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Helga Königsdorfs Geschichten erzählen nicht, wie es ist, sondern wie es sein könnte, wenn der gewohnte Alltag aus den Fugen gerät, wenn alte Geschlechterrollen zu Fesseln werden, wenn verdrängte Sehnsüchte sich ein Ventil suchen oder Lebenslügen ihren Preis fordern. Mit ironischer Gelassenheit werden merkwürdige Dinge vorgetragen, die unglaublich erscheinen und doch so unmöglich nicht sind. Selbst dann nicht, wenn ein Mann am Morgen als Ameise erwacht, ein Krokodil den Familienkonflikt löst, ein Liebhaber vom Balkon gestürzt wird, denn hier werden Erfahrungen ausgesprochen und Fragen gestellt über den Umgang mit uns selbst und mit anderen. Wer Ähnlichkeiten findet, muss Gründe haben.
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Seitenzahl: 231
Veröffentlichungsjahr: 2016
Helga Königsdorfs Geschichten erzählen nicht, wie es ist, sondern wie es sein könnte, wenn der gewohnte Alltag aus den Fugen gerät, wenn alte Geschlechterrollen zu Fesseln werden, wenn verdrängte Sehnsüchte sich ein Ventil suchen oder Lebenslügen ihren Preis fordern. Mit ironischer Gelassenheit werden merkwürdige Dinge vorgetragen, die unglaublich erscheinen und doch so unmöglich nicht sind. Selbst dann nicht, wenn ein Mann am Morgen als Ameise erwacht, ein Krokodil den Familienkonflikt löst, ein Liebhaber vom Balkon gestürzt wird, denn hier werden Erfahrungen ausgesprochen und Fragen gestellt über den Umgang mit uns selbst und mit anderen. Wer Ähnlichkeiten findet, muss Gründe haben.
Helga Königsdorf
Hochzeitstag in Pizunda
Geschichten
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Das Krokodil im Haussee
Krise
Bolero
Mit Klischmann im Regen
Eine kollektive Leistung
Die Ameisenmetamorphose
Der Zweite
Wenn ich groß bin, werde ich Bergsteiger
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Lemma 1
Hochzeitstag in Pizunda
Autodidakten
Die Wahrheit über Schorsch
Unverhoffter Besuch
Polymax
Der kleine Prinz und das Mädchen mit den holzfarbenen Augen
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Liriodendron tulipifera
Über Helga Königsdorf
Impressum
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …
Widersprüchlich ist der Mensch. Aus dem engvertrauten Kreis drängt es ihn hinaus. Alle Dummheiten seines Lebens lastet er Vater, Mutter, Frau oder Kindern an. Ist er endlich draußen und muß für sich selber geradestehen, wird es ihm wohl sauer, und er sehnt sich zurück. Es ist ihm eigentlich nie recht zu machen.
Wir waren eine intakte Familie. Und so sollte es immer bleiben.
Zum harten Kern gehörten Mama, Papa, mein Bruder Hermann-Michael, mein Sohn Tommi und ich. Peter nicht. Nicht mehr. Tante Carola auch nicht. Und alles, was danach kam, nach Tante Carola also, erst recht nicht. Wir waren sehr für Abgrenzung.
Jenseits der Familiengrenze gab es nur Erfolgsmeldungen und Optimismus. Papas Krankheit war höhere Gewalt. Einladungen gingen hinaus, wenn es etwas vorzuführen galt. Ein neuer Teppich. Oder das Motorboot. Aber soweit sind wir noch nicht. Diese Geschichte beginnt viel früher.
Unsere Wohnung lag in einer ruhigen Nebenstraße mit vierstöckigen Altbauten. Die ewigen schwarzen Flecke vom Kohleanfahren auf dem Gehweg und der bröckelnde graue Putz verliehen der Gegend etwas Schmutziges. Im Winter sammelten sich Papierreste zwischen den kahlen Sträuchern der Vorgärten. Trotzdem fühlten wir uns in der Straße zu Hause. Jene Straße war nicht von einer Dimension, welche die Seele vergewaltigt. Hier wußte noch einer vom anderen. Die Alteingesessenen grüßten sich. Und wir gehörten zu den Alteingesessenen.
Damals schätzten wir das alles nicht besonders. Wir fühlten uns von nachbarlichen Augen und Ohren bis in unsere geräumige Wohnung mit dem schwer durchschaubaren Grundriß und den hellhörigen Wänden verfolgt. Es gab Themen, über die nur geflüstert wurde. Über Geld beispielsweise. Laute Streits trug man sich nicht wegen ihres Gegenstandes nach, sondern wegen der Bloßstellung vor Frau Ingenieurökonom Neumeister oder Herrn stellvertretenden Abteilungsleiter Gerwald. Aber im großen und ganzen führten wir ein harmonisches Familienleben.
Das spielte sich vor allem im Eßzimmer ab. Die Stuckgirlanden an den hohen Zimmerdecken. Mamas Meißner in der Vitrine. Unsere angestammten Plätze. Der kleine Balkon. Ausblick in Hinterhöfe und Gärten mit schönen alten Bäumen. Alles war immer dagewesen. Gehörte zu uns. Von Anfang an. Würde immer dasein.
Jedes Zimmer hatte seinen Namen. Das Schlafzimmer meiner Eltern hieß einfach »das Schlafzimmer«. Kirschbaumfurnier. Tagesdecke und Übergardinen aus dem gleichen ziegelfarbenen Seidenstoff. Ein mannshoher Spiegel. Geöffnete Fensterflügel. Alles beruhigend kühl. Eine feuchte, etwas muffige Kühle. In einem solchen Raum war Sexualität nicht vorstellbar. Geschlechtliches brauchte mit den Eltern nicht in Verbindung gebracht zu werden.
Mit meinem Zimmer auch nicht. Nicht mehr, seit Peter wieder von uns fortgezogen war. Nach seiner Gastrolle, aus der Tommi hervorging. Mein Sohn Tommi, dem das Nebenzimmer zugesprochen wurde und der durch seine kleine brüllende Existenz »das Arbeitszimmer« allmählich in »das Kinderzimmer« umwandelte.
Schmale Räume mit Ausblick auf die Brandmauer. Trotzdem ein Wunder an Behaglichkeit. Es war Mamas Idee, die Wände mit Sackleinwand auszuschlagen. Sie markierte die Stelle für den Stahlstich, links neben meinem Schreibtisch. Und es hatte keinen Sinn, sich aufzulehnen, denn die Idee war gut und die Stelle genau die richtige.
Mama war stark. Nichts brachte sie in Verlegenheit. Sie gehörte zu den Menschen, die zu Großem berufen sind, wenn es die Situation erfordert, und die bis dahin an dem Platz im Leben, auf den es sie verschlagen hat, ihre Rolle spielen. Ein bißchen zu perfekt vielleicht. Unangreifbar. Gegen den Vorwurf der Selbstgerechtigkeit gefeit. Weil sie immer im Recht sind. Mit einer unheimlichen Energie, die selten ansteckend wirkt. Öfters niederdrückend. Lähmend.
Mama die Seele unserer Familie zu nennen, würde die Lage nicht vollkommen charakterisieren. Mama war das Hirn, die Galle, die rechte Hand und was sonst noch alles lebenswichtig ist. Mama unterstand auch die Außenpolitik. Sie besorgte die Handwerker. Sie hatte Beziehungen. War Not am Mann, reparierte sie Staubsauger und Abflußrohre selbst. Sie wußte, was einem jeden von uns guttat. Ihre Fürsorge und Liebe waren grenzenlos. Als ich mein Studium begann, las sie abends in meinen Büchern. Um mit mir im Gespräch zu bleiben, wie sie es nannte. Keiner von uns konnte sich vorstellen, ohne Mama diesem Leben gewachsen zu sein.
Hinter der Küche lag das Zimmer meines jüngeren Bruders, mit einem separaten Aufgang vom Hof. Immer, wenn ich mich an meinen Bruder in dieser Zeit zu erinnern versuche, klingen mir seine endlosen Fingerübungen, vermischt mit Küchengeräuschen, im Ohr. Mit etwas größerer Anstrengung bringe ich noch ein blasses, sommersprossiges Jungengesicht zustande. Alles andere bleibt undeutlich, verschwommen, hat keine Kontur hinterlassen. Auch nicht seine unmotivierten Wutausbrüche.
Ich sehe Mama am Küchentisch stehen, mit ihren kräftigen Händen den Kuchenteig kneten und durch die geöffnete Tür die Klavierübungen meines Bruders überwachen. Legato! Wiederholung! Takt! Cis! Ciiisss! Dabei drückte sie die Masse in eine Backform und belegte sie mit Apfelscheiben. Im Küchenschrank stand ein alter Messingwecker, auf dem die tägliche Übungszeit eingestellt war. Hin und wieder schob mein Bruder seinen Kopf durch den Türrahmen, in der Hoffnung, die Zeit könne bereits abgelaufen sein.
Hermann-Michael hat Talent. Und Talent verpflichtet. Sagte Mama. Man gibt ihm eine Chance, und eines Tages wird sein Name um die Welt gehen. Und auch ich habe dazu beitragen dürfen.
Bei Familienfeiern bildeten die kleinen Konzerte meines Bruders Höhepunkte. Mama bewegte sich wie ein Dompteur, der eine besonders gelungene Dressurleistung vorführt. Tante Carola fiel es sichtbar schwer, Beifall zu klatschen. Ihr dürft das nicht krummnehmen. Sagte Mama. Wie bitter muß es sein, wenn es die eigenen Kinder zu nichts gebracht haben.
Solange mein Bruder ein kleiner Junge war, begleitete ihn Mama zu jeder Unterrichtsstunde in die Musikschule. Einmal fand ein Vorspiel statt, und ich mußte Mama vertreten. Die Lehrerin, eine finstere, ehrgeizige Person, nahm meinen Bruder beiseite und flüsterte: Reiß dich zusammen, sonst kannst du was erleben. Dann schob sie ihn in den Saal, wo Lehrer und Eltern versammelt saßen. Mein Bruder kam als vorletzter an die Reihe und – verspielte sich. Die Lehrerin gab uns zum Abschied nicht die Hand.
Hermann-Michael war ein stilles, schüchternes Kind. Aber manchmal warf er sich zu Boden und trommelte mit den Fäusten auf die Erde. Einmal zertrümmerte er Mamas Lieblingsvase und trampelte darauf herum. Mama konsultierte verschiedene Spezialisten, die sich jedesmal als Dummköpfe erwiesen. Sie verlor jedoch nie den Mut. Unbeirrt glaubte sie an das Talent meines Bruders, putzte die Scherben vom Boden, setzte sich an das Klavier und sprach mit ihm das nächste Stück durch.
Als mein Bruder erwachsen wurde, bestand er darauf, die Tür zur Küche geschlossen zu halten. Er baute sogar einen Riegel ein. Obwohl Mama es verbergen wollte, spürten wir doch, wie sehr sie litt. Vom häufigen Weinen waren ihre Augenränder entzündet. Wir warfen Hermann-Michael Undankbarkeit und Grausamkeit vor. Mama war die erste, die ihm verzieh. Einem Künstler, sagte sie, müsse die Möglichkeit geboten werden, sich gänzlich zu versenken.
Später sahen auch wir anderen ein, daß es gut war. Nur so konnten wir Hermann-Michaels Ausscheiden aus der Musikhochschule vor Mama verheimlichen. Irgendwann nämlich begann mein Bruder, an einer neurotischen Verkrampfung der rechten Hand zu leiden. Er brauchte sich nur an ein Klavier zu setzen, und schon befiel eine eigenartige Taubheit seinen Arm. Keiner von uns brachte es über das Herz, Mama die Wahrheit zu sagen.
Öffnete man unsere Wohnungstür, schlug ein strenger Baldrianduft nach außen. Das kam von unserem Papa.
Die Familie bietet Zuflucht und Schutz. Allein bleibt der Mensch ohne Wärme und Sicherheit. Das sollte auch unser Papa begreifen.
Selbst wenn man seinen eigenen Berichten nicht trauen wollte, sprachen doch die Fakten seines Lebens dafür, daß er einst ein vitaler Bursche gewesen sein mußte. Von Menschen, mit denen man sehr vertrauten Umgang pflegt, bleibt ungerechterweise meistens nur der letzte Eindruck im Gedächtnis. Ich jedenfalls konnte mir Papa nicht als jungen Mann vorstellen, der munter mitgeholfen hat, die halbe Welt zu zerschlagen. Nie in erster Reihe. Das nicht. Aber doch mittendrin. Danach flink dabei, sie neu zu erbauen. Als ein gesuchter Bündnispartner. Einzelvertrag mit einem volkseigenen Betrieb. Vielleicht wäre alles gut gegangen, hätten sie ihn nicht zur Kur geschickt.
Als Papa von seiner Kur zurückkehrte, stritten sich meine Eltern heftig. Ich glaube, es war eine fremde Frau im Spiel. Ehe es jedoch zu einer Entscheidung kam, erlitt Papa einen Herzinfarkt. Von diesem Augenblick an wurde er aufopferungsvoll von Mama gepflegt.
Tagaus, tagein saß er in seiner Sofaecke im Eßzimmer und löste Kreuzworträtsel. Er bezog eine hübsche Intelligenzrente, und manchmal rechnete er uns mit schlauem Blick vor, wieviel er durch die kurze Zeit, in der er im Besitz seines Einzelvertrages gewesen war, schon verdient hatte und wieviel er verdienen würde, wenn er noch so und so lange lebte. Die Sache hatte nur einen Haken – er durfte nicht wieder gesund werden. Inzwischen gab es nämlich genug Ingenieure und demzufolge keine Einzelverträge mehr. In bestimmten Zeitabständen erhielt Papa Vorladungen vor die Rentenkommission. Dann studierte er populäre medizinische Schriften, um die Symptome seiner Leiden ordentlich beschreiben zu können. Mit großer Befriedigung beobachtete er diese nachträglich tatsächlich an sich.
Für Papa galt eine andere Zeitrechnung. Sein Leben teilte er in »vor meinem Infarkt« und »nach meinem Infarkt«. »Nach meinem Infarkt« war er vollauf damit beschäftigt, sein organisches Innenleben auf bedrohliche Anzeichen zu belauschen. Seine alten Bekannten blieben allmählich aus, und ich gestehe nicht ohne schlechtes Gewissen, selbst wir Kinder suchten das Weite, wenn er begann, uns die ungehörigen Ausbuchtungen seines Verdauungstrakts zu erläutern.
Lediglich Mama blieb ein ständig interessierter Gesprächspartner. Wenn er selbst einmal seine Leiden vergaß, sie erwies sich als aufmerksamer Beobachter. Schon ein Stirnrunzeln Papas konnte eine ganze Kette von Anfragen in Gang setzen: Ist dir nicht gut? Du hast doch etwas!? Willst du etwas einnehmen? Vielleicht ist es doch besser, du nimmst deine Tropfen!? Und so weiter.
Papas Anzugtaschen beulten sich von Medizinflaschen und Pillenschachteln. Manchmal lief etwas aus, und daher rührte der durchdringende Geruch, der über unserer Wohnung lag.
Mama kochte für Papa leicht bekömmliche Speisen, achtete darauf, daß er nie ohne Strohhut in die Sonne ging und hielt alle Aufregungen von ihm fern. Mit den Jahren litt Papa an Muskelschwund, und seine Verdauung stagnierte. Mama wurde von allen gelobt. Tante Carola sagte: Dieser Mann hat dich nicht verdient.
Mama war eine Hausfrau von altem Schrot und Korn. Niemals belästigte sie uns, indem sie Hilfeleistungen von uns verlangte. Nie wurde man aus einem Gedankengang gerissen mit der Aufforderung, den Mülleimer hinunterzutragen. Du verwöhnst die Kleine zu sehr, gab Tante Carola zu bedenken. Die Kleine kann ihre Intelligenz besser nutzen. Und solange ich lebe … Sagte Mama. Die Kleine war ich.
Es gibt ein Foto von mir. Ich bin fünf Jahre alt und stehe auf einem Steinsockel, angetan mit Lederhosen und Sepplhut. Die Haare über den Ohren zu festen Schnecken gedreht. Die Haarnadeln stechen mich in die Ohrmuscheln, und ich fühle mich durch die Maskerade gedemütigt. Aber das Foto zeigt nichts davon. Ein kleines wohlerzogenes Mädchen schaut artig ins Objektiv. Ich bin immer ein liebes Mädchen geblieben. Mein hervorstechendes Merkmal ist die Bravheit.
Aber es wäre falsch zu glauben, äußerer Zwang hätte mein Verhalten bestimmt. Nein. Bravsein wurde mir ein tiefes Bedürfnis. Ich war begierig auf Lob und Anerkennung. Wenn mir Mama über das Haar strich und sagte: Ich weiß, daß ich mich auf dich verlassen kann, durchrieselte mich eine wunderbar angenehme Befriedigung. Alles war so einfach. Man brauchte nur unter allen Umständen das zu tun, was von einem verlangt wurde. Die Ausbrüche meines Bruders erfüllten mich mit Verachtung.
Und von mir wurde nichts Unbilliges verlangt. Eher etwas weniger, als billig gewesen wäre. Ich war eine ordentliche Schülerin. Eine pflichtbewußte Studentin. Mama immer meine Vertraute. Eine Quelle von Bestätigung und Rechtfertigung. Eine Quelle von Glück. Wie hätte Peter mir das je ersetzen können.
Als wir heirateten, war ich schon schwanger. Wir studierten beide und hatten keine Rechte.
Ein lieber Junge. Sagte Mama. Und nahm Peter wie einen eigenen Sohn auf. Aber Peter wollte kein lieber Junge sein. Er hatte nie eine intakte Familie kennengelernt. Seine Mutter lebte mit einem zweiten Mann. Schon zu Beginn des Studiums war er von zu Hause weggezogen.
Zwischen Peter und mir herrschte immer häufiger eine gereizte Stimmung. Stritten wir wegen einer Nichtigkeit, kämpfte Papa mit einem Angina-pectoris-Anfall. Er saß in der Sofaecke und tropfte Nitrangin forte auf seine zitternde Hand. Mama beugte sich über ihn und wischte ihm mit einem Tuch die Schweißtropfen von der Stirn. Sie mischten sich nicht ein. Sie schwiegen nur. Lange. Vorwurfsvoll.
Als Tommi geboren wurde, stand ich mitten in den Diplomprüfungen. Ich weiß nicht, wie ich es ohne Mama geschafft hätte. Die anderen Studentinnen beneideten mich.
Nach dem Studium bekamen wir eine schwervermietbare Wohnung zugewiesen. Die Räume waren verwahrlost, die Fenster undicht, die Toilette eine halbe Treppe tiefer, mit sechs Parteien gemeinsam. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich dort zurechtkommen sollte. Tommi hätte in eine Krippe gebracht werden müssen. Krankheiten wären nicht ausgeblieben. Ich hatte mich verpflichtet, meine Doktorarbeit in drei Jahren vorzulegen.
Ich glaube, damals liebte ich Peter noch. Aber ich hatte Angst und ließ ihn allein ausziehen. Vorläufig. Erst einmal.
Warte ab, Mädel. Der ist schon ans Futter gewöhnt. Sagte Mama. Aber Peter kam nicht zurück, sondern reichte die Scheidungsklage ein.
Armes Kind. Sagte Mama. Jetzt endlich kann ich dir die Wahrheit sagen. Das war kein Mann für dich. Du kommst mit deiner Doktorarbeit besser voran als er. Das ist der wahre Grund. Das erträgt er nicht. Damit wirst du immer Probleme haben. Der Mann im allgemeinen ist auf seine Bequemlichkeit aus. Und du sitzt da mit deiner störenden Intelligenz. Das überanstrengt ihn und mindert sein Selbstwertgefühl. Aber deswegen kannst du doch dein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Du mußt dich eben damit abfinden, allein zu bleiben. Und solange ich lebe …
Und so lebten wir. Papa, der immer schwächer wurde, mit Klistieren und Schleimsüppchen. Mein Bruder, Hermann-Michael, der tagsüber spazierenging und log, er sei in der Musikhochschule. Ich, der man mangelnde weibliche Ausstrahlung nachredete. Aus Neid. Sagte Mama. Denn ich war die jüngste Abteilungsleiterin.
Ich fand mich damit ab, daß Tommi seine kleinen Probleme mit der Oma löste. Kam ich abends nach Hause und wollte mit ihm spielen, zeigte Mama vorwurfsvoll auf die Uhr. Wie kannst du das Kind vor dem Schlafengehen so erregen! Sie hob Tommi auf den Arm und brachte ihn zum Baden. Ich brauchte mir keine Sorgen zu machen, alles nahm seinen geregelten Gang. Eine Frauenzeitschrift brachte einen ziemlich schmeichelhaften Artikel über mich, in dem auch Mama lobend erwähnt wurde.
Bei uns herrschte wieder Eintracht und Harmonie, und wahrscheinlich wäre es immer so geblieben, hätten wir nicht einen neuen Nachbarn bekommen.
Der Nachbar paßte überhaupt nicht in unsere Gegend. Er war ein schmuddliger Typ mit Bart, fleckigen Hosen und von unbestimmtem Alter. Niemand wußte genau, wovon er lebte. Es wurde gemunkelt. Arbeitsscheu. Asozial. Mama ließ ein zusätzliches Türschloß einbauen und sagte: Froh können wir sein, wenn es kein Ungeziefer gibt.
Mir war nie zuvor ein derart ungenierter Mann begegnet. Ich fühlte mich zugleich abgestoßen, beunruhigt und begierig. Er vertrat mir den Weg. Ein Geruch von Knoblauch und Haaröl schlug mir entgegen. Er redete auf mich ein. Ein entsetzliches Gemisch aus Plattheiten. Jedoch steckte ein System dahinter. Ich wurde das Gefühl nicht los, er wollte mich demütigen. Aber ich konnte ihn nicht packen. Seine Worte glichen Haken, die sich wohlversteckt in Köder erst nach und nach in mein Fleisch senkten. Ich stand jedesmal da, bieder, verdattert, und fühlte mich als Verlierer. Flüchtete in mein Zimmer, warf mich aufs Bett, verwundert über meine Zustände, denn mein Körper revoltierte, bäumte sich auf, einem unerreichbaren Orgasmus entgegen.
Mit mir gingen merkwürdige Veränderungen vor sich. Ich begann, an einem fatalen Schmerz links neben der unteren Magenhälfte zu leiden. Ein Schmerz, der dem Hunger verwandt schien. In manchen Nachmittags stunden empfand ich eine derart abgrundtiefe Gleichgültigkeit meiner Arbeit gegenüber, daß ich vorzeitig nach Hause zurückkehren und mich niederlegen mußte. Die Unruhe nagte in meinem Inneren wie eine böse Krankheit.
Einmal war es ganz still in unserer Wohnung. Nur mein Bruder übte hinter der Küche. Ich wußte natürlich, daß es Emil Gilels oder Claudio Arrau waren, die da spielten. Ich befand mich im Zustand einer unerklärlichen Bewußtseinsauflösung. Ein dumpfes Dröhnen erfüllte meinen Kopf. Einem fremden Zwang folgend duschte ich, putzte die Zähne, bürstete meine Haare, zog ein leichtes Kleid an, ging über den Flur und klingelte beim Nachbarn.
Dieser sagte: Na bitte! Legte seinen Arm um meine Schultern und schob mich ins Zimmer. Bläuliche Rauchschwaden hingen in der Luft. Auf dem Bildschirm des Fernsehers hakte gerade der Rechtsaußen dem gegnerischen Mittelverteidiger in die Wade. In der Mitte des Zimmers stand ein großer runder Tisch. Daran saßen im Licht einer nackten Glühlampe Papa und mein Bruder, tranken Bier und spielten mit dem Nachbarn Skat.
Hallo, sagte Papa. Mein Bruder holte einen Holzschemel. Der Nachbar öffnete eine Flasche Bier und schob sie mir hin. Ich drückte mir den Daumennagel in die Kuppe meines linken Zeigefingers. Doch ich erwachte nicht. Es war kein Traum.
Ich trank schnell und viel Bier und folgte nur unkonzentriert der Unterhaltung. Schmerzhaft und wunderbar, wie beim Vorgang einer Geburt, lösten sich die beiden Menschen, die ich schon so lange kannte, erst in diesem Augenblick von mir und traten mir als eigenständige Individuen entgegen.
Plötzlich blickte Papa zur Uhr, erschrak und griff sich an den Hals. Ich beobachtete, wie sich der graue Leidenszug auf seinem Gesicht rekonstruierte, und dachte, gleich wird er einen Anfall bekommen. Aber er bekam keinen, sondern erhob sich und seufzte: Ich muß jetzt.
Mein Bruder blieb noch bis zum Ende des Fußballspiels. Ich sah durch die Fensterscheiben, wie er leicht gekrümmt mit hochgezogenen Schultern über den Hof lief.
Im Zimmer war es fast dunkel. Der Nachbar hatte das Licht ausgeknipst und rauchte. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen. Es war still. Die Geräusche des Hauses traten hervor. Fernes Klavierspiel.
Wieso gehst du nicht auch, fragte er schließlich, und es hatte nichts Beleidigendes, wie er es sagte.
Ich weiß nicht, antwortete ich. Ich wußte es wirklich nicht. In diesem Moment jedenfalls nicht.
Du bist ganz schön down, oder? sagte der Nachbar.
Da brach in mir ein Damm. Tränen flossen über mein Gesicht. Ich hockte mich auf die Holzdielen, und ein hysterischer Weinkrampf schüttelte mich so heftig, daß ich fast erstickte.
Der Nachbar saß am Tisch und zündete sich eine neue Zigarette an.
So war das nun also. Mit uns fanden tiefe Umwandlungen statt, an denen der Nachbar offensichtlich Schuld trug. Er selbst blieb aber völlig unberührt, wie ein Katalysator, der eine Reaktion in Gang hält, ohne selbst verbraucht zu werden.
Unsere Familie schien auseinanderzubrechen. Wir konnten einander nicht mehr ertragen. Wir nahmen nicht länger Rücksicht. Mama erfuhr vom Ende der Karriere meines Bruders. Wir schrien einander an. In mir wuchs ein schwerverständlicher dunkler Haß. Gerade in dieser Zeit begann Mama zu kränkeln. Wir, die wir alle Grund zur Dankbarkeit hatten, benahmen uns nahezu gemein. Ich weiß nicht, wie es den anderen erging, von mir muß ich leider sagen, daß ich mit Lust bösartig war. Immer wieder deutete ich an, ich trüge mich mit dem Plan auszuziehen und Tommi mit mir zu nehmen. Siehst du nun, sagte Tante Carola zu Mama, solange sie dich ausnützen können, bist du gut, dann bekommst du einen Tritt.
Voller Hoffnung waren nur die Stunden beim Nachbarn. Dort schmiedeten wir Pläne. Papa würde sich eine Stelle als Pförtner suchen, Hermann-Michael wollte zum Bau, und ich träumte davon, mit dem Nachbarn zu leben.
Zum erstenmal in meinem Leben steigerte ich mich in einen wahren Liebesrausch. Alle peinlichen Eigenschaften des Mannes, seine unreinen Fingernägel, seine unklaren Verhältnisse, schienen mir verzeihbar. Es hätte eines Wortes bedurft, und ich wäre zu ihm gezogen. Aber er sagte es nicht.
Ich weiß nicht, ob er spürte, wie ich Schutz bei ihm suchte. Wahrscheinlich ruhte er so fest in sich, daß er gar nicht begriff, wie sehr uns anderen das Rückgrat gebrochen war. Je mehr ich das Gefühl hatte, er verweigere sich mir, um so leidenschaftlicher hängte ich mich an ihn und um so mehr hatte ich das Gefühl, er verweigere sich. Meine Nervenkrisen kamen immer häufiger.
Ich glaube, den anderen erging es ähnlich. Der Nachbar hatte etwas in Gang gebracht und war nicht bereit, die Konsequenzen daraus zu ziehen und uns zu helfen. Dabei war unsere Krise offensichtlich. Ich versäumte wichtige Sitzungen. Es passierte, daß Papa seine Mütze aufsetzte und darauf bestand, spazierenzugehen, obwohl das Wetter ungünstig war und ein heftiger Wind wehte. Mein Bruder kam mehrmals betrunken nach Hause. Es war ernsthaft zu befürchten, Mama könnte bettlägerig werden. So durfte es nicht weitergehen. Das begriff jeder von uns. Nur der Nachbar merkte nichts. Er hörte kaum hin, wenn wir an seinem runden Tisch saßen und über unsere Zukunft debattierten. Umgekehrt empfanden wir seine Themen, die vom Zahnweh des Großvaters bis zur Tigerzucht in Südindien reichten, als eine Zumutung.
Wer weiß, wie das alles ausgegangen wäre, hätte Mama nicht eine Überraschung vorbereitet. Während wir uns, mit der Welt zerfallen, in fruchtlosem Hader aufrieben, hatte sie gehandelt. Ein Motorboot, ein richtig schnittiges weißes Boot mit einem kräftigen Viertaktmotor lag am Haussee für uns bereit. Mama hatte uns ihren Brillantring, ein altes Familienstück, zum Opfer gebracht.
An einem schönen Augusttag fuhren wir hinaus. Wir waren in vergnügter Stimmung. Zum erstenmal seit langer Zeit herrschte zwischen uns wieder das alte Gefühl der Zusammengehörigkeit. Der gemeinsame Besitz festigte unsere Familienbande, und wir begannen, die Anwesenheit des Nachbarn als störend und aufdringlich zu empfinden. Mama hatte nämlich ihre Abneigung, ja ihren Ekel, niedergekämpft und den Nachbarn eingeladen, an der Bootseinweihung teilzunehmen.
Am Ufer des Haussees stellten wir Papas Klappstuhl in den Schatten einer mächtigen Kastanie. Mama befürchtete, der Fahrtwind würde ihm zu schaffen machen. Papa sagte auch, er ziehe es vor, am Ufer zu bleiben, und es sei ein schönes Plätzchen, an dem er sich wohlbefände wie seit langem nicht. Er wollte uns schon gut im Auge behalten.
Mama betätigte den Anlasser. Hermann-Michael saß am Steuer. Es gab einen kleinen Wortwechsel, weil der Motor nicht gleich ansprang. Obwohl wir durchblicken ließen, es ginge ihn nichts an, öffnete der Nachbar die Klappe über dem Motorraum und drückte auf einen Hebel. Der Motor jaulte, und wir wurden nach hinten gedrückt. Tommi jauchzte. Das Wasser spritzte gegen die Schutzscheibe. Wir zogen eine stolze Bugwelle hinter uns her.
Nachdem wir einige Runden gefahren waren, sagte der Nachbar, er wolle baden. Mama stellte den Motor ab, und wir beobachteten, wie er sich entkleidete. Er setzte sich auf den Rand des Bootes und ließ die Füße ins Wasser hängen. In diesem Augenblick sah ich es.
Das Krokodil näherte sich vom Ufer her. Papa mußte es schon früher entdeckt haben. Ich wollte schreien und den Nachbar warnen, aber meine Kehle war wie zugeschnürt. Als ich mich umdrehte, begegnete ich Mamas Augen und begriff, daß sie das Krokodil auch gesehen hatte. Hermann-Michael saß in verkrampfter Haltung über das Steuer gebeugt. Mama drehte den Zündschlüssel im Schloß, und mein Bruder fuhr langsam im Bogen zum Ufer. Als wir bei Papa ankamen, sahen wir draußen ein großes graubraunes Krokodil davonschwimmen. Der Nachbar war verschwunden.
Seither herrschte bei uns wieder Ordnung. Mama war nicht mehr schonungsbedürftig. Papa verließ kaum noch die Wohnung. Mein Bruder studierte Mathematik. Mama sagte, bei ihr sei seit langem die Überzeugung herangereift, sein wahres Talent liege auf diesem Gebiet, was eine Chance bedeute, in einer Zeit, in der kein Mensch davon träume, ein großer Mathematiker zu werden.
Mir wollten einige Leute eine Krise anhängen. Das gibt es immer, wenn man ein Amt bekleidet. Man darf es nicht auf sich sitzen lassen, denn wer einmal eine Krise erlitt, dem traut man eine nächste zu.
Als geraume Zeit später die Ermittlungen nach dem Verbleib des Nachbarn begannen, konnten wir wenig zur Aufklärung dieses Falles beitragen. Die Meinung unserer Straße kam ziemlich einmütig heraus. Der Mann war allen als ein verdächtiges Subjekt erschienen, bei dem ein schlimmes Ende nicht überraschte.
Nur Tommi erzählte jedem, der es hören wollte, den Nachbarn habe ein Krokodil gefressen. Aber wer glaubt schon einem Kind.
Der Kaderleiter des Forschungszentrums für Zahlographie beobachtete die Grüppchen, die diskutierend den Karl-Egon-Kuller-Saal verließen. Der Kaderleiter war Psychologe und verstand nichts von Zahlographie. Er empfand dies als echten Mangel, denn er nahm die Arbeit mit den Menschen ernst. Er versuchte, aus den Gesichtern der Kollegen etwas über das Niveau des Festvortrages von Glors herauszulesen. Der Eindruck, der sich ihm bot, war wie immer sehr gemischt. Man konnte aber nicht übersehen, die abfälligen Bemerkungen überwogen. Doch die Zeit des Kaderleiters in diesem Haus maß wenigstens zwei Millimeter Staub auf der Deckenlampe, so kannte er die Zahl derjenigen, die Glors beneideten.
Glors hatte beim Alten einen Stein im Brett. Es ging auch auf eine Anregung des Alten zurück, Glors für diesen Vortrag auszuwählen. Der Kaderleiter wunderte sich stets erneut, daß alle diese hochintelligenten Fachleute von Lob und Tadel abhängig waren wie die Kinder. Wahrscheinlich bedingte das die Spezifik ihrer Arbeit. Wochenlang, monatelang grübelten sie über abstrakten Problemen. In diesem Prozeß überwogen bei vielen die Mißerfolgserlebnisse. Der Kaderleiter kannte einige ausgewiesene Zahlographen, die ihre Arbeit als Quälerei bezeichneten. Am Ende hielten sie als greifbares Ergebnis ein Manuskript in den Händen, das lediglich einem engen Spezialistenkreis verständlich war.
Bevor der Kaderleiter die Treppe emporstieg, las er am Mitteilungsbrett die Ankündigung des Festkolloquiums: Dr. Heinrich Glors, Über die Krise in den Grundlagen der Theorie der Primärzahlen. Der Kaderleiter speicherte: Glors, Primärzahlen, Krise.
Dr. Glors wusch sich indessen auf der Toilette den Kreidestaub von den Händen und blickte sich mit leicht geröteten Augen aus dem Spiegel entgegen. Wie immer nach solchen öffentlichen Auftritten bedrückte ihn ein diffuses Gefühl in der Magengegend. Sein Anliegen war nicht voll verstanden worden. Mit einem Mal wußte er, diesen Vortrag hätte er ganz anders halten müssen.
Wenn jedoch Iwanow und Quarrel die Vorabdrucke bekamen, würden sie sofort begreifen, was es bedeutete. Nämlich eine Sternstunde eines wissenschaftlichen Gebietes, in dem eine Krisensituation herangereift war, die bahnbrechende Ideen einfach unumgänglich machte. Routine und Fleißarbeit führten hier nicht weiter.
Bis zur Routine waren sie nicht gekommen, Eva-Maria und er. Im Gegenteil, in der letzten Zeit konnten sie nie länger als fünf Minuten beisammen sein, ohne daß einer explodierte. Genauer gesagt, explodierte stets Eva-Maria. Er war ein ruhiger, in sich gekehrter Mensch. Wahrscheinlich ertrug Eva-Maria gerade das nicht. Ich hätte es schon noch eine Weile mit dir ausgehalten, Evchen, dachte Dr. Glors, als er sich die Hände abtrocknete.
Professor A. N. Iwanow geriet bei der Lektüre der Arbeit von Heinrich Glors in große Erregung. Er erkannte in den Glorsschen Ansätzen sofort die neuartigen tiefschürfenden Gedanken. Seine eigenen Modellvorstellungen erschienen ihm überholt. Er mußte das Problem neu durchdenken. Er würde seine geplante Reise zum Forschungszentrum verschieben, um sich gründlicher auf die Diskussion mit Glors vorbereiten zu können.