Der glückliche Kunsträuber - Reinhard Kaiser - E-Book

Der glückliche Kunsträuber E-Book

Reinhard Kaiser

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Beschreibung

Vivant Denon, Direktor des Louvre in seiner allerersten Glanzzeit, war eine der schillerndsten Figuren Europas im Zeitalter der Französischen Revolution. Für seine große Liebe, die Kunst, tat er alles und war sich für nichts zu schade. Der Schriftsteller und Übersetzer Reinhard Kaiser erzählt hier zum ersten Mal Denons staunenswerte Lebensgeschichte – so lebendig und glänzend geschrieben, dass die Lektüre zu einer großen Verführung wird. "Ich bin in alledem nur der Mann, der zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort war", hat Denon bescheiden von sich gesagt und damit sein größtes Talent benannt, die Gunst der Stunde zu erkennen und Gelegenheiten, die sich ihm boten, nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Denon verehrte die Kunst auf vielerlei Weise - aber nicht wie etwas Göttliches, etwas prinzipiell Unerreichbares, sondern so wie ein Mann eine Frau verehrt, die er zu besitzen begehrt. Seine Lebensgeschichte ist eine Geschichte der Kunst und der Epoche, in der er lebte, sie führt durch halb Europa und nach Ägypten, auf die Schlachtfelder der Napoleonischen Kriege und in die großen Kunstsammlungen der Zeit, nach Berlin, Kassel, Braunschweig, München, Wien und Schwerin, sowie immer wieder nach Venedig und Paris. Sie ist auch die Geschichte einer großen, in wundervollen Briefen dokumentierten Liebe, die die Wirren der Revolutionsepoche überdauerte. "Ich habe nicht studiert. Ich habe viel gesehen", meinte Denon. Reinhard Kaisers Buch ist eine Einladung, die Welt und das Leben mit den Augen dieses glücklichen Kunsträubers zu betrachten.

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Reinhard Kaiser

Der glückliche Kunsträuber

Das Leben des Vivant Denon

C.H.Beck

Benjamin Zix: «Allegorisches Porträt von Vivant Denon», 1811.

Zum Buch

Die einen sahen in ihm «Napoleons Auge», die anderen hielten ihn für den größten Kunsträuber seiner Zeit. Vivant Denon, Direktor des Louvre in seiner allerersten Glanzzeit, war eine der schillerndsten Figuren Europas vor und nach der Französischen Revolution. Für seine große Liebe, die Kunst, tat er alles und war sich für nichts zu schade. Unter seiner Aufsicht wurde sogar die Quadriga vom Brandenburger Tor nach Paris geschafft. Reinhard Kaiser erzählt hier zum ersten Mal Denons staunenswerte Lebensgeschichte. Sie ist auch die Geschichte einer großen Liebe, die die Wirren der Revolutionsepoche überdauerte – so lebendig und glänzend erzählt, dass die Lektüre zu einer großen Verführung wird.

Über den Autor

Reinhard Kaiser, geb. 1950, ist Schriftsteller und Übersetzer. Er ist ein Meister darin, recherchierte Lebensgeschichten mit literarischen Mitteln zu erzählen. Zu seinen Veröffentlichungen zählen der Roman Der kalte Sommer des Dr. Polidori, Königskinder. Eine wahre Liebe sowie zuletzt die großen Romane von Grimmelshausen, übersetzt aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts. Für seine Bücher erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter zweimal den Deutschen Jugendliteraturpreis, den Geschwister-Scholl-Preis sowie den Niederrheinischen Literaturpreis. Reinhard Kaiser lebt in Frankfurt am Main. Im Verlag C.H.Beck liegt von ihm vor: John William Polidori/Lord Byron, Der Vampir, herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen (2014).

Inhalt

Vorspann

Hist

orische Achse

Fran

kreich beraubt

Vand

alismus

Triu

mph und Trophäe

1. Kapitel

Herk

unft, Legenden, Prägungen

Zutr

itt erlangen 

Als

Volontär in Sankt Petersburg

Nur

diese Nacht

Die

Entdeckung Italiens

From

me Diebstähle

Winc

kelmann und die Ameisen

Auf

verlorenem Posten 

Vase

nsammeln und andere Liebhabereien

Ein

Graveur mit vielfältigen Talenten

2. Kapitel

Die

Griechin seines Lebens

Gewi

sse Einzelheiten

Zum

Reisen genötigt 

Ist

Hinsehen Arbeit?

Neui

gkeiten aus Frankreich

Allt

ag und Liebe nach den Akten der Inquisition

Das

Kabinett des Antonio Zanetti

Goet

he wartet

Ein

Duell

Das

Porträt

3. Kapitel

Fran

kreich von außen betrachtet

Unte

r Spitzeln und Emigranten

Die

Ausweisung

Haft

ende Blicke

Rück

kehr ins Vaterland

4. Kapitel

Die

sicherste Stadt Europas

Vom

Verschwinden der Perücken und anderen Neuerungen

Ein

guter Freund

Robe

spierre erschrickt selbst

Neuz

ugänge im Zentralmuseum

Komp

liziert genug

Kauf

en und verkaufen

José

phine

Die

Mitte der Welt wird an die Seine verlegt

Vene

dig gibt die Schlüssel ab

5. Kapitel

Bis

an den ersten Katarakt des Nil

Zeic

hnen im Ausnahmezustand

Der

Fuß der Mumie

Wovo

n diese Steine sprechen

Pest

und Propaganda

Der

Held entfernt sich von der Truppe

Ein

dickes Buch

6. Kapitel

Ämte

rhäufung

Mita

rbeiter und Gegenspieler

Verk

lärungen

An d

er Schwelle zur Lebendigkeit

Ein

ruchloser Plan

Sein

e einzige Untreue

Besu

cherandrang 

Gene

raldirektor der Künste

Spät

es Begräbnis

Wied

ersehen am Terraglio

Wien

, Straßburg und der Zeichner Zix

7. Kapitel

Ein

Einquartierungs-Billett auf das goethesche Haus

Was

Berlin zu bieten hat

Die

Quadriga wird verschickt

Weih

nachten in Wolfenbüttel

Soll

ich etwa nichts nehmen?

Der

Krieg rückt näher

Im f

ernen Osten von Preußen

Erob

ert von der Grande Armée

Isab

ella porträtiert Vivente De-Non 

8. Kapitel

Span

ischer Winter

Mit

feinen Sägen

Aben

dessen zwischen Alten Meistern

Des

Kaisers neue Ehe

Denk

mäler

Ital

ien sehen …

Tode

sfälle

Beim

Papst in Fontainebleau

Abfl

auende Betriebsamkeit

9. Kapitel

Bege

gnung am Louvre

Triu

mphale Heimholung

Auf

der Pirsch

José

phines Erbe

Die

Meisterwerke bleiben in Paris

Wer

sich mehr schämt

Im J

ahr darauf ist alles anders

Die

Aachener Säulen

Im M

useum wird es wüst

Ende

einer Mission

10. Kapitel

Das

Diktionär der Wetterfahnen

Priv

ate Bereicherung

In W

ürde ohne Amt

Monu

ment seiner Sammlung

Tref

fpunkt am Quai Voltaire

Isab

ella in Paris

Nach

tgeschichten

Nich

t unsterblich

Zers

treuung nach Nummern

Nachspann

Was

in Frankreich blieb

Vere

hrung, Liebe, Annäherung

Zeit

weilige Verluste, bleibender Gewinn

Eine

europäische Geschichte

Anhang

Anmerkungen

Vorspann

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Nachspann

Literaturverzeichnis

Schriften von Vivant Denon in chronologischer Reihenfolge

Quellen und Schriften zu Vivant Denon

Bildnachweis

Namenregister

Tafelteil

Vor- und Nachsatz

Fußnoten

Mein Dank gilt Elena Balzamo, Marie-Luise Knott, Michael Hohmann, Ann Anders, Heiner Boehncke, Rainer Wieland, Stefan Bollmann, meiner Frau Viktoria, unserer Tochter Lisa und unserer Enkeltochter Emma Gesine. Ohne die Ermutigung, die mir von ihnen allen zuteilwurde, wäre dieses Buch nicht fertig geworden.

Frankfurt am Main, 20.September 2015

Reinhard Kaiser

Que Pierrot serait content

s’il avait l’art de vous plaire.*

*Ach, wie froh wär Pierrot, hätt’ er die Kunst, euch zu vergnügen.

Vorspann

Historische Achse — Seit es sie gibt, scheint die gläserne Pyramide des Louvre in Paris den Ausgangspunkt einer Geraden zu bilden, die wie mit dem Lineal gezogen in westlicher Richtung durch die französische Hauptstadt verläuft. Zunächst passiert diese Gerade einen Triumphbogen römischen Formats, schneidet dann – auf der Place de la Concorde – einen echten, altägyptischen Obelisken und unterquert noch einen zweiten Triumphbogen, diesmal von napoleonischen Ausmaßen, bevor sie sich hinter der so gut wie quadratischen Öffnung einer Baulichkeit im Weiten verliert, die seltsamerweise ebenfalls «Bogen» – sogar «Großer Bogen», Grande Arche – genannt wird und allein zu dem phantastischen Zweck errichtet scheint, ein Stück Himmel einzurahmen und gleichsam an die Erde zu heften.

Genau genommen beginnt diese «historische Achse», wie sie in Frankreich genannt wird, allerdings nicht bei der gläsernen Pyramide, sondern bei einem schräg vor ihr stehenden Reiterstandbild Ludwigs XIV. Die Pyramide und der ganze Louvre liegen nämlich ein wenig versetzt zu ihr. Trotzdem ergibt sich der Eindruck, dass zwischen all diesen Denk- und Sehenswürdigkeiten, über Räume und Zeiten hinweg, ein Zusammenhang besteht, und dieser Eindruck täuscht nicht.

Auch die gläserne Pyramide dient einem phantastischen Zweck. Sie markiert und beschirmt einen Zugang zur Kunst, wie es keinen zweiten auf der Welt gibt. Sie eröffnet den Weg in eine Sammlung von Sammlungen, die nicht ihresgleichen hat.

Wenn der Besucher in die Pyramide getreten ist, bleibt ihm nach der Sicherheitskontrolle nichts anderes übrig, als erst einmal hinabzusteigen auf eine tiefer gelegene, dank des durchsichtigen Zeltes über ihm aber dennoch lichte Ebene. Dort unten hat er dann die Wahl. Drei Wege führen von hier zur Kunst. Entscheidet er sich für den, der nach rechts, nach Süden, in Richtung der Seine, zum ältesten Teil des Museums abzweigt, so gleitet er nach einigen Schritten auf einer nun wieder in die Höhe führenden Rolltreppe den Buchstaben D-E-N-O-N entgegen und kann dann, unter ihnen hindurchgehend, seinen Weg fortsetzen – zu den römischen und griechischen Antiken im Erdgeschoss oder hinauf nach der Beletage, zu den italienischen Meistern in der Grande Galerie, zur Mona Lisa und zu den großformatigen Franzosen des 19.Jahrhunderts in den angrenzenden Sälen.

Der Louvre hat in den zweieinhalb Jahrzehnten seit der Eröffnung der Pyramide und mit all den Erweiterungen, die ihr folgten, einen Glanz erlangt, der ungeheuerlich und unvergleichlich erscheint. Doch dieser Eindruck täuscht. So viel Strahlkraft, wie er heute hat, ist schon einmal von ihm ausgegangen – kurz nachdem das einstige Königsschloss zu Beginn der revolutionären Schreckensherrschaft, im Sommer 1793, in ein Kunstmuseum umgewandelt worden war. Während der ersten beiden Jahrzehnte seines Daseins stand dieser Louvre in seiner Pracht und seiner Anziehungskraft hinter dem von heute nicht zurück, und was die – nach dem Urteil der Zeitgenossen – großartigen Gemälde und Skulpturen allerhöchsten Ranges anging, die er damals beherbergte, so übertraf ihre Zahl und ihre Qualität sogar die Bestände des heutigen Museums. Nachher allerdings ging es dann sehr plötzlich und steil bergab.

*

Frankreich beraubt — Im Herbst des Jahres 1815, nach der Schlacht bei Waterloo, als Napoleon Bonaparte abgedankt hatte und zu Schiff in sein endgültiges Exil nach Sankt Helena unterwegs war, erschienen in Paris Abgesandte zahlreicher europäischer Mächte – Kunstsachverständige. Sie verschafften sich – bisweilen unter militärischer Bedeckung – Zugang zum Museum und wanderten mit langen Listen durch die schier endlose Grande Galerie, auf der Suche nach Bildern und Skulpturen, die sie von ihren Sockeln oder von den Wänden zu holen und abzutransportieren gedachten.

Der Direktor des Museums, Dominique Vivant Denon, ein quicklebendiger, streitbarer Herr von achtundsechzig Jahren, stellte sich den Eindringlingen nach Kräften entgegen. Zeit seines langen, wendungsreichen Lebens hatte er es immer verstanden, im Umgang mit sehr unterschiedlichen, sehr einflussreichen, sehr mächtigen Personen den richtigen Ton zu treffen. Aber diesmal, angesichts des drohenden Untergangs seines Museums, verlor er jegliche Contenance.

Auch der Heilige Stuhl beteiligte sich an der Leerung des Louvre und hatte dazu den berühmten italienischen Bildhauer Antonio Canova nach Paris entsandt. Als Denon gegen ihn ausfallend wurde, wies Canova ihn zurecht, so führe man sich in Gegenwart eines Botschafters, eines Ambassadeur, nicht auf.«Ambassadeur!», erwiderte Denon, «Sie wollten wohl sagen emballeur – Einpacker!»*

Die Vereinigten Niederlande hatten vier Kommissare nach Paris geschickt. Unter der Leitung von Cornelis Apostool, dem Direktor des Koninklijk Museum in Amsterdam, des heutigen Rijksmuseums, sollten die Maler Balthasar-Paul Ommeganck, Joseph Dionysius Odevaere und Petrus Johannes van Regemorter etliche alte Niederländer und Flamen und vor allem die Gemälde des Peter Paul Rubens aus Paris in ihre Heimat zurückholen. Als Denon sah, wie van Regemorter, hoch auf einer Leiter stehend, eines der großen Rubensbilder abhängen wollte, das zu den Hauptattraktionen des Louvre gehört hatte, packte ihn der Zorn. Er stieß die Leiter um, und van Regemorter wäre unweigerlich mit ihr in die Tiefe gestürzt, hätte er sich nicht mit beiden Händen oben an den Rahmen des Bildes geklammert, wo er, vor der kostbaren Leinwand strampelnd, eine Weile hängenblieb, bis seine Landsleute die Leiter wieder aufgerichtet hatten.* Doch aller Widerstand Denons und seiner Mitarbeiter blieb vergebens. Der Louvre leerte sich zusehends und noch viel schneller, als er sich in den beiden vorangegangenen Jahrzehnten gefüllt hatte. Schließlich erschien in der «Gazette de France» unter dem Datum des 18.Oktober 1815 die folgende Notiz:

Monsieur Denon, Generaldirektor des Museums, hat um seine Entlassung gebeten. Ihre Majestät hat seinem Gesuch stattgegeben und dabei Ihre Zufriedenheit darüber zum Ausdruck gebracht, mit welchem Eifer sich dieser Gelehrte dafür eingesetzt hat, Frankreich einen Teil der Meisterwerke zu erhalten, deren es sich nun beraubt sieht.*

Frankreich beraubt! So sah es die «Gazette de France». So sah es «Ihre Majestät», Ludwig XVIII., der Nachfolger Ludwigs XVI. auf dem französischen Königsthron, der die Jahre der Revolution und des napoleonischen Kaiserreiches im Exil verbracht und nach der Schlacht bei Waterloo mit Hilfe der Engländer und Preußen den Weg zurück in die französische Hauptstadt gefunden hatte. So sah es auch Denon selbst – ausgerechnet er, den übelwollende Zeitgenossen außerhalb Frankreichs den «französischen Raubkommissär»* nannten und für den größten Kunsträuber ihrer Zeit, wenn nicht aller Zeiten hielten.

Vivant Denon, von 1802 bis 1815 Direktor des Louvre oder vielmehr des «Musée Napoléon», wie es während dieser Zeit hieß, hat die «Politik des nationalen Kunstraubs»* für Frankreich nicht erfunden und nicht in Gang gesetzt. Aber er hat sie, nachdem ihm die Leitung des Museums übertragen worden war, so energisch und so sachverständig betrieben wie niemand in den Jahren vor ihm. Bei den planmäßig organisierten Aktionen wurde – ebenfalls nicht selten unter militärischer Bedeckung – aus zahlreichen europäischen Groß- und Kleinstaaten eine unübersehbare Menge von Kunstwerken und anderen Kulturgütern nach Frankreich «weggeführt» – zum höheren Ruhm der Grande Nation, als Trophäen ihrer militärischen Triumphe. Damals wurden mehr Kunstwerke von ihrem bisherigen Standort entfernt als je zuvor in Europa. Übertroffen wurde diese Betriebsamkeit, was die Masse der bewegten, verschleppten und verschobenen Werke angeht, wohl erst durch die kunsträuberischen Untaten, die Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus vollbrachte: die Beschlagnahmung und Enteignung von jüdischem Kunstbesitz im eigenen Land seit den dreißiger Jahren und während des Krieges dann die Plünderung öffentlicher und privater Sammlungen in den besetzten Ländern.

Irgendwann im Herbst 1815 sah Vivant Denon schließlich ein, dass er die Fülle seiner Sammlungen gegen die Rückgabeforderungen der Geschädigten nicht würde retten können:

Sollen sie die Sachen doch mitnehmen – der Blick dafür fehlt ihnen, und Frankreich wird durch seinen Vorrang in der Kunst immer aufs Neue beweisen, dass diese Meisterwerke hier besser aufgehoben waren als anderswo.*

In trotziger Resignation bezeugt hier der selbstbewusste Kunsträuber sein gutes Gewissen. Wie immer es um das förmliche Recht der ursprünglichen Besitzer und ihrer Abgesandten bestellt sein mag, er reklamiert für sein Land das bessere, kunstfreundlichere Klima und für sich selbst das höhere Recht der Kennerschaft und des wahren Kunstverstandes – der Blick dafür fehlt ihnen.

Friedrich Schiller, zweitgrößter Dichter jenes Landes, das – nach Italien – von den französischen Kunstraubzügen am heftigsten getroffen wurde, hatte sich und seine Leser schon in dem Gedicht «Die Antiken zu Paris» von 1802 mit einem ganz ähnlichen Gedanken getröstet, wie ihn dann schließlich auch Denon formulierte:

Was der Griechen Kunst erschaffen,

Mag der Franke mit den Waffen

Führen nach der Seine Strand,

Und in prangenden Museen

Zeig er seine Siegstrophäen

Dem erstaunten Vaterland!

Ewig werden sie ihm schweigen,

Nie von den Gestellen steigen

In des Lebens frischen Reihn.

Der allein besitzt die Musen,

Der sie trägt im warmen Busen,

Dem Vandalen sind sie Stein.

*

Vandalismus — Wie sind die Vandalen eigentlich zu ihrem schlechten Ruf gekommen? Gewiss, sie haben im Jahre 455 unter ihrem Anführer Geiserich während vierzehn langen Tagen Rom geplündert. Aber sie waren nicht die Ersten und nicht die Einzigen, die so etwas taten. Beim «Sacco di Roma» zum Beispiel, der Plünderung Roms im Jahre 1527, waren vor allem deutsche Landsknechte am Werk. Auch könnte man den alten Vandalen zugutehalten, dass sie ihrem späteren Ruf insofern nicht gerecht wurden, als sie damals in Rom eben nicht einfach alles, was ihnen unterkam, kurz und klein schlugen. Blinde Zerstörungswut, für die sie heute ihren Namen hergeben müssen, scheint ihre Sache nicht gewesen zu sein. Den siebenarmigen Leuchter zum Beispiel, den die Römer vierhundert Jahre vorher selbst zusammen mit zahlreichen anderen Kult- und Kunstgegenständen aus dem Tempel von Jerusalem geraubt und im Triumphzug nach Rom gebracht hatten, haben auch die Vandalen nicht zerstört oder verschwinden lassen. Sie haben ihn nach Karthago mitgenommen und dort sorgfältig aufbewahrt. Verschwunden ist der den Juden so unschätzbar wertvolle und bis heute schmerzlich vermisste Leuchter erst, nachdem wiederum achtzig Jahre später Belisar, ein Feldherr des christlichen Kaisers Justinian I., ihn den Vandalen weggenommen hatte. Auf der Seereise nach Konstantinopel soll er mit einem Schiff voller Beute im Mittelmeer versunken sein.

Der Begriff «Vandalismus» kam erst sehr viel später auf. Die Französische Revolution selbst hat ihn hervorgebracht – selbstkritisch, so könnte man sagen, im Blick auf ihren eigenen Umgang mit der Kunst.

Kurz nachdem schließlich auch Robespierre unter die Guillotine geraten war, im August 1794, legte ein gemäßigter Abgeordneter, der Abbé Henri Grégoire, der Nationalversammlung drei «Berichte über die Zerstörungen des Vandalismus und die Mittel, sie zu verhindern» vor. Darin formulierte er als eine Tatsache, was den radikaleren Vorkämpfern der Revolution und ihren Fußtruppen erst noch klargemacht werden musste: «Barbaren und Sklaven verabscheuen die Denkmäler der Kunst, freie Menschen lieben und bewahren sie.»*

Die Revolution hatte der Kunst in den zurückliegenden Jahren keineswegs jene Liebe entgegengebracht, die der Abbé Grégoire hier als eine Selbstverständlichkeit hinstellt. Im Gegenteil. Kunstbesitz galt vielen Revolutionären als verwerfliches Privileg des Adels und der Kirche, als schändliches, zerstörungswürdiges Zeichen des Luxus und der Dekadenz, und so gehörten zu den Folgen des Sturms auf die Bastille auch ungezählte wüste Bilderstürme. Nicht nur Herrscherstatuen und andere Symbole des alten Regimes fielen ihnen zum Opfer. Der Idee nach galt es, sämtliche Spuren der Monarchie, der Feudalherrschaft und des Klerikalismus auszulöschen. Königs- und Heiligenfiguren im Inneren und an den Fassaden und Portalen der Kirchen wurden zerschlagen, die Kirchenschätze mit ihren Reliquiaren, Kelchen und Monstranzen eingeschmolzen, um den Goldwert zu realisieren. Adelssitze wurden verwüstet und geplündert. Vernichtung und Verschleuderung von Kunstbesitz gingen dabei dicht nebeneinander her. Möbel, Gemälde und Gobelins wurden versteigert – an eine Kundschaft, die aus Holland, England und Italien mit Annoncen in den dort erscheinenden Zeitungen nach Frankreich gelockt wurde.

Die Gruft der Kirche von Saint Denis im Norden von Paris, wo seit achthundert Jahren die französischen Könige und ihre Gemahlinnen bestattet worden waren, wurde im Herbst 1793 verwüstet – angeblich um das Blei der Särge im Inneren der Grabmäler für die Rüstungsproduktion zu gewinnen, vor allem aber um die Herrschaft dieser Herrscher wenigstens nachträglich und symbolisch ungeschehen zu machen und das Andenken an sie auszulöschen. Die Gebeine der Toten wurden in ein Massengrab neben der Kirche geworfen. In der letzten Phase der Vorherrschaft Robespierres scheint dieses zerstörerische Treiben seinen Höhepunkt erreicht zu haben. Noch im April 1794, nur wenige Monate bevor Henri Grégoire der Nationalversammlung über den Vandalismus berichtete, erschienen im Musée Central, wie der Louvre damals hieß, Bevollmächtigte des Wohlfahrtsausschusses und sonderten im Depot sämtliche Gemälde aus, die in ihrer Thematik irgendwie an die Feudalzeit erinnerten, um sie nachher zu verbrennen.*

Dem vandalistischen Wüten der Revolutionäre stellten sich besonnenere Zeitgenossen entgegen und brachten sich mitunter selbst in Gefahr, indem sie gefährdete Kunstwerke und wertvolle historische Objekte vor der Zerstörung zu retten versuchten. Alexandre Lenoir richtete im ehemaligen Kloster der Petits Augustins, wo heute die «Ecole des beaux-arts» von Paris residiert, ein Depot für solche bedrohten Kulturschätze ein, das er dann im Jahre 1795, nach dem Ende der Schreckensherrschaft, in ein Museum für französische Kultur und Geschichte umwandelte.*

Während in Paris und der französischen Provinz die Werke der Kunst noch, wie die Menschen, in Massen hingerichtet wurden, begannen die Truppen der französischen Republik jenseits der Landesgrenzen schon damit, nicht nur die von Klerikalismus und Fürstenherrschaft unterdrückten Völker, sondern auch die in diesen Gegenden anzutreffenden Kunstwerke zu befreien. Seit 1792 kämpften französische Armeen mit wechselndem Erfolg auf linksrheinischem deutschen Gebiet und auf dem Territorium des heutigen Belgien und der Niederlande gegen eine von Österreich und Preußen angeführte Koalition europäischer Mächte, die Frankreich wieder in eine Monarchie verwandeln wollten.

Der französischen Nordarmee, die schließlich die Oberhand behielt und die österreichischen Niederlande und die Generalstaaten besetzte, gehörte auch eine Gruppe von «Kunstkommissaren» an. Sie wählten zum ersten Mal – vor allem in den Kirchen und Klöstern Flanderns – eine größere Zahl von Kunstwerken für die Überführung nach Paris aus: die Mitteltafel des berühmten Genter Altars von Jan van Eyck, Bilder von Paulus Potter, Jacob Jordaens, Rembrandt, van Dyck und immer wieder Rubens – nicht zuletzt auch dessen «Kreuzigung des Apostels Petrus», die im Oktober 1794 in der Kirche Sankt Peter in Köln abgehängt wurde. Es war dies allerdings das einzige Gemälde, das damals in Köln beschlagnahmt wurde. Die Kunst der Gotik, an der die Stadt so reich war, galt dem französischen Kunstgeschmack der Zeit als primitif, was im Französischen nicht so abwertend klingt wie im Deutschen das Wort primitiv, damals aber dennoch bedeutete, dass diese «frühe», «ursprüngliche», «urwüchsige» Kunst nicht hoch im Kurs stand und kaum Beachtung fand.*

Stattdessen nahmen die Kunstkommissare in Köln aus den Sammlungen des ehemaligen Jesuitenkollegs mehr als 26.000 Kupferstiche und über 6000 Zeichnungen sowie die wertvollsten Bücher aus dessen großer Bibliothek mit. In Aachen beschlagnahmten sie unter anderem den Proserpina-Sarkophag, in dem einst Karl der Große bestattet worden sein soll, sowie ein Armreliquiar und ließen außerdem an die vierzig Marmor- und Porphyrsäulen aus den Bögen der Pfalzkapelle des Doms brechen und nach Paris schaffen.* Vom weiteren Schicksal dieser Kostbarkeiten wird noch die Rede sein.

*

Triumph und Trophäe — Verglichen mit den verschiedenen Formen ihrer Zerstörung und Vernichtung erscheint der Raub von Kunst fast wie eine Form ihrer Wertschätzung und Verehrung. Anders als für Schiller fielen diese Kunstentführungen in der Wahrnehmung der Franzosen, die für ihre Planung und Ausführung zuständig waren, jedenfalls nicht unter die Rubrik «Vandalismus». Der Erfinder dieses Begriffs selbst, der Abbé Grégoire, kündigte im August 1794 voller Überschwang das baldige Eintreffen der ersten Kunstkonvois aus den Niederlanden an:

Die Republik erwirbt durch ihren Mut, was Ludwig XIV. auch mit ungeheuren Summen niemals zu gewinnen vermochte. Crayer, van Dyck und Rubens sind auf dem Weg nach Paris, und die flämische Schule erhebt sich und kommt herbei, um unsere Museen zu schmücken.*

Am 20.September 1794 trat der Maler Jacques-Luc Barbier, zu jener Zeit als Leutnant und Kunstkommissar im Dienst der Nordarmee stehend, vor die Nationalversammlung und meldete die Ankunft jenes ersten, von ihm selbst in Flandern zusammengestellten Kunsttransports. Die Rede, die er aus diesem Anlass hielt, ist aufschlussreich. Aus der Entführung von Kunstschätzen wird in Barbiers Rhetorik deren Heimkehr in ihr wahres Vaterland, und das ganze Unterfangen erscheint nicht im Mindesten als Bilderraub, sondern als groß angelegte Bilderbefreiung.

Vertreter des Volkes! Die Früchte des Genies stellen das Erbe der Freiheit dar, und dieses Erbe wird stets von der Volksarmee respektiert werden. Die Armee des Nordens drang mit Feuer und Schwert in die Mitte der Tyrannen und ihrer Anhänger vor, aber sie schützte sorgfältig die zahlreichen Meisterwerke der Kunst, welche die Despoten in ihrer überstürzten Flucht zurückließen. Zu lange waren diese Meisterwerke durch den Anblick der Sklaverei beschmutzt worden. Im Herzen der freien Völker sollen diese Werke berühmter Männer ihre Ruhe finden; die Tränen der Sklaven sind ihrer Größe nicht würdig, und die Ehrung der Könige beunruhigt nur ihren Grabesfrieden. Nicht länger befinden sich diese unsterblichen Werke in fremdem Land; heute sind sie im Vaterland der Künste und des Genies, der Freiheit und Gleichheit, in der französischen Republik angekommen. Ich habe diese kostbaren Bilder zusammengebracht und begleitet, denen weitere folgen werden. Ich bitte Euch, Bürgervertreter, ihre Sicherstellung anzuordnen, so dass ich nach Erfüllung dieser Mission zurückkehren kann, um die Despoten zu bekämpfen. Lang lebe die Republik!*

Als sich der Schwerpunkt des Kriegsgeschehens nach Italien verlagert, wo der junge General Napoleon Bonaparte Oberbefehlshaber über die französische Armee wird, ist wieder eine Kunstkommission mit von der Partie. Während Napoleon einen Sieg nach dem anderen über die Österreicher erringt und ganz Nord- und Mittelitalien republikanisiert, besichtigen die Kunstkenner in seiner Nachhut Kirchen, Klöster und Paläste.

Napoleon gab dem Kunstraub eine vermeintlich unanfechtbare rechtliche Form, indem er die Ablieferung einer bestimmten Zahl von Kunstobjekten in seinen Friedens- oder Waffenstillstandsverträgen festschrieb. Piacenza, Parma und Modena zum Beispiel hatten jeweils zwanzig Bilder nach Auswahl der französischen Kommissare zu liefern. Rom musste einhundert Bilder, Skulpturen, Mosaiken, Vasen und fünfhundert Handschriften hergeben und Venedig außer sechs Millionen Zechinen in bar und zwanzig Bildern auch das Wahrzeichen der Stadt, den Bronzelöwen, sowie die berühmten vier Bronzepferde aus der Fassade des Markusdoms, die die Venezianer ihrerseits sechshundert Jahre zuvor in Konstantinopel entwendet hatten.

Aus seinem Hauptquartier in Tolentino berichtet Napoleon 1797 an die Regierung in Paris:

Bürger Direktoren, der Ausschuss der Gelehrten hat in Ravenna, Rimini, Pesaro, Ancona, Loreto und Perugia reiche Ernte gehalten; dies alles wird unverzüglich nach Paris gesandt werden. Zusammen mit dem, was aus Rom gesandt werden wird, werden wir dann alles haben, was in Italien an Schönem zu finden ist, ausgenommen eine kleine Zahl von Dingen, die sich in Turin und Neapel befinden.*

Viel Sinn für Kunst hat Napoleon nicht besessen. Das «Schöne», das in Italien zu finden war, interessierte ihn nicht um seiner selbst willen. Er schätzte die Kunstbeute vor allem als Denkmal, als Beleg für seine Siege und zu ihrer Ausschmückung. Denn zum Triumph gehörte, nach antikem Vorbild, die Trophäe.

«Tropaion» nannten die alten Griechen ihre Siegesdenkmäler. Ursprünglich bestand ein solches Tropaion aus erbeuteten Waffenstücken der Feinde, die an Baumstümpfe oder eigens aufgerichtete Pfähle und Gerüste gehängt wurden, und zwar genau dort, wo sich die «Trope», die Wendung der Feinde zur Flucht, oder die «Katas-Trophe», die vollständige Wendung ihres Schicksals zum Schlimmsten, ereignet hatte.

Später verlegte man die Siegesdenkmäler vom Schlachtfeld in die Hauptstadt, und schließlich hörten die Sieger auf, ihre Siege allein mit den Waffen der Besiegten zu schmücken. Von dem siebenarmigen Leuchter, den Titus Flavius Vespasianus im Jahre 70 n. Chr. aus Jerusalem entführte und im Triumph nach Rom brachte, war schon die Rede. Die Römer scheuten auch den Aufwand nicht, der erforderlich war, zahlreiche Wahrzeichen des alten Ägypten, dieses scheinbar so unerschütterlichen und dennoch von ihnen unterworfenen Reiches, über das Meer zu holen und in ihrer eigenen Kapitale aufzurichten, so dass Rom heute der Ort auf der Welt ist, wo die meisten ägyptischen Obelisken stehen. Und ein Konsul namens Lucius Aemilius Paulus führte nach seinem Sieg über den mazedonischen König Perseus im Jahre 168 v. Chr. nicht weniger als zweihundertfünfzig Wagen voller Kunstschätze aus ganz Griechenland in seinem Triumphzug mit sich.

Man weiß, wie sehr das Vorbild der Römer die Anhänger der Französischen Revolution inspirierte und auch denjenigen, der ihr durch seinen Staatsstreich ein Ende machte. Napoleon hat seinen italienischen Siegen mit römischer und italienischer Kunst in Frankreich Denkmäler gesetzt. Schon zu einer Zeit, als er sich noch nicht zum Ersten Konsul und erst recht nicht zum Imperator oder Kaiser aufgeschwungen hatte, im Juli 1798, bescherte er den erstaunten Bürgern von Paris einen Triumphzug nach altrömischem Muster (Abb. 12). Die Brüder Goncourt haben ihn in ihrer «Geschichte der französischen Gesellschaft unter dem Direktorium» nach zeitgenössischen Quellen beschrieben:

Ein neues, gewaltiges Fest – der 10. Thermidor des Jahres VI [28.Juli 1798 – der vierte Jahrestag von Robespierres Sturz]. Auf den Boulevards des Städtchens, das sich einst Kaiser Julian als Winterlager erkor, werden die Wunderwerke Italiens und Griechenlands herumgefahren! Ein Wagen trägt die vier Pferde aus Venedig; ein anderer Apollon und Clio; ein anderer Melpomene und Thalia, ein anderer die Venus vom Kapitol, ein anderer den Dornauszieher und den Diskuswerfer; ein anderer den sterbenden Gallier … ein anderer die Laokoon-Gruppe; ein anderer den Apoll von Belvedere; ein anderer die Verklärung von Raffael; ein anderer Bilder von Tizian und Veronese! Und als wären neunundzwanzig Wagenladungen mit Meisterwerken von göttlicher Schönheit nicht genug, folgen noch Wagen mit Gewächsen, Versteinerungen, Tieren; es folgen die Bären von Bern, die Löwen, die Kamele, die Dromedare Afrikas und ganze Fuhren von Manuskripten, Medaillen, Notenhandschriften, Druckwerken. … Nachdem sie die Boulevards entlanggezogen sind, bilden die Wagen auf dem Marsfeld drei Kreise um die Statue der Freiheit, und auf ihnen türmt sich im goldenen Glanz der untergehenden Sonne ein Olymp aus Marmor.*

Viele Beutestücke blieben verpackt. Aber auf den Kisten stand in großen Buchstaben geschrieben, was sie enthielten, und zwischen den antiken Statuen wurde ein Schild getragen, auf dem zu lesen war:

La Grèce les ceda,

Rome les a perdu,

Leur sort changea deux fois,

Il ne changera plus.*

Griechenland gab sie her,

Rom hat sie verloren,

Ihr Schicksal wechselte zweimal,

nun jedoch nie mehr.

Vivant Denon und Bonaparte selbst waren bei diesem seltsamen Umzug allerdings nicht zugegen. Auch an den bisher geschilderten Aktionen war Denon nicht beteiligt gewesen. Gegen die Ideen, die dieser Art von Beute- und Triumphzügen zugrunde lagen, hatte er sogar zusammen mit einigen anderen französischen Künstlern und Historikern öffentlich Bedenken erhoben. Zwei Jahre zuvor, zu Beginn des italienischen Feldzugs, hatte er einen von dem Archäologen und Kunsthistoriker Antoine Chrysostôme Quatremère de Quincy angeregten, zwar zaghaft formulierten, aber ernst gemeinten Brief an das Direktorium unterzeichnet:

Bürger Direktoren – wir treten mit der Bitte an Sie heran, die wichtige Frage reiflich zu erwägen, ob es Frankreich nützlich, ob es für die Künste und Künstler überhaupt vorteilhaft ist, wenn die Denkmäler des Altertums und die Meisterwerke der Malerei und Bildhauerkunst, die den Bestand der Galerien und Museen von Rom bilden, aus dieser Hauptstadt der Künste weggeführt werden …*

Bei den «Bürgern Direktoren» hatte dieses Schreiben wenig Interesse geweckt. Diese Leute hatten erkannt, wie anschaulich und symbolkräftig sich mit der spektakulären Überführung weltberühmter Skulpturen und Gemälde von Rom nach Paris vor aller Welt der Anspruch der französischen Hauptstadt auf das Erbe Roms und seine Nachfolge als Neues Rom, als neue Mitte der Welt bekräftigen ließ. Deshalb bremsten sie ihren erfolgsverwöhnten General in Italien weder in seinen militärischen noch in seinen konfiskatorischen Ambitionen.

Sie legten ihm auch keine Steine in den Weg, als er 1798 den Plan einer militärischen Expedition nach Ägypten ins Gespräch brachte. Napoleon wollte auf diese Weise die Stellung Frankreichs im östlichen Mittelmeerraum stärken und diejenige Englands und des mit ihm verbündeten Osmanischen Reiches schwächen. Am 19. Mai 1798 verließ er den Hafen von Toulon mit einer Kriegsflotte, der sich in den folgenden Tagen weitere Einheiten anschlossen. Auf ihrem Weg nach Süden nahm sie die Insel Malta kampflos ein und landete am 1. Juli bei Alexandria.

Mit an Bord waren hundertfünfzig Gelehrte, die während des Feldzugs das Land erkunden und die Altertümer des Pharaonenreiches erforschen, vermessen, zeichnen und, soweit sie transportabel waren, für die Museen in der Heimat einsammeln sollten. Zu ihnen gehörte auch Denon, der sich dann in Ägypten allerdings von den gelehrten Kollegen trennte und seine eigenen Wege ging. Die meisten Teilnehmer der ägyptischen Expedition fanden, Denon sei mit seinen einundfünfzig Jahren viel zu alt für ein derart gefahrvolles und kräftezehrendes Unternehmen. Denon selbst fand das nicht.

Mein Leben lang hatte ich mir gewünscht, eine Reise nach Ägypten zu machen. Aber die Zeit, die alles abnutzt, hatte auch diesen Wunsch stumpf gemacht. Als nun von der Expedition, die uns zu Herren dieses Landes machen sollte, die Rede war, fachte die Aussicht, mein altes Vorhaben doch noch zu verwirklichen, dieses Verlangen von neuem an. Ein Wort des Helden, der die Expedition befehligte, entschied über meine Abreise; er versprach mir, mich mit sich zurückzubringen, und ich zweifelte nicht an meiner Rückkunft. Sobald ich für jene gesorgt hatte, deren Schicksal von dem meinen abhing, ließ ich die Vergangenheit hinter mir und gehörte ganz der Zukunft.*

1. Kapitel

Herkunft, Legenden, Prägungen — Dominique Vivant Denon wurde am 4.Januar 1747 im burgundischen Chalon-sur-Saône geboren. Sein Vater war Advokat. Seine Mutter stammte aus einer reichen Kaufmannsfamilie. Die Denons verfügten in ihrer Stadt über Haus- und Grundbesitz und in deren Umgebung über einige Weinberge in guter Lage. Sie waren wohlhabend, aber wahrscheinlich nicht adelig, auch wenn Vivant Denon diesen Anschein später zeitweilig zu erwecken versuchte.

Ein unvollendet gebliebener, später Text Denons über die Entstehung und Zusammensetzung seiner eigenen Sammlung enthält auch einige autobiographische Andeutungen. Seine Heimatstadt, so schreibt er, habe ihm wenig Anregung zu bieten vermocht. Einem ihrer Bewohner jedoch, einem Sammler, verdankt er einen Eindruck, der ihm sein Leben lang unvergesslich blieb.

Mit einer entschiedenen Liebe zur Kunst bin ich geboren worden und habe sie schon als Kind nicht nur bewundert, sondern geradezu verehrt. Ich habe das Licht der Welt in einer Provinzstadt erblickt, die dem Talent zu seiner Entfaltung nichts bieten konnte. Ein angesehener Bürger, der an die fünfzig Zeichnungen zusammengetragen hatte, erschien mir als der großherzigste und nützlichste Mann im Staat. Die Ehrfurcht, die ich ihm entgegenbrachte, erwarb mir sein Vertrauen und seine Aufmerksamkeit: Er vertraute mir die Zeichnung eines Kopfes von Carracci an; ich sah darin einen Vertrauensbeweis, für den ich ihm unendlich dankbar war, und diese Empfindung war so lebhaft, dass mich noch fünfzig Jahre später der Anblick des Hauses, in dem er gewohnt hatte, nicht ungerührt ließ.*

Der Sammler als nützlichster Mann im Staat! Vielleicht kann sich nur ein Kind zu einer so erhabenen Idee vom Wert des Sammelns und vom Rang dessen, der es betreibt, aufschwingen.

Doch auch dem erwachsenen Denon ist sie als Antrieb offenbar erhalten geblieben. Sie scheint eine ähnlich prägende Kraft entfaltet zu haben wie die Prophezeiung einer Zigeunerin, die ihm im Alter von sieben Jahren zuteilgeworden sein soll.

Du wirst von den Frauen geliebt werden. Du wirst an Höfen in ganz Europa verkehren. Und eines Tages wird ein strahlender Stern aufgehen und dir all deine Wünsche erfüllen.*

Die Geschichte dieser Glücksverheißung ist die erste einer Anzahl von Legenden, zu denen vor allem wohl Denon selbst einige Schlüsselszenen seines Lebens ausgesponnen hat. Er war ein großer Erzähler, und auch wenn diese Geschichten nicht immer ganz glaubhaft sind, scheint doch ein wahrer Kern fast nie zu fehlen. Deshalb und in Ermangelung verlässlicherer Auskünfte haben seine frühen Biographen sie gern aufgegriffen und so oft nacherzählt, dass sie mit der Zeit zu halbwegs festen Elementen von Denons Lebensgeschichte geworden sind – allen voran die Legende von der Zigeunerin. Denn sie hat sich auf besonders wundersame Weise bewahrheitet, in jedem einzelnen Punkt. Oder aber: Denon hat sie wahr gemacht, hat aus den Prophezeiungen dieser Frau die Kraft, das Selbstvertrauen, den Elan, die Phantasie geschöpft, derer es bedurfte, um sie Wirklichkeit werden zu lassen.

Prägende Kraft scheint für Denon auch der eigene Name gehabt zu haben. Der Vorname Vivant ist heute und war auch im damaligen Frankreich eine Rarität. Dabei gab es tatsächlich einen Heiligen, der so hieß. Er soll ein Gefährte des heiligen Martin von Tours gewesen sein und vor allem in Burgund missioniert haben. Wie der Name dieses Mannes durch einen Großonkel väterlicherseits, Vivant Jolivot, auf die Familie und auf ihn selbst gekommen ist, hat Denon in einem Brief aus der Zeit nach 1809 geschildert.

Der bon Vivant, dessen Namen ich trage, ist ein Heiliger, den man im Paradies kaum kennt, der sich dafür aber umso enger meiner Familie angeschlossen hat, in der es nur zwei Militärs gab – der eine war mein Großonkel, der jedoch zu meinem Glück vor allem ein Mann des Hofes blieb. Denn wenn ich heute genug zu essen habe, so deshalb, weil er sich aufs Trinken verstand und viel mit dem Grand Dauphin [dem ältesten Sohn Ludwigs XIV.] getrunken hat, der ihm zu seinem Vermögen verhalf. Sonderbarerweise hieß er Vivant. Der andere Vivant ist mein Neffe, der General Brunet, der in der Schlacht von Aspern einen Arm verlor …*

Nur einen Arm, aber nicht sein Leben! So soll oder darf man diesen letzten Satz vielleicht ergänzen. Denn der Name Vivant hängt mit vivre und la vie und vivacité, mit «leben» und «Leben» und «Lebhaftigkeit» zusammen. Denon hat seinen Vornamen sehr geschätzt. Wegen seiner Seltenheit und wegen der Bilder und Ideenverbindungen, die er zu wecken vermag.

Wie jener Großonkel, der in der Wirklichkeit wohl weniger durch Trinken als durch seinen Weinhandel den Wohlstand der Familie gemehrt hat, besaß auch Denon das Talent zum Bonvivant, zum Lebenskünstler – und sogar zum Überlebenskünstler. Die streckenweise höchst gefährlichen Zeiten zwischen 1770 und 1820 mit all ihren Umschwüngen, Aufstiegen und Abstürzen hat Vivant Denon nicht nur unversehrt überstanden. Er hat sich in all diesen Jahren fast immer seines Lebens auch zu erfreuen gewusst, und dies die meiste Zeit über nicht etwa in der Zurückgezogenheit eines inneren oder wirklichen Exils, sondern in der Nähe der historischen Akteure. Er ist ihnen allen begegnet, hat auch sie gleichsam gesammelt und hat sich den wichtigsten unter ihnen sogar nützlich zu machen gewusst. Sein Künstlerleben als Lebenskünstler erschöpft sich nicht in Muße und Kunstgenuss. Zwar lässt er es sich gern gut gehen. Aber noch viel mehr reizt es ihn, sich der geliebten, begehrten Kunst dort zu nähern, wohin geebnete Wege nicht mehr führen. Faszinierender ist die Annäherung, wo sich dem Verlangen Gefahren und Strapazen in den Weg stellen, die es zu überwinden gilt.

*

Zutritt erlangen — Das erste, vergleichsweise leicht zu nehmende Hindernis ist sein Vater, der ihn aus Chalon nicht weglassen will – oder allenfalls bis Dijon oder Lyon, aber gewiss nicht nach Paris. Eines Tages, wahrscheinlich 1763, als er sechzehn ist, darf sich Denon dann doch auf den Weg in die Hauptstadt machen, wenn auch nicht ohne seinen Hauslehrer. Dieser Abbé Buisson ist zwar neun Jahre älter, aber deshalb nicht weniger neugierig auf Paris als sein Zögling. Gut möglich, dass er da seine Amts- und Aufsichtspflichten nicht allzu ernst nimmt. Der Vater wünscht sich, sein Sohn möge die Rechte studieren und Advokat werden wie er selbst. Der jedoch, so scheint es, studiert in Paris – wozu ihn niemand anhalten muss – vor allem die schönen Künste und das Leben selbst. Von irgendwelchen Fortschritten an der Faculté des droits in dieser Zeit ist nichts bekannt. Wohl aber weiß man, dass er bei dem Maler Noël Hallé Unterricht im Zeichnen und Radieren genommen hat. Seine früheste datierte Radierung stammt aus dem Jahr 1764, ein Porträt – und es war sein Hauslehrer, der ihm dazu Modell sitzen musste.*

Vivant Denon hat wohl schon früh zu zeichnen begonnen. Vor allem der Wunsch, sich in dieser Kunst zu vervollkommnen, trieb ihn, das provinzielle Chalon-sur-Saône zu verlassen. In Paris zeichnet und radiert er nun mit großem Eifer, experimentiert aber auch auf anderen Feldern und mit Begabungen, von denen er bisher nichts ahnte, die er nun aber an sich zu entdecken beginnt.

Ob er von seinem Talent, Zutritt zu erlangen, schon wusste, bevor er es auf eine Probe stellte, die man sich härter kaum hätte ausdenken können? Zuerst bestärkte ihn dabei vielleicht die Weissagung der Zigeunerin – zuletzt aber der eigene Erfolg.

Hiervon handelt die zweite Legende aus Denons jungen Jahren – ebenso häufig nacherzählt wie die erste. Denon verschafft sich während seiner ersten Jahre in Paris Zugang zum Hof Ludwigs XV. – mehr noch, er gewinnt die Gunst des Königs selbst. Täglich findet er sich an einer bestimmten Stelle ein, wo der König regelmäßig vorübergeht, und betrachtet ihn jedesmal mit solchem Entzücken, dass der Monarch schließlich aufmerksam wird und eines Tages das Wort an den jungen Mann richtet.

«Was wollen Sie hier?»

«Sie sehen, Sire!», lautet die Antwort.

«Wie denn? Sie wollen mich um gar nichts bitten? Sie haben keine Wünsche?»

«Nur diesen einen, Sire: dass mir die Wachen und ihre Bajonette nicht länger verwehren, mich Ihrer Person zu nähern.»*

Ludwig XV., oft von Langeweile geplagt und daher immer auf der Suche nach neuen Zerstreuungen, ist von Denons beschwingtem Auftreten angetan. Er beauftragt einen Herrn de Laborde aus seinem Gefolge, dem jungen Mann eine Genehmigung zu verschaffen, mit der er die Gemächer und Gärten des Schlosses jederzeit betreten kann. Von nun an unterhält sich der König oft mit Denon und lernt ihn als einen talentierten Erzähler bald so sehr schätzen, dass er sich anderen Begleitern gegenüber zu Grobheiten hinreißen lässt. Einem minderbegabten Höfling, der ihm im geselligen Kreis eine gute Geschichte schlecht erzählt, schneidet er einmal kurzerhand das Wort ab und ruft seinem neuen Favoriten zu: «Los, Denon, erzählen Sie mir das!»*

So die Legende. In der Wirklichkeit verhielt es sich mit der Annäherung an den König und jenem Herrn de Laborde wahrscheinlich gerade umgekehrt. Nicht der König bat ihn, dafür zu sorgen, dass Denon Zutritt bei Hofe bekäme, sondern Denon war es, der de Laborde bat, ihm einen Weg in die Nähe des Königs zu bahnen. Oder de Laborde selbst hat sich erboten, Denon in diesem Punkt behilflich zu sein. Die beiden hatten sich kennengelernt und angefreundet – möglicherweise im Atelier von Denons künstlerischem Lehrmeister Noël Hallé.

Jean-Benjamin de Laborde, dreizehn Jahre älter als Denon, war Komponist, Schriftsteller, Reisender und, ähnlich wie Denon, erfüllt von einem aufgeklärten Interesse an den Künsten, der Literatur, den Wissenschaften. Außerdem hatte er von seinem Vater das Amt eines Steuerpächters geerbt. Unter Denons damaligen Pariser Bekannten scheint er der Einzige gewesen zu sein, der dem König so nahe stand, dass er ihn auf Denon aufmerksam machen und Denon die Chance verschaffen konnte, sich das Amt eines königlichen Kammerherrn – eines Gentilhomme ordinaire du Roi – und damit den Zugang zum König für fünfzehntausend Francs zu kaufen.* Dieses Amt ist nicht den Angehörigen des Adels vorbehalten, aber es adelt auch nicht seinen Inhaber. Im Mai 1768 wird Denon das zugehörige Dokument unter Hinweis auf sein «gutes Betragen» und seine «Fähigkeiten» ausgefertigt, und es dauert nicht lange, da findet sich für den neuen Kammerherrn auch eine Aufgabe, die zu seinem Interesse an künstlerischen Dingen passt.

Ihm wird die Verwaltung einer Sammlung von «geschnittenen Steinen» anvertraut, die Madame de Pompadour, die Maitresse Ludwigs XV., als sie 1764 starb, ihrem König hinterlassen hat.* Diese Gemmen stammen von Jacques Guay, dem ersten Steinschneider, der in die Königliche Akademie der Künste aufgenommen wurde. Ursprünglich soll Madame de Pompadour 147 Gemmen von Guay besessen haben, aber aus irgendeinem Grund hatte sie dem König nur 27 dieser Kleinode vermacht. Von ihnen soll Denon nun ein Verzeichnis anlegen.

Hier zum ersten Mal in seinem Leben bekommt er es mit einer Sammlung von Kunstgegenständen zu tun, und es ist die Nähe zu einem Mächtigen, zum König selbst, die ihm die Nähe zur Kunst und den Umgang mit ihr beschert – eine lehrreiche, eine prägende Erfahrung. Ob aber den königlichen Kammerherrn dieser erste Auftrag, der seinen Kunstsinn in Anspruch nimmt, auch nur für kurze Zeit wirklich ausgefüllt hat, ist zweifelhaft. Der Katalog der 27 Gemmen und andere Belege für seine Tätigkeit als Verwalter dieses winzigen Teils der königlichen Sammlungen haben sich nicht erhalten. Überhaupt ist es wenig einleuchtend, dass die Beschäftigung mit einigen Gemmen der ganze Sinn und Zweck seines Ämterkaufs gewesen sein könnte. Plausibler ist die Vermutung, dass Denon das Amt eines Gentilhomme ordinaire du Roi im Gedanken an eine Laufbahn im diplomatischen Dienst des Königs erworben hat.* Auf sie scheint er sich in den Jahren nach 1768 vorbereitet zu haben – wie intensiv, das ist unklar. Andere Aktivitäten auf einem anderen Feld haben jedenfalls deutlichere Spuren hinterlassen.

Nachdem Denon in Paris Anschluss an die Welt der Künstler gefunden und sich dank der dort geknüpften Verbindungen den königlichen Hof erschlossen hat, versucht er sein Glück nun auch auf der Bühne. Man weiß nicht, welche der ihn treibenden Kräfte die stärkere war – ob ihn die Liebe zum Theater die Nähe der Schauspielerinnen oder die Liebe zu den Frauen den Kontakt zum Theater suchen lässt. Jedenfalls glückt ihm diese Annäherung nur zum geringeren Teil. Die Schauspielerinnen der Comédie française sind ihm zwar gewogen und sorgen dafür, dass «Julie ou le Bon Père – Julie oder Der gute Vater», seine Komödie in drei Akten, obwohl vom Auswahlkomitee schon abgelehnt, schließlich doch gespielt wird. Beim Publikum jedoch fällt das zähe, um Witz nur bemühte Stück durch und wird nach zehn schlecht besuchten Vorstellungen abgesetzt. Denon lässt es zwar drucken* – wahrscheinlich auf eigene Kosten und seinem Vater zuliebe –, aber ein Talent zum Dramatiker findet er nicht bei sich.

Immerhin gelingt ihm auf der Titelseite dieses seines ersten Buches mit nur drei Buchstaben und drei Sternchen das doppelte Kunststück, seinen Namen halbwegs unkenntlich zu machen und dabei doch sich und sein Incognito zu adeln. Der Hinweis auf den Verfasser lautet dort: «Par M.(onsieur) D* N**. Gentilhomme Ordinaire du Roi». Hier zum ersten Mal, so scheint es, rückt Denon die beiden Silben seines Nachnamens auseinander, koppelt das «De» vom «Non» ab, um es als Adelspartikel glänzen zu lassen. Bei jemandem, der sich in der Gesellschaft noch keinen Namen gemacht hat, wird dies keine allzu auffällige Operation gewesen sein, zumal sich nach dem bloßen Hörensagen kaum entscheiden ließ, ob der Name Denon aus zwei Silben oder zwei Wörtern bestand.

*

Als Volontär in Sankt Petersburg — Denons diplomatische Ausbildung im Außenministerium zu Versailles scheint eher langwierig als intensiv gewesen zu sein. Mehrere Jahre soll sie gedauert haben, vertrug sich aber offenbar mit den anderen Aktivitäten, die Denon in dieser Zeit entfaltete. Im Jahre 1771 wird er schließlich zum Gentilhomme de l’ambassade, zum Botschaftsvolontär, ernannt. Der aktive Dienst im Ausland beginnt dann mit seiner Entsendung nach Sankt Petersburg im Januar 1773. Eine zweite, kurze Mission führt ihn 1775 in die Schweiz, die dritte und längste in das Königreich Neapel, wo er von 1779 bis 1785 mehr als sechs Jahre tätig ist.

Später lebte Denon in dem Gefühl, ihm sei während seiner Jahre als Diplomat allzu wenig gelungen und viel zu viel Zeit abhandengekommen. Dabei erstreckte sich seine Karriere im diplomatischen Dienst über nicht mehr als zwölf Jahre, von denen er obendrein fünf in einem allerdings unfreiwilligen Urlaub verbrachte. Und nachher in Italien verstand sich Denon immer besser darauf, die freien Räume, die ihm die Bewältigung seiner offiziellen Aufgaben ließ, anderen Dingen zu widmen, der Kunst, dem Zeichnen, dem Sammeln, der Erkundung Neapels und seiner Umgebung.

Auf seinem ersten Posten, als unbezahlter Volontär bei freier Kost und Logis an der Botschaft in Sankt Petersburg, kam Denon anfangs gut zurecht. Sein Talent, mit fremden Menschen gelassen umzugehen und sich auch in unübersichtlicher Gesellschaft, wie er ihr am Hof der Zarin Katharina II. ständig begegnete, halbwegs sicher zu bewegen, muss ihm schon damals gute Dienste geleistet haben. Dem Botschafter selbst, der sich ebenfalls erst seit kurzem in Russland aufhielt, fehlte es gerade an diesem Orientierungssinn. Umso dankbarer war er für alles, was ihm sein Gehilfe an Beobachtungen und Fingerzeigen zutrug.

So knüpfte Denon freundliche Beziehungen zu der Familie eines Generals, der an der Niederschlagung eines Aufstandes von Kosaken und Bauern im Inneren Russlands beteiligt war, und schon bald sah er sich imstande, dessen Frau und dessen Töchtern beim Mittagessen an ihrem Mienenspiel und ihren mehr oder minder geröteten Wangen die militärische Lage am Ural abzulesen.*

Denon gelang es auch, aus Diderot, dem Enzyklopädisten und Verfasser der «Indiskreten Kleinode», zeitweilig einen Agenten der Auslandsspionage der französischen Krone zu machen. Diderot war einige Monate nach Denon in der russischen Hauptstadt eingetroffen. Die Zarin selbst hatte ihn eingeladen, und vom ersten Augenblick an genoss er ihr Vertrauen und freien Zugang zu ihren Gemächern. Wochenlang führte er zum Befremden des ganzen Hofes ausgedehnte philosophische Gespräche unter vier Augen mit Katharina – immer darauf hoffend, sie von den Vorteilen einer Abschaffung der Leibeigenschaft und überhaupt einer aufgeklärten Regierungsweise für ihr Land zu überzeugen, letztlich aber ohne Erfolg.

Aufmerksam beobachtete Denon, wie sich die Stimmung zwischen der Zarin und ihrem philosophischen Berater mit der Zeit verdüsterte und wie sein Landsmann nach und nach resignierte. Als Diderots Heimreise dann kurz bevorstand, machte er sich dessen Enttäuschung zunutze und bewog ihn, in seinem Gepäck die Kopie einer geheimen Karte aus dem Land zu schmuggeln und dem französischen Außenministerium zu übergeben. Auf ihr waren die Plätze am Schwarzen Meer eingezeichnet, wo Russland neue Festungen bauen wollte, um sich gegen die Türken zu sichern, mit denen es damals ständig im Streit lag. Das Original der Karte stammte aus dem russischen Generalstab und blieb nur für wenige Augenblicke in französischen Händen, gerade so lange, wie es dauerte, die handschriftlichen Einzeichnungen und Anmerkungen darauf in ein anderes Exemplar zu übertragen.*

Für einen angehenden Diplomaten waren das schöne Erfolge. Denon jedoch machte den guten Eindruck bald selbst zunichte. Wenige Wochen nach Diderots Abreise endete auch sein Aufenthalt in Russland in einem Durcheinander aus Tollkühnheit und Anmaßung. Mitte Mai 1774 musste er das Zarenreich binnen drei Tagen verlassen, nachdem sein Versuch gescheitert war, eine französische Schauspielerin, die die russischen Behörden aus irgendeinem Grund in Haft genommen hatten, aus ihrem Gewahrsam zu befreien. Was lag ihm an dieser Frau? War er ihr zugetan? Weshalb war sie verhaftet worden? Etwa als Spionin? Die ganze Angelegenheit blieb rätselhaft.*

Einen Tag vor dem Eklat in Sankt Petersburg, am 10.Mai 1774, stirbt in Versailles Ludwig XV. Wegen des langen Postwegs wird die Nachricht hiervon in Russland jedoch erst zwei oder drei Wochen später bekannt. Denon reist ihr also gleichsam entgegen und wird irgendwo unterwegs von ihr erfahren haben. In Kopenhagen begegnet er dem bisherigen französischen Botschafter in Schweden, dem Comte de Vergennes, der ebenfalls auf dem Weg zurück nach Frankreich ist. Er soll neuer Außenminister werden. Die beiden setzen ihre Reise gemeinsam fort. Aber fürs Erste scheint diese unverhoffte Bekanntschaft Denon nicht zu helfen. Der neue Minister hat nicht nur keine Verwendung für ihn. In der Beurlaubung Denons bekunden sich auch Ungnade und ein strenger Tadel für das, was der junge Diplomat in Russland angerichtet hat. Denons unbezahlter Strafurlaub dauert fast fünf Jahre. Nur einmal, im Frühjahr 1775, wird er für einige Wochen in die Schweiz entsandt – eine Mission, die, so vermutet man, den Vorbereitungen für einen neuen Bündnisvertrag zwischen der Eidgenossenschaft und Frankreich dient.

Erwähnenswert erschien den frühen Biographen diese Reise Denons vor allem deshalb, weil er sie nutzt, dem greisen Voltaire in Ferney am Genfer See einen Besuch abzustatten und ihn dabei auch zu zeichnen. In Kupfer gestochen und gedruckt (Abb. 4), hat «Das Frühstück von Ferney» beim Publikum großen Erfolg. Voltaire allerdings ist nicht erbaut. Denon habe ihn nicht porträtiert, sondern als einen verkrüppelten, grinsenden Affen karikiert, so beklagt er sich in einem Brief*, und der Zeichner muss alles ihm zu Gebote stehende diplomatische Geschick aufwenden, um sein Modell zu besänftigen.

*

Nur diese Nacht — Man weiß wenig darüber, wie Denon die ersten Jahre seiner Beurlaubung verbrachte. Möglicherweise kehrte er damals nicht nach Paris zurück, sondern hielt sich für längere Zeit in seiner burgundischen Heimat auf und schrieb dort die Erzählung «Point de lendemain – Nur diese Nacht». Es gibt sogar die Vermutung, Denon habe die Intrige der rätselhaften Madame de T., von der sie handelt, erst am eigenen Leib erlebt, bevor er sie zu Papier brachte. Vielleicht aber wollte er mit dieser Erzählung auch nur einigen zweifelnden Damen und Herren beweisen, dass es möglich sei, eine «galante» Geschichte zu schreiben, die alles sagt und doch mit keinem Wort den guten Ton verletzt.

Ein junger Mann wird von einer Frau auf das Schloss ihres betagten, zur Liebe kaum mehr geneigten Gatten entführt – für eine Nacht.

«Was für eine köstliche Nacht», sagte sie, «haben wir allein durch den Zauber dieser Lust erlebt, die unsere Führerin und unsere Ausrede ist! Mir scheint, wenn wir durch Gründe gezwungen würden, uns morgen zu trennen, so hinterließe unser Glück, von dem die Welt nichts ahnt, kein Band, das zu entknoten wäre … ein Bedauern vielleicht und zur Entschädigung dafür eine angenehme Erinnerung … Letztlich also Lust, ohne die Umstände, den Ärger und die Tyrannei der Konventionen.»*

Und so nimmt die Dame am Morgen nach der einzigen Nacht Abschied von ihrem jungen Mann:

– Leben Sie wohl, Monsieur; ich verdanke Ihnen große Freude; Sie aber habe ich mit einem schönen Traum belohnt. In diesem Augenblick ruft Ihre Liebe Sie zurück; die, der sie gilt, ist ihrer würdig. Wenn ich ihr einige Aufwallungen geraubt habe, gebe ich Sie ihr nun zurück – zärtlicher, feinfühliger, empfindsamer.

– Noch einmal: leben Sie wohl. Sie sind charmant … Stiften Sie keinen Unfrieden zwischen mir und der Comtesse.

Sie drückte mir die Hand und verließ mich.

Ich bestieg den Wagen, der auf mich wartete. Ich suchte nach der Moral dieses ganzen Abenteuers und – fand keine.*

Zweimal hat sich Denon in entschieden künstlerischer Absicht auf ein Abenteuer mit der Sprache eingelassen. Einmal kam ein Nichts dabei heraus, sein miserables Theaterstück, und einmal ein ganz und gar gelungenes Stück Prosa, das heute zur Weltliteratur gehört – aber doch nur diese wenigen Seiten. Möglich, dass sich Denon nachher beides nicht erklären konnte – weder sein Scheitern mit dem Theaterstück, auf das er so große Hoffnungen gesetzt hatte, noch sein Meisterwerk «Nur diese Nacht». Vielleicht kam es ihm vor, als sei ihm beides weder gelungen noch misslungen, sondern nur «widerfahren» – als habe die Sprache, die sich dem conteur Denon, dem mündlichen Erzähler, stets so willig und gefügig erwiesen hat, in ihrer Schriftgestalt mit ihm ein intrigantes, undurchschaubares Spiel gespielt, als habe sie ihm beides nur angetan, den Misserfolg wie das Gelingen. Denon hat auch nachher noch viel geschrieben – seine Reiseberichte vor allem und Briefe. Aber eine Scheu, ein Misstrauen gegenüber dem Schreiben scheint ihm geblieben zu sein. So gern er, wenn sich die Gelegenheit dazu bot, Anekdoten und Legenden aus seinem Leben erzählte – einen Versuch, dieses Leben zu beschreiben, hat er nie unternommen, zum großen Bedauern derer, die sich auszumalen vermögen, was alles er in einer Schilderung seines Lebens hätte festhalten können. Selbst dargestellt hat er sich – immer wieder und in jedem Lebensalter – nur mit dem Zeichenstift und der Radiernadel, einmal sogar, sofern die Zuschreibung stimmt, mit dem Pinsel (Abb. 2), und fast alle diese Selbstporträts gehören in die Reihe seiner besten Arbeiten.

«Point de lendemain» erschien zuerst im Juni 1777 in der von Claude-Joseph Dorat, einem Freund Denons, herausgegebenen Zeitschrift «Mélanges Littéraires ou Journal des Dames». Mit Rücksicht auf die Fortsetzung seiner diplomatischen Karriere verbarg sich der Verfasser hinter einer langen Abkürzung, über die sich kluge und neugierige Leute noch bis ins 19.Jahrhundert den Kopf zerbrochen haben: M.D.G.O.D.R. Als dieses Rätsel einmal gelöst war, hatte es auch mit den falschen Zuschreibungen ein Ende. Manche hatten Dorat selbst für den Verfasser gehalten. Und Honoré de Balzac hat in seiner «Physiologie du mariage – Physiologie der Ehe» den Anschein erweckt, die Geschichte stamme von ihm. In Wirklichkeit bedeutete M.D.G.O.D.R. nichts anderes als: Monsieur Denon Gentilhomme ordinaire du Roi.

*

Die Entdeckung Italiens — Im Herbst 1777 – die Beurlaubung vom diplomatischen Dienst dauert an – gelangt Denon zum ersten Mal nach Italien. Er hat sich entschlossen, bei einem Buchprojekt mitzuwirken, das nach den Plänen der beiden Männer, die es ersonnen haben, durch seine Gründlichkeit, seinen Umfang und die Pracht seiner Ausstattung alle Wünsche eines anspruchsvollen Publikums erfüllen soll. Denons Freund und Förderer Jean-Benjamin de Laborde ist der Finanzier des Unternehmens. Er hat sich mit einem gewissen Abbé Jean Baptiste Claude Richard de Saint-Non zusammengetan, um eine «Voyage pittoresque» herauszubringen, eine Reise in Bildern und Beschreibungen durch die Königreiche Neapel und Sizilien, bestehend aus mehreren, mit Kupferstichen reich illustrierten Bänden, die in einzelnen Lieferungen während einiger Jahre den Subskribenten nach und nach zugestellt werden sollen.

Doch ehe mit dem Druck und der Auslieferung dieser Reise begonnen werden kann, muss sie zunächst einmal unternommen und aufgezeichnet werden. Denon lässt sich von de Laborde nicht lange bitten – er ist sofort bereit, die Leitung zu übernehmen. Mit zwei Architekten für die Grund- und Aufrisse bedeutender Gebäude und einem Maler und Zeichner für die Stadtansichten und die Landschaften macht sich Denon im Herbst 1777 auf den Weg. Er selbst zeichnet während dieser Reise nur wenig. Er schreibt vor allem ein ausführliches Reisetagebuch, das dem Abbé de Saint-Non später als Grundlage für seinen Text dienen soll.

Am Ende gab es zwar allerlei Ärger, weil Denon sich von Saint-Non ausgenutzt und als Mitverfasser dieses viel bewunderten Werkes nicht ausreichend gewürdigt fühlte. Trotzdem war die Reise für ihn ein Glücksfall. Nachdem er und seine Gefährten die Stadt Neapel und ihre Umgebung erkundet und dabei auch zweimal den Vesuv bestiegen hatten, reisten sie ein Dreivierteljahr lang durch Apulien, die Basilikata und Kalabrien im Königreich Neapel und durch das Königreich Sizilien, lauter Gegenden, in die sich damals nur einigermaßen beherzte Reisende vorwagten.

Auf diesen oft riskanten Wegen, so scheint es, ist Denons Liebe zur Kunst, die in den ersten Jahren seines Diplomatendaseins ein wenig verkümmert war, neu erwacht und hat sich in eine Leidenschaft verwandelt, die ihn sein Leben lang nicht mehr verließ. Diese Reise hat ihn an sich selbst erfahren lassen, welche Strapazen er auf sich zu nehmen imstande war, welchen Einfallsreichtum, was für ein Organisationstalent und wie viel Ausdauer er zu entwickeln vermochte, wenn es galt, an abgelegene, kaum bekannte, kaum erschlossene Kunststätten zu gelangen. Im tiefen Süden Italiens fand er Gelegenheiten, seinen Kunstverstand und seinen Blick zu schulen, wie sie sich ihm in solcher Vielfalt noch nie geboten hatten. Hier begann er zu sammeln – griechische und römische Münzen, Gefäße und Bronzefiguren, vor allem aber, wie es seinem Auftrag entsprach, Material für die «Voyage pittoresque», also Erlebnisse, Erfahrungen und Einsichten, die er selbst notierte, sowie Blicke, Ansichten und Eindrücke, die er von seinen Gefährten zeichnen ließ. Ja, auch Blicke mussten gesammelt werden, und das Mittel der Wahl hierbei war in einer Zeit ohne Fotografie das Zeichnen. Schon damals übrigens, schon zu Beginn seiner ersten großen Kunstreise, während sich Denon und seine Kollegen noch in der Umgebung von Neapel umsahen, nahm dieses Sammeln bisweilen räuberische Züge an, und es begann – notgedrungen – bei den Blicken!

*

Fromme Diebstähle — Pompeji, die römische Stadt, die beim Ausbruch des Vesuvs im Jahre 79 n. Chr. verschüttet worden war, durfte in einer Darstellung der Königreiche Neapel und Sizilien nun wirklich nicht fehlen. Ihre Wiederentdeckung und die ersten Ausgrabungen hatten seit der Mitte des 18.Jahrhunderts in ganz Europa Aufsehen erregt. Aber Zeichnen war in Pompeji verboten. Besucher durften sich nicht einmal Notizen machen. Denon notiert:

Als ich das erste Mal dort war, hatte ich die Taschen voller Geld, in der Absicht, heimlich zu zeichnen, denn es war mir unmöglich gewesen, eine Erlaubnis zu erlangen. … Wir – Desprez, Renard [der Zeichner und ein Architekt der Gruppe] und ich – waren daher mit dem festen Entschluss gekommen, zu bestechen. Wir begaben uns gegen Abend dorthin, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, wenn die dort beschäftigten Arbeiter ihre Arbeitsstelle verlassen. Als Erstes nahmen wir uns das Landhaus [die Villa des Diomedes] vor. … Wir bestachen, wie wir es uns vorgenommen hatten.*

Die Ruinenwächter ließen sich ihre Beihilfe zum Blickraub täglich neu bezahlen. Aber anders konnte Denon die dringend benötigten Ansichten der wichtigsten Bauwerke Pompejis nicht erlangen. Auch mochte er sich nicht immer damit begnügen, von dem, was er in Pompeji und anderswo zu sehen bekam, bloß Abbilder mitzunehmen. Bisweilen überkam ihn schon bei diesen Erkundungen das Verlangen nach den Dingen selbst – oder, wenn sie als ganze und intakt nicht zu haben waren, nach Proben oder Bruchstücken, die sich davontragen ließen, etwa bei einem Besuch von Vergils angeblichem Grab am Fuß des Posillipo, der Hügelkette südwestlich von Neapel.

Wir stiegen auf das gewölbte Dach des Grabmals und suchten nach dem berühmten Lorbeerbaum: Er war zugrunde gegangen, und die Ciceroni hatten es versäumt, einen neuen zu pflanzen. Mir kam der Gedanke, es verhalte sich mit diesem Lorbeerbaum wie mit zahlreichen Sehenswürdigkeiten, die nur im Schutz der Leichtgläubigkeit entstehen und gedeihen, sichtbar und zum Thema von Geschichten werden können. Wir suchten trotzdem und fanden, als wir in der Erde herumstocherten und Brombeerranken und Akanthusblätter beiseiteschoben, tatsächlich einen alten Stumpf. Wir halfen den Ciceroni noch dabei, uns zu betrügen, und so schnitt ich mir mit einer gewissen Begeisterung ein Stück von dem verfaulten Holz ab. Wie das Gefühl erklären, das dieser fromme Diebstahl in mir weckte? Was das Grab anging, so hatte ich starke Zweifel. An den Lorbeerbaum glaubte ich überhaupt nicht. Aber es ging um Vergil. Eine religiöse Empfindung ergriff mich, und ich brauchte dringend etwas, auf das ich meine Verehrung lenken konnte.*

Denon scheint nicht zu bemerken, dass er hier von einer Regung ergriffen wird, über die er sich an einer anderen Stelle seines Berichts nur amüsiert – dort, wo er aus dem Blickwinkel des Agnostikers schildert, in welche Verzückung der Reliquienkult die Neapolitaner versetzt, wenn sie in die Kathedrale ihres Stadtheiligen Januarius strömen, um das dort zweimal jährlich stattfindende Wunder der Verflüssigung von dessen Blut mitzuerleben.* Andererseits berichtet er in einer sonderbaren Mischung aus Ironie und heiligem Ernst davon, wie er in Pompeji, kurz nachdem er sich dort in den Besitz unerlaubter Blicke gebracht hat, klammheimlich und ohne weitere Bestechung auch zum Reliquienräuber wird:

Man führte uns überall herum. Wir stiegen hinab in den Keller, wo man die 27 Skelette der Frauen sieht, die sich wahrscheinlich aus lauter Verwirrung an diesem abgelegenen Ort verkrochen hatten. Alle hatten sich in einer der Ecken neben der Tür dicht aneinandergedrängt. Man hat mit ihren Gebeinen auch die Abdrücke ihrer Körper in der Asche gefunden und bewahrt im Museum den Abdruck des Busens von einer von ihnen auf, dazu die Ringe, Armreife, Halsketten und den Ohrschmuck von allen. Noch sah man in diesem Keller die Schädel der 27 Frauen. Ich weiß nicht, ob man sie auch weiterhin zeigen wird, aber ich gestehe, dass dann nur mehr 26 zu sehen sein werden. Ich konnte nämlich dem Verlangen nicht widerstehen, die Gelegenheit zu nutzen und mich in den Besitz einer vornehmen Römerin zu bringen. Desprez’ Hilfe und mein weiter Mantel verschafften sie mir. Ich nahm auch etwas von dem, was vom Wein in den Amphoren übrig geblieben war, die nebeneinander an einer Mauer lehnten. Ich nahm auch ein Stück von den Amphoren …*

So steht es natürlich nicht in der offiziellen Prachtausgabe der «Voyage pittoresque» des Abbé de Saint-Non. Von den Frauenskeletten im Keller der Villa des Diomedes ist zwar auch dort einiges zu lesen. Aber die räuberischen Einzelheiten von Denons Besuch und das unverhohlene Vergnügen, mit dem er sie preisgibt, hat Saint-Non gestrichen. Sie finden sich nur in Denons handschriftlichen Aufzeichnungen, die in neuerer Zeit ebenfalls gedruckt worden sind.*

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Winckelmann und die Ameisen — Bisweilen scheint es, als sei der Süden Italiens, den Denon in seinen Aufzeichnungen schildert, von einem kollektiven Sammeleifer erfasst, als habe die Menschen dort ein allgemeines, mehr oder minder leidenschaftliches Interesse an der großen Vergangenheit ihres Landes gepackt, die überall aus dem Boden hervordringt, sobald man nur ein wenig an der Oberfläche kratzt. Mehrmals notiert Denon, dass auf den Äckern in dieser oder jener Gegend fast täglich römische und griechische Münzen gefunden werden. Mehrmals zeigt man ihm römische Gräber, die erst vor kurzem entdeckt und geöffnet worden sind, und oft kann er – mal für Geld, mal auch schon für gute Worte – von den Grabbeigaben einiges für sich erlangen.* Die einfachen Leute bieten den Reisenden zum Kauf an, was bei solchen Zufallsfunden zutage kommt – neben den Münzen auch antike Vasen und andere Gefäße, Schmuckstücke, kleine Bronzefiguren. Die Besitzenden – Adelige, wohlhabende Bürger, Kirchenleute – veranstalten Ausgrabungen auf ihren eigenen Ländereien. Sie sammeln selbst, und die Eifrigsten unter ihnen denken an die Gründung eines Museums oder sind schon dabei, eines einzurichten.