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Anatoli Boukreev

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Beschreibung

Eiskalt und spannend

Anatoli Boukreev, der russische Bergführer aus Scott Fischers Expedition, schildert die Ereignisse an jenem verhängnisvollen 10. Mai 1996 aus seiner Sicht.

Der Russe Anatoli Boukreev hat elf der vierzehn Achttausender ohne Hilfe von Sauerstoff bestiegen und galt als einer der besten Bergsteiger der Welt. An dem verhängnisvollen 10. Mai 1996, als in der Todeszone auf dem Mount Everest fünf Menschen starben, nahm er als Führer an Scott Fischers Expedition teil und kämpfte sich mehrmals durch den peitschenden Wind, um Expeditionsteilnehmer vor dem sicheren Tod zu retten.

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Seitenzahl: 386

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Titel der Originalausgabe THE CLIMB
Vollständige deutsche Ausgabe 05/2008Copyright © 1997 by Anatoli Boukreev und G. Weston DeWalt Copyright © 1998 der deutschen und dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlagfoto: © Grant Dixon/Lonely Planet Images/ Getty Images; Bill Stevenson/Aurora/Getty Images ISBN : 978-3-641-02650-9V002
www.heyne.de
Inhaltsverzeichnis
 
Vorwort des Autors
Vorwort
 
1. Kapitel Mountain Madness
2. Kapitel Einladung Everest
3. Kapitel Vereinbarungen und Geschäfte
4. Kapitel Die Kunden
5. Kapitel Der Weg zum Everest
6. Kapitel Detailarbeit
7. Kapitel Im Basislager
8. Kapitel Über den Khumbu-Eisbruch zum Lager II
9. Kapitel Lager II
10. Kapitel Erste Verzögerungen
11. Kapitel Der Gipfelvorstoß rückt näher
12. Kapitel Der Countdown läuft
13. Kapitel In der Todeszone
14. Kapitel Zum Südgipfel
15. Kapitel Die letzten hundert Meter
16. Kapitel Entscheidung und Abstieg
17. Kapitel Schneeblind
18. Kapitel Gehen oder Kriechen
19. Kapitel Das Rettungs-Protokoll
20. Kapitel Der letzte Versuch
21. Kapitel Mountain-Media-Madness
 
Nachwort
Epilog
Postskriptum
In Memoriam
Danksagung
Anmerkungen
Zum Buch
Am 10. Mai 1996 sterben fünf Menschen in der Gipfelregion des Mount Everest, der »Todeszone«, wo nur sehr gut akklimatisierte und trainierte Bergsteiger ohne Sauerstoff überleben können. Zwei kommerzielle Expeditionen, geführt von den erfahrenen Profi-Bergsteigern Scott Fischer und Rob Hall, versuchten an diesem Tag, den Gipfel des höchsten Berges der Erde zu erklimmen. Mangelndes Training und fehlende Bergerfahrung der zahlenden Teilnehmer sowie schlechte Planung durch die Veranstalter führten zu erheblichen Zeitverzögerungen, und als am Nachmittag ein unerwarteter Schneesturm aufzog, fanden die meisten Teilnehmer den Rückweg ins rettende Höhenlager nicht mehr. In 8000 Metern Höhe mussten sie die Nacht ungeschützt und ohne Sauerstoff im Freien verbringen.
Der Russe Anatoli Boukreev, einer der erfahrensten Höhenbergsteiger der Welt, war erster Bergführer in Scott Fischers Expedition. Zusammen mit seinem Ko-Autor, dem amerikanischen Journalisten G. Weston DeWalt, beschreibt Boukreev die gesamte Tour. Während knapp unterhalb des Gipfels in dieser Nacht zwei Bergführer und zwei Teilnehmer starben, brachte Anatoli Boukreev ganz allein drei hilflose Bergsteiger zu den sicheren Zelten. Am nächsten Morgen brach er noch einmal auf, um Scott Fischer zu holen, der am Tag zuvor erschöpft zusammengebrochen war. Doch diese dramatische Rettungsaktion blieb erfolglos, Scott Fischer war bereits tot.
In Boukreevs Bericht werden auch Tonbandaufzeichnungen verarbeitet, in denen einige der beteiligten Bergsteiger fünf Tage nach der Tragödie ihre frischen Erinnerungen festhielten. Dabei entsteht das Bild eines Mannes, der unter anderen Umständen wohl als Held gefeiert worden wäre.
 
»… eine Besteigung des Mount Everest ist an sich ein irrationaler Akt: ein Triumph der Begierde über die Vernunft.«
Jon Krakauer
Zum Autor
Der 38jährige russische Profi-Bergsteiger und Bergführer Anatoli Boukreev hat elf der vierzehn Achttausender der Welt ohne Sauerstoffgerät bestiegen und stand insgesamt viermal auf dem Gipfel des Mount Everest. Für seine Rettungsaktionen am 10. Mai 1996 erhielt er vom amerikanischen Alpine Club den David-Sowles-Preis. Im Dezember 1997 wurde er während der Besteigung des Annapurna (8091 Meter) von einer Lawine getötet.
Da Bergsteigen heutzutage nicht nur ein allgemeines Vergnügen, sondern ein Geschäft ist, kann es nicht ausbleiben, daß alpinistische Entscheidungen – Zielsetzungen sowie taktische Entscheidungen während einer Tour – in zunehmendem Maß zugleich geschäftliche Entscheidungen sind. Einen Vorteil hat die Sache, da nun auch Bergsteiger – wie schon Skiläufer und Segler vor ihnen – ihren Lebensunterhalt mit ihrem Hobby bestreiten können. Die Kehrseite der Medaille sind die Massen in den Felswänden, die Einschränkungen, denen Bergsteiger sich immer häufiger gegenübersehen, und heute und immerdar der »Zirkus« im Everest-Basislager.
 
CHRISTIAN BECKWITH Im Vorwort zum AMERICAN ALPINE JOURNAL 1997
 
Der Berg spielt nicht. Er verharrt in Unbeweglichkeit.
 
BRUCE BARCOTT »Cliffhangers«, HARPER’S MAGAZINE, AUGUST 1996
Vorwort des Autors
Fünf Tage nach der Everest-Katastrophe vom 10. Mai 1996 setzten sich neun Bergsteiger im Mountain-Madness-Basislager zusammen und hielten ihre Gedanken und Erinnerungen auf Band fest. Viele Einzelheiten und einige Zitate in diesem Buch sind diesen Aufnahmen entnommen. Anatoli Boukreev, selbst Teilnehmer an dieser »Manöverkritik«, benutzt sie als Quelle und möchte den anderen für ihre der Wahrheits- und Selbstfindung dienenden Bemühungen danken, die wichtige Beiträge zur historisch korrekten Berichterstattung darstellen. Zitate, die aus diesen Tonbandaufnahmen stammen, wurden in kursiver Schrift gesetzt.
Prolog
In alten buddhistischen Schriften wird der Himalaja »Schneespeicher« genannt, und dieser Speicher wurde 1996 immer wieder durch ungewöhnlich ergiebige Schneefälle aufgefüllt.
Am frühen Abend des 10. Mai 1996 tobte in den Hochregionen des Mount Everest über zehn Stunden lang ein ungewöhnlich heftiger Schneesturm. Dreiundzwanzig Männer und Frauen, Bergsteiger, die an jenem Tag über die Südroute von Nepal aus aufgestiegen waren, schafften es nicht, sich in die Sicherheit ihres Hochlagers zu retten. Praktisch ohne Sicht, einem Sturm in Hurrikanstärke ausgesetzt, der einen Laster hätte umkippen können, kämpfte die Gruppe um ihr Leben.
Sie waren in der Todeszone gefangen, in jener Höhenlage über 8000 Meter, in der tiefe Temperaturen und Sauerstoffmangel rasch zum Tod führen können.
Während die Bergsteiger ums Überleben kämpften, konnten sie oft nur eine Armlänge weit sehen. Stellenweise gab es Seilsicherungen, an denen sie sich orientieren konnten. Dann sanken die Druckanzeigen ihrer Sauerstoffflaschen auf Null, und wirres Denken, Symptom der Höhenkrankheit, ließ keine rationalen Überlegungen mehr zu. Anzeichen von Erfrierungen machten sich bemerkbar, die spätere Amputationen nicht nur denkbar, sondern wahrscheinlich machten. Der Dunkelheit und dem heulenden Sturm ausgeliefert, fing man zu feilschen an. Meine Finger für mein Leben? Meinetwegen. Aber laß mich leben.
Unterhalb der im Abstieg begriffenen Gruppe, im Hochlager, zu dem sie sich hinunterkämpften, focht ein russischer Bergsteiger und Bergführer seinen ganz persönlichen Kampf aus. Um andere Expeditionsteilnehmer zu einem Rettungsversuch der im Sturm Verlorenen aufzurütteln, brüllte, flehte und bettelte er sie an.
Anatoli Nikolajewitsch Boukreev faßte einen Entschluß, den einige später als selbstmörderisch bezeichnen sollten. Er entschloß sich zu einem Rettungsversuch im Alleingang, trotz des tobenden Schneesturms, fast völliger Dunkelheit und eines Getöses, das einer der Bergsteiger mit »hundert über dem Kopf dahinbrausenden Güterwaggons« verglich. Boukreevs Entschluß führte zu »einer der erstaunlichsten Rettungsaktionen in der Geschichte des Bergsteigens«, wie der Kletterer und Autor Galen Rowell schrieb.
Zwei Wochen nach der Katastrophe am Mount Everest flog Boukreev von Kathmandu in Nepal nach Denver, Colorado, wo ihn Freunde abholten und ihn nach Santa Fe in New Mexico brachten, damit er sich von seinen Strapazen erholen konnte. Nach seiner Ankunft bat er mich zu einem Treffen, da ich einige Monate zuvor auf Ersuchen eines gemeinsamen Freundes eine Kamera gekauft und veranlaßt hatte, daß sie ins Everest-Basislager geschickt wurde. Unsere erste Begegnung war für den 28. Mai 1996 vereinbart.
Ich kannte Fotos von Boukreev aus der Zeit vor den Ereignissen am Mount Everest. Schlank, durchtrainiert, mit einem selbstsicheren Lächeln, so stellte ich ihn mir vor. Als ich ins Haus unseres gemeinsamen Freundes kam, erhob er sich zur Begrüßung langsam aus einem Sessel. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und blickten erschöpft. Die Nasenspitze und Teile seiner Lippen wiesen schwarze Verkrustungen auf, abgestorbene Hautpartien, die von schweren Erfrierungen herrührten. Er war geistesabwesend, so als hätte er seinen Leib verlassen und befände sich an einem unzugänglichen Ort.
Etwas an ihm war mir von irgendwoher vertraut – die Hohlheit und Leere in den Augen, und als er vortrat und mir die Hand gab, stieg die Erinnerung in mir auf: ein russischer Soldat in Mozambique, auf der Ladefläche eines mit Planen abgedeckten Truppentransporters, eine AK-47 auf dem Schoß. Dieser Soldat hatte mich genauso angesehen; sein Blick warnte mich davor, ihn zu filmen. Es war ein furchteinflößender Moment gewesen, doch das wirklich Erschreckende war nicht die Lässigkeit, mit der er seine Waffe auf mich richtete, sondern die Leere in seinem Gesicht.
Beim Essen unterhielten wir uns. Da meine Bemühungen, mein Schulrussisch aufzuwärmen, zu nichts führten, sprach Boukreev Englisch, flüssig und verständlich, aber in einfachen Sätzen. Er wollte über den Everest reden, erzählte dabei jedoch nicht seine Geschichte, sondern stellte laut Fragen über das Geschehen. Er wollte begreifen, was er durchgemacht hatte.
Am nächsten Tag trafen wir uns zu weiteren Gesprächen und ebenso am übernächsten. Unser gemeinsamer Freund vertraute mir an, daß Boukreev in der Nacht von Träumen geplagt wurde, von beängstigenden Träumen, in denen er hilflosen Kletterern, die er nicht finden konnte, Sauerstoffnachschub bringen mußte. Von den Träumen erzählte Boukreev mir nie, wohl aber von den Ereignissen am Everest, wie er zum Berg gekommen war und wie er ihn in den letzten Maitagen verlassen hatte. Seine Schilderungen waren weder dramatisiert noch ausgeschmückt. Eine Kanne Tee hatte bei ihm denselben rethorischen Stellenwert wie das Verirren im Schneesturm. Ich lernte die Offenheit zu schätzen, mit der er meine Fragen beantwortete, Fragen, die mit meiner wachsenden Neugierde drängender und detaillierter wurden. Wir gingen dazu über, unsere Gespräche auf Band festzuhalten.
Anfang Juni 1996 kamen Boukreev und ich überein, dieses Buch gemeinsam zu schreiben. Wir wollten zusammenarbeiten, doch erklärte ich ihm von vornherein, daß mein Interesse über seine persönlichen Erlebnisse hinausreichte und ich meine eigenen Fragen stellen wollte. Der Vorschlag sagte ihm zu. Einiges wußte er aus eigener Anschauung, anderes hatte er selbst nicht miterlebt. Daher war er so gespannt wie ich, wohin der Weg uns führen würde.
Boukreev steuerte seine persönlichen Tagebücher, Briefe, Expeditionstagebücher und seine Erinnerungen bei. Er nahm die am Mount Everest verlorenen zwanzig Pfund wieder zu, und er lernte wieder zu lächeln. Ich besuchte die Bergsteiger, die mit ihm aufgestiegen waren, und die Freunde und Gefährten jener, die nicht zurückgekehrt waren. Mit Hilfe von Übersetzern, Dolmetschern und Freunden wurde diese Geschichte des Aufstiegs zusammengetragen, während sich weiterhin Tragödien ereigneten und unser Leben weiterging.
G. Weston DeWalt, Santa Fe, New Mexico
1. KapitelMountain Madness
Im März 1996 zeigte sich ein Gestirn, das nicht zu den bekannten Konstellationen gehörte, am nächtlichen Firmament über dem Himalaja. Mehrere Tage hintereinander zog der Stern, dessen Schweif sich in der Dunkelheit auffächerte, seine Bahn über das Gebirge. Der »Stern« war der Komet Hyakutake. Es war Anfang der Frühjahrssaison am Mount Everest (8848 m), jener Zeitspanne zwischen dem Rückzug des Winters und dem Nahen des Sommermonsuns, in der, historisch gesehen, die meisten erfolgreichen Everest-Expeditionen stattfanden. Das Auftauchen Hyakutakes wurde von den Sherpas, in deren Dörfern der kosmische Schmierstreifen Gegenstand sorgenvoller Gespräche war, als Zeichen drohenden Unheils angesehen.
Die Sherpas, eine ethnische Gruppe, in Tibet beheimatet und heute größtenteils in den Hochtälern Nepals ansässig, leben zu einem guten Teil von Himalaja-Expeditionen. Sie verdingen sich als Träger, Köche und Yak-Treiber, übernehmen aber auch gefährlichere und einträglichere Aufgaben als Hilfspersonal in extremen Höhenlagen und begleiten die ausländischen Expeditionen in den entscheidenden Kampf: Geschicklichkeit und Ausdauer gegen lebensfeindliche äußere Bedingungen.
Bis 1996 hatte der Mount Everest in den fünfundsiebzig Jahren seit dem ersten Gipfelsturm 1921 das Leben von über 140 Bergsteigern gefordert. Fast vierzig Prozent dieser Opfer waren Sherpas. Jede Störung der natürlichen Ordnung wurde daher von den Sherpas aufmerksam registriert.
Kami Noru, Mitte dreißig, verheiratet und Vater von drei Kindern, gehört zur neuen Sherpa-Generation, die seit den fünfziger Jahren ihre traditionelle Tracht gegen Gore-Tex-Anoraks tauschte, um vom kommerziellen Bergsteigen zu leben. Wie in den vorangegangenen Jahren wurde Kami Noru auch 1996 von Himalayan Guides, einer Abenteuerreisen-Agentur im schottischen Edinburgh, als Sirdar – leitender Sherpa – für eine Everest-Expedition engagiert.
Unter der Führung des bärtigen und stämmigen Engländers Henry Todd, einundfünfzig, ehemaliger Rugby-Spieler und jetzt Veranstalter kommerzieller Expeditionen, hatte sich Himalayan Guides den Ruf erworben, noch nie einen Kunden verloren zu haben. Todds praktische Veranlagung, sein sprichwörtliches Bergglück und die gute Zusammenarbeit mit Kami Noru hatten beiden Erfolg gebracht.
Im Frühjahr 1995 hatte Todd eine kommerzielle Expedition zum Mount Everest angeboten, bei der er seine Teilnehmer von Tibet aus über die Nordseite zum Gipfel führte. Die Expedition war ein voller Erfolg, acht Kletterer schafften es bis zum höchsten Punkt. Trotz des großen Durchbruchs, den dieser Triumph für Todd und Kami Noru bedeutete, neigten sie nicht zur Selbstüberschätzung. Im März 1996 sahen sie der bevorstehenden Saison sogar mit Bangen entgegen.
Kami Noru hatte Todd auf den ungewöhnlichen »Stern« aufmerksam gemacht, und Todd erinnert sich, daß Kami sich von diesem himmlischen Phänomen höchst beunruhigt zeigte. Auf Todds Frage, was es für ihn und die anderen Sherpas bedeute, sagte Kami schlicht: »Wir wissen es nicht. Und es gefällt uns nicht.«
»Er (der Komet) war schon einige Zeit zu sehen«, sagte Todd, »und er war für die Sherpas ein böses Vorzeichen.« Ein Aberglaube, gewiß, dachte Todd, aber dennoch Grund zu ernster Besorgnis, da die Menschen, die den Berg am besten kannten, solchen Erscheinungen Bedeutung beimaßen.
Zu der ungewissen Bedeutung der himmlischen Störung kam noch ein weiteres Problem. Obwohl schon Ende März, war die Schneeschmelze noch nicht so weit fortgeschritten, daß die Yak-Karawane auf dem Trekkingpfad zum Basislager des Mount Everest (5300 m) vordringen konnte. Nur ein paar Sherpa-Träger erreichten das Lager auf einem schmalen, schneebedeckten Steig. Da die für Expeditionen benötigten Vorratsmengen den Einsatz von Trägern mit Yaks erforderten, würde sich der Transport verzögern. Bisher war das lediglich ein Grund zur Besorgnis, noch kein Alptraum, aber das Problem konnte größere Dimension annehmen, falls die Pfade noch länger unpassierbar blieben. Das »Wetterfenster« für den Everest-Gipfel ist nur kurze Zeit offen und wird mit dem Einsetzen des Monsuns zugeschlagen. Ist eine Expedition zum Zeitpunkt des Aufstiegs nicht ausreichend verproviantiert, hätte sie sich die ganze Anreise ins Gebirge sparen können.
Wie wohl jeder das angesichts dieser unsicheren Umstände tun würde, trafen Todd und Kami Noru Vorkehrungen, um die zu erwartenden Probleme möglichst klein zu halten. In Kathmandu, Nepal (1400 m), wo er sich mit einer Menge logistischer Probleme herumschlagen mußte, während er darauf wartete, daß der Schnee im Norden schmolz, nahm Todd eine aus etlichen Kisten J&B Scotch bestehende Ladung in Empfang. Sie war das Geschenk eines Teilnehmers, zu dessen Sponsoren eine Whiskyfirma zählte. Todd gab seinen Sherpas für den Transport dieser hochgeistigen Last ins Basislager genaue Instruktionen, denn er rechnete durchaus mit Abenden, an denen ein Tropfen zur Entspannung dringend nötig war. Kami Noru, kein Scotch-Trinker, bereitete sich auf das Bevorstehende auf seine Weise vor.
In seinem schiefergedeckten gemauerten Haus in Pangboche (4000 m), einem Dorf, das sich über dem gewundenen, zum Fuß des Mount Everest führenden Trekkingpfad in die Terrassenstufen des Hanges schmiegt, hielt Kami Noru am 29. März eine puja ab. Dies ist ein Ritual zur Danksagung an die Berge, verbunden mit Segensbitten. Bei Sonnenaufgang saßen in einem großen Raum über einem Getreidespeicher fünf buddhistische Mönche in braunen und safrangelben Gewändern im Kreis auf dem Boden. Um sie herum ließen sich Kami Noru und einige andere Sherpas aus Pangboche nieder, die für die Expedition arbeiten sollten. Das fahlgelbe Licht der Yakbutter-Lampen und die ersten tastenden Strahlen der Morgensonne ließen das Blau und Rot der tibetischen Webteppiche auf den handgesägten Bodenbrettern da und dort aufleuchten. Rauch stieg in Spiralen von einem Feuer auf, und der volle, süßliche Duft verbrannter Wacholderzweige lag in der Luft.
Der Singsang der Mönche hallte wie ein Echo von den Wänden wider, und jede erneute Wiederholung verstärkte das Gefühl von Ruhe und Frieden. Der Gesang vermittelte die Gewißheit, daß der Berg die Sherpas schützen und wieder entlassen würde, wenn sie ihm mit Ehrfurcht begegneten. Als die puja beendet war, überreichten die Mönche jedem eine rote Knotenschnur als Schutzamulett. Die Sherpas nahmen die Gaben mit ruhiger Ehrerbietung und unter Verbeugungen entgegen und hängten sich die Schnüre um den Hals.
Bei anhaltender Schneeschmelze würden Kami Noru und die anderen in den nächsten Tagen zum Everest-Basislager aufbrechen, wo sie mit den Expeditionen, die sie angeheuert hatten, zusammentreffen würden. Für einen Tageslohn zwischen 2,50 Dollar und 50 Dollar sollten sie beim Aufbau der Lager helfen, Lasten hinauf schleppen und für die Gipfelstürmer, die sich in immer größerer Zahl auf den Everest wagten, kochen und andere Dienste verrichten.
Anfang der achtziger Jahre hätten Expeditionsbergsteiger und Träger, die sich während der Frühjahrssaison im Everest-Basislager zusammenfanden, in einem einzigen Waggon der Pariser Metro Platz gehabt. 1996 aber würden es insgesamt über vierhundert Menschen sein, die den Pfad heraufgestiegen waren und ihre Zelte aufgeschlagen hatten, was dem Platz das Aussehen eines Rockkonzert-Massenlagers verlieh. Ein Bergsteiger attestierte dem Basislager des Jahres 1996 Ähnlichkeit mit einem »Zirkus, nur gab es in unseren Zelten mehr Clowns«. Von verschiedenen Seiten wurde behauptet, daß es ein Jahr war, in dem ein paar echte »Problemfälle« auf den Berg geführt wurden.
Eine taiwanesische Expedition unter der Leitung von Makalu Gau war Quelle unzähliger Witze. Hinter den Späßen verbargen sich allerdings kaum verhüllt echte Vorbehalte hinsichtlich der Eignung des Teams und seiner Chancen, wieder wohlbehalten herunterzukommen. Ein Kletterer stellte fest: »Mit dem Bob-Team aus Jamaika hätte ich es ebenso schnell bis nach oben geschafft.« Ähnliches galt für die Expedition der in Johannesburg erscheinenden Sunday Times, die Nelson Mandela öffentlich abgesegnet hatte. Geschichten über die relative Unerfahrenheit vieler Teilnehmer und Zweifel an der Verläßlichkeit ihres drahtigen und leicht aufbrausenden Leiters Ian Woodall machten bei Henry Todds Scotch-Abenden die Runde.
Der amerikanische Kletterer und Everest-Veteran Ed Viesturs soll geäußert haben: »Hier oben sind jede Menge Leute, die nicht hergehören.« Der siebenunddreißigjährige Viesturs arbeitete als Bergführer und betätigte sich daneben für die MacGillivray Freeman IMAX/IWERKS Expedition unter der Leitung des amerikanischen Bergsteigers und Filmemachers David Breashears als Talent vor der Kamera. Das Projekt war die aufwendigste Dokumentation, die jemals über den Everest gedreht wurde, ein Großformatfilm, der 1998 herauskommen sollte. Für Kinos mit Panorama-Leinwand und mehrdimensionalem Tonsystem gedacht, würde der Film einen virtuellen Polstersessel-Everest bieten.
Breashears, ein Anfangsvierziger, besaß im Himalaja einen geradezu legendären Ruf. Mehr als jeder andere Bergsteiger, ausgenommen vielleicht Sir Edmund Hillary, der mit Tensing Norgay 1953 zum ersten Mal den Everest-Gipfel bezwang, hatte Breashears es geschafft, den Everest-Rummel finanziell zu nutzen und mit seinen Berg-Aktivitäten im Lauf der Jahre viel Geld zu verdienen. 1985 hatte er die Ehre, den texanischen Geschäftsmann und Millionär Dick Bass zum Gipfel zu führen. Mit fünfundfünfzig war Bass der älteste Bergsteiger, der es bis zum höchsten Punkt schaffte.
Diese Leistung wird von vielen als Wendepunkt in der Geschichte der Everest-Besteigungen angesehen, denn die Abenteuerlustigen und die Reichen horchten auf. Wenn es ein Fünfundfünfzigjähriger mit Motivation und unbeschränkten Mitteln geschafft hatte, dann konnte es jeder! Kommerzielle Expeditionsgesellschaften schossen aus dem Boden, um den entstandenen Bedarf zu decken und Kunden zu bedienen, die hohe Dollarbeträge für hohe Berge bezahlen konnten.1
Auf dem Anmarsch zum Everest-Basislager machten Breashears und sein IMAX/IWERKS-Expeditionstrupp gehörig Eindruck. Unweit von Kami Norus Haus in Pangboche kehrten einige Teilnehmer in einem Teehaus ein und besetzten ein paar Tische. Sie bestellten Tee, lehnten aber das angebotene einheimische Essen ab und zogen statt dessen heimatliche Leckerbissen aus ihren Rucksäcken vor. Ein Basislager-Veteran, dem das Team zu geschniegelt und cool war, nannte es nur die »Gucci-Boys«.
Die Expedition von Henry Todds Himalayan Guides und einige andere kommerzielle Expeditionen, die wie Todd zahlende Kunden auf den Gipfel führten, zelteten im Basislager in der Nähe der IMAX/IWERKS-Expedition. Zu diesen kommerziellen Expeditionen gehörte auch die von dem Neuseeländer Rob Hall geleitete Adventure Consultants Expedition.
Hall, mit seinem schwarzen Bart Präsident Lincoln nicht unähnlich, hatte eine beeindruckende Ausstrahlung. Seine Überlegenheit und die ruhige, zurückhaltende Art ließen ihn älter als seine fünfunddreißig Jahre wirken. Seit er 1990 mit kommerziellen Expeditionen zum Mount Everest begann, hatte Hall die Rekordzahl von neununddreißig Personen (Kunden und Expeditionspersonal) zum Gipfel geführt. Die Werbung seiner Firma in internationalen Bergsteigerzeitschriften war großformatig, verlockend und nicht gerade bescheiden. Anfang 1995 erschien seine Anzeige mit dem Text: »100% Erfolg! Bestellen Sie unseren kostenlosen Farbprospekt.« Die hundert Prozent galten allerdings nur bis zum Mai 1995, als er mit allen Teilnehmern umkehren mußte, da tiefer Schnee in großer Höhe den Aufstieg behinderte. Keiner erreichte den Gipfel.
1996 war Rob Hall wieder da und bereit, erneut loszumarschieren. Er war fest entschlossen, nach Möglichkeit wieder auf die Haben-Seite zu gelangen, denn er stand unter Druck. Erfolg und Nicht-Umkehren brachten das Geschäft, und dazu kam 1996 eine neue Herausforderung: ein zusätzlicher Konkurrent mischte mit.
Scott Fischer aus West Seattle, Washington, erschien auf der Szene. Einsneunzig groß, mit einem ebenmäßigen, scharfgeschnittenen Gesicht, das blonde Haar lang und lose, führte er seine in West Seattle beheimatete Abenteuer-Agentur Mountain Madness praktisch als Ergänzung zu seinem persönlichen Lebensziel: Er wollte auf der ganzen Welt bergsteigen und dabei seinen Spaß haben.2
Mit seinem Talent, seinem guten Aussehen und seinem Charme hätte er sich auf einem Bergsteiger-Poster fabelhaft gemacht. Er besaß eine charismatische Persönlichkeit mit geradezu magnetischer Anziehungskraft. Er warb Kunden an, motivierte sie, schaffte es, daß sie mitmachten, Schecks ausschrieben und ihre Rucksäcke packten. Er war eine Kämpfernatur, aber ein Neuling, was kommerzielle Everest-Expeditionen betraf.
Das Motiv, das ihn bewogen hatte, bei diesem Spiel mitzumischen, war ganz einfach, wie einer seiner Geschäftspartner erklärte: »Ich glaube, er hat Rob Halls Erfolg gesehen und sich gedacht, ›was der kann, kann ich auch‹. Und zwar nicht auf knallharte Macho-Tour, sondern einfach, indem er sagte: ›He, ich bin ein erstklassiger Bergsteiger. Wäre doch gelacht, wenn ich es nicht auch schaffe. Ich werde Kunden auftreiben und ebenfalls losmarschieren. ‹« Ja, auch losmarschieren und natürlich auch Geld machen.
Karen Dickinson, die ehemalige Geschäftsführerin von Mountain Madness, bezeichnete die Entscheidung des Unternehmens, Expeditionen zum Everest anzubieten, als »letzten Schrei des Extrembergsteigens. Wir mußten der Nachfrage unserer Kunden entsprechen, wenn wir sie nicht an die Konkurrenz verlieren wollten. Wenn die Sache gut läuft, kann sie sehr lukrativ sein, deshalb war auch ein finanzielles Motiv da. Man darf nur nicht vergessen, daß man dabei ebensogut sein letztes Hemd verlieren kann. In finanzieller Hinsicht ist es eine riskante Partie.«
Fischer lockten vor allem die finanziellen Aussichten einer erfolgreichen Expedition, da er schon seit einiger Zeit erwog, sein Leben zu ändern. Karen Dickinson sagte: »Im Jahr zuvor war er vierzig geworden. Sein Unternehmen war endlich dort, wo er es haben wollte. Er hatte den K2 (8611 m) und den Everest bestiegen; er hatte sich als erfolgreicher Bergführer etabliert. Er sprach davon, daß er selbst den Everest-Gipfel vielleicht nicht mehr besteigen würde, daß er aber Leute dafür anheuern würde.«
Der nur oberflächlich skizzierte Plan war über ein paar zwanglose Gespräche zwischen Fischer und Dickinson noch nicht hinausgekommen, doch Leute, die Fischer gut kannten, behaupteten, er habe ernsthaft über eine Veränderung nachgedacht. Sein persönliches Leben, seine Rolle in der Firma, sein Ansehen in der Öffentlichkeit, alles forderte eine Midlife-Bestandsaufnahme bei ihm geradezu heraus.
Fischer hatte seit Anfang der achtziger Jahre am Aufbau von Mountain Madness gearbeitet, ohne daß ihm das Unternehmen ein anständiges und regelmäßiges Einkommen geboten hätte. Bergsteigen war seine Leidenschaft, und sein Beruf hatte es ihm ermöglicht, ihr zu frönen, aber er war nie in die Schlagzeilen geraten, hatte nie einen großen Auftritt gehabt. Ein kommerzieller Erfolg am Everest würde dieses Bild schlagartig verändern, wie er sehr wohl wußte. Gelang es ihm, genügend Kunden aufzutreiben, die bereit waren, 65000 Dollar (das war Halls Preis) zu berappen, und schaffte er es, ein ansprechendes Angebot an Hochgebirgsexpeditionen zusammenzustellen, konnte er damit viele Probleme lösen und sich manche Veränderung leisten.
Ein Grund, diese Richtung einzuschlagen, war auch mangelnde internationale Anerkennung. Sein Ruf konnte sich nicht mit dem einiger anderer Höhenbergsteiger messen, die Titelblätter und Innenseiten von Bergsteigerzeitschriften und Ausrüstungskatalogen zierten. Mit zunehmendem Erfolg als Expeditionsleiter war seine eigene Bergsteigerkarriere ins Hintertreffen geraten. In ihm wuchs das Gefühl, »daß er nicht das gebührende Medienecho hatte, daß die Presse ihn nicht anständig behandelte, daß man ihn nicht respektierte; sein Name war nie groß im Gespräch. Er lechzte nach Anerkennung«, wie es einer seiner Freunde formulierte.
Einige seiner Bekannten brachten es auf den Punkt: Er hatte ein Imageproblem. Er galt zwar als versierter Bergsteiger, Ausbilder, Bergführer und Fotograf, aber auch als ein prahlerischer, waghalsiger Bursche, der immer auf Spaß aus war. Diese Charakterisierung hatte ihm einen gewissen Ruf eingetragen, doch war es nicht das Image, das finanziell potente Kunden angezogen oder ihm großzügige Sponsoren verschafft hätte, denen er zu »riskant« erscheinen mochte. Eine erfolgreiche Everest-Expedition aber, zumal eine, die viel Aufsehen erregte, konnte »den Erfolg ins Rollen bringen«.
Dickinson, Fischer und ihre Mitarbeiter machten sich daran, von ihrem Büro in West Seattle aus telefonisch die Kundenliste durchzuarbeiten, und rührten die Werbetrommel. Hunderte Broschüren wurden per Post verschickt, zweifarbige Machwerke, die graphisch so ansprechend wie eine Gebrauchsanweisung für einen Rasenmäher waren. Diese Prospekte, die es an glänzender Aufmachung nicht mit Rob Halls Werbematerial aufnehmen konnten, warben mit der Ankündigung: »Den Mitgliedern des Teams 1996 steht die Chance auf den höchsten Berg der Welt offen. Wir bauen eine Pyramide aus mehreren Lagern auf, von denen jedes vom nächstunteren aus versorgt wird. Führer und Hochträger bringen Fixseile an, errichten und versorgen die Lager und leiten jeden Gipfelversuch. Die Teilnehmer selbst tragen nur leichte Lasten und sparen ihre Kraft für den Gipfel.«
Für Fischers Konkurrenten auf dem Everest-Sektor war die Nachricht, daß er auf den Markt drängte, keine gute. Sein lässiger Stil und seine Erfolge mit Expeditionen zu den entlegensten Zielen in Afrika, Südamerika und Asien hatten viele Kunden aus aller Welt angelockt. Falls er auch am Everest so gute Arbeit leistete, würde dies für Rob Hall, der sehr viel Interessenten aus den Staaten hatte, besonders problematisch werden.
 
Um die Presse auf Mountain Madness und sich selbst aufmerksam zu machen, umwarben Fischer und sein Team die Medien genauso aggressiv wie die zahlenden Teilnehmer. Dabei machten sie gleich zu Anfang einen Fang – einen, der eine echte Chance bot.
Outside, die führende Freizeit- und Sportzeitschrift in den Vereinigten Staaten, beabsichtigte, den Bergsteiger und Autor Jon Krakauer zu sponsern. Der journalistisch tätige Erfolgsautor aus Seattle sollte über den Boom kommerzieller Everest-Expeditionen schreiben. Die Zeitschrift, die darauf aus war, Krakauer einen Platz in Fischers Team zu sichern, wollte jedoch besondere Bedingungen aushandeln.
Begeistert von den Möglichkeiten, die sich durch einen versierten Journalisten als Teilnehmer bieten konnten, ging man bei Mountain Madness daran, die Leute von Outside zu bearbeiten. Sämtliche Möglichkeiten wurden durchgespielt, um für alle Beteiligten das Optimale herauszuholen, während das Feuer weiter geschürt wurde. Ein Geschäftsfreund von Fischer erinnert sich: »Karen (Dickinson) zündete unter Outside einfach zwei Feuer an und rief: Yeah!«
Die Verhandlungen liefen gut, und Fischer war hellauf begeistert von der sich anbahnenden Beziehung. Als Gegenleistung für den Nachlaß, der Outside gewährt wurde, verlangte Mountain Madness Anzeigenraum und einen groß aufgemachten Artikel samt Farbfotos, der für sie eine kostenlose Werbung darstellen würde. Auch Krakauer war begeistert und sagte zu einem von Fischers Partnern, daß er mit Scotts Team klettern wolle, weil es die besseren Bergsteiger hätte und weil Scott auch aus Seattle und ein interessanter Typ sei.
Es war genau das Presseecho, das Fischer suchte: Berichterstattung in einem großen, marktbeherrschenden Magazin, dessen Zielgruppe »Betuchte« und Rucksack-Typen waren, die sich saftige Gipfelpreise leisten konnten. Dickinson erinnerte sich: »Wir dachten die längste Zeit, Jon würde bei uns einsteigen. Wir hielten ihm einen Platz offen und handelten mit Outside schon die Zahlungsbedingungen aus – eine Kombination aus Werbung und Scheck.«
Ein Mountain-Madness-Partner aber erklärte: »Man zeigte sich ihr (Dickinson) gegenüber sehr kleinkariert. Ich glaube, man wollte im Grund erreichen, daß Mountain Madness praktisch für alles aufkäme, und er (Krakauer) nicht einmal seine Unkosten selbst bezahlen sollte. Mountain Madness hätte also aus eigener Tasche zusetzen müssen, um ihn dabeizuhaben. Man kennt das ja. An einem gewissen Punkt wandte Outside sich an Rob (Hall) und fragte: ›Okay, wieviel verlangst du?‹ und Rob sagte: ›Noch weniger‹. Das war’s dann!« Fünf vor zwölf sicherte Outside Krakauer einen Platz bei Adventure Consultants.
Ein Sprecher von Outside erklärte, die Entscheidung, Halls Angebot anzunehmen, sei nicht ausschließlich »aus finanziellen Gründen« gefallen, man hätte ebenso in Erwägung gezogen, daß er »erheblich mehr Führungserfahrung auf dem Everest besäße, sein Ruf in Sachen Sicherheit besser sei und er laut Jon Krakauer auch ein besseres Sauerstoffsystem hätte«.
Wütend über die Entscheidung von Outside sagte Fischer: »Das ist wieder mal typisch für die Medien!« Einem Freund war Fischers »entlarvende« Erwiderung im Gedächtnis geblieben: »Er war der Meinung, daß es ein richtig fieser Schachzug von Outside war, zuerst so zu tun, als ob, und aus Karen (Dickinson) jede Menge Informationen herauszulocken, um dann wegen einer minimalen Preisdifferenz Rob den Zuschlag zu geben.«
Eine Gelegenheit geht, die andere kommt, möglicherweise sogar eine bessere. Mountain Madness gelang es, die vierzigjährige Sandy Hill Pittman, Mitarbeiterin von Allure und Condé Nast Traveler, als Teilnehmerin zu gewinnen. Sandy hatte die höchsten Gipfel auf sechs von sieben Kontinenten bezwungen, nicht aber den Everest. Bei ihren zwei Versuchen – einem davon mit David Breashears vom IMAX/IWERKS-Team – hatte sie unterhalb des Gipfels umkehren müssen.
Sandy Pittman war ein Knüller. Sie verfügte über mehr Höhenerfahrung als Krakauer, und sie hatte ein Übereinkommen mit NBC Interactive Media, täglich einen Beitrag für World Wide Web (www.nbc.com/everest)3 ins Internet einzuspeisen. Gelang es Fischer, sie bis zum Gipfel zu bringen, bedeutete das für ihn eine unbezahlbare Publicity. Aber erst mußte er sie natürlich hinaufbekommen – und das wußte Fischer.
»Ich glaube, Fischer sah sie als Prestigeobjekt«, sagte einer seiner Freunde. »Bringt er sie rauf – wumm! Dann schreibt sie über ihn, spricht über ihn und läßt ihn auf ihrer Erfolgswelle mitreiten.« Schaffte er es aber nicht, konnte sich das für ihn als Publicity-Fiasko erweisen. Eine Partnerin sagte, sie könne sich gut vorstellen, wie Sandy Pittman jammern würde: »Scott Fischer ist schuld, er ist schuld. Er wollte mich nicht rauflassen. Ich hätte es geschafft.«
 
Um seine Klientel zum Gipfel zu bringen, hatte Fischer drei Führer engagiert und seine potentiellen Kunden über deren Mitarbeit informiert. In seinem Werbematerial stellte er sie vor: Nazir Sabir aus Pakistan, ein altgedienter Führer und Expeditionsleiter, der mehrere Achttausender bezwungen hat; Neil Beidleman, Luftfahrttechniker, Bergsteiger und Ultra-Marathonläufer aus Aspen, Colorado, und Anatoli Boukreev.
Boukreev, achtunddreißig, gebürtiger Russe, wohnhaft in Alma-Ata, Kasachstan, galt als einer der hervorragendsten Höhenbergsteiger der Welt. Bis zum Frühjahr 1996 hatte er sieben der anspruchsvollsten Achttausender der Erde bezwungen (einige mehrmals), alle ohne künstlichen Sauerstoff.4
2. KapitelEinladung Everest
Die Kletterrouten von Scott Fischer und Anatoli Boukreev hatten sich nie gekreuzt, obwohl es einige Gipfel gab, die beide bestiegen hatten. Durch einen gemeinsamen Freund, den weltweit anerkannten russischen Bergsteiger Vladimir Balyberdin, hatten sie voneinander gehört: Boukreev vom geselligen, furchtlosen Amerikaner, der 1992 als Mitglied einer russisch-amerikanischen Expedition den K2 bestiegen hatte; Fischer von dem für seine Alleingänge berühmten Gipfelstürmer, der sich der Einberufung zum Militär und den Kämpfen in Afghanistan entzogen hatte und statt dessen Berge bestieg und sich wegen seiner Ausdauer und seines Tempos in extremen Höhen rasch einen legendären Ruf erworben hatte. Im Mai 1994 sollten sie einander endlich begegnen.
 
Wir lernten uns auf einer Party in einem Restaurant in Kathmandu kennen, als Rob Hall den Erfolg seiner letzten Everest-Expedition feierte. Wir waren etwa sechzig Personen: Bergsteiger, Sherpas und Freunde, die alle eingeladen worden waren, um das Ende der Frühjahrs-Klettersaison in Nepal zu feiern. Die Welt der Höhenbergsteiger ist klein, und viele von uns kannten sich von früheren Expeditionen her, doch war es das erste Mal, daß ich sowohl Scott als auch Rob Hall kennenlernte.
Ich hatte die erste kommerzielle Expedition auf den Makalu (8463 Meter) hinter mir, die mein Freund Thor Kieser aus Colorada leitete. Der Erfolg war mäßig, da nur drei von uns bis zum Gipfel gekommen waren, darunter Neal Beidleman aus Aspen, Colorado, und ich. Scott, Neal und ich feierten unseren Erfolg. Scott hatte nach drei Versuchen endlich den Gipfel des Mount Everest geschafft. Eine große Leistung, zumal es ihm ohne künstlichen Sauerstoff gelungen war.
Für mich war Scott der typische Amerikaner, wie man ihn sich in Rußland vorstellt. Er sah aus wie ein Filmstar, war groß und hübsch. Sein freundliches, offenes Lächeln wirkte ungemein anziehend.
Ich war der Meinung, daß Scott über das Potential eines hervorragenden Höhenbergsteigers verfügte. Ich hatte das Glück, mit vielen der weltbesten Alpinisten zu klettern, und Scott hatte mit ihnen mithalten können. Obwohl er nicht so bekannt war, schätzte ich ihn ebenso wie den Amerikaner Ed Viesturs, den ich seit 1989 kannte. Ed, der neun der vierzehn Achttausender ohne Sauerstoffhilfe bestiegen hat, ist meiner Meinung nach der beste Höhenbergsteiger Amerikas.
 
Der Zufall führte Boukreev und Fischer im Oktober 1995 ein zweites Mal zusammen. Wieder waren sie in Kathmandu, Boukreev, um seine Bergkarriere voranzutreiben, Fischer, um mit dem nepalesischen Ministerium für Tourismus die Genehmigung für eine Everest-Expedition auszuhandeln.
Boukreev war von einem kasachischen Team zu einer für Herbst 1995 geplanten Expedition auf den Manaslu (8162 Meter) nach Nepal eingeladen worden. Sie sollte zum Gedächtnis einiger kasachischer Bergsteiger stattfinden, die 1990 diesem Berg zum Opfer gefallen waren. Boukreev, der den Ehrgeiz hatte, sämtliche Achttausender der Welt zu erklimmen, und den Manaslu noch nicht bestiegen hatte, war mit Freuden auf das Angebot eingegangen und trainierte eifrigst.
Wie andere ehemalige UdSSR-Staaten mußte auch Kasachstan um die Mittel für Bergsteigerförderung hart kämpfen. Für Boukreev kam daher die Ankündigung des Expeditionsleiters Ervand Ilinski nicht weiter überraschend, man hätte das benötigte Geld nicht auftreiben können und die Besteigung des Manaslu müsse auf Frühjahr 1996 verschoben werden.
 
Kurz vor meinem Abflug nach Nepal erfuhr ich, daß die Expedition abgeblasen worden war. Ich dachte mir, welchen Sinn hat es, in Almaty zu bleiben? Meine Chancen als Höhenbergsteiger sah ich vor allem im Himalaja, deshalb mußte ich dorthin. Wartete ich jetzt in Kasachstan auf eine Chance, konnte dies das Ende meiner Bergsteigerkarriere bedeuten. Deshalb flog ich nach Kathmandu in der Hoffnung, dort als Führer engagiert zu werden oder mich einer Achttausender-Expedition anschließen zu können.
In Kathmandu angekommen, fand ich keinen Job als Führer, traf aber ein paar Freunde aus Georgien, mit denen ich schon im Pamir und im Tien-Shan-Gebirge in Asien geklettert war.
 
Anders als die Kasachen hatten die Georgier das Geld für eine Besteigung des Dhaulagiri (8167 Meter) auftreiben können. Da sie Boukreevs Erfahrung für ihr Vorhaben nutzen wollten, luden sie ihn unter der Bedingung ein, daß er für seine Unkosten und seinen Anteil an der von der nepalesischen Regierung geforderten Genehmigungsgebühr selbst aufkam. Seit dem Zerfall der Sowjetunion war es mit der großzügigen staatlichen Förderung vorbei, doch Boukreev nahm ungeachtet seiner beschränkten Mittel das Angebot an.
Da die Georgier befürchteten, Boukreevs Teilnahme könne falsch ausgelegt werden und einen eventuellen Teamsieg beeinträchtigen, kam man überein, daß Boukreev bis knapp unter den Gipfel mit ihnen klettern sollte, um das letzte Stück dann im Alleingang zurückzulegen. Für den Fall des Gipfelsieges sollte der Eindruck vermieden werden, die Georgier hätten sich auf die Erfahrung eines Russen gestützt, zumal eines in Kasachstan lebenden. Es war dabei nicht so sehr Konkurrenzdenken zwischen den Teilnehmern im Spiel (unter Höhenbergsteigern weitverbreitet), als vielmehr Nationalstolz und Politik.
Am 8. Oktober 1995 bezwang Boukreev den Dhaulagiri im Alleingang und ohne künstlichen Sauerstoff und stellte unbeabsichtigt einen Geschwindigkeitsrekord für den Aufstieg auf: siebzehn Stunden und fünfzehn Minuten.
 
Nach der Rückkehr nach Kathmandu am 20. Oktober machte sich Boukreev unverzüglich an die Arbeit. Er hielt Ausschau nach einer Anstellung als Bergführer und verhandelte mit Henry Todd von Himalayan Guides, der ihm mündlich einen Job angeboten hatte. Im Mai 1995 hatte Boukreev Todds Expedition erfolgreich über die Nordroute des Everest geführt, während Todd wegen einer Rückenverletzung im Basislager bleiben mußte. Nach Boukreevs Erfolg war Todd sehr daran interessiert, sich seine Mitarbeit für die Saison 1966 zu sichern, da Todd eine Everest-Expedition auf der beliebtesten Aufstiegsroute von Süden über den Südostgrat plante.
 
Ich kam eben vom Frühstück und ging durch eine schmale Seitenstraße des Thamel-Bezirkes, in der Totalstau herrschte. In dem Durcheinander von Rikschas, Fahrradtaxis, Lastern und Pkw hörte ich jemanden meinen Namen rufen, und aus einem der Autos winkte man mir zu, ich solle näherkommen. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich einige meiner Klettergefährten aus Alma-Ata. Sie kamen eben vom Flughafen und waren völlig aus dem Häuschen. Irgendwie war die Manaslu-Expedition doch zustandegekommen; jemand hatte das nötige Geld zusammengekratzt. Nun wollte man den Aufstieg im Dezember 1995 anstatt im darauffolgenden Frühjahr in Angriff nehmen. Das war aus zweierlei Gründen eine gute Nachricht. Erstens würde eine Expedition starten. Zweitens würde ich damit im Frühjahr bei der Suche nach einem Führer-Job flexibler sein.
Ein paar Tage später lief ich Scott über den Weg. In einer schmalen Nebenstraße sah ich ihn unweit des Skala die Marktstände durchstöbern. Das Skala ist ein Gästehaus im Sherpa-Besitz, in dem ich wohnte. Da ich glaubte, er würde mich vielleicht nicht mehr erkennen, tippte ich ihm auf die Schulter und fragte ihn, was in Amerika los sei. Er erkannte mich sofort und begrüßte mich lächelnd.
»Hi, Anatoli. Wie geht’s immer? Hast du Zeit für ein Bier?«
Wir entdeckten ein Restaurant unweit des Ministeriums für Touristik, in dem er später einen Termin hatte, und wir erzählten einander, was wir seit unserer letzten Begegnung getrieben hatten. Scott berichtete, daß er von Pakistan aus erfolgreich eine Expedition auf den Broad Peak (8047 Meter) geführt hätte und daß er mitten in den Genehmigungsverhandlungen für den Everest steckte. Die Genehmigungspolitik sei unerhört, sagte er, und vor allem die Preise! »Fünfzigtausend für fünf Teilnehmer, zehntausend für jeden zusätzlichen! Unglaublich.« Er sagte, fünf Teilnehmer hätten schon unterschrieben, und es sähe aus, als wäre die Sache gelaufen, wenn er nur die Genehmigung bekäme.
 
Fischer betrieb das Falschspiel, das am Everest nötig war. Er hatte seine Everest-Expedition angekündigt, ohne eine Genehmigung in der Hand zu haben – unter kommerziellen Expeditionsveranstaltern kein ungewöhnliches Vorgehen. Karen Dickinson schilderte die Situation folgendermaßen: »Wir alle schwitzten Blut. Als wir im Jahr zuvor raufwollten (auf den Everest), bekamen wir keine Genehmigung und entschieden uns, alles abzublasen. Natürlich bekamen wir sie dann doch, aber für Ende Januar, und schrien laut: ›He, das ist jetzt zu spät!‹ Unsere Konkurrenz, die samt und sonders gelogen und gesagt hatte, sie hätte Genehmigungen, obwohl es nicht der Fall war, konnte ihre Expeditionen durchziehen. Deshalb sagten wir 1996 ganz einfach: ›Klar, wir haben die Genehmigung.‹ Aber erst im Februar hatten wir sie dann wirklich in der Hand.«
Scott fragte mich, was ich denn in Kathmandu triebe. Ich sagte, ich käme eben vom Dhaulagiri, von meiner zweiten Besteigung. »Hast du eine Gruppe geführt?« fragte er mich. »Nein, es war reiner Sport«, gab ich zurück. »Ich hatte die Chance, mich an eine georgische Expedition anzuhängen, und es wurde ein Aufstieg in Rekordzeit.« Ich glaube, daß Scott sich wunderte. »Du hast also keine zahlenden Kunden geführt?« fragte er lachend. Meine Taschen waren mittlerweile fast leer, und seine Frage war nicht unberechtigt. Scott kannte die Lage in der ehemaligen Sowjetunion, wo es für Bergsteiger so gut wie keine staatlichen Mittel mehr gibt. Wie ich hatte auch er gehört, daß unser gemeinsamer Freund Vladimir Balyberdin, der seinen Privatwagen als ›wildes‹ Taxi fuhr, dabei ums Leben gekommen war.
Da ich nicht ständig von den schlechten Zeiten reden wollte, sagte ich zu Scott: »Nächsten Monat mache ich mit einem Team aus Kasachstan den Manaslu. Möchtest du mitkommen?« Erst war er still und begriff erst nach einer Weile, daß es mir ernst war. Da lachte er wieder und sagte, wie sehr er mich um meine extremen Abenteuer beneide.
Scott wußte wie ich, daß noch kein Amerikaner den Manaslu bezwungen hatte. »Du könntest der erste sein«, sagte ich. Er zog die Brauen hoch, in seinen Augen leuchtete es auf. »Mensch, Anatoli, ich würde ja gern mitmachen, aber ich habe so unglaublich viel zu tun. Ich bin jetzt dabei, diese Everest-Tour für Mai zusammenzustellen; dann läuft ein Projekt am Kilimandscharo. Mann, ich würde es liebend gern machen, aber ich bin so verdammt eingespannt.«
 
Seine Reisen für Mountain Madness führten Scott durch die ganze Welt, fort von seiner geliebten Familie. In seinem Haus in West Seattle hatte er seine Sachen, dort wohnten seine Frau Jeannie und seine beiden Kinder. Doch er lebte meist aus dem Koffer oder aus einem Expeditionssack und war den Schikanen humorloser, ständig die Hand aufhaltender Zollbeamten ausgesetzt. »Auf Flughäfen mußte er häufig Leibesvisitationen über sich ergehen lassen«, berichtete Karen Dickinson. »Kein Wunder, er mit seinem Pferdeschwanz, seinem kleinen Goldohrring und seiner völlig irren Reiseroute – erst nach Thailand, dann nach Nepal und jetzt nach Afrika. Klar, daß die Leute vom Zoll immer fragen: ›Und was haben Sie dort vor?‹«
 
Ich versuchte, ihn aus seinem Trott zu reißen, ihn zu überreden, er solle etwas für sich tun und einfach so zu seinem Vergnügen klettern. »Ich bin ganz sicher, daß wir Erfolg haben werden«, sagte ich. »Wir sind ein starkes Team, und mit dir wäre es noch stärker. Mach mit!« Ich sah ihm an, wie schwer ihm die Ablehnung fiel, hin- und hergerissen zwischen seinen Geschäftsinteressen und seiner Liebe zu den Bergen. »Ich bin nicht so frei wie du«, sagte er. »Ich habe Verpflichtungen, ein Unternehmen, Familie.«
Ich hatte Verständnis für sein Dilemma. Für Extrembergsteiger ist es sehr schwierig, ihrer Leidenschaft zu frönen, ohne auf diese oder jene Weise kommerziell zu werden. Trotzdem war ich enttäuscht, als ich ihn so reden hörte.«
 
Während Boukreev und Fischer sich unterhielten, sah Fischer immer wieder auf die Uhr. Er wollte seinen Termin im Ministerium für Touristik pünktlich einhalten, um den Beamten seinen Respekt zu bezeugen. Gute Beziehungen zur Bürokratie waren sehr wichtig. Ohne Ticket gab’s keinen Aufstieg.
 
Als Scott aufstand, fragte er mich, ob ich am nächsten Tag mit ihm in seinem Hotel, dem Manang, frühstücken wolle. Er hätte einiges mit mir zu besprechen.
 
Boukreev war nur zu gern zu diesem Treffen bereit, da er nach Chancen Ausschau hielt und wußte, daß Fischer seinen Tätigkeitsbereich ausweiten und neue Märkte erschließen wollte. Die Jahre seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren für Boukreev härter gewesen, als Fischer ahnte. Das Bergsteigen wurde in seiner Heimat nur mehr in beschränktem Umfang betrieben. Viele Bergsteiger aus Boukreevs Generation, darunter die besten Kletterer der Welt, litten bittere Not. Um ihre Familien zu ernähren, mußte ihr Ehrgeiz zurückstehen, während sie Berghütten bewirtschafteten oder für die Sprößlinge von Mafiabossen Skilehrer spielten – alles, um ihr tägliches Brot zu verdienen.
Boukreev hatte die mit dem Verlust staatlicher Förderung einhergehende Verzweiflung und Demütigung am eigenen Leib erfahren. Während Neal Beidleman nach der erfolgreichen Besteigung des Makalu im Jahr 1994 mit den anderen amerikanischen Teamkollegen zurück in die Staaten jettete, war Boukreev gezwungen, sich im billigsten Hotel von Kathmandu einzuquartieren und seine Kletterausrüstung zu verhökern, um ein Ticket nach Alma-Ata kaufen zu können. Ein Blick in den Spiegel hatte ihm eines Tages gezeigt, daß er trotz der Strapazen des Makalu-Aufstiegs zugenommen hatte, weil die Expeditionsverpflegung viel besser war als alles, was es zu Hause gab. Alle seine amerikanischen Kameraden hingegen hatten Gewicht verloren, manche sogar neun Kilo. Das war am Tiefpunkt seiner Karriere gewesen, den er bis jetzt noch nicht richtig überwunden hatte.
 
Ich wollte Scott mit den Bergen in Kasachstan bekanntmachen und mit den Möglichkeiten, die sich dort boten. Die Chancen waren vorhanden und warteten nur darauf, genützt zu werden. Lange Zeit Trainingsgelände für Kletterer aus der ehemaligen Sowjetunion, stellten die Berge ein paar interessante Herausforderungen dar. Die Infrastruktur war spärlich, es gab nur wenige Hotels, doch strömte allmählich Kapital ins Land, und ich dachte mir, daß jemand mit Scotts Fähigkeiten etwas bewegen könnte.
 
Am nächsten Morgen nahmen sich Fischer und Boukreev die Karten von Kasachstan und ein paar Broschüren über die Tien-Shan- und Pamir-Gebirge vor, die der Russe mitgebracht hatte. Fischers Neugierde war erwacht, er stellte viele gezielte Fragen, um dann die Rede unvermittelt auf den Everest zu bringen. Er wollte über Boukreevs dortige Erfahrungen sprechen. Wie alle Höhenbergsteiger, die über den Himalaja ständig auf dem laufenden waren, wußte Fischer von Boukreevs Erfolg mit Henry Todds Himalayan Guides im Jahr zuvor. Unter den sieben Kletterern, die Boukreev auf den Everest geführt hatte, befanden sich drei Erstbesteiger: der erste Waliser, der erste Däne und der erste Brasilianer.
 
Scott redete viel vom Everest, und dann sprachen wir über die Probleme geführter Touren in großen Höhenlagen und welche Erfahrungen er in tieferen Regionen gemacht hatte. Er sagte, daß er nicht nur Interessenten für den Everest hätte; er hatte große Pläne für die Zukunft, für sämtliche Achttausender. Er dachte ernsthaft an eine kommerzielle K2-Expedition. Viele Amerikaner seien an der Teilnahme interessiert, sagte er. »Ich bräuchte dazu gute Führer, ungefähr sechs, vielleicht Russen, die gewillt wären, das Risiko auf sich zu nehmen; es gibt nicht viele Amerikaner, die das tun würden.«
 
Obwohl nur der zweithöchste Gipfel der Welt, gilt der K2 allgemein als der gefährlichste Achttausender. Bedingt durch seine Pyramidenform befinden sich die schwierigsten Passagen in großer Höhe an seinen Flanken. Er ist eine der großen Herausforderungen in extremer Höhe. Der Schwierigkeitsgrad seiner Routen und die dramatischen, oft tragischen Berichte über Besteigungsversuche waren Fischer bekannt. Soweit Boukreev wußte, war Fischer bei einer der spektakulärsten Episoden mit von der Partie gewesen.
Im August 1992 hatte Fischer nach der erfolgreichen Besteigung des K2 erschöpft und von einer Schulterverletzung behindert trotz Nacht und Schneesturm den Abstieg gewagt. Zusammen mit seinem Begleiter Gary Ball, der bewegungsunfähig an Fischers Klettergürtel fixiert hing. Gary Ball aus Neuseeland, Rob Halls Geschäftspartner, konnte sich wegen eines Lungenproblems nicht aus eigener Kraft fortbewegen. Fischers Heldentat half, sein Leben zu retten.5
Ich sagte zu Scott: »Was für den Everest gilt, gilt auch für den K2. Du weißt es. Du warst dort. Fehler dürfen dort nicht passieren. Man braucht gutes Wetter und viel Glück. Man braucht qualifizierte Führer, professionelle Bergsteiger, die extreme Höhen und den Berg kennen. Und die Kunden? Die muß man sorgfältig auswählen. Man braucht Leute, die der Verantwortung und Herausforderung großer Höhenlagen gewachsen sind. Das ist nicht der Mount Rainier. Beim Achttausender-Bergsteigen gelten andere Regeln. Man muß in den Teilnehmern Selbstvertrauen wecken, da man sie nicht immer an der Hand nehmen kann. Es wäre gefährlich zu behaupten, auf den Everest könne man so führen wie auf den Mount McKinley.« Scott lauschte aufmerksam und setzte mich dann in Erstaunen.
»Ich brauche einen Kletterer mit Führerqualitäten«, sagte er. »Jemanden mit deiner Erfahrung. Komm mit mir auf den Everest. Anschließend wollen wir uns zusammen mit einem russischen Führerteam den K2 anschauen, danach die Tien-Shan-Berge. Was hältst du davon?«
Ich mußte Scott sagen, daß ich schon ein Angebot von Henry Todd von Himalayan Guides hatte, der von Nepal aus ebenfalls eine kommerzielle Expedition plante, wenn es mit der Genehmigung klappte und sich genügend Teilnehmer fanden. ›Mitten in der Furt wechselt man nicht die Pferde‹, zitierte ich ein russisches Sprichwort. Da lachte Scott und fragte mich, was Henry Todd zahlen wolle. Als ich es ihm sagte, meinte er: »Aber du bist doch dein eigener Herr und hast noch gar nicht unterschrieben«. Und dann bot er mir fast das Doppelte.