Die anderen Leute um mich herum blicken ein wenig irritiert. Wahrscheinlich geht es ihnen genauso wie mir. Wo ist eigentlich Karl abgeblieben? Den habe ich ja total vergessen. Ich finde ihn bei seiner Lieblingsbeschäftigung. Im Eingangsbereich, wo er mit einer hübschen Inderin flirtet. Sein Blick spricht Bände. Ich beachte die beiden Turteltäubchen nicht weiter und gehe direkt zur Wochenanmeldung durch.

Dienstag früh geht es los. Mit mir haben sich noch weitere 58 Personen angemeldet, sodass alle Teilnehmer in zehn Gruppen eingeteilt werden. Die ersten Übungen bestehen darin, verschiedene Melodien in unterschiedlichen Tonarten anzuspielen. Danach müssen sich alle hinlegen. Es liegen dazu Bodenmatten bereit. Die Augen bleiben geschlossen. Nur atmen, sonst nichts. Ich tue, was von mir verlangt wird. Verstehen kann ich es aber nicht. Neben mir räkeln sich die Menschen oder schlafen einfach ein. Zwei schnarchen, einer rennt raus, zwei Handys bimmeln. Ich liege weiter einfach so rum und höre zu.

Zum Mittag gibt es ein vegetarisches Curry mit frischem Koriander. Schmeckt super lecker. Ich werde einmal fragen, ob ich das Rezept bekomme. Daran könnte ich mich gewöhnen. Nach dem Essen ist erst einmal nichts zu tun. Das Motto für heute „Wenn du nichts hast, wirst du nichts haben“ lasse ich mal so im Raum stehen. Es verwirrt mich ein wenig.

Ich vertrete mir nach diesem „anstrengenden“ Vormittag die Beine und laufe durch den nahe gelegenen Zoo. Vorbei an den quirligen Affen, den stinkenden Hyänen, den schwimmenden Bären und den stehenden Elefanten. »Hat man mich zum Elefanten verdonnert?« frage ich mich. Die machen genau das, was ich den ganzen Morgen gemacht habe. Ich werde ein wenig nachdenklich, setze mich auf eine Bank und schaue den Elefanten beim Nichtstun zu. Nach zwei Stunden bin ich wieder im Workshop. Letzte Aufgabe für den Tag: Wasser trinken. Jeder hat eine Karaffe Wasser und ein Glas vor sich stehen und soll das Wasser austrinken. Anschließend ist Schluss für heute. Jeder entscheidet also, wann er gehen möchte...

Der erste trinkt, und geht. Ein anderer trinkt nichts, und geht trotzdem. Ich habe Zeit; und genieße das Schauspiel. Nachdem alle gegangen sind, trinke ich den letzten Rest aus, und gehe.

Ich rufe Karl an, aber es springt nur die Mailbox an. Ich hinterlasse meinen Spruch und gehe baden. Am Abend spiele ich zur Entspannung noch ein wenig Saxofon. Die lieblichen Klänge meines Instrumentes lassen andere Segler, die sich in der Nähe befinden, neugierig werden. Sie verweilen einen Augenblick, bevor sie sich wieder mit meinem musikalischen Hintergrund ihren Dingen widmen. Heute ist mir nicht nach Session und Unterhaltung. Stattdessen rufe ich wie jeden Tag Marie an, um ihr von meinen heutigen Erlebnissen zu erzählen. Ich freue mich sehr auf ihr Kommen und sie sich auch auf den Kurzurlaub, denn sie hat im Moment recht viel um die Ohren. Da tut ihr ein verlängertes Wochenende gut. Da ich nicht genau weiß, wann ich abends wieder da bin, verabreden wir eine Stelle, wo sie den Schlüssel von der Alten Dame findet. „Lass dir ruhig Zeit, Onno“, entgegnet Marie. „Ich komme schon zurecht. Ich liebe dich. Bis morgen.“ »Bis morgen mein Schatz. Ich liebe dich auch.« Erschöpft und zufrieden falle ich in meine Koje und sinke in einen tiefen Schlaf.

Erschreckt wache ich auf. Ich habe vergessen, mir den Wecker zu stellen. »So ein Mist!« fluche ich. Doch als ich auf die Uhr schaue, bin ich total verblüfft. Es ist halb sechs. Und genau um diese Zeit wollte ich aufstehen. Das gab es noch nie. Normalerweise wache ich immer erst gegen Mittag auf. Und wieso bin ich überhaupt so fit? Ich springe in meine morgendliche Großbadewanne und mache meine Runde. Nach einem kleinen Frühstück und einem Espresso fahre ich nach Hannover. Ich bin ganz gespannt auf den zweiten Workshop-Tag. Mal sehen, was ich heute so alles erleben werde. Der Tag fängt schon mal gut an. Die Straßen sind wie leergefegt. In einer guten halben Stunde bin ich da. Die Fahrtzeit hat Weltklasse Niveau!

Die Mitarbeiter sitzen gerade alle beisammen und laden mich zu einer Tasse Tee ein. Sie erzählen sich Geschichten über den gestrigen Tag. Nur mein Trainer ist auffällig ruhig. Ganz verständlich, denke ich. Meine Frage nach Herbiwan und ob er diese Woche noch einmal hier auftaucht, verneinen sie gleich. Wohl eher nicht. Das wäre nicht seine Art. Er brauche seine Ruhe, denn die Reisen sind immer sehr anstrengend.

Der zweite Tag startet mit einem Konzert für alle noch verbliebenen Teilnehmer. Ein Hammer Gig, gespielt von Herbiwans besten Schülern. Das Alter ist durchweg oberhalb der 60er. Aber alle sechs Musiker verstehen wirklich sehr viel von dem, was sie da machen. Es berührt mein Herz. Nach dem Konzert gibt es einen kleinen Snack für alle. Wieder mit tollen indischen warmen und kalten Gerichten.

Danach geht es ohne Umschweife weiter in den zweiten Grad. Meine Gruppe besteht nur noch aus sieben Personen. Die anderen haben sich zwischenzeitlich abgemeldet, wie man uns mitteilt. »Vielleicht haben sie einen über den Durst getrunken«, grinse ich in mich hinein. Der nächste Raum ist komplett mit schwarzen Vorhängen zugezogen. Wieder hat man für uns Matten vorbereitet, auf die wir uns nun ausgestreckt hinlegen. Dann wird das Licht ausgemacht und man sieht wirklich nichts mehr. Nicht mal die Hand vor Augen.

Es erinnert mich an die Zeit, als ich noch meine Fotofilme selbst entwickelt habe. Dazu musste ich in einer dafür von mir angefertigten Dunkelkammer, die eigentlich viel zu groß war, blind den Film aus der Dose holen und in eine Spule einfädeln. Einmal habe ich den Film verloren. Er ist mir aus der Hand gerutscht. Ich wurde schon als vermisst gemeldet, da ich gefühlte 2 Stunden für die Suche und noch eine weitere für die Einfädelung in die Entwicklungsspule benötigte. Ich habe mir fast in die Hose gemacht, denn ich musste dringendst auf die Toilette. Doch wenn zu diesem Zeitpunkt Licht in den Raum eingefallen wäre, wäre die ganze Arbeit umsonst gewesen. Was sowieso der Fall gewesen ist, denn nach der Entwicklung stellte ich fest, dass auf dem Film gar keine Fotos waren. Ich hatte dummerweise den neuen Film entwickelt. Nach diesem Zwischenfall, habe ich den Abstellraum neben der Heizungsanlage für diese Zwecke umgebaut. Der war so schön klein und übersichtlich.

Wir werden nun dazu aufgefordert, Ruhe zu bewahren und die Augen zu schließen. Ganz leise vernehme ich eine Melodie, die wie aus einer anderen Welt zu kommen scheint. Und noch viel ferner. Erst flüsternd, dann lauter werdend höre ich Herbiwan’s Stimme. Eine Reise durch die Welt der Sinne beginnt. Es geht um Kälte und Wärme, Nässe und Dürre, Hunger und Durst, Krieg und Frieden. Am Ende werden die Welten in Nebel gehüllt. Seltsamerweise habe ich bei dem ganzen Prozess alles gespürt. Ich fühlte mich vom Regen durchnässt, hatte einen trockenen Mund voller Dürre und versteckte mich vor den Feinden bei einem Schusswechsel. Ich erwache aus einem Traum, der keiner war und trete aus dem Nebel, der keiner ist.

Unsere Trainer verabschieden uns in den Abend, und so mache ich mich auf zum Steinhuder Meer.

Als ich auf den Parkplatz fahre, sehe ich Marie schon den Steg runterkommen. Sie ist mit dem Zug gekommen, damit wir gemeinsam heimfahren können. Wir schließen uns liebevoll in die Arme und verschwinden gleich für unbestimmte Zeit in der Kajüte. Gegen Abend gehen wir schwimmen. Marie gefällt es hier genauso gut wie mir. Zum Segeln haben wir beide keine Lust. Und so lassen wir uns vom ortsansässigen Italiener mit Pizza, Pasta und Wein versorgen. So lässt sich der Laissez Faire genießen. Die warme Sommerluft lädt uns zum Kuscheln und Genießen bis in die späten Abendstunden ein. Als Absacker spiele ich für Marie noch ihre Lieblingsstücke auf dem Saxofon. Die Klänge werden weit über den See getragen. Beim Musizieren spüre ich, dass die Welt..., das Leben..., der Augenblick..., ein Stück weit innehält. Sooo lange, bis meine Lippen das Mundstück loslassen.

„Was haben sie mit dir gemacht, Onno? Du bist so entspannt, so ruhig und trotz allem voller Tatenkraft und -drang. Das gefällt mir sehr. So bist du früher einmal gewesen.“ Und nach einem kleinen Moment des Innehaltens sagt sie weiter: „Ich glaube, es ist gut, was du da machst.“ Marie gibt mir einen intensiven Kuss und drückt sich ganz fest an mich. »Danke für deine lieben Worte. Es ist schön, dass es dich gibt. Ich liebe dich. Du bist eine tolle Frau.« „Und du bist ein toller Mann.“ Wir verschwinden wieder in der Kajüte, löschen das Licht und verbringen eine wundervolle Nacht. Erschöpft, aber überglücklich, schlafen wir Arm in Arm ein.

Am dritten Workshoptag mache ich mich wieder alleine auf den Weg. Marie wollte nicht mit. Sie kommt zum Abschlusskonzert mit, verspricht sie mir. Doch jetzt möchte sie nicht stören. Außerdem ist das Wetter so unschlagbar, dass sie lieber hier am schönen Steinhuder Meer ausspannen möchte. Das kann ich gut verstehen. Recht hat sie.

Im Congress Centrum angekommen, vernehme ich wieder Konzertklänge aus dem großen Saal. Die Zahl meiner Mitstreiter ist weiter geschrumpft. Jetzt sind wir nur noch zu fünft und insgesamt sind von 48 Teilnehmern nur noch 33 übrig geblieben. Ich kann das gar nicht verstehen. Wir werden nun in Dreierreihen vor den Musikern aufgestellt. Jeder soll die Augen wieder schließen und für sich den Takt erkennen und erfühlen. Und so wie jeder es für sich meint, soll er atmen. Es ist nicht einfach, etwas zu fühlen, wenn man permanent denkt, im nächsten Moment umzufallen. Ich versuche es, so gut es eben geht. Wie sich die anderen schlagen, kann ich nicht beurteilen, da meine Augen ja geschlossen sind. Nach dieser Übung setzen sich alle auf den Boden. Die Band spielt unterdessen weiter. Nach und nach werden Naturgeräusche in die bestehenden Musikstücke eingebaut wie z. B. Blitz und Donner, Wind, das Rascheln der Blätter, Regentropfen, Wolkenguss. Manche Kombinationen regen meine Fantasie an, andere wiederum sind für mich unerträglich. Geradezu abscheulich, dass es mich nur so schüttelt, was ich auch zum Ausdruck bringe.

In der Mittagspause komme ich wieder ein wenig zur Ruhe. Ich nutze es, um nochmal in den Zoo zu gehen. Wieder bleibe ich länger bei den Elefanten stehen und komme anschließend zufällig bei den Menschenaffen vorbei. Mit welcher Ruhe sie die Entspanntheit auf die Besucher übertragen, ist unglaublich. Ähnlich wie bei den Elefanten, bleibt die Hektik vor der Tür. Ich setze mich und verweile, schließe die Augen und atme. Atme im Einklang mit der Natur. Ein —— aus —— ein —— aus —— ein —— aus — —...

Ganz unbemerkt setzt sich ein älterer Herr neben mich und beobachtet. Beobachtet mich. Nach einer gewissen Zeit steht er wieder auf und läuft davon. Beim Vorbeigehen streift ein Luftzug mein Gesicht. Ich öffne die Augen. Im Gegenlicht sehe ich nur die Silhouette und meine, Herbiwan darin zu erkennen. Oder doch nicht? Unschlüssig mache ich mich auf den Weg zurück zum Workshop. Ich freue mich schon auf den nächsten Part heute Nachmittag.

Das geht dann auch gleich spannend weiter. Jeder von uns bekommt sein Instrument in die Hand. Bemerkenswert, diese Organisation, für 33 Teilnehmer die erforderlichen Instrumente zu besorgen, denke ich. Da die Gruppen so klein geworden sind, werden nun einige zusammengelegt. Denn die Gemeinschaft soll voneinander und miteinander lernen. Das ist ein wichtiger Grundsatz und Bestandteil von Herbiwan’s Musiklehre. Weiterhin Respekt und Rücksicht, Acht geben und zuhören. So geht jeder in sich und einzeln werden nach und nach die eigenen Empfindungen des Vormittages vorgetragen. Jeder auf seinem Instrument. Und nur, was einem gut gefallen hat, so lautet die Aufgabe. Es posaunt jeder im wahrsten Sinne des Wortes sein Liebstes in die Welt hinaus. Und ich lerne dabei, dass die Menschen unterschiedlicher nicht sein können. Die von mir empfundenen abstoßenden Töne werden von einigen genau so, für mich abstoßend, dargestellt. Alles ist subjektiv. Das Resultat: Habe niemals Erwartungen, lass es einfach geschehen; du kannst nur gewinnen.

Und so komme auch ich an die Reihe, schließe die Augen – und halte inne. In Gedanken an den Wind, die Elefanten und die Menschenaffen ertönt eine Fanfare, einem Aufbruch gleich. Ich setze ab und bin erschrocken über mich selbst. Offen und vom Selbst bestimmt, weitsichtig und intim habe ich mein Innerstes ausgekehrt.

Ich fahre zurück. In Gedanken an das, was gerade geschehen ist. »Was passiert hier? Was passiert mit mir? Wo geht die Reise hin?« denke ich. Bei den ganzen Wirren, die in meinem Kopf herumschleichen, übersehe ich fast die Kreuzung. Ein wildes Hupkonzert beendet meine Irrfahrt. Ich entschuldige mich mit einem Handwinken und fahre weiter. Ich erzähle Marie von meinen heutigen Erlebnissen. Sie freut sich für mich. „Vielleicht stehst du morgen ne Stunde eher auf und fährst mit dem Rad“, wirft sie sarkastisch ein und grinst dabei wie ein Honigkuchenpferd. „Frischer Wind hat dir schon immer gut getan.“ »Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen«, denke ich. Doch sie freut sich für mich und ermutigt mich für einen spannenden, letzten Workshoptag. Der Wind hat währenddessen aufgefrischt. Wir setzen die Segel. Das einzige Gaffelsegel weit und breit. Anmutig segeln wir zum Wilhelmstein, einer alten Gefängnis-Insel und trinken nach der Besichtigung in dem schönen Biergarten ein Glas Wein. Unter Weidenbäumen und Sonnenschein, das können nur Verliebte sein.

Marie begleitet mich an meinem letzten Workshoptag. Er beginnt mit einem lauten Trommelwirbel. Zur Feier des Tages und zu Ehren der noch verbliebenen 26 Teilnehmern, wird heute Tracht getragen. Wir Schüler bekommen die Nationalgarderobe des Indian Summer. Welch ein Anblick! Beinahe 40 Menschen stehen nun in dem Konzertraum. Und alle sind in Weiß gekleidet, mit braunen Ledersandalen an den Füßen. Sie haben eine gewisse Ähnlichkeit mit den Flip Flops, nur dass sie an der Fußspitze etwas mehr geschlossen sind. Ein Lederriemen wird etwa Knöchelhoch gebunden und endet in einer goldenen Schleife aus Blumen. Die bilden den Rahmen für das Kernbild – einen Elefanten. Die ganze letzte Woche habe ich Ausschau nach dieser Garderobe gehalten. Ich habe etwas derart Schönes und Vollkommenes noch nie gesehen und freue mich umso mehr, dass ich doch noch dazu komme. Aber ein wenig verlegen bin ich schon, mich vor der Familie so zu zeigen.

Ich drehe mich zu Marie um, die mit den anderen Angehörigen etwas im Hintergrund steht und neugierig dem Treiben zusieht. Sie lächelt mich liebevoll an. Gerade, als ich mich wieder umdrehen möchte, sehe ich Karl durch die Tür huschen. Wir begrüßen uns kurz mit einem Augenzwinkern. Anschließend begibt er sich zu Marie. Wir sehen uns bestimmt später noch.

Der Raum wird langsam abgedunkelt. Ich fühle mich dadurch in eine besondere Stimmung versetzt. Es wirkt auf mich wie eine Galavorstellung. Die Wand, auf die wir blicken, gleitet an die Seite und wir alle schauen unsere Band an. Wir haben sie schon in unser Herz geschlossen. Die Woche hat uns zusammengeführt. Ein letztes Konzert. Alle klatschen zum Takt in die Hände. Die Stimmung ist losgelöst, locker und vergnügt. Ich spüre Marie, wie sie sich von hinten an mich schmiegt. Zusammen tanzen wir eng umschlungen zu den Klängen dieser tollen Band. Es tut gut, dass sie da ist und mir die Zuversicht und Kraft gibt. Nachdem das letzte Lied abgeklungen ist, setzen wir uns alle auf den Boden. Die Musiker setzen sich zu uns. Voller Spannung erwarten wir nun die Ansprache von Herbiwan und die Abschlusszeremonie. Ich bin ganz gespannt auf das Ergebnis. Wen wird er wohl zu sich einladen?

Das Licht erlischt, bis auf den kleinen Lichtkegel, der das Podest erhellt. Hierauf steigt nun Herbiwan. Applaus, tosender Applaus. Von der Intensität ist selbst er ein wenig berührt. Nachdem es wieder ruhig geworden ist, beginnt er zu sprechen:

„Was für eine Woche. Ich bin überwältigt von dem Zuspruch für mein Projekt hier in Deutschland. Alles, was ich mir dafür erhofft habe, ist bei weitem übertroffen. Das verdanke ich euch allen! Alle Musiker, die sich auf mich und meine Prinzipien einlassen konnten. Ich bin mir sicher, dass bei dem einen oder anderen eine Veränderung stattgefunden hat.“ Breites Kopfnicken im ganzen Saal. „Es ist gut so,“ spricht er weiter, „sich manchmal auf neue Dinge einzulassen, um seinen Horizont zu erweitern. Ich weiß, dass manche durch meine Übungen ihre angenehmen und sicheren Grenzen überschritten haben. Aber Grenzen sind eben manchmal dazu da, sie zu überspringen. Über den Tellerrand hinaus wagen sich nicht so viele. Jenseits des Randes ist alles ungewiss und nicht mehr so vertraut. Aber vertrauen muss man. Ich bin die ganze Woche präsent gewesen und habe euch beobachtet. Mir ist es wichtig, Veränderungsprozesse mitzuerleben. Nur so kann ich mir einen Überblick verschaffen, wer instinktiv handelt, und wer nicht. Die meisten von euch haben jeden Tag neu angefangen. Sie konnten einfach nicht daran anknüpfen, was vorher gewesen ist. Aber genau das ist so wichtig, denn eine Begabung muss spürbar sein. Es muss kribbeln. Etwas soll jeden Tag neu in einem passieren. Die musikalischen Möglichkeiten können nur dann voll ausgeschöpft werden, wenn man von der Umgebung auch als neues und verändertes Individuum wahrgenommen wird....“

Während Herbiwan’s Rede lasse ich die Woche noch einmal Revue passieren. Diese Veränderungen, von denen er spricht, genau die habe ich erlebt. Etwas ist in mir vorgegangen. Selbst Marie ist es aufgefallen. Als wenn jemand von außen einen Schalter umgelegt hat, den ich schon seit Jahren gesucht habe und nicht wusste, wo er zu finden ist... „Onno?... Onno!!!.. »Ja, was ist?« Erschreckt wache ich aus meinem Tagtraum auf.“ Herbiwan hat Dich etwas gefragt.“ »Oh! Pardon. Irgendwie haben mich deine Worte sehr berührt und ich musste an die Erlebnisse der letzten Woche denken. Entschuldige bitte, Herbiwan. Ich wollte nicht unhöflich sein.« „Das macht nichts, Onno. Das kann ich gut verstehen, dass du etwas empfindest. Ich habe dich schließlich beobachtet, als du im Zoo bei den Elefanten und Menschenaffen warst.“ »Dann warst du das also doch? Du warst der, der so schnell wieder fortgegangen ist. Auf der Bank, bei den Menschenaffen. Der alte Mann in dem weißen Mantel...?« „Genau der bin ich gewesen. Und du hast dich verändert. Genau wie es sein soll. Weißt du, Onno, auch ich bin einmal in deiner Situation gewesen und mir ist das gleiche widerfahren. Du bist der Mensch, den ich gesucht habe. Ich möchte dich fragen, ob du mein Gast in Indien sein möchtest?“ Ich kann es nicht glauben. Mir schießen die Tränen in die Augen. »Marie! Marie! Hast Du das gehört?« „Ja, mein Schatz. Ich habe es irgendwie geahnt. Ich freue mich so für dich. Das hast du dir wirklich verdient. »Ja, Herbiwan. Ich komme sehr, sehr gern in dein Projekt nach Indien. Das ist mein größter Traum.«

In ausgelassener Stimmung feiern wir alle im Gallo Gallo in Hannover. Eine großartige Woche ist nun zu Ende gegangen. Der krönende Abschluss ist Herbiwan. Der große Meister himself gibt sich die Ehre und gibt ein Solokonzert. An diesem Abend passt einfach alles zusammen. Am Buffet gibt es indische Spezialitäten, an den Wänden hängen Fotografien aus Herbiwan’s Projekt. Kinder, die musizierend auf großen Felsen sitzen, im Hintergrund die Musik und in meinen Armen Marie.

Im Laufe des Abends setzt sich Herbiwan zu mir. „Mein Freund, ich komme gleich zu der Verkündung.“ »Wovon sprichst du, Herbiwan? Welche Verkündung?« „Erinnerst du dich noch an den ersten Tag, Onno? Die Einführung in die Projektwoche, die Stationen und schließlich die Verkündung im Gallo Gallo!“ Langsam fängt es an bei mir zu klingeln. Allerdings bin ich irritiert, denn ich kann die Situation nicht richtig einschätzen. „In einer Viertelstunde ist es 24:00 Uhr. Ich werde dann oben auf der Bühne ein Rad drehen. Das Rad der Zeit. Dort, wo der Zeiger stehen bleibt, werde ich verkünden. Hab keine Angst. Zeit ist eine der zentralen Figuren für die kommenden Bewältigungen deiner musikalischen Ausbildung beim Indian Summer. Du bist wo du bist und wann!“ Und damit steht er auf und verschwindet in der Menschenmenge. Ich schaue auf meine Uhr. Es sind noch fünf Minuten bis Mitternacht. »Hast du das Ganze verstanden, Marie?« „Nein Onno, aber es wird sich gleich sicher alles klären. Hab Vertrauen zu dir.“ Im Hintergrund auf der Bühne sehe ich, wie eine Konstruktion aufgestellt wird. An einem Haken wird eine kreisrunde Scheibe befestigt. Auf dessen Rand stehen fremde Symbole und Tierzeichen. Aus der Mitte sticht ein Dorn hervor, mit einer goldenen Kugel am Ende verziert. Neben der Konstruktion wird ein großer Gong aufgestellt. „Goonnnnng! Goonnnnng!“ macht es um Punkt Mitternacht. Das Licht erlischt. Ein drittes „Goonnnnng“ ertönt. Es brummt in meiner Magengegend, so intensiv ist der Klang. Nervös bleibe ich ganz still stehen und halte mich an Marie fest. Mir ist ein wenig unheimlich zumute. Ein Summen ertönt, erst ganz leise, fast nicht zu hören, dann immer lauter werdend. Aus dem Summen wird ein Sirren, hell, laut und schnell. Wie aus dem Nichts gehen tausende Strahler an und scheinen direkt auf die Scheibe, welche sich in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit dreht. Mir ist so, als wenn sie sich formiert – die Zeichen und Symbole fangen an, in den Mittelpunkt zu wandern... Dann verschmelzen sie. Aus einem weißen Strahl, heller als jedes Licht, läuft ein weißer Elefant direkt auf mich zu und durch mich hindurch. Ich vernehme ein angenehmes Gefühl, ein leichtes Kribbeln durchdringt meinen Körper. In Gedanken reise ich auf dem Rücken des Elefanten durch ein Tal mit dreizehn Flüssen und überquere vier Ozeane, bevor wir an ein großes Tor kommen. Zwei überdimensional große Stoßzähne kreuzen sich an der Spitze und bilden das Portal. Herbiwan steht darunter und lächelt mich an. Das Licht erlischt plötzlich wieder. Unruhe und Tumult erfüllen den ganzen Raum. Dann geht das Licht wieder an. Erleichterung lese ich in allen Gesichtern. Ich bin sehr verwundert, denn die Leute hier scheinen etwas anderes in den letzten Minuten erlebt zu haben, als ich. Und auch Marie macht einen losgelösteren Eindruck auf mich. Mein Blick geht nach vorne zum Podest. Die Scheibe ruht in sich. Dann erscheint Herbiwan auf der Bühne „Es ist nun soweit. Ich verkünde dem Auserwählten nun seinen Wesensfaktor: ELEFANTENREISE.“ »Ganz klar«, denke ich, »ich kaufe mir schnell einen Elefanten, und los geht’s.« Ich muss ungefähr wie ein Auto geschaut haben. Nur nicht so schnell. Mit leerem Blick, von hier bis Nirgendwo. Auch Marie ist ein wenig irritiert und weiß nicht so recht, was sie sagen soll. Nur Karl. Der hat mal wieder einen eingehenden Spruch auf Lager: „Wer trampelt durchs Getreide? Wer trampelt durch die Saat? Der Onno und sein Kleiner, die sind hier gleich am Start. Töröööööööh!“

„Onno, lass dich nicht ärgern.“ Mit diesen Worten nimmt mich Herbiwan leicht grinsend in Schutz. Er hat von der Seite unser Gespräch verfolgt. „Ich möchte mich jetzt von dir verabschieden, denn meine Zeit hier in Hannover neigt sich nun dem Ende zu. Ich werde gleich meine Heimreise antreten.“ »Aber, aber....« stottere ich ein wenig hilflos. „Hab keine Angst, Onno. Denk an meine Worte und an das, was du hier für dich mitnehmen konntest. Wenn du da bist, bist du da. Bis bald.“ Er drückt Marie und mich kurz, dann verschwindet er zwischen den Feiernden und lässt uns recht ratlos zurück. Ich denke nicht weiter nach, sondern genieße erstmal die Stimmung hier. »Denken kann ich auch noch zu Hause. Jetzt wollen wir erstmal feiern.« Und so genießen wir dieses schöne Fest und tanzen bis in die Morgenstunden. Pünktlich zum Sonnenaufgang sind wir zurück auf der Alten Dame. Wir springen nackig in das angenehme Wasser und turteln ausgelassen. Die fröhliche und lebendige Stimmung, so frei haben wir uns schon lange nicht mehr gefühlt; und das genießen wir beide in vollen Zügen. Die ganze nächste Woche machen wir noch blau und verbringen die Zeit hier am schönen Steinhuder Meer. Am folgenden Wochenende, bevor es wieder zurück nach Bad Zwischenahn geht, kommt Karl noch mit seiner neuen Freundin für zwei Tage nach Steinhude. Es überrascht mich nicht, als er sie uns vorstellt. Mondina heißt die schöne Inderin. Sie haben sich auf dem Workshop kennen- und liebengelernt. Zu viert erkunden wir die Landschaft und machen noch zwei tolle Segeltörns, bevor wir unsere Siebensachen wieder zusammenpacken. Am Sonntagnachmittag verabschieden wir uns voneinander, dann steigen Marie und ich in unseren Landy. „Und ruf mich bloß an, wenn dass mit deiner Reise nach Indien steht, ja?“ ruft Karl mir hinterher. »Ja klar! Ich sage dir Bescheid. Versprochen. Bis bald.« „Bis bald. Und gute Fahrt.“ Wir winken noch, bis wir an der nächsten Ecke abbiegen müssen. »Das waren wirklich zwei Hammerwochen.« Marie nickt nur und schmiegt sich fast die ganze Fahrt über an mich. Irgendwann schläft sie ein und trotz des lauten Motorengeräusches unseres Geländewagens höre ich ganz deutlich ihren Atem. Ihr Lied ist beste Unterhaltung für mich und gibt mir Gelegenheit, das Erlebte durch meine Gedanken ziehen zu lassen. »Elefantenreise, was meint Herbiwan nur damit? Soll ich mit schwerem Gerät auffahren?« »Nein,« denke ich, »das kann nicht richtig sein.« Ich überlege weiter. »Was zeichnet einen Elefanten aus? Trägheit, Langsamkeit, Imponanz, Größe, Stärke, Güte, Gelassenheit.« zähle ich weiter auf. »Ja, ich bin auf der richtigen Spur. Was noch. Denk nach, Onno! Denk nach! Trampeln? Nein, das ist es nicht. Schreiten ist besser. Ängstlich ist er auch nicht, eher vorsichtig.« Ich folgere weiter: »Ein Herdentier, was auch ganz gut alleine klar kommt. Genauso wie ich.« Wir passieren ein Schild auf dem steht, dass Oldenburg nur noch zehn km entfernt ist. Ich freue mich auf Zuhause und auf meine Eltern, denen ich unbedingt erzählen muss, dass ich Herbiwan getroffen habe und er mich eingeladen hat. Mal sehen, ob sie sich noch erinnern können. Auf jeden Fall werden sie ganz schön Augen machen. Gegen 22:00 Uhr fallen Marie und ich ins Bett. Wir sind total erschossen, aber überglücklich. Den Hänger mit der Alten Dame haben wir einfach am Kran stehen gelassen. In den nächsten Tagen fahre ich hin, um sie wieder ins Wasser zu lassen.

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