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Es ist passiert: der gewohnte Alltag ist aus den Fugen geraten, die vertraute Ordnung versagt. Plötzlich suchen verdrängte Sehnsüchte ein Ventil, werden alte Rollen zu Fesseln, fordern Lebenslügen ihren Preis. Dabei wären sie nichts lieber als unauffällige Durchschnittsmenschen, die Akteure dieser Geschichten. Nun aber müssen sie ihren Seelenfrieden retten: der langweilige Liebhaber wird über den Balkon gekippt, der Ehemann sucht als Ameise das Weite, den störenden Nachbarn holt ein Krokodil. Diese Auswahl von Geschichten aus 20 Jahren präsentiert die erzählerische Palette Helga Königsdorfs: vom grotesken Szenario bis zum nachdenklichen Märchen, in dem es wie im Leben zugeht.
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Seitenzahl: 275
Veröffentlichungsjahr: 2016
Es ist passiert: der gewohnte Alltag ist aus den Fugen geraten, die vertraute Ordnung versagt. Plötzlich suchen verdrängte Sehnsüchte ein Ventil, werden alte Rollen zu Fesseln, fordern Lebenslügen ihren Preis. Dabei wären sie nichts lieber als unauffällige Durchschnittsmenschen, die Akteure dieser Geschichten. Nun aber müssen sie ihren Seelenfrieden retten: der langweilige Liebhaber wird über den Balkon gekippt, der Ehemann sucht als Ameise das Weite, den störenden Nachbarn holt ein Krokodil. Diese Auswahl von Geschichten aus 20 Jahren präsentiert die erzählerische Palette Helga Königsdorfs: vom grotesken Szenario bis zum nachdenklichen Märchen, in dem es wie im Leben zugeht.
»Frau Königsdorf widmet sich statt des Gegensatzes zwischen Schwarz und Weiß den Spektralfarben der Wirklichkeit, entdeckt in der Katastrophe das Schöne, das Tödliche und den Schatten.« Frankfurter Allgemeine Zeitung
»Helga Königsdorf ist eine Frau, die die Einmischung nicht fürchtet und den Preis nicht scheut, der dafür zu zahlen ist.« Berliner Zeitung
Helga Königsdorf
Der gewöhnliche Wahnsinn
Die besten Geschichten
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Bolero
Das Krokodil im Haussee
Die Ameisenmetamorphose
Die Wahrheit über Schorsch
Mit Klischmann im Regen
Lemma I
Der unangemessene Aufstand des Zahlographen Karl-Egon Kuller
Meine ungehörigen Träume
Polymax
Der Zweite
Unverhoffter Besuch
Kirchgang
Die geschlossenen Türen am Abend
Reise im Winter
Der Rummelplatz
Liriodendron tulipifera
Der kleine Prinz und das Mädchen mit den holzfarbenen Augen
Der gewöhnliche Wahnsinn
Über Helga Königsdorf
Impressum
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …
Nein, ich weiß wirklich nicht, warum ich es getan habe. Eigentlich war überhaupt nichts Besonderes an ihm.
In jener Sitzung wurde ein Referat verlesen, dem man auch ohne böswilligen Scharfsinn die verschiedenen Zuarbeiter anmerkte. So ließ sich der Redner erst über den zurückliegenden Volkswirtschaftsplan aus, dann über den gegenwärtigen Volkswirtschaftsplan und schließlich über den bevorstehenden Volkswirtschaftsplan. Die langatmigen grundsätzlichen Bemerkungen und Schlußfolgerungen, die die jeweiligen Volkswirtschaftspläne begleiteten, unterschieden sich lediglich durch die ungleiche Sprachgewalt ihrer Schöpfer. Es muß etwa gegen Mitte des laufenden Volkswirtschaftsplanes gewesen sein, als mir die Blutwurststulle in meiner Tasche in den Sinn kam. Und zwar derart eindringlich, daß in mir der Nahrungsreflex und das im Prozeß meiner Persönlichkeitsentwicklung herausgebildete Normverhalten kollidierten. Mein weiteres Konzentrationsvermögen unterlag hoffnungslos der Zwangsvorstellung, während eines grundlegenden Referates in eine Blutwurststulle beißen zu müssen. Solchermaßen verwirrt, blieben meine Augen zum ersten Mal an ihm haften. Vielleicht, weil er weiter unablässig, auch später gegen Ende des kommenden Volkswirtschaftsplanes, aufmerksam und gewissenhaft in ein schwarzes Heft schrieb. Wie ich so zu ihm hinschaute, sah er hoch, wollte wieder seine Augen abwenden und konnte es nicht. Wenn mir in diesem Moment prophezeit worden wäre, daß er in meinem Leben oder, besser, ich einmal in seinem Leben so unerhört bedeutsam werden würde, ich hätte nur gelacht. Denn, wie ich schon sagte, es war nichts, aber auch gar nichts Besonderes an ihm.
Er war in jenem Alter, in dem die Männer über die Intensivierung ihres Lebens nachdenken. Als er sich mir während der Pause in den Weg baute, seine dicke Brille zurechtrückte und über sein schütteres Haar strich, überkam mich die alberne Vorstellung von einer magenkranken Dogge. Dabei waren es aller Wahrscheinlichkeit nach gerade dieser müde und verbrauchte Zug in seinem Gesicht und die Narbe, die seine linke Hand verunstaltete, die mein historisch verbildetes weibliches Mitgefühl mobilisierten. So verblieb meine Blutwurststulle, trotz aller Aufregung, die sie in meinem Nervensystem erzeugt hatte, in der Tasche, und ich gestattete ihm den Erfolg, mich zum Kaffeetrinken verführt zu haben.
Ihn aber beeindruckte dieses Erlebnis derart, daß er mir unsagbar beflügelter erschien, als dies der nackten Wahrheit entsprach. Ich hatte in jenen Tagen so selten etwas vor. Ich hätte aus Langeweile dem Teufel Gefolgschaft geleistet. Warum sollte ich also nicht mit einem angegrauten, lüsternen, dicken Mann ein kleines abgelegenes Restaurant aufsuchen.
Das Zigeunersteak – meine Blutwurststulle verfütterte ich am anderen Morgen vom Balkon aus an die Möwen – und der rote Wein waren seine Wahl. Ich bevorzugte damals eigentlich lieblichen Weißen, er aber sagte, der echte Kenner zeige sich am Rotwein. Ich dachte wieder darüber nach, ob er magenkrank sei.
In unserer Unterhaltung gab es nichts, dessen man sich erinnern müßte. Aber man sollte unserer Mittelmäßigkeit die vielen abgesessenen Stunden zugute halten und die tatsächlich widrige Gesprächssituation: keine verbindenden Erinnerungen, kaum gemeinsame Bekanntschaften, noch undeutlich verbotene Zonen in unseren separaten Welten. So brachten mir zwar seine Berichte über das Verheiraten einer Tochter mittelbar Aufschlüsse über seine familiäre Gegenwart, aber eigentlich konnte sie mir einschließlich seiner genaueren ehelichen Umstände absolut gleichgültig sein.
Wieso beglich ich, als er kurz hinausgegangen war, die Rechnung? Ich glaube, da lag bereits ein entscheidender Fehler. Mir war irgendwie wohl dabei, war ich ihm doch nun zu nichts verpflichtet. Aber es steckte nichts weiter dahinter als eine gründliche Fehlinterpretation der Gleichberechtigung, zumal mir meine Blutwurststulle sicherlich besser geschmeckt hätte als dieses zähe Zigeunersteak und ich den roten Wein nicht mochte. Auf jeden Fall stellte ich damals, als ich den Kellner heranwinkte, eine Weiche in unserer weiteren Rollenverteilung, denn man denke bloß nicht, ein Verhältnis wie unseres erfordere keine innere Ordnung.
Schlamperei oder umwälzender Elan sind hier noch weniger am Platz als bei anderen in das Fundament der Gesellschaft eingelassenen Verbindungen.
Wir sind dann später nie wieder in ein Restaurant gegangen, sondern er besuchte mich in meiner kleinen Wohnung in der zwölften Etage des Hochhauses, an dem die Balkone wie Bienenwaben kleben.
Die Liebe mit ihm war nicht sonderlich erfreulich. Er kam ohne weitere Einleitung über mich und beschäftigte sich an mir mit sich. Hinter der Sinnlichkeit der Frauen mutmaßte er Tonnenideologie, und folglich bemaß er die Kultur seiner Liebeshandlung in deren Quantität. Trotzdem wäre ihm die Offenbarung meines Empfindens wohl nicht als Niederlage nahegegangen, denn durch Statistiken aufgeklärt, schätzte er den Prozentsatz der frigiden Frauen im Abendland auf sechsundneunzig. Welche richtige Frau aber würde nicht ihren Ehrgeiz dareinsetzen, zu den verbleibenden vier Prozent gezählt zu werden. Außerdem war allen Gedankengängen vorzubeugen, die in der Frage endeten: »Warum ich eigentlich …?«
Während ich also für seine Befriedigung schwer atmete und leise stöhnte, dachte ich daran, daß das blaue Sommerkleid zur Reinigung müsse. Ich legte seine Hand mit der Narbe zwischen meine Schenkel, doch er begriff nichts. Vielmehr registrierte er mit Staunen die ihm neu erschaffenen Fähigkeiten zur Lust, überließ sich gänzlich dem passiven Genießen, so daß in der Zukunft ich über ihn kommen mußte, was meinem natürlichen Empfinden zuwiderlief.
Vielleicht hätte ich es nicht getan, wenn ich bedacht hätte, daß er so schreien würde. Aber das konnte ich wirklich nicht ahnen, denn er war der ruhigste Mensch, den ich gekannt habe.
Danach übermannte ihn meist die Müdigkeit, und er fiel in einen kurzen tiefen Schlaf, während ich einer kleinen Mahlzeit die letzte Würze verabreichte. Ich wußte bald um seine Neigung zu herausgeputzten Speisen mit überraschenden Nuancen und fremdartigen Namen und kredenzte ihm den Pepsinwein vor der Suppe. Vielleicht kam er anfangs mehr wegen der Liebe und später mehr wegen des Essens.
Ich machte mir nichts aus diesen Essen, denn mir war damals oft übel. Wissen überbrückt nicht immer die Abgründe unserer Furcht, und so quälte mich eine abergläubische Scheu vor der Pille. Dieser Eingriff in das feine Zusammenspiel jener Kräfte, die die Lebensprozesse steuern, schien mir grob und unzulässig. Unnachweisbar, und eben darum unheimlich, würde sich die Struktur meines Seins ändern. War ich dann noch ich?
Abwegig verstaubte Anwandlung einer Frau mit im übrigen durchaus moderner Weltanschauung!
Er machte sich Sorgen! Und ich müsse ihm schon erlauben, daß er sich Sorgen um mich mache. Derart beschämt, schluckte ich die Pille und konnte mich nur schlecht daran gewöhnen. Obwohl mein Arzt mir wissenschaftlich nachwies, diese anhaltende Übelkeit könne nur eine Folge psychischer Verkrampftheit sein, war mir doch ganz real schlecht. Ich sprach nicht länger darüber, schließlich nehmen so viele Frauen die Pille.
Im Winter rochen seine Anzüge nach abgestandener Rauchluft, und ich hängte sie manchmal auf den Balkon. Im Sommer kam er meist verschwitzt, und mich begann der Geruch seines Körpers zu stören.
In unserer späteren Zeit ist er oft müde gewesen. Ich drängte ihn nie. Es war mir einerlei. Wir hätten auch gleich mit dem Essen beginnen können.
Er führte ein einwandfreies Familienleben, in dem ich keinen Platz hatte, nicht einmal als entfernte Kollegin. Ich stimmte dem unbedingt zu. Nüchtern gesehen: Scherereien hätte es nicht verlohnt. Ein Geheimnis war auch eine Waffe. Eine Waffe gegen das unerhörte Gefühl der Verlassenheit, das mich damals wie ein wieder- und wiederkehrender Angsttraum bedrängte. Ein Spannungselement, und hing auch noch so viel Selbstironie daran. Ein Kontrast im Gleichklang meiner Tage.
Nur einmal, ein einziges Mal, habe ich bei ihm angerufen. Das war nach jener Sitzung, die acht Stunden gedauert hatte und in der ich als allerletzte zu Wort kam. Ich sprach und sprach, und keiner hörte mich. Ich sprach nicht nur, um gesprochen zu haben, ich hatte tatsächlich etwas zu sagen. Ich redete mich in Eifer, ich beteuerte, ich gestikulierte, ich beschwor. Und die einen packten schon ihre Taschen, andere sahen mißmutig auf die Uhr, noch andere hatten den Wechsel des Redners gar nicht bemerkt. Danach brauchte ich einfach irgendeinen Menschen. Ich suchte den Zettel mit seiner Telefonnummer, den er mir in Anfangsgroßartigkeit gegeben hatte. Ich wählte die ersten drei Nummern. Hier schaltete sich das Tonband ein: »Kein Anschluß unter dieser Nummer.« Ich versuchte es ein weiteres Mal. Das gleiche. Im Telefonbuch war er nicht eingetragen. Ich vergaß später, ihn danach zu fragen. Ich hätte sowieso nicht wieder angerufen.
Ich arbeitete viel und zuverlässig, damals. Ich ließ mir dieses und jenes aufbürden, das nicht mein Amt gewesen wäre. Ich war häufig erschöpft. Die Menschen sahen mich freundlich und hastig an. Wie schwer ist es doch, ein bißchen Glücksbedürfnis zu ersticken.
Er kam zu mir, wann es ihm paßte, und manchmal dachte ich: Dieses Mal war das letzte Mal, ich will nicht mehr. Es war und blieb eine verfehlte Sache. Aber wenn ich wochenlang nichts von ihm hörte, wuchs in mir der Ärger, und wenn er dann anrief, war ich erleichtert, daß ich mich nicht mehr zu ärgern brauchte, und da ich gerade nichts anderes vorhatte, kaufte ich ein und bereitete das Essen vor. Manchmal ging ich auch schnell noch zum Friseur. Und wenn er kam, erzählte ich ihm die letzten Witze und zog die Vorhänge zu, obwohl nur der Himmel ins Fenster sah. Er protestierte, aber die Vorstellung, er würde mein Gesicht dabei belauern, war mir außerordentlich unangenehm. Danach schlief er etwas, ich deckte den Tisch, schmückte ihn mit bunten Servietten und Gräsern in einer schmalen Vase, und der Klang von Ravels »Bolero« in Stereo erfüllte anschwellend den Raum.
Wenn er gegangen war, räumte ich die Wohnung auf, badete und saß lange gedankenlos an der geöffneten Balkontür.
Nein, wie ich es auch wende, da war kein Grund, es zu tun. Er hat mich immer gefragt, ob er kommen dürfe, und ich hätte nur »nein« zu sagen brauchen. Er wäre sicher recht verwundert gewesen und dann natürlich gekränkt. Hätte ich doch wenigstens ein einziges Mal, wenn er anrief, etwas vorgehabt, vielleicht wäre alles nicht passiert.
Seine Frau erwies sich als eine Enttäuschung.
Ich war vollkommen frei von Skrupeln. Das entsprang nicht so sehr einem Defekt meines Charakters als der Überzeugung, daß die Rechnung sehr zu meinen Gunsten stand, denn ich gab ihm doch ein bißchen Freude, und Freude, gegeben, strahlt im Abglanz weiter.
Ich sah sie bei einem Theaterbesuch. Es war reiner Zufall. Nicht etwa, daß ich ein attraktives Überweib erwartet hätte, aber ein derartig geringes Aufgebot an Persönlichkeit war niederdrückend. Es ist nicht zu verstehen, doch ich fühlte mich unbeschreiblich gedemütigt. Dagegen hat mich sein Erschrecken, sein »Vorbeiseh-Manöver« und seine spätere Beteuerung, er habe mich tatsächlich nicht bemerkt, eher belustigt.
Auch meine Beichte über jene mißglückte Ansprache belustigte uns sehr. Wir genossen das Spiel der kleinen absichtlichen Entstellungen, der riesenhaften Übertreibungen von Winzigkeiten, und ich wuchs zur tragischen Heldin einer amüsanten Posse. Meine Vorschläge und Ideen nahm er wohltuend ernst. Er setzte sich rückhaltlos ein. Wo mich noch Skepsis hemmte, wirkte bereits der Hebel seiner Tatkraft. Als man ihm die Medaille für ausgezeichnete Leistungen an die Brust heftete, war auch ich stolz. Natürlich konnte er unmöglich sagen, daß ich ihm die Sache in meiner kleinen Wohnung im zwölften Stock erklärt hatte.
Ohne Zweifel ist es jetzt, nachdem das alles passiert ist, für mich sehr günstig, daß niemand etwas von unserer näheren Bekanntschaft ahnte.
An jenem Abend kam er direkt nach einer Sitzung zu mir. Ich legte ihm die Kissen im Sessel zurecht, schob die Fußbank heran, draußen wurde es bereits dunkel. Ich sah, er war sehr müde. Ich kochte einen starken Kaffee, würzte ihn mit Zucker und Zimt, gab etwas Himbeergeist in die breiten Schalen, zündete ihn an und goß dann langsam den Kaffee hinein. Ich fand es rührend, daß er sagte: »Ich bin heute sehr abgespannt, aber ich wollte dich unbedingt sehen.« Ich trug den neuen hauchdünnen weinroten Hausanzug, sonst nichts, und als er mich an sich zog, spürte ich, er war doch nicht so müde. Irgendwie mochte ich ihn in diesem Moment wie nie zuvor. Ich war besonders zärtlich zu ihm und ganz ohne Verstellung. Als ich seinen Kopf an meine Schulter legte, knurrte er leise. Ich fragte ihn, was er denke, und er sagte, mich wegschiebend: »Ach nichts. Aber ich bin doch ein altes Schwein.«
Das andere geschah völlig unerwartet. Wir aßen schneller als sonst, weil er zu Hause nicht abgemeldet war. Dann ging er, schon im Anzug, aber noch in Strümpfen, auf den Balkon, lehnte sich über die Brüstung, um nach seinem Auto zu sehen. Wie er so auf Zehenspitzen stand und sich reckte, faßte ich seine Füße und riß seine Beine hoch. Er hat nicht versucht, sich festzuhalten, er war wahrscheinlich zu überrascht. Das erklärt auch, wieso er erst so spät geschrien hat. Da war er schon in der Höhe des siebenten oder sechsten Stocks. Seine Schuhe und seinen Mantel habe ich hinterhergeworfen. Ich räumte die Wohnung auf, badete und setzte mich an die offene Balkontür. Ravels »Bolero« erfüllte anschwellend den Raum.
Manchmal grübele ich darüber nach, wie diejenigen, die seinen Nachruf verfassen, die Tatsache, daß er ohne Schuhe Selbstmord beging, damit in Einklang bringen, daß er der korrekteste Mensch war, den sie oder irgend jemand anderes kannten.
Widersprüchlich ist der Mensch. Aus dem engvertrauten Kreis drängt es ihn hinaus. Alle Dummheiten seines Lebens lastet er Vater, Mutter, Frau oder Kindern an. Ist er endlich draußen und muß für sich selber geradestehen, wird es ihm wohl sauer, und er sehnt sich zurück. Es ist ihm eigentlich nie recht zu machen.
Wir waren eine intakte Familie. Und so sollte es immer bleiben.
Zum harten Kern gehörten Mama, Papa, mein Bruder Hermann-Michael, mein Sohn Tommi und ich. Peter nicht. Nicht mehr. Tante Carola auch nicht. Und alles, was danach kam, nach Tante Carola also, erst recht nicht. Wir waren sehr für Abgrenzung.
Jenseits der Familiengrenze gab es nur Erfolgsmeldungen und Optimismus. Papas Krankheit war höhere Gewalt. Einladungen gingen hinaus, wenn es etwas vorzuführen galt. Ein neuer Teppich. Oder das Motorboot. Aber soweit sind wir noch nicht. Diese Geschichte beginnt viel früher.
Unsere Wohnung lag in einer ruhigen Nebenstraße mit vierstöckigen Altbauten. Die ewigen schwarzen Flecke vom Kohleanfahren auf dem Gehweg und der bröckelnde graue Putz verliehen der Gegend etwas Schmutziges. Im Winter sammelten sich Papierreste zwischen den kahlen Sträuchern der Vorgärten. Trotzdem fühlten wir uns in der Straße zu Hause. Jene Straße war nicht von einer Dimension, welche die Seele vergewaltigt. Hier wußte noch einer vom anderen. Die Alteingesessenen grüßten sich. Und wir gehörten zu den Alteingesessenen.
Damals schätzten wir das alles nicht besonders. Wir fühlten uns von nachbarlichen Augen und Ohren bis in unsere geräumige Wohnung mit dem schwer durchschaubaren Grundriß und den hellhörigen Wänden verfolgt. Es gab Themen, über die nur geflüstert wurde. Über Geld beispielsweise. Laute Streits trug man sich nicht wegen ihres Gegenstandes nach, sondern wegen der Bloßstellung vor Frau Ingenieurökonom Neumeister oder Herrn stellvertretenden Abteilungsleiter Gerwald. Aber im großen und ganzen führten wir ein harmonisches Familienleben.
Das spielte sich vor allem im Eßzimmer ab. Die Stuckgirlanden an den hohen Zimmerdecken. Mamas Meißner in der Vitrine. Unsere angestammten Plätze. Der kleine Balkon. Ausblick in Hinterhöfe und Gärten mit schönen alten Bäumen. Alles war immer dagewesen. Gehörte zu uns. Von Anfang an. Würde immer dasein.
Jedes Zimmer hatte seinen Namen. Das Schlafzimmer meiner Eltern hieß einfach »das Schlafzimmer«. Kirschbaumfurnier. Tagesdecke und Übergardinen aus dem gleichen ziegelfarbenen Seidenstoff. Ein mannshoher Spiegel. Geöffnete Fensterflügel. Alles beruhigend kühl. Eine feuchte, etwas muffige Kühle. In einem solchen Raum war Sexualität nicht vorstellbar. Geschlechtliches brauchte mit den Eltern nicht in Verbindung gebracht zu werden.
Mit meinem Zimmer auch nicht. Nicht mehr, seit Peter wieder von uns fortgezogen war. Nach seiner Gastrolle, aus der Tommi hervorging. Mein Sohn Tommi, dem das Nebenzimmer zugesprochen wurde und der durch seine kleine brüllende Existenz »das Arbeitszimmer« allmählich in »das Kinderzimmer« umwandelte.
Schmale Räume mit Ausblick auf die Brandmauer. Trotzdem ein Wunder an Behaglichkeit. Es war Mamas Idee, die Wände mit Sackleinwand auszuschlagen. Sie markierte die Stelle für den Stahlstich, links neben meinem Schreibtisch. Und es hatte keinen Sinn, sich aufzulehnen, denn die Idee war gut und die Stelle genau die richtige.
Mama war stark. Nichts brachte sie in Verlegenheit. Sie gehörte zu den Menschen, die zu Großem berufen sind, wenn es die Situation erfordert, und die bis dahin an dem Platz im Leben, auf den es sie verschlagen hat, ihre Rolle spielen. Ein bißchen zu perfekt vielleicht. Unangreifbar. Gegen den Vorwurf der Selbstgerechtigkeit gefeit. Weil sie immer im Recht sind. Mit einer unheimlichen Energie, die selten ansteckend wirkt. Öfters niederdrückend. Lähmend.
Mama die Seele unserer Familie zu nennen, würde die Lage nicht vollkommen charakterisieren. Mama war das Hirn, die Galle, die rechte Hand und was sonst noch alles lebenswichtig ist. Mama unterstand auch die Außenpolitik. Sie besorgte die Handwerker. Sie hatte Beziehungen. War Not am Mann, reparierte sie Staubsauger und Abflußrohre selbst. Sie wußte, was einem jeden von uns guttat. Ihre Fürsorge und Liebe waren grenzenlos. Als ich mein Studium begann, las sie abends in meinen Büchern. Um mit mir im Gespräch zu bleiben, wie sie es nannte. Keiner von uns konnte sich vorstellen, ohne Mama diesem Leben gewachsen zu sein.
Hinter der Küche lag das Zimmer meines jüngeren Bruders, mit einem separaten Aufgang vom Hof. Immer, wenn ich mich an meinen Bruder in dieser Zeit zu erinnern versuche, klingen mir seine endlosen Fingerübungen, vermischt mit Küchengeräuschen, im Ohr. Mit etwas größerer Anstrengung bringe ich noch ein blasses, sommersprossiges Jungengesicht zustande. Alles andere bleibt undeutlich, verschwommen, hat keine Kontur hinterlassen. Auch nicht seine unmotivierten Wutausbrüche.
Ich sehe Mama am Küchentisch stehen, mit ihren kräftigen Händen den Kuchenteig kneten und durch die geöffnete Tür die Klavierübungen meines Bruders überwachen. Legato! Wiederholung! Takt! Cis! Ciiisss! Dabei drückte sie die Masse in eine Backform und belegte sie mit Apfelscheiben. Im Küchenschrank stand ein alter Messingwecker, auf dem die tägliche Übungszeit eingestellt war. Hin und wieder schob mein Bruder seinen Kopf durch den Türrahmen, in der Hoffnung, die Zeit könne bereits abgelaufen sein.
Hermann-Michael hat Talent. Und Talent verpflichtet. Sagte Mama. Man gibt ihm eine Chance, und eines Tages wird sein Name um die Welt gehen. Und auch ich habe dazu beitragen dürfen.
Bei Familienfeiern bildeten die kleinen Konzerte meines Bruders Höhepunkte. Mama bewegte sich wie ein Dompteur, der eine besonders gelungene Dressurleistung vorführt. Tante Carola fiel es sichtbar schwer, Beifall zu klatschen. Ihr dürft das nicht krummnehmen. Sagte Mama. Wie bitter muß es sein, wenn es die eigenen Kinder zu nichts gebracht ha-ben.
Solange mein Bruder ein kleiner Junge war, begleitete ihn Mama zu jeder Unterrichtsstunde in die Musikschule. Einmal fand ein Vorspiel statt, und ich mußte Mama vertreten. Die Lehrerin, eine finstere, ehrgeizige Person, nahm meinen Bruder beiseite und flüsterte: Reiß dich zusammen, sonst kannst du was erleben. Dann schob sie ihn in den Saal, wo Lehrer und Eltern versammelt saßen. Mein Bruder kam als vorletzter an die Reihe und – verspielte sich. Die Lehrerin gab uns zum Abschied nicht die Hand.
Hermann-Michael war ein stilles, schüchternes Kind. Aber manchmal warf er sich zu Boden und trommelte mit den Fäusten auf die Erde. Einmal zertrümmerte er Mamas Lieblingsvase und trampelte darauf herum. Mama konsultierte verschiedene Spezialisten, die sich jedesmal als Dummköpfe erwiesen. Sie verlor jedoch nie den Mut. Unbeirrt glaubte sie an das Talent meines Bruders, putzte die Scherben vom Boden, setzte sich an das Klavier und sprach mit ihm das nächste Stück durch.
Als mein Bruder erwachsen wurde, bestand er darauf, die Tür zur Küche geschlossen zu halten. Er baute sogar einen Riegel ein. Obwohl Mama es verbergen wollte, spürten wir doch, wie sehr sie litt. Vom häufigen Weinen waren ihre Augenränder entzündet. Wir warfen Hermann-Michael Undankbarkeit und Grausamkeit vor. Mama war die erste, die ihm verzieh. Einem Künstler, sagte sie, müsse die Möglichkeit geboten werden, sich gänzlich zu versenken.
Später sahen auch wir anderen ein, daß es gut war. Nur so konnten wir Hermann-Michaels Ausscheiden aus der Musikhochschule vor Mama verheimlichen. Irgendwann nämlich begann mein Bruder, an einer neurotischen Verkrampfung der rechten Hand zu leiden. Er brauchte sich nur an ein Klavier zu setzen, und schon befiel eine eigenartige Taubheit seinen Arm. Keiner von uns brachte es über das Herz, Mama die Wahrheit zu sagen.
Öffnete man unsere Wohnungstür, schlug ein strenger Baldrianduft nach außen. Das kam von unserem Papa.
Die Familie bietet Zuflucht und Schutz. Allein bleibt der Mensch ohne Wärme und Sicherheit. Das sollte auch unser Papa begreifen.
Selbst wenn man seinen eigenen Berichten nicht trauen wollte, sprachen doch die Fakten seines Lebens dafür, daß er einst ein vitaler Bursche gewesen sein mußte. Von Menschen, mit denen man sehr vertrauten Umgang pflegt, bleibt ungerechterweise meistens nur der letzte Eindruck im Gedächtnis. Ich jedenfalls konnte mir Papa nicht als jungen Mann vorstellen, der munter mitgeholfen hatte, die halbe Welt zu zerschlagen. Nie in erster Reihe. Das nicht. Aber doch mittendrin. Danach flink dabei, sie neu zu erbauen. Als ein gesuchter Bündnispartner. Einzelvertrag mit einem volkseigenen Betrieb. Vielleicht wäre alles gut gegangen, hätten sie ihn nicht zur Kur geschickt.
Als Papa von seiner Kur zurückkehrte, stritten sich meine Eltern heftig. Ich glaube, es war eine fremde Frau im Spiel. Ehe es jedoch zu einer Entscheidung kam, erlitt Papa einen Herzinfarkt. Von diesem Augenblick an wurde er aufopferungsvoll von Mama gepflegt.
Tagaus, tagein saß er in seiner Sofaecke im Eßzimmer und löste Kreuzworträtsel. Er bezog eine hübsche Intelligenzrente, und manchmal rechnete er uns mit schlauem Blick vor, wieviel er durch die kurze Zeit, in der er im Besitz seines Einzelvertrages gewesen war, schon verdient hatte und wieviel er verdienen würde, wenn er noch so und so lange lebte. Die Sache hatte nur einen Haken – er durfte nicht wieder gesund werden. Inzwischen gab es nämlich genug Ingenieure und demzufolge keine Einzelverträge mehr. In bestimmten Zeitabständen erhielt Papa Vorladungen vor die Rentenkommission. Dann studierte er populäre medizinische Schriften, um die Symptome seiner Leiden ordentlich beschreiben zu können. Mit großer Befriedigung beobachtete er diese nachträglich tatsächlich an sich.
Für Papa galt eine andere Zeitrechnung. Sein Leben teilte er in »vor meinem Infarkt« und »nach meinem Infarkt«. »Nach meinem Infarkt« war er vollauf damit beschäftigt, sein organisches Innenleben auf bedrohliche Anzeichen zu belauschen. Seine alten Bekannten blieben allmählich aus, und ich gestehe nicht ohne schlechtes Gewissen, selbst wir Kinder suchten das Weite, wenn er begann, uns die ungehörigen Ausbuchtungen seines Verdauungstrakts zu erläutern.
Lediglich Mama blieb ein ständig interessierter Gesprächspartner. Wenn er selbst einmal seine Leiden vergaß, sie erwies sich als aufmerksamer Beobachter. Schon ein Stirnrunzeln Papas konnte eine ganze Kette von Anfragen in Gang setzen: Ist dir nicht gut? Du hast doch etwas!? Willst du etwas einnehmen? Vielleicht ist es doch besser, du nimmst deine Tropfen!? Und so weiter.
Papas Anzugtaschen beulten sich von Medizinflaschen und Pillenschachteln. Manchmal lief etwas aus, und daher rührte der durchdringende Geruch, der über unserer Wohnung lag.
Mama kochte für Papa leicht bekömmliche Speisen, achtete darauf, daß er nie ohne Strohhut in die Sonne ging, und hielt alle Aufregungen von ihm fern. Mit den Jahren litt Papa an Muskelschwund, und seine Verdauung stagnierte. Mama wurde von allen gelobt. Tante Carola sagte: Dieser Mann hat dich nicht verdient.
Mama war eine Hausfrau von altem Schrot und Korn. Niemals belästigte sie uns, indem sie Hilfeleistungen von uns verlangte. Nie wurde man aus einem Gedankengang gerissen mit der Aufforderung, den Mülleimer hinunterzutragen. Du verwöhnst die Kleine zu sehr, gab Tante Carola zu bedenken. Die Kleine kann ihre Intelligenz besser nutzen. Und solange ich lebe … Sagte Mama. Die Kleine war ich.
Es gibt ein Foto von mir. Ich bin fünf Jahre alt und stehe auf einem Steinsockel, angetan mit Lederhosen und Sepplhut. Die Haare über den Ohren zu festen Schnecken gedreht. Die Haarnadeln stechen mich in die Ohrmuscheln, und ich fühle mich durch die Maskerade gedemütigt. Aber das Foto zeigt nichts davon. Ein kleines wohlerzogenes Mädchen schaut artig ins Objektiv. Ich bin immer ein liebes Mädchen geblieben. Mein hervorstechendes Merkmal ist Bravheit.
Aber es wäre falsch zu glauben, äußerer Zwang hätte mein Verhalten bestimmt. Nein. Bravsein wurde mir ein tiefes Bedürfnis. Ich war begierig auf Lob und Anerkennung. Wenn mir Mama über das Haar strich und sagte: Ich weiß, daß ich mich auf dich verlassen kann, durchrieselte mich eine wunderbar angenehme Befriedigung. Alles war so einfach. Man brauchte nur unter allen Umständen das zu tun, was von einem verlangt wurde. Die Ausbrüche meines Bruders erfüllten mich mit Verachtung.
Und von mir wurde nichts Unbilliges verlangt. Eher etwas weniger, als billig gewesen wäre. Ich war eine ordentliche Schülerin. Eine pflichtbewußte Studentin. Mama immer meine Vertraute. Eine Quelle von Bestätigung und Rechtfertigung. Eine Quelle von Glück. Wie hätte Peter mir das je ersetzen können.
Als wir heirateten, war ich schon schwanger. Wir studierten beide und hatten keine Rechte.
Ein lieber Junge. Sagte Mama. Und nahm Peter wie einen eigenen Sohn auf. Aber Peter wollte kein lieber Junge sein. Er hatte nie eine intakte Familie kennengelernt. Seine Mutter lebte mit einem zweiten Mann. Schon zu Beginn des Studiums war er von zu Hause weggezogen.
Zwischen Peter und mir herrschte immer häufiger eine gereizte Stimmung. Stritten wir wegen einer Nichtigkeit, kämpfte Papa mit einem Angina-pectoris-Anfall. Er saß in der Sofaecke und tropfte Nitrangin forte auf seine zitternde Hand. Mama beugte sich über ihn und wischte ihm mit einem Tuch die Schweißtropfen von der Stirn. Sie mischten sich nicht ein. Sie schwiegen nur. Lange. Vorwurfsvoll.
Als Tommi geboren wurde, stand ich mitten in den Diplomprüfungen. Ich weiß nicht, wie ich es ohne Mama geschafft hätte. Die anderen Studentinnen beneideten mich.
Nach dem Studium bekamen wir eine schwervermietbare Wohnung zugewiesen. Die Räume waren verwahrlost, die Fenster undicht, die Toilette eine halbe Treppe tiefer, mit sechs Parteien gemeinsam. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich dort zurechtkommen sollte. Tommi hätte in eine Krippe gebracht werden müssen. Krankheiten wären nicht ausgeblieben. Ich hatte mich verpflichtet, meine Doktorarbeit in drei Jahren vorzulegen.
Ich glaube, damals liebte ich Peter noch. Aber ich hatte Angst und ließ ihn allein ausziehen. Vorläufig. Erst einmal.
Warte ab, Mädel. Der ist schon ans Futter gewöhnt. Sagte Mama. Aber Peter kam nicht zurück, sondern reichte die Scheidungsklage ein.
Armes Kind. Sagte Mama. Jetzt endlich kann ich dir die Wahrheit sagen. Das war kein Mann für dich. Du kommst mit deiner Doktorarbeit besser voran als er. Das ist der wahre Grund. Das erträgt er nicht. Damit wirst du immer Probleme haben. Der Mann im allgemeinen ist auf seine Bequemlichkeit aus. Und du sitzt da mit deiner störenden Intelligenz. Das überanstrengt ihn und mindert sein Selbstwertgefühl. Aber deswegen kannst du doch dein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Du mußt dich eben damit abfinden, allein zu bleiben. Und solange ich lebe …
Und so lebten wir. Papa, der immer schwächer wurde, mit Klistieren und Schleimsüppchen. Mein Bruder, Hermann-Michael, der tagsüber spazierenging und log, er sei in der Musikhochschule. Ich, der man mangelnde weibliche Ausstrahlung nachredete. Aus Neid. Sagte Mama. Denn ich war die jüngste Abteilungsleiterin.
Ich fand mich damit ab, daß Tommi seine kleinen Probleme mit der Oma löste. Kam ich abends nach Hause und wollte mit ihm spielen, zeigte Mama vorwurfsvoll auf die Uhr. Wie kannst du das Kind vor dem Schlafengehen so erregen! Sie hob Tommi auf den Arm und brachte ihn zum Baden. Ich brauchte mir keine Sorgen zu machen, alles nahm seinen geregelten Gang. Eine Frauenzeitschrift brachte einen ziemlich schmeichelhaften Artikel über mich, in dem auch Mama lobend erwähnt wurde.
Bei uns herrschte wieder Eintracht und Harmonie, und wahrscheinlich wäre es immer so geblieben, hätten wir nicht einen neuen Nachbarn bekommen.
Der Nachbar paßte überhaupt nicht in unsere Gegend. Er war ein schmuddliger Typ mit Bart, fleckigen Hosen und von unbestimmtem Alter. Niemand wußte genau, wovon er lebte. Es wurde gemunkelt. Arbeitsscheu. Asozial. Mama ließ ein zusätzliches Türschloß einbauen und sagte: Froh können wir sein, wenn es kein Ungeziefer gibt.
Mir war nie zuvor ein derart ungenierter Mann begegnet. Ich fühlte mich zugleich abgestoßen, beunruhigt und begierig. Er vertrat mir den Weg. Ein Geruch von Knoblauch und Haaröl schlug mir entgegen. Er redete auf mich ein. Ein entsetzliches Gemisch aus Plattheiten. Jedoch steckte ein System dahinter. Ich wurde das Gefühl nicht los, er wollte mich demütigen. Aber ich konnte ihn nicht packen. Seine Worte glichen Haken, die sich wohlversteckt in Köder erst nach und nach in mein Fleisch senkten. Ich stand jedesmal da, bieder, verdattert, und fühlte mich als Verlierer. Flüchtete in mein Zimmer, warf mich aufs Bett, verwundert über meine Zustände, denn mein Körper revoltierte, bäumte sich auf, einem unerreichbaren Orgasmus entgegen.
Mit mir gingen merkwürdige Veränderungen vor sich. Ich begann, an einem fatalen Schmerz links neben der unteren Magenhälfte zu leiden. Ein Schmerz, der dem Hunger verwandt schien. In manchen Nachmittagsstunden empfand ich eine derart abgrundtiefe Gleichgültigkeit meiner Arbeit gegenüber, daß ich vorzeitig nach Hause zurückkehren und mich niederlegen mußte. Die Unruhe nagte in meinem Inneren wie eine böse Krankheit.
Einmal war es ganz still in unserer Wohnung. Nur mein Bruder übte hinter der Küche. Ich wußte natürlich, daß es Emil Gilels oder Claudio Arrau waren, die da spielten. Ich befand mich im Zustand einer unerklärlichen Bewußtseinsauflösung. Ein dumpfes Dröhnen erfüllte meinen Kopf. Einem fremden Zwang folgend, duschte ich, putzte die Zähne, bürstete meine Haare, zog ein leichtes Kleid an, ging über den Flur und klingelte beim Nachbarn.
Dieser sagte: Na bitte! Legte seinen Arm um meine Schultern und schob mich ins Zimmer. Bläuliche Rauchschwaden hingen in der Luft. Auf dem Bildschirm des Fernsehers hakte gerade der Rechtsaußen dem gegnerischen Mittelverteidiger in die Wade. In der Mitte des Zimmers stand ein großer runder Tisch. Daran saßen im Licht einer nackten Glühlampe Papa und mein Bruder, tranken Bier und spielten mit dem Nachbarn Skat.
Hallo, sagte Papa. Mein Bruder holte einen Holzschemel. Der Nachbar öffnete eine Flasche Bier und schob sie mir hin. Ich drückte mir den Daumennagel in die Kuppe meines linken Zeigefingers. Doch ich erwachte nicht. Es war kein Traum.
Ich trank schnell und viel Bier und folgte nur unkonzentriert der Unterhaltung. Schmerzhaft und wunderbar, wie beim Vorgang einer Geburt, lösten sich die beiden Menschen, die ich schon so lange kannte, erst in diesem Augenblick von mir und traten mir als eigenständige Individuen entgegen.
Plötzlich blickte Papa zur Uhr, erschrak und griff sich an den Hals. Ich beobachtete, wie sich der graue Leidenszug auf seinem Gesicht rekonstruierte, und dachte, gleich wird er einen Anfall bekommen. Aber er bekam keinen, sondern erhob sich und seufzte: Ich muß jetzt.
Mein Bruder blieb noch bis zum Ende des Fußballspiels. Ich sah durch die Fensterscheiben, wie er leicht gekrümmt mit hochgezogenen Schultern über den Hof lief.
Im Zimmer war es fast dunkel. Der Nachbar hatte das Licht ausgeknipst und rauchte. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen. Es war still. Die Geräusche des Hauses traten hervor. Fernes Klavierspiel.
Wieso gehst du nicht auch, fragte er schließlich, und es hatte nichts Beleidigendes, wie er es sagte.
Ich weiß nicht, antwortete ich. Ich wußte es wirklich nicht. In diesem Moment jedenfalls nicht.
Du bist ganz schön down, oder? sagte der Nachbar.
Da brach in mir ein Damm. Tränen flossen über mein Gesicht. Ich hockte mich auf die Holzdielen, und ein hysterischer Weinkrampf schüttelte mich so heftig, daß ich fast erstickte.
Der Nachbar saß am Tisch und zündete sich eine neue Zigarette an.
So war das nun also. Mit uns fanden tiefe Umwandlungen statt, an denen der Nachbar offensichtlich Schuld trug. Er selbst blieb aber völlig unberührt, wie ein Katalysator, der eine Reaktion in Gang hält, ohne selbst verbraucht zu werden.