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Ein Mann, Dozent, im letzten Kriegsjahr geboren, betreibt die postume Ehrung seines Vaters, dessen Leben und vorbildliche Arbeit als Leiter eines Heimes für behinderte Kinder er für würdigenswert hält. Bei seinen Nachforschungen stößt er in seinen Briefen, die fast fünfzig Jahre alt sind, auf einen ganz anderen Vater. Plötzlich geht es um Auseinandersetzungen mit Schuld und Sühne der Vätergeneration, in der gegenwärtige Haltungen zu befragen sind.
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Seitenzahl: 84
Veröffentlichungsjahr: 2016
Ein Mann, Dozent, im letzten Kriegsjahr geboren, betreibt die postume Ehrung seines Vaters, dessen Leben und vorbildliche Arbeit als Leiter eines Heimes für behinderte Kinder er für würdigenswert hält. Bei seinen Nachforschungen stößt er in seinen Briefen, die fast fünfzig Jahre alt sind, auf einen ganz anderen Vater. Plötzlich geht es um Auseinandersetzungen mit Schuld und Sühne der Vätergeneration, in der gegenwärtige Haltungen zu befragen sind.
Helga Königsdorf
Ungelegener Befund
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Aber die Stille ist trügerisch
Heute freilich möchte man fragen
Ehe noch Zeit war, etwas zu begreifen
Mit einer gewissen Munterkeit in den Bewegungen
Anmerkung
Über Helga Königsdorf
Impressum
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …
Für meinen Kleinen Bruder
1. 9. 1986
Dieter Jhanz an Felix (nicht zum Absenden)
Mein liebster Felix!
Der Sommer ist vorüber. In der Morgendämmerung fiel feiner Regen, ausgiebig, beharrlich. Ich lag, geschlagen von einem Gefühl endgültiger Verlassenheit. Durch die Wand hörte ich den Nachbarn sprechen. Er hat eine unangenehm despotische Stimme. Du warst fern an diesem Morgen. Ich dachte, daß es keine Grausamkeit gibt, keine Gemeinheit, die der Mensch nicht verüben könnte. Und zwar jeder. Aus Dummheit oder dumpfem Drang. Oder unter dem Deckmantel eines höheren Zieles. Alles beginnt mit der Angst vor dem Tod. Jede Erbärmlichkeit. Der Tod nimmt uns unsere Würde. Es gibt keine Erniedrigung, die man dem Menschen in seinem Namen nicht aufzwingen könnte.
Ich ging neben meinem Vater an einem Fluß entlang, dessen Ufer morsche Weidenstämme säumten. Über uns wölbte sich frostig klar der Himmel. Der bereifte Wiesenboden war von braunen Hügeln übersät. Jeder trug ein Gesicht. Der Ausdruck dieser Gesichter war friedlich. Irgendwie harmonisch. Wir bemühten uns, sie nicht mit unseren Stiefeln zu verletzen.
In der Nachbarwohnung ist es jetzt still. Und diese Stille wirkt bedrängender als das Lärmen zuvor. Ich erwachte von dieser Stille und dachte, daß sie ein Geheimnis birgt, etwas Ungeheuerliches, in das ich verstrickt bin. Bis hinein in die Wirrnis meiner Träume.
1. 9. 1986
Dozent Dr. Dieter Jhanz an den Archivar Helmuth Paul
Lieber Paul!
Eben kam Dein Brief, mit dem ich schon nicht mehr gerechnet hatte.
Ich bin sehr erleichtert, daß Du mir nun doch bei dem Artikel über meinen Vater helfen willst. Vom Festkomitee gibt es keinen Einwand gegen Deine Mitwirkung. Manchmal treffen sie mit solchen Ehrungen wirklich den Richtigen. Fünfundzwanzig Jahre lang war mein »alter Herr« Leiter des Kinderheimes, das nun seinen Namen erhalten soll. Ich glaube, es hätte ihn gefreut, Dich bei der Abfassung der Laudatio mit von der Partie zu wissen. Er hielt sehr viel von Dir. Wenn zeitweise kein Tag verging, wo er nicht an mir etwas auszusetzen hatte, kam mir manchmal der Gedanke, er hätte vielleicht lieber Dich zum Sohn gehabt.
Ich schicke Dir das gewünschte Material. Das meiste ist Bürokratisches. Man muß an einigen Stellen zwischen den Zeilen lesen. Manuskriptabgabe ist Anfang Mai. Namensverleihung erst Ende nächsten Jahres. Im Kinderheim habe ich Dich angemeldet. Den genauen Termin stimmst Du am besten selbst telefonisch ab. Die Frau Weiß ist sehr kooperativ.
Schön, einen Grund zu haben, wieder voneinander zu hören. Man hatte sich doch recht aus den Augen verloren.
Alles Weitere mündlich. Ich glaube, es gibt viel zu reden.
Sei gegrüßt Dein Jhanz
10. 9. 1986
Dieter Jhanz an Felix (nicht zum Absenden)
Mein liebster Felix!
Es ist, als ob alle Gefühle, die mir der Tag verwehrt, das Dunkel der Nacht abwarten, um aus mir hervorzustürzen. Schreckendes, Unbekanntes. Unzugänglich eingeschlossen in meiner armseligen Tagexistenz.
Nach meinen Vorlesungen stelze ich, ein seitlich verzogener grauer Mensch, durch den Korridor des Hörsaalgebäudes. Ein banaler Korridor. Ein banaler Mensch in einem banalen Korridor. Ich bin krank vor Banalität. Ein Wunder, wie es mir immer wieder gelingt, die Füße ordentlich zu setzen.
Nachts aber jage ich mit einer Quadriga nordwärts. Ich kralle mich in die Zügel und habe ein Gefühl von Kraft und Macht. Die Hinterteile der Pferde bewegen sich rhythmisch auf und ab. Sie glänzen vom Schweiß. Die entgegenkommenden Autos sausen rechts und links über die Böschung. Es ist ein Krachen und Heulen in meinem Rücken. Aber ich wende mich nicht um. Trotzdem sehe ich alles. Das pulsierende Blut und die zuckenden Eingeweide, die nun – den schützenden Leibern entrissen – etwas entsetzlich Obszönes haben. Aus der Tiefe der Erde drängt der schrille, langgezogene Schrei einer Frauenstimme.
Ich erwache tränenüberströmt und kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so geweint hätte. Noch weiß ich, wie ich jetzt in diesen Zustand geraten bin. Nur daß ich den Schrei schon einmal gehört habe. Das steht fest.
Ich kann mich lange nicht beruhigen.
11. 9. 1986
Dr. Dieter Jhanz an Prof. Dr. Mandel
Sehr geehrter Herr Professor!
Unser Gespräch und die freundlichen Worte, die Sie für meine Resultate fanden, ermutigen mich, Ihnen ganz offen zu schreiben. Ihr Vorschlag, mich für den Plenarvortrag einzusetzen, hat hier Wunder bewirkt. Ich bin nicht ruhmlüstern, aber auf unserem Gebiet arbeitet man doch für einen kleinen Kreis Eingeweihter, die über die Welt verstreut sind. Diesen Leuten beim Vorstellen der Ergebnisse niemals in die Augen blicken zu können, ist auf die Dauer frustrierend.
Gerüchteweise hörte ich, daß bei Ihnen eine Professur ausgeschrieben ist oder noch wird. Ich konnte nirgends etwas Konkretes darüber finden. Glauben Sie, die Sache käme für mich in Frage? Auf alle meine früheren Bewerbungen erhielt ich Ablehnungen. Gründe konnte ich nie herausfinden. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Es geht mir wirklich nicht um den Professorentitel. Ich komme ganz gut ohne Titel aus. Aber ich habe keine Lust, allmählich Faktotum zu werden. Unerträglich, welches Mittelmaß sich hier breitmacht. Mittelmaß ist wegen seiner Virulenz nicht so harmlos, wie man gemeinhin denkt.
Wenn Sie meinen, es wäre angebracht, würde ich gern einmal zu Ihnen kommen.
Mit freundlichen Grüßen Ihr Jhanz
19. 9. 1986
Dieter Jhanz an Felix (nicht zum Absenden)
Mein liebster Felix!
Der Herbst ist jetzt so klar, daß die Zeit stillzustehen scheint. Nachts wälze ich mich auf meinem Lager und versuche vergeblich, Herr meiner Leidenschaft zu werden.
Es nützt mir gar nichts, daß ich schon alles weiß. Auch schon weiß, daß Du nicht »er« bist, sondern meine Erfindung. Eine Erfindung aus Wirklichkeitsnot. Du, mein Geliebter, der Du nicht wirklich bist, trägst sein Gesicht, das in meine Seele eintätowiert ist. Lachst sein Lachen, neben dem zur Zeit nichts Ausgedachtes Bestand hat. Die Erfahrung ist außer Kraft gesetzt. Ich gebe Dir seinen Namen, weil selbst so etwas Zufälliges wie ein Name nun von größter Bedeutung ist.
Tags bin ich bald schroff und unzugänglich, bald dienen mir die abwegigsten Vorwände, um mich ihm zu nähern. Dann rede ich wie ein Schwachsinniger auf ihn ein, und er hört mich an, mit jener Harmlosigkeit in den Augen, die etwas Hinterhältiges hat.
Zu allem Überfluß ist mir bewußt, daß mein lächerliches Treiben den Tratsch herausfordert. Das gehässige Kleinstadtgerede, mit dem die Leute ihr ungelebtes Leben kaschieren. Diese miefige Gesellschaft, die eine Affäre schon wittert, ehe die Betroffenen sie noch in Erwägung ziehen. Ich muß hier weg.
Ich rüste zur Flucht und bin doch gefangen. Unvorstellbar, ich sollte Dich verlieren. Deine Möglichkeit ist aber an seine Existenz gebunden. Welch ein Durcheinander! Wo ist die Grenze zwischen Traum und Realität?
21. 10. 1986
Dr. Dieter Jhanz an den Direktor für Erziehung und Ausbildung, Genossen Dr. Jähnig
Werter Genosse Jähnig!
Es ist bedauerlich, daß dem Antrag auf ein Sonderstipendium für den Studenten Felix K. nicht stattgegeben wurde. Die Begründung für die Ablehnung ist aber direkt irreführend. Man kann K. nicht verantwortlich machen, wenn kein Sonderstudienplan zustande kam. Keiner der Kollegen war bereit, etwas vom eigenen Stundenpensum zu erlassen, sondern jeder erklärte sein Fachgebiet als unverzichtbar. K. hat wirklich, übrigens auf mein Anraten hin, an einigen Vorlesungen von Dr. G. nicht teilgenommen, weil zur gleichen Zeit andere Lehrveranstaltungen lagen, die K. besuchte. Die Beschwerde von Dr. G. ist absolut unverständlich, da K. die Prüfung bestens absolviert hat.
Überhaupt bleibt die ganze Begabtenförderung fragwürdig, solange jeder, der ein Amt hat, mitreden kann, nur die Stimme des fachlich kompetenten Betreuers gilt nichts.
Ich bitte, diesen Brief als eine Eingabe aufzufassen.
Mit sozialistischem Gruß Dr. Jhanz
24. 10. 1986
Dieter Jhanz an Felix (nicht zum Absenden)
Mein liebster Felix!
Die Wahrscheinlichkeit, daß ich männlich sein würde, lag schon vor meiner Geburt über dem Normalwert. Denn ich wurde noch im Krieg gezeugt, der gerade zwei Wochen vorüber war, als ich zur Welt kam. Meine Mutter starb im Kindbett. Soweit die Fakten. Jedenfalls glaubte ich bis heute, dies seien die Fakten.
Darüber hinaus begannen die Rätsel. War ich das Ergebnis eines Kriegsurlaubs? Ein ausgemergelter Landser fällt über sein Weib her, mehr von Leidensdruck getrieben als von Leidenschaft. So als gäbe ihm dieser Urvorgang etwas von der Geborgenheit des Mutterleibes zurück. Die Frau läßt ihn in ihr Fleisch gleiten, eher beschämt als lustvoll und besiegelt so ihr Schicksal. Ein Leben wird entstehen, eines wird enden.
Vielleicht aber ist eine Frau, krank von den einsamen schwarzen Nächten, zu einem Fremden unter die Decke geflohen. Vielleicht. Ach, es gibt so viele mögliche Anfänge, wie die Phantasie ausreicht. Und sie alle sind Teil einer umfassenden Wahrheit, die nicht mehr durch Reales in Frage gestellt wird, weil nichts mehr auf die einfachen Tatsachen reduzierbar ist. Schützend legen sich die Jahre wie Schichten über das Wirkliche. Alles wird unscharf und bekommt seine eigene Poesie.
Die nackte Wahrheit wäre dem Menschen nicht zuträglich. Wüßte er um sein Ende, er vegetierte wie ein zum Tode Verurteilter, dessen Hinrichtungstermin feststeht. Könnte er dem Moment seiner eigenen Zeugung beiwohnen, er würde vor Ekel auf der Stelle tot umfallen.
Heute war ich auf dem Friedhof. Heute habe ich zum erstenmal das Datum des Todestages meiner Mutter bewußt zur Kenntnis genommen. Sie starb ein Jahr nach meiner Geburt. Wie ist das möglich?
26. 10. 1986
Dieter Jhanz an Helmuth Paul
Lieber Paul!