Der gute Onkel - Bettina Göring - E-Book

Der gute Onkel E-Book

Bettina Göring

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Beschreibung

Bettina Görings Biografie ist eine Auseinandersetzung mit ihrer dunklen Familiengeschichte und dem verbrecherischen Erbe ihres Großonkels, Reichsmarschall Hermann Göring Bettina Görings Name ist ihr Schicksal. Als Großnichte von Reichsmarschall Hermann Göring wächst sie im Schatten seiner Verbrechen auf, der in der Zeit des Nationalsozialismus für tausendfachen Mord verantwortlich war. Früh rebelliert sie und entflieht Ende der 60er Jahre der bedrückenden Verbindung in die Welt der Hippies und Freigeister. Der Nazi, der Guru und ich Doch weder in der linken Kommune noch im Aschram in Poona kann sie ihrer Vergangenheit entkommen. Sie erkennt, dass auch sie falschen Führern hinterhergelaufen ist und dass allein die Auseinandersetzung mit der dunklen Seite ihrer Familie sie befreien kann. Bettina Göring gewährt einen sehr persönlichen Einblick in die Geschichte ihrer Familie und ins Nachkriegsdeutschland. Sie legt ein mutiges Zeugnis ab über ihren Umgang mit dem schwierigen Erbe aus der Zeit des Nationalsozialismus. »Hermann Göring war ein Massenmörder und Psychopath, der sehr charmant sein konnte. Monster sind nicht charmant, oder?« Bettina Göring Diese Autobiografie legt den Finger in die Wunde der deutschen Erinnerungskultur – und wird dabei aus einer persönlichen und erlebbaren Perspektive erzählt. Es ergründet die Frage, wie sich der Schatten unserer deutschen Vergangenheit bis heute auf uns auswirkt und nimmt damit gleichzeitig die Sinnfrage einer ganzen Generation in den Fokus. Ein Buch, das zeigt, wie wichtig die Aufarbeitung der dunklen Geschichte Deutschlands ist, damit die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden.

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Seitenzahl: 589

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Bettina Göring / Melissa Müller

Der gute Onkel

Mein verdammtes deutsches Erbe

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Bettina Görings Name ist ihr Schicksal. Als Großnichte von Reichsmarschall Hermann Göring wächst sie im Schatten seiner Verbrechen auf. Früh rebelliert sie und entflieht der bedrückenden Verbindung in die Welt der Hippies und Freigeister. Doch weder in der linken Kommune noch im Aschram in Poona kann sie ihrer Vergangenheit entkommen. Sie erkennt, dass auch sie falschen Führern hinterhergelaufen ist und dass allein die Auseinandersetzung mit der dunklen Seite ihrer Familie sie befreien kann.

Bettina Göring gewährt einen sehr persönlichen Einblick in die Geschichte ihrer Familie und legt ein mutiges Zeugnis ab über den Umgang mit ihrem schwierigen Erbe.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Motto

Widmung

Prolog

Teil I

1943

1977

1946

1962

1894

1956

1932

1963

Teil II

1967

1936

1970

1938

1972

1934

1974

1921

1939

1979

Teil III

1941

1981

1944

1981

2013

1982

1945

1993

Epilog

Anhang

Stammtafel der Familie Göring

Genutzte Archive

Bildnachweis

»Wir wollen der Geschichte entnehmen, wer wir sind und was wir hoffen können. Ist das übertrieben?«

 

Jan Philipp Reemtsma

Gewidmet meiner Großmutter Ilse Göring,

die als kritischer Geist galt,

aber nicht auf ihn gehört hat,

als es darauf ankam.

Prolog

»Wenn man einen Abgrund zuschütten will,

muss man seine Tiefe kennen.«1

– Konrad Heiden

Bettina Göring.

Die.

Der Naziideologie auf den Leim gegangen.

Hat sich, um »keine weiteren Görings zu produzieren«, sterilisieren lassen.

Autoaggressiv ist, wer so entscheidet. Irregeleitet vom Glauben an »das böse Gen«.

So liest man über mich. Schublade auf. Rein mit ihr. Stempel drauf. Schwarz. Weiß.

 

Bettina Göring. Das bin ich. Im Schubladendenken bin ich erfahren. Ich trage eine geballte Ladung Göring in mir. Mein Vater Heinz war ein zweifacher Göring – er stammte väterlicherseits wie mütterlicherseits von der Sippe ab. Ein Göring hatte auf seine Herkunft stolz zu sein. Er war es, und er kam nicht dagegen an. Seine Mutter, meine »Großmutti Ilse«, hatte 1920 ihren Onkel geheiratet, den Halbbruder ihrer Mutter Frieda: Karl Ernst Göring. Ab sofort war Karls jüngerer Bruder Hermann nicht nur Ilses Onkel, sondern zugleich ihr Schwager. Als Karl 1932 überraschend früh starb und die damals vierunddreißigjährige Ilse mit drei Söhnen im Grundschulalter zurückblieb, mittellos, holte der »gute Onkel Hermann«, inzwischen zum Reichstagspräsidenten aufgestiegen, sie nach Berlin. Ilse – geboren als Tochter eines stolzen Korvettenkapitäns und Enkelin des Rostocker Bürgermeisters – fügte sich blendend ein in die Berliner High Society der 1930er- und frühen 1940er-Jahre, verkehrte in Künstler- ebenso wie in Diplomaten- und Politikerkreisen, war geschätzte Gastgeberin, engagierte Helferin und ernst genommene Vermittlerin. Auf ihren Wohltäter Hermann ließ sie nichts kommen. Nach dem Krieg und je älter sie wurde erst recht nicht.

Meine wütendsten Erinnerungen an die Mutter meines Vaters gehen auf die ausklingenden 1960er-Jahre zurück. Sie verteidigte die NS-Politik, und – das war das Schlimmste für mich und meinen Bruder – sie verharmloste, ja leugnete die Vernichtung der Juden. Hätte ich sie fragen müssen, wie sie zu dieser Haltung gekommen war? Ich war ein Teenager ohne Berührungsängste und stimmte ein in die Forderung nach Gerechtigkeit. Natürlich wollte ich die Welt verbessern. Die Fronten waren klar. Kein Zweifel, in welche Schublade ich Großmutti Ilse zu sperren hatte. Rein mit ihr. Stempel drauf. Schwarz.

Jahrzehntelang wusste ich genau, dass Ilse und Hermann am Unglück meiner Familie schuld waren, dass mein Vater am Anspruch der Göring-Sippe gescheitert, meine Mutter vor ihr in den Alkohol geflüchtet und ich selbst, noch keine vierzehn Jahre alt, deshalb aus meinem Elternhaus davongelaufen war. Pechschwarz.

Später – und es kostete mich Überwindung, den Tatsachen so genau ins Gesicht zu sehen – wollte ich mir selbst ein Bild von Hermann Göring machen, meinem angeblich so großherzigen Großonkel. In Büchern las ich, wie hemmungslos und kaltblütig der loyale Familienmensch gegenüber allen aufgetreten war, die er zum Feind erklärt hatte, und dass er es war, der das Go zur »Endlösung der Judenfrage« gegeben hatte. In psychopathischen Charakteren gehen Sentimentalität und Brutalität eine absonderliche Liaison ein.

Wie sollte ich diesem so fundamental Bösen jemals etwas Adäquates entgegensetzen? Immer wieder ließ diese Frage mich verzweifeln, mehrfach im Leben machte sie mich buchstäblich krank, psychisch krank, immer wieder war sie aber auch Ansporn. Zuerst trieb sie mich nur immer weiter weg von meiner Göring-Verwandtschaft. War es eine Flucht? Das Wort mag ich nicht. Und doch war es wahrscheinlich eine Flucht, vor mir selbst mehr noch als vor meiner Herkunft, dass ich erst von zu Hause wegging, dann aus meiner Heimatstadt Wiesbaden und schließlich aus Deutschland. Ich habe in Südamerika gelebt und in Indien, in England, in den USA und im südostasiatischen Raum. Nur nach Afrika hat es mich nie gezogen. Ob das Zufall ist oder ob ich Abstand zu meinen Vorfahren und ihrem kolonialen Herrschaftsdenken halten wollte?

Den Abstand konnte ich – von Natur aus ein Familienmensch – auf Dauer nur halten, indem ich mir Wahlfamilien suchte. Ich lebte in Wohngemeinschaften, suchte in der Hippieszene, in politischen und später in spirituellen Bewegungen Halt und nahm dafür auch einige Um- und Holzwege in Kauf. Wer auf das ihm gegebene Umfeld nicht bauen kann, entwickelt offenbar ein umso dringenderes Bedürfnis, sich selbst zu erproben.

Dass ich keine Kinder in die Welt setzen würde, nahm ich mir schon als Teenager vor. Ich wollte auch nicht heiraten, ich wollte keine Karriere machen, ich wollte nichts besitzen. Ich wollte nicht sein, was ich für typisch Göring hielt, und folgte damit auch dem Zeitgeist. Anfang der 1970er-Jahre war viel die Rede von Überbevölkerung und Familienplanung. 1972 veröffentlichte der Club of Rome seine Studie Die Grenzen des Wachstums. Nun konnte ich mich auch auf meine Pflicht berufen, der Erde nicht noch mehr Menschen aufzubürden.

Der Frage, ob ich in Wahrheit meinen Göring-Genen misstraute, musste ich mich damals nicht stellen. Erst viele Jahre später – andere gewichtige Vorsätze hatte ich längst verworfen und meinen Platz im Leben gefunden, ich war glücklich verheiratet, mein Mann und ich hatten ein Haus gebaut, und ich ging, nach einem Studium der Traditionellen Chinesischen Medizin, in meinem Heilberuf auf – wurde ich vor laufender Kamera mit ebendieser Frage konfrontiert. Hast du dich etwa sterilisieren lassen, weil deine Familie einen Hermann Göring hervorgebracht hat? Befürchtest du, das Böse in dir zu tragen?

Ich mache mir nichts vor; natürlich war meine Entscheidung gegen Kinder auch ein Signal an meine Familie. Verweigerung – das war ein Statement und mein erster Versuch, mich von der Last zu befreien, die ich mir von der Großelterngeneration aufgeladen hatte. Für mein Erbe interessierte ich mich demonstrativ nicht, es reichte mir, zu wissen, wer in welche Schublade gehörte. Indem ich alles, was mit den Görings zu tun hatte, weit von mir wies, besonders alles Materielle, meinte ich, mir einigermaßen treu zu sein. Und auch wenn die Wehmut über das verpasste Mutterglück bis heute manchmal schmerzt wie ein wetterfühliges Wundmal, weiß ich, dass ich mir diesen Weg nicht ersparen konnte. Obwohl ich früh eine gesellschaftliche Verantwortung spürte, die ich aus meiner Herkunft ableitete, musste ich mich erst einmal selbst retten. Das war mein Dilemma. Wenn ich versuchte, eine angemessene Antwort auf Hermann Göring und seine Mitläufer in meiner Familie zu finden, verschlug es mir regelrecht die Sprache. Die Konsequenz: Ich blieb weiterhin auf Abstand. Doch ich wollte in meiner Ablehnung nicht erstarren.

Wie es so ist, wenn eine Absicht langsam reifen darf und immer dringender wird, fügten die Dinge sich schließlich. Die Initiative dazu ging von mir aus. Mitte der 2000er-Jahre nahm ich nach längerer Zeit wieder Kontakt zu meiner Freundin Kerry in Australien auf. Sie unterrichtet Geschichte und unterstützt unter anderem die Bewegung World Peace Flame, die sich für den Dialog zwischen Konfliktparteien einsetzt. Ich erzählte ihr von meinem Plan, meine Familiengeschichte, und wie sie mein Leben beeinflusst hat, aufzuschreiben, ein Plan, den ich schon als Zwanzigjährige gefasst und der immer nur vorübergehend an Dringlichkeit verloren hatte. Ein ermutigender Briefwechsel begann, in dessen Verlauf Kerry mir vorschlug, ihre Freundin Ruth Rich kennenzulernen. Ruth ist Künstlerin und Tochter von Holocaust-Überlebenden. Über E-Mail tasteten wir uns aneinander heran, auf der einen Seite das in seinen Schamgefühlen gefangene Kind der Täter, auf der anderen Seite das Kind der Opfer, dessen Leben im Zeichen von Schmerz und Zorn über das Leid der Eltern und den Tod des Bruders steht. Schließlich saßen wir uns gegenüber. Von der ersten persönlichen Begegnung an lief eine Kamera mit. Auch das hatte Kerry vermittelt. In dem Dokumentarfilm Bloodlines, der unter der Regie von Cynthia Connop entstand und 2008 in Israel Premiere feierte, kehrten wir unsere innersten Ängste nach außen, ließen es zu, dass unsere Wunden aufbrachen, und mussten uns buchstäblich wieder neu zusammensetzen. Ruth war es übrigens, die mich als Erste, noch dazu vor laufender Kamera, fragte, ob meine Entscheidung, mich sterilisieren zu lassen, von meiner Verwandtschaft mit Hermann Göring beeinflusst war. Mein spontanes, geradezu reflexhaftes »Ja« sorgte nach der Premiere des Films für Aufgeregtheit in den Medien, für Missverständnisse und Vorurteile, als würde ich den Einfluss der Gene tatsächlich überbewerten.

Warum wir unsere intime Begegnung an die Öffentlichkeit trugen? Für mich war der Film nicht nur mein Coming-out als Bettina Göring, sondern der Versuch, mein Verantwortungsgefühl sichtbar zu machen. Für Ruth war er eine Befreiung. Der Film lief im australischen und israelischen Fernsehen und auch auf einigen europäischen Sendern. In Deutschland wurde er 2009 beim Kasseler Dokumentarfilm- und Videofest gezeigt. Seither habe ich immer wieder Interviews gegeben, unter anderem für den Film Meine Familie, die Nazis und ich(Hitler’s Children), den auch das deutsche Fernsehen zeigte. Je mehr ich, in knappen Filmsätzen, über meine Familie und mich sprach, umso mehr drängte es mich, nicht mehr nur meine Distanz zu demonstrieren, sondern zu verstehen, warum aus dem Fliegerhelden des Ersten Weltkriegs ein skrupelloser Massenmörder wurde, der in einer luxuriösen Scheinwelt lebte, während er andere für sich morden ließ und seine manikürten Hände in Unschuld wusch. Zu verstehen – noch komplizierter für mich –, warum meine Großmutter, die einst strahlende Ilse Göring, die als junge Frau auch mit späteren Widerständlern befreundet war, dieser Scheinwelt erlag und als verbitterte Alte endete. Zu verstehen, wie sie ihre Rolle an der Seite von Hermann Göring mit der ihr nachgesagten Urteilskraft, ihrer viel gelobten Hilfsbereitschaft und, ja, ihrem Gewissen vereinbarte. Zu verstehen, woran mein Vater tatsächlich scheiterte, dessen beide Brüder als Flieger in Onkel Hermanns Fußstapfen getreten und sehr jung den sogenannten Heldentod gestorben waren, während er selbst so gar nicht Hitlers Ideal von Jugend – »flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl« – entsprach. Zu verstehen, warum so viele aus unserer Sippe auf den Nationalsozialismus und Hermann Göring setzten und nur Einzelne, etwa sein jüngster Bruder Albert, sich verweigerten.

Um der Wahrheit näherzukommen, musste ich meinen eigenen Schubladenschrank entstauben, seine Fächer öffnen und ihren Inhalt endlich genauer ansehen. Es war eine glückliche Fügung, dass sich eines Tages mein entfernter Cousin Michael Christian Göring meldete. Über die Todesanzeige für meine Mutter im Wiesbadener Kurier fand er zu uns. Seit Jahren arbeitete er an der Aktualisierung und Vervollständigung der Familienchronik, die unser Ahne Peter Christian Göring im Jahr 1911 vorgelegt hatte. Hundert Jahre später wollte er der Verwandtschaft eine Jubiläumsausgabe präsentieren.

»Bist du ein Nazi, der die Ehre der Familie hochhalten will?«, fragte ich ihn unverblümt, bevor ich mich auf weitere Gespräche einließ. »Nein«, gab er genauso direkt zurück. Wir verstanden uns auf Anhieb. Ich konnte ihm ein paar Daten, Fotos und dazu manche Anekdote liefern. Er revanchierte sich mit einem faszinierenden Fundus an Quellen, der mich monatelang beschäftigte und mir viele Geschichten über die Familie Göring erzählte, die ich davor noch nicht gehört hatte. Dafür und für seine nicht endende Geduld, wenn ich ihn wieder und wieder nach Zusammenhängen fragte, bin ich ihm von Herzen dankbar.

Michael war es auch, der vor ein paar Jahren zum Clantreffen an den Starnberger See rief.1 Nach den Jahrzehnten des Abstands folgte ich der Einladung gespannt. Was hatte ich zu erwarten? Würde ich auf alte Nazis treffen? Hatten sie womöglich die Dokumentation Bloodlines gesehen? Würde ich mich erklären müssen? Die Exotin aus den USA? Gar eine Verräterin? Oder bedeuteten meine Sorgen im Vorfeld vielleicht nur, dass ich mich selbst zu wichtig nahm?

Gut siebzig Menschen kamen, fast ausschließlich Nachkriegsgeborene. Etablierte Leute, die dem bürgerlichen Leben ihrer Vorfahren treu geblieben sind. Anwälte, Ärzte, Lehrer, Architekten. Michael hatte den Tag durchgeplant, Diashows, Schaubilder und ein paar Sätze zu jedem Gast vorbereitet und die inzwischen fertiggestellte Familienchronik ausgelegt. Nachkommen von vier Hauptzweigen des weit verästelten Göring-Clans ortete er im Saal. Eine einzige der anwesenden Personen, sagte er, sei mit allen anderen verwandt. Zu meiner Überraschung zeigte er auf mich und erklärte, wie die Hochzeit zwischen meiner Großmutti Ilse und ihrem Onkel, meinem Großvater Karl Ernst, die Verwandtschaftsverhältnisse neu geordnet hatte.

Nach dem offiziellen Teil beschnupperte ich die anderen Gäste. Ein freudiges Wiedersehen gab es – nach siebenundvierzig Jahren – mit zwei meiner österreichischen Cousinen, den Enkeltöchtern von Hermanns Schwester Olga. Einen Verbündeten im Geiste fand ich auch in einem Cousin, den seine Göring’sche Familientragödie als jungen Mann so sehr belastete, dass er sich nicht nur in Therapie begab, sondern sogar seinen Namen ändern lassen wollte. »Göring?«, wehrte der Standesbeamte jedoch ab. Wenn er Hitler hieße oder Himmler oder Goebbels! Görings gibt es viele!

Cousins, Cousinen, Tanten und Onkel – ihnen allen gilt mein Dank! – unterstützten mich und mein Vorhaben im Lauf der vergangenen Jahre, auch wenn einige für sich selbst entschieden haben, anonym zu bleiben; zum Schutz ihrer Nachkommen und – nach einigem Zögern wurden Einzelne von ihnen deutlich – »weil ohnehin alles gesagt ist über Hermann Göring« und »man die Sache doch endlich ruhen lassen soll«. Es kostet Überwindung, Fragen zu stellen. Die Wunden sitzen tief in meiner Familie, in der nicht nur ich mich quäle mit der Verantwortung, die Erinnerung an die Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus wachzuhalten und zugleich ein nach vorne gerichtetes Leben zu führen, das für ein aufgeklärtes, vorurteilsfreies, solidarisches Miteinander eintritt und Missstände beim Namen nennt. Wenn es für uns nachkriegsgeborene Familienmitglieder schon so schwierig ist, Brücken zu bauen, um wie viel schwieriger ist es dann für jene, die die Zeit, wenn auch als Kinder, miterlebt haben?

Edda und Roswitha waren dem Familientreffen ferngeblieben. Hermanns Nichte Roswitha, das einzige Kind aus der Ehe seiner Lieblingsschwester Paula mit dem österreichischen Notar Franz Hueber, hat, wie seine Tochter Edda, nur schöne Erinnerungen an ihn. Egal wie dicht sein Terminkalender belegt war, Hermann Göring nahm sich Zeit für die Mädchen, verwöhnte sie und machte sich für sie unersetzlich. Mit Kriegsende fielen auch sie, die eine vierzehn Jahre alt, Edda erst sieben, tief. Kein Wunder, dass ihre Loyalität ihnen stets verboten hat, sich kritische Fragen zu stellen. Vieles haben sie offensichtlich nie an sich herangelassen – nicht nur, weil sie an den Nationalsozialismus glaubten, sondern weil sie Hermann Göring in kindlicher Liebe verbunden waren, bis zuletzt.

Edda habe ich, abgesehen von Begegnungen in meiner Kindheit, an die meine Erinnerungen verblasst sind, nur vom Telefon gekannt. Sie wünschte mir Gelingen für mein Projekt, stellte aber klar, dass sie sich nicht daran beteiligen wolle. Das nahm ich hin. Edda Göring – angeblich nach Mussolinis Lieblingstochter benannt – wurde oft in ihrem Leben vorgeführt. Wo immer ihr Name auftauchte, sorgte das für Aufruhr und Spekulationen. Auch wenn ich mir gewünscht habe, sie möge die Kraft finden, sich und die Rolle, die das Schicksal ihr zugemutet hat, zu reflektieren und auf Abstand zu ihrem Vater zu gehen, kann ich heute nachvollziehen, warum ihr das nie gelang. Sie hatte wenige Vertraute, sie mied nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die meisten Verwandten. Anfang 2019 wurde sie in aller Stille beerdigt.

Roswitha, die als junge Frau von fünfundzwanzig Jahren auserkoren wurde, meine Patentante zu sein, hat einen scharfen Verstand und ein gutes Gedächtnis, und sie gab sich Mühe, auch auf die Fragen einzugehen, die sie eigentlich in Rage bringen, weil sie ihr beweisen, dass nicht verstehen kann, wer nicht selbst dabei gewesen ist. Durch sie habe ich Einblicke in das Berliner Leben meiner Großmutter und meiner Tanten gewonnen, sie konnte ein Bild meines Vaters als Jugendlichem zeichnen und vieles andere mehr.

Je mehr ich erfuhr, umso mehr lag mir an einem differenzierten Umgang mit der Zeit und ihren Akteuren. Gerecht zu sein ist qualvoll. Den damaligen Motivationen und Lebensumständen nachzugehen, obwohl das Unrecht so schwer wiegt, das der Clanchef verbrochen und seine Familie zugelassen oder gar unterstützt hat, ist ein Tanz über dem Abgrund. Verurteilen fällt leichter. Doch ich wollte das verführerische, weil so praktische Schubladendenken meiner Kindheit hinter mir lassen, das nur Schwarz oder Weiß kannte. Wenn das gelungen ist, hätte sich das Wagnis, mit dieser Familiengeschichte und meinen persönlichsten Erfahrungen in die Öffentlichkeit zu treten, nicht nur für mich gelohnt.

Teil I

»Ohne glückliche Kindheit führt man ein schöneres Leben.«2

– Yasmina Reza

 

»They fuck you up, your mum and dad.

They may not mean to, but they do.

They fill you with the faults they had

And add some extra, just for you.«

– Philip Larkin: »This Be The Verse«

1943

Seit dem Frühsommer gilt Berlin offiziell als »judenfrei«.

 

»Als Ministerpräsident von Preußen tat Göring nichts zur Verhinderung der Massendeportationen aus Berlin. Zu dieser Zeit war Göring allerdings schon so verkommen und Ausschweifungen verfallen, dass er kaum noch aktiv in irgendetwas eingriff, aber es gibt keinerlei Beweise dafür, dass er jemals grundsätzlich gegen die Endlösung auftrat, und seine einzige Verteidigung in Nürnberg war die dumme Ausrede, er habe nichtsdavon gewusst.«3

1977

Ich liege in einem Saal mit dreißig Betten. Die Bettgestelle sind aus Eisen, die Fenster vergittert. Es stinkt nach Desinfektionsmittel und Urin. Der Deckenventilator über mir rattert beharrlich. Immer wieder ertappe ich mich bei dem Versuch, die Umdrehungen seiner Propellerblätter mitzuzählen. Immer wieder verliere ich unter dem metzelnden Brummen den Faden.

Ich bin gefangen. Wir alle sind Gefangene. Im Jahr davor habe ich im Kino Einer flog über das Kuckucksnest gesehen, und ja, eben noch habe ich mich wie McMurphy gefühlt, unerschrocken und selten um ein Wort verlegen, eine, die ihre Grenzen austestet und manchmal über das Ziel hinausschießt. Unabhängig und sicher nicht verrückt oder gar krank. Jetzt habe ich Angst. Mit Bildern aus dem Film vor Augen und stechenden Kopfschmerzen liege ich die Nächte wach.

Einige der Frauen sind an Hand- und Fußgelenken an ihre Betten fixiert und starren ins Leere, mich hat man endlich losgeschnallt. Irgendeine von ihnen ist immer in der Krise, schreit oder schluchzt, trotz der Beruhigungsmittel, die man uns in hoher Dosis spritzt. Die meisten Patientinnen hier sind Natives indianischer Herkunft. Eine Frau, drei Betten weiter, ist eine gringa wie ich, aber mindestens doppelt so alt. Sie stellt sich mir als Amerikanerin aus Okmulgee County in Oklahoma vor. Das merke ich mir deshalb, weil sie aus demselben Ort wie William Sampson jr. stammt, der in dem Film den baumlangen, vermeintlich taubstummen Verbündeten von Jack Nicholson spielt, Häuptling »Chief Bromden«. Das erzählt sie jedenfalls. Außerdem stammelt sie wirre Geschichten von einem Boyfriend, einem Messer und Drogen.

San José in Costa Rica, der vorletzte Apriltag 1977.

»Hallo, Bettina.« Ich schrecke hoch aus meinem Dämmerschlaf. Ein Mann von höchstens dreißig, akkurat frisiert, beugt sich über mich. Er sieht sehr offiziell aus in seinem grauen Sommeranzug mit weißem Hemd und Krawatte. Mir gelingt ein Lächeln. Er war schon öfter hier, und jedes Mal hat er mir etwas mitgebracht, eine Zeitschrift oder Schokolade. Ich freue mich, ihn zu sehen. Er ist mein einziger Kontakt zur Außenwelt und meine einzige Hoffnung. Die deutsche Botschaft hat ihn geschickt.

»Wie geht es Ihnen heute?«, fragt er mich.

Wie soll es mir gehen nach zwei Elektroschocks? Soll ich ihm die Wahrheit sagen? Beschissen! Oder wird mir das noch mehr schaden? Mein Rücken schmerzt von den Verkrampfungen, mein Kopf fühlt sich wie ein Fremdkörper an, als hätte jemand einen mit schwarzer Farbe getränkten Pinsel über meinem Gehirn ausgeschüttelt und hartnäckige Flecken hinterlassen. Ich antworte nicht, aber er kann meinen Blick lesen.

»Über manches muss man den Mantel des Vergessens legen«, sagt er freundlich, aber so distanziert und eindringlich, dass man ihn auch überheblich finden könnte. Das ist mir jetzt egal. »Wollen Sie hier raus oder noch einmal Strom?« Und dann: »Sie müssen keine Angst mehr haben. Ich habe einen Flug für Sie gebucht. Er geht in drei Tagen. Ihr Bruder wird Sie in Frankfurt erwarten.«

 

Am 1. Mai holte der Diplomat, dessen Namen ich nie wusste, mich tatsächlich aus dem »Kuckucksnest«, eskortierte mich in einem Mercedes mit Diplomatenkennzeichen zum Flughafen und setzte mich in eine Lufthansa-Maschine mit direktem Ziel Frankfurt. So muss sich eine befreite Geisel fühlen, dachte ich, als die Maschine abhob und eine große Schleife über San José zog, bevor sie in die Wolkendecke eintauchte. Aber mein Albtraum flog mit. Wie hatte ich mich nur in diese Lage bringen können? Ausgebrannt mit zwanzig?

 

»Zieh dein Abi durch, dann schenke ich dir das Flugticket für eine Fernreise«, hatte meine Mutter mich geködert, als mein Vorrücken in die nächste Klasse wieder einmal gefährdet war und mein Bruder erst die Schule und dann auch noch seine Lehre zum Automechaniker geschmissen hatte, weil er nach drei Monaten der Ansicht war, genug zu wissen, um jeden Wagen wie ein Meister reparieren zu können.

Nachdem ich mit knapp vierzehn von zu Hause weggelaufen war, hatte ich die Schule bestenfalls über mich ergehen lassen, und auch das nur zeitweise. Inzwischen brauchte ich eigentlich keinen Köder mehr. Ich hörte im Unterricht zu, meldete mich zu Wort, und, es stört mich nicht, wenn das verklärend klingt, am Ende hatte ich sogar noch eine erfüllende Schulzeit. Unserem Klassenlehrer Herrn Ratgeber, einem liberalen Mann, traute die Schulleitung zu, unseren Haufen, der sich über die Jahre den Ruf als Problemklasse gesichert hatte, auf das Abitur vorzubereiten. Er verbündete sich mit uns. Als Klassensprecherin und Mitglied des Schulsprechergremiums hatte ich einen direkten Draht zu ihm. Die Deutschlehrerin Frau Lenoir duzte uns im Unterricht und brachte uns nahe, warum wir Bertolt Brecht auf keine Weltanschauung festlegen sollten. Weltbilder seien in aller Regel viel zu mickrig, als dass die Welt in sie hineinpasse, hatte Brecht gesagt, und moralische Überzeugungen seien vor allem dazu da, sie zu überdenken und an die Realität anzupassen. Kunstlehrer Krause unterrichtete uns – O Captain! My Captain! – bei sich zu Hause. Er lehrte uns, Goya als Wegbereiter der modernen Malerei zu verstehen und seine Stierkampfzyklen mit denen von Picasso zu vergleichen.

Im Frühjahr 1976, ein paar Wochen vor dem Abitur, hatte Götz, ein Freund meines Bruders, mir spontan angeboten, bei ihm »in Klausur« zu gehen. Seine Eltern hatten ihm eine Wohnung direkt am Wiesbadener Kurpark überlassen. Sie war heller und vor allem ruhiger als mein bisheriges WG-Zimmer, dessen meterhohe Stuckdecke ich gerade erst in Dunkelrot und Gelb gestrichen hatte. Ich zog mich in mein neues Zimmer zurück, freute mich über meine luxuriösen Lebensumstände und lernte.

Dass ich Sitzfleisch hatte, war eine neue Erfahrung für mich. In den Abiturprüfungen schrieb ich Zweien und sogar Einsen, doch meine schlechten Noten aus den Vorjahren vermiesten mir den Schnitt. Mit fünf hatte ich keinen Zweifel gehabt, dass ich einmal Ärztin werden würde, nun schloss der Numerus clausus, gegen den wir lautstark auf die Straße gegangen waren, ein Medizinstudium in Deutschland aus. Daran änderten auch die Beteuerungen von Kanzler Helmut Schmidt nichts, der den Wählern angekündigt hatte, die »unsinnigen« Zugangsbeschränkungen »alsbald auszusetzen«, weil »die Hochschulen offen sein sollen«.4 Der NC erwies sich als zäh, bis heute.

Nur drei meiner Klassenkameraden nahmen im Herbst ein Studium auf. Ich haderte nicht. Meinen Vater vor Augen, den ewigen Studenten, kam es mir gerade recht, mich auf ein anderes Ziel festzulegen. Mittelamerika war meine Region der Sehnsucht. María aus Honduras, die für ein Schüleraustauschjahr nach Wiesbaden gekommen und zum Studium geblieben war, versicherte mir, dass ich in ihrem Elternhaus jederzeit willkommen sei. Bei Großmutti Ilses Nichten in Venezuela hatte ich eine weitere Anlaufstelle. Seit einiger Zeit nahm ich deshalb Spanischstunden.

Ein paar Wochen vor dem Abitur schnappte ein Mädchen aus meinem weiteren Schulfreundeskreis einen beiläufigen Schulhofklatsch über meine Reisepläne auf. Ich kannte sie nur vom Sehen. Auf dem Pausenhof passte sie mich ab. Sie wolle nach Mexiko fliegen, sagte sie. Auf den Spuren der Maya, Inka und Azteken. Unbedingt die Sonnenpyramide. Ob wir nicht gemeinsam fahren könnten? Sie klang so schüchtern, als müsste sie sich zu jedem Wort überwinden. Das hätte mich warnen können. Warum nicht, antwortete ich spontan, als gäbe es eine Verpflichtung, ihr die Sorge vor einer Abfuhr zu nehmen. Mexiko als erste Station meiner Reise. Warum nicht! Das war oft in meinem Leben mein Antrieb. Was soll schon schiefgehen …

Mein Reisebudget besserte ich als Tippkraft auf. Seit ich für die Schülerzelle Flugblätter getippt hatte, immer unter Zeitdruck, fühlte ich mich an der Schreibmaschine sicher. Meine Vorfreude trug mich für einige Wochen durch die Monotonie der Arbeit. Parallel schrieb ich mich an der Frankfurter Goethe-Universität ein; Anthropologie, wusste mein Vater, war zulassungsfrei. Mein Antrag auf BAföG wurde für das erste Semester durchgewunken. Meine Mutter zahlte das Geld später zurück.

Eigentlich sollte die Reise drei Monate dauern. Nur meinen Bruder weihte ich ein, dass ich mir bereits zugestanden hatte, den Rückflug verfallen zu lassen. Wir nahmen uns vor, in Kontakt zu bleiben. Für alle Fälle räumte ich ihm Zugang zu meinem Konto ein.

Die ersten Wochen rauschten als Feuerwerk der Eindrücke an mir vorbei. Mexico City. Schon damals lebten dort achteinhalb Millionen Menschen. Besucher brauchen eine Weile, um sich 2400 Meter über dem Meeresspiegel zu akklimatisieren. Mehr als die Hälfte des Jahres nebelt dicke, schwüle Luft das Hochplateau ein, auf dem die Stadt gebaut ist. Die umliegenden Berge lassen wenig Zirkulation zu, Smogalarm gehört zum Alltag.

Es zog uns zur Plaza de las Tres Culturas im Stadtteil Tlatelolco, wo die spanischen Konquistadoren die Azteken in einem blutigen Gemetzel endgültig unterworfen und wo Polizei und Armee vierhundert Jahre später, genau zehn Tage vor Beginn der ersten Olympischen Sommerspiele in Lateinamerika, Anfang Oktober 1968, Hunderte protestierende Studenten ermordet hatten.

Wir liefen schier endlos geradeaus, auf unbefestigten Straßen, staubig wie unsere Feldwege während hochsommerlicher Trockenperioden. Links und rechts von uns breiteten sich molochartig verschachtelte Slums aus, Hütten ohne Strom und ohne Wasseranschluss für Hunderttausende Menschen, Wellblech war eines der besseren Baumaterialien. Nicht vorzustellen, wie diese Verschläge einem Unwetter standhalten sollten. Solche Armut hatte ich noch nie gesehen.

Meine Reisefreundin hatte einen durchgetakteten Besichtigungsplan ausgearbeitet, auf den ich mich anfangs folgsam einließ. Die aztekischen Ruinen beeindruckten und bedrückten mich gleichermaßen, aber am Anstehen in Touristenschlangen verlor ich bald die Lust. Statt Eintrittsgelder an Regierungsorganisationen zu bezahlen, wollte ich Menschen kennenlernen. Sie machen ein Land für mich aus und erst in zweiter Linie seine Städte, seine Landschaften und seine Denkmäler.

Vor den Gefahren, in Mexiko und Mittelamerika zu trampen, wurde auch damals schon eindringlich gewarnt. Am Anfang der Reise nahm ich die Warnung noch ernst. Mit einem Omnibus, unter dessen bunter Lackierung ein ausrangierter amerikanischer Schulbus steckte, und der schnaufte, als würde er die nächsten fünf Kilometer nicht mehr schaffen, fuhren wir Richtung Meer und an der Südseite des Golfs von Mexiko die Küste entlang bis nach Cancún und zur Isla Mujeres. Durch die rostzerfressene Bodenplatte des Busses wirbelte Staub in den überfüllten Passagierraum. Weil er in jedem Dorf hielt und in jedem Dorf Menschen mit Bergen an Gepäck, auch Lebendgepäck, nämlich Hunden, Hühnern oder einer empört meckernden Ziege, aus- und zustiegen, waren die vierhundert Kilometer bis zu unserem nächsten Zwischenstopp in Veracruz eine Tagesreise.

In die Farben von Veracruz verliebte ich mich augenblicklich. Der Himmel war auch in der Mittagssonne dunkelblau, die typischen Talavera-Kacheln an den Wänden unseres Hotels strahlten in einem lebensfrohen »Alles so schön bunt hier«. An jedem Stand mit traditionellen Yucatán-Blusen hielt ich an. Ihre Stickereien gefielen mir noch besser als die auf Großmutti Ilses rumänischer Folklorebluse.

Im Hinterland der »weißen Stadt« Mérida fotografierten wir mit Tausenden anderen Besuchern die Mayastätte Chichén Itzá, die inzwischen zu einem der Sieben Modernen Weltwunder erklärt wurde. Mehr Zeit verbrachte ich aber bei den Holzschnitzern und bei den Hängemattenwebern von Mérida, die als die besten des Landes gelten, weil die besonders dünnen Baumwollstränge ihrer Matten sich in jede Richtung dehnen lassen wie ein Fischernetz. Schon die Maya kannten die Technik. Wir kauften zwei farbenprächtige Exemplare.

Handwerkern kann ich stundenlang dabei zuschauen, wie sie mit Geschick und Intensität ihrer Arbeit nachgehen. Als Couturière-Tochter, die ihre halbe Kindheit unter dem Schneidertisch verbracht und Stoffe gestreichelt hatte wie andere Kinder Teddybären, wollte ich zudem wissen, wie die Einheimischen ihre Gewebe herstellen. Irgendwann auf der Reise, nahm ich mir vor, will ich weben lernen. Doch vorher musste ich meine Freundin loswerden.

Nach fünf gemeinsamen Wochen überwogen die Unterschiede zwischen uns. Sie wollte jeden Tag vorausplanen, ich wollte ihn auf mich zukommen lassen. Sie wollte alles gemeinsam machen, ich hatte nichts dagegen, auch mal allein durch die Straßen zu gehen. Sie trug ihr goldblondes Haar offen. Wenn fragwürdige Typen uns auf der Straße ansprachen, blieb sie stehen. Ich eignete mir ein paar unmissverständlich schroffe Ausdrücke auf Spanisch an, um sie uns vom Leib zu halten. Ein paar Mal gab es Stress. Allein reisende gringas waren südlich von San Diego Freiwild.

Wir reisten weiter nach Cancún und erwarteten ein karibisches Paradies aus unerforschtem Dschungel, Mangroven und Sanddünen vor unberührten Stränden. Stattdessen trafen wir auf ein Betonmeer aus nagelneuen Hotelburgen und Baustellen. 1976 hatten Magazine wie Vogue Cancún als »new place-to-play« ausgerufen.5 Wir flohen enttäuscht auf die Isla Mujeres, fanden unser Paradies und neue Freunde aus aller Welt dazu. Man kommunizierte auf Englisch; jetzt rächte es sich, dass ich mich in der Schule durch das Fach gemogelt hatte. Mit einem Journalisten von Le Monde begann ich eine harmlose Affäre. Er brachte mir Englischvokabeln bei und bestärkte mich, nach allem, was ich ihm erzählt hatte, mich von meiner Reisefreundin zu trennen. Als sie auch noch krank und das Heimweh nach ihrem Freund stärker wurde, redete ich ihr – nicht ohne Skrupel – ein, den Rückflug anzutreten. Mich zog es weiter nach Guatemala.

 

Die verarmte und unterdrückte Bevölkerungsmehrheit in den mittel- und südamerikanischen Ländern hatte – bewaffnet oder unbewaffnet – Jahre des Aufbruchs hinter sich. El pueblo unido jamás será vencindo! – Das vereinte Volk kann niemals besiegt werden! Gegen die USA, die ihre wirtschaftlichen Interessen auf dem Kontinent durchsetzen und ein zweites Kuba auf jeden Fall verhindern wollten, hatte der Vormarsch der linken Bewegungen jedoch keine Chance. Militärs und nationale Eliten konnten sich nordamerikanischer Hilfe sicher sein, wenn sie gegen Oppositionsbewegungen durchgriffen oder – wie im Fall Chiles – eine demokratisch gewählte Regierung stürzten. Mit ihrer Weltsicht des Kalten Krieges und der »Doktrin der nationalen Sicherheit« rechtfertigten die USA, warum sie die Machtübernahmen autoritärer Regime ermöglichten und die Menschenrechtsverletzungen ihrer Diktatoren und Erfüllungsgehilfen duldeten, die ihnen unter anderem den billigen Betrieb gigantischer Monokultur-Plantagen sicherten, während ihre Verbündeten ziemlich einstimmig das Lied von den korrupten Bananenrepubliken Mittelamerikas sangen. Zehntausende Menschen wurden ermordet, Hunderttausende flohen ins Exil.

In Guatemala herrschte schon seit sechzehn Jahren Bürgerkrieg, er gehörte zum Alltag. Am meisten litt darunter die indigene Bevölkerung. Vergiss nicht, dass dich die Leute hier für eine gringa halten, hatte man mir auf den Weg mitgegeben. Sag unbedingt, dass du aus Deutschland kommst und nicht aus den USA. Erst 1999 bekannte Präsident Clinton vor dem Volk von Guatemala, dass es falsch von den USA gewesen sei, das »Militär und verschiedene Geheimdienste« des Landes zu unterstützen, die Menschenrechtsverletzungen und »gewaltsame und weit verbreitete Unterdrückung« verschuldet hatten.6

Mit meiner Hängematte, einer dünnen Decke, einem Paar Ersatzschuhe und einem spartanischen Set von Wechselkleidung wog mein Gepäck sieben Kilogramm. Als ich in Guatemala ankam, war Tikal in aller Munde. Nach dem aufsehenerregenden Expeditionsprojekt des Penn Museum der University of Pennsylvania in den 1960er-Jahren konnte man die antike Mayastadt mitten im tropischen Regenwald erstmals besichtigen, eine Straße zu dieser größten Ausgrabungsstätte des Landes wurde erst später gebaut.

Nirgendwo sonst in dem Kulturkreis fanden Archäologen so hohe Stufentempel. »Manhattan der Maya« nennt man die Ruinenstadt deshalb auch. Irgendwie fand ich Anschluss an eine Reisegesellschaft und ergatterte einen Platz in einem einmotorigen Viersitzer, der uns über eine überwältigend weite Dschungeldecke nach Tikal flog. Ein paar Luftverwirbelungen lang bedauerte ich meinen Mut, während der Landung auf einer rumpeligen Schotterpiste schloss ich die Augen. Bei Sonnenuntergang knüpfte ich meine Hängematte an die Pfosten eines schilfgedeckten Unterstands. Hier, bei einer Luftfeuchtigkeit von annähernd 99 Prozent, verbrachte ich die Nacht. Ein randalierendes Dschungelorchester aus Brüllaffen, Tukanen und Papageien holte mich früh aus dem Schlaf.

Über Guatemala-Stadt fuhr ich weiter an den Atitlán-See. Die Region um die Hauptstadt war ein knappes Dreivierteljahr vorher vom folgenreichsten Erdbeben der vergangenen hundert Jahre heimgesucht worden. Die Aufräumarbeiten waren noch im Gang. Zehntausende Menschen waren ums Leben gekommen, vor allem Natives, begraben unter ihren Lehmhütten in den Großstadtslums und in den abgelegenen Hochlanddörfern, von denen viele nicht auf Landkarten eingezeichnet waren. Dass Lehm, das einzig erschwingliche Baumaterial für die Armen, kein tödlicher Baustoff sein muss und richtig stabilisiert auch schwere Erschütterungen überdauern kann, weiß man in der Region erst seit den 2000er-Jahren.

Der tiefblaue Lago de Atitlán, umgeben von glücklicher Natur, galt nicht nur Alexander von Humboldt als schönster See der Welt. Drei dreieinhalbtausend Meter hohe Vulkane bewachen den Kratersee. Panajachel, gelegen an der Nordseite und Ausgangspunkt für Erkundungstouren, habe ich als kleines Mayadorf erlebt. Heute ist es eine Stadt mit 12000 Einwohnern. Ein Lieblingsplatz von Backpackern und Aussteigern aus der ganzen Welt war »Paka«, wie die Einheimischen den Ort nennen, schon damals. Auf dem Wochenmarkt sah ich zum ersten Mal handgewebte huipiles. Die traditionelle, mit Ornamenten und Figuren bunt bestickte Mayatracht besteht aus rechteckigen Stoffstücken. Sie werden auf traditionellen Backstrap-Webstühlen hergestellt, zusammengenäht und ähnlich einem Poncho getragen. In jedem Dorf gab es unterschiedliche Muster, und die Bewohner standen in einem immerwährenden Wettbewerb um die schönste Tracht am See. Schon damals begannen die Weberinnen, statt Baumwolle und Naturfarben viel billigeres, synthetisches Material zu verwenden. Ich kaufte schließlich zwei besonders prachtvolle antike Exemplare in Naturfarben, wie sie heute kaum noch zu finden sind, und schickte sie nach Hause. Einen dritten behielt ich fast den ganzen Aufenthalt selbst an. Die Luft am See war erstaunlich frisch.

In Santa Catarina Palopó, einer Siedlung eine knappe Fußstunde südöstlich von Panajachel, boten einheimische Frauen Webkurse an. Für ein paar Quetzal mietete ich eine Lehmhütte an einem Berghang. Das Dach war mit Schilf gedeckt, der provisorisch begradigte Boden mit Stroh ausgelegt. Um durch die Eingangstür zu gehen, musste ich mich bücken; ich bin 1,68 Meter groß. Immerhin gab es zwei Holzbalken, die stark genug waren, um daran meine Hängematte zu befestigen.

Kein Dorfbewohner konnteEnglisch, und kaum einer wollte Spanisch sprechen. Auf mein gebrochenes Spanisch antwortete meine Lehrmeisterin in der Mayasprache Kaqchikel. Anfangs klappte die wortarme Kommunikation am besten mit den Kindern, die erst schüchtern ihre Köpfe aus den Türöffnungen steckten und schließlich neugierig gerannt kamen, sobald sie die »riesengroße, hellhäutige gringa« sahen. Während die Frauen von Santa Catarina Palopó von früh bis spät mit manueller Arbeit beschäftigt waren, saßen viele Männer stundenlang herum, tranken und rauchten. Auf den Feldern wirkten sie wie die sporadischen Hilfskräfte ihrer Frauen.

Vor der ersten Webstunde gingen wir in die nächstgelegene Stadt und kauften Garne. Ich entschied mich für Blau und Violett. Als ich gelernt hatte, wie man den hölzernen Webrahmen mit einem Hüftgurt vor dem Körper befestigt und die Kettfäden vor sich aufspannt, saß ich wie eine Einheimische mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden und webte mehrere Tage von früh bis spät an einem unifarbenen Stück Stoff. Erst als mein Stoffstück so gleichmäßig gewebt war, dass es der Meisterin gefiel, zeigte sie mir lokale Webmuster.

Die Tage verliefen auf befriedigende Art eintönig, die meiste Zeit verbrachte ich allein und im Stillen. Ich hörte sogar zu rauchen auf, weil ich beim Weben keine Hand frei hatte und Zigaretten ohnehin schwer zu bekommen waren. Und ich schmiedete Pläne. An meinen Bruder schrieb ich, was er sich längst denken konnte: Ich bleibe, und ich habe noch viel vor. Erst Belize. Dann Honduras. Bitte schick mir Geld an die vereinbarte Adresse. Nach einem weiteren Monat hatte ich mein Lehrlingsstück fertiggestellt – es war das einzige Stück Stoff, das die Reise überlebte.

 

British Honduras hieß erst seit drei Jahren Belize und pflegte sein Image als toleranter Schmelztiegel der Ethnien und Kulturen aus Maya, Garifuna, Kreolen, Europäern und – so sprechen die Menschen mit europäischen und indigenen Vorfahren in einigen Regionen Mittelamerikas auch heute noch von sich – Mestizen. Von hier schickte ich einen Brief nach Honduras, mit dem ich mich bei Marías Eltern ankündigte. Bis ihre Antwort kam, schnupperte ich Caribbean Feeling, das Land war der Rastafari-Kultur Jamaikas schon immer näher als Lateinamerika.

Mit drei Künstlern aus den USA teilte ich ein Guesthouse am Strand, tagsüber fuhren wir mit den Fischern aufs Meer oder tauchten entlang der Korallenriffe. Abends gingen wir ins Dorf und spielten Pingpong mit den Locals. Entspanntheit als Lebensphilosophie. Umso verblüffter war ich, als ich meine ersten Erfahrungen mit der Wut mancher Einheimischer auf gringos machte. Drohende Blicke, aggressive Worte, ein absichtlich in den Weg gestelltes Bein. Wie eine harmlose Provokation wirkte das nicht auf mich. Ich fühlte mich zum ersten Mal auf dieser Reise in Gefahr und zog mich zurück. Abgesehen davon erlebte ich meine Zeit in Belize als Ruhe vor dem Sturm, auch buchstäblich.

 

Tegucigalpa. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass es sich bei der Hauptstadt von Honduras um die instabilste und gefährlichste Stadt der Welt handelt, wäre ich trotzdem hingefahren. Bei meiner Ankunft schüttete es. Kurz nachdem ich aufgebrochen war, erfuhr ich später, war tatsächlich ein Sturm über die Küste gefegt, und auch wenn er den hurrikangeplagten Honduranern vergleichsweise mild erschien, schickte er viel Regen.

Marías Eltern waren Nachfahren europäischer Einwanderer und lebten seit mehreren Generationen in Tegucigalpa. Sie arbeiteten als Zahnärzte, bewohnten ein luxuriöses Haus mit einem gepflegten Innenhof und hatten sich auf eine höhere Tochter aus dem behüteten Großbürgerdeutschland eingestellt, die sie für ein paar Tage beherbergen würden. Aber erstens blieb es nicht bei ein paar Tagen, und zweitens fiel es mir zunehmend schwer, das höfliche Mädchen zu mimen, mit dem sie gerechnet hatten. Dabei gaben sie sich große Mühe, zeigten mir die Stadt und stellten mich ihren Freunden vor. Es waren vor allem deutsche Freunde. Ihr Interesse an mir fand ich überschwänglich, und als ich begriff, dass es sich auf meinen Nachnamen, auf ihre Verehrung für Hermann Göring und mein Verwandtschaftsverhältnis zu ihm bezog, war es mir unangenehm. Eine Frau aus diesem Kreis wuchs mir trotzdem ans Herz. Sie hatte Krebs, und ich saß viele Stunden an ihrem Krankenbett, auch dann noch, als mir klar wurde, dass ihr Mann ein justizflüchtiger Nazikollaborateur war und sie nach dem Krieg, dank katholischer Helfer, auf einer der Rattenlinien nach Lateinamerika geflohen waren.

Meine Ansichten, die politischen wie die religiösen, behielt ich für mich, so viel Anpassung gelang mir. Gegen meine Beklemmungen las ich viel. Marías Mutter Ana, die señora de la casa, hatte mich bei meiner Ankunft davor gewarnt, allein auszugehen, und damit ich auf keine übermütigen Gedanken komme, hatte sie mir einen Benutzerausweis für die Bibliothek des Centro Cultural Alemán im Goethe-Institut ausstellen lassen. Ich las die Buddenbrooks, fräste mich durch Simmel-Bände und griff, erstaunt, wie umfangreich die Sammlung war, nach Sachbüchern über den Zweiten Weltkrieg. Wenn ich mich recht erinnere, begann ich dort auch Leonard Mosleys Göring-Biografie zu lesen, kam aber über die ersten fünfzig Seiten nicht hinaus.

Mit Ana sprach ich über meine Zukunft. Sie wusste vom Ärztemangel in der Karibik und dass mehrere Universitäten Stipendien vergaben, wenn man sich dazu verpflichtete, nach der Ausbildung im Land zu bleiben, auf Barbados etwa oder auf der Insel Trinidad, und auch auf dem Festland, in Venezuela. Ärztin in der Dritten Welt. Jetzt hatte ich einen Floh im Ohr, mehr noch, einen, wie ich fand, konkreten Plan. Umso besessener war ich davon, meine Sprachkenntnisse zu verbessern.

Ich lernte Englisch und – mithilfe von Marías beiden jüngeren Geschwistern und ihres Kindermädchens – zeitgleich Spanisch. Abends war ich überdreht und konnte nicht einschlafen. Morgens war ich erschöpft und maulig. Dann pfiff ich auf Höhere-Töchter-Höflichkeiten. Der Konservativismus meiner Gastgeber, ihre übertriebene Ehrfurcht vor dem Deutschland Goethes und Schillers belasteten mich zunehmend. Dass auch ich ihnen zur Last wurde, entging mir nicht. Aber ich saß fest. Nach sechs Wochen wartete ich immer noch auf das Geld, das mein Bruder aus Deutschland losgeschickt hatte.

Als Ana eine angebrochene Antibabypillen-Packung fand, die ich, ohne mir etwas dabei zu denken, auf der Spiegelablage des Badezimmers hatte liegen lassen, sorgte sie dafür, dass ich ihr Haus verließ. Als strenggläubige Katholikin zweifelte sie nicht daran, dass ich eine in Sünde gefallene, verlorene Seele war, ohne Maß und ohne Moral. Ihr Mann – schließlich wollte man sich nichts vorwerfen – brachte mich bei einer befreundeten Familie etwa neunzig Kilometer südöstlich der Hauptstadt im landwirtschaftlichen Danlí unter, das für seine Zigarren und für eines der härtesten Gefängnisse der Welt bekannt ist. In deren Obhut durfte ich auf mein Geld aus Deutschland warten. Als es endlich ankam, bedankte ich mich bei meinen Gastgebern, jedenfalls nehme ich das im Rückblick an, und setzte mich ab.

Was danach geschah, kam erst nach vielen Jahren in mein Gedächtnis zurück, als unordentliche Splitter in einem Fragezeichenwald.

»Wenn ein Mensch von einem Erlebnis überfordert ist, wenn er nicht in der Lage ist, ihm einen Platz in seinem Seelenhaushalt zuzuweisen, macht er zuweilen von seiner Fähigkeit Gebrauch, es zu verdrängen, es aus dem Gedächtnis zu streichen … Das funktioniert oft nicht spurlos«, hat Jan Philipp Reemtsma geschrieben.7 Habe ich mir seine Sätze auch wegen der unheilvollen Beziehung seines Vaters zu Hermann Göring notiert? Philipp Fürchtegott Reemtsma bezahlte 1934 drei Millionen Reichsmark und in den folgenden Jahren jeweils eine Million an Göring, damit dieser dafür sorgte, dass die Ermittlungen wegen Bestechung und Steuerhinterziehung gegen ihn und sein Tabakimperium fallen gelassen wurden. Aus dem Gedächtnis streichen! Tatsächlich erzwangen Stromstöße in mein Gehirn den Erinnerungsverlust, weil Ärzte dachten, sie würden damit meinem Seelenhaushalt helfen.

 

Wieder allein, ohne mich vor jemandem rechtfertigen zu müssen, aber mit einer aktuellen Ausgabe des South American Handbook in der Tasche, das damals der Tripadvisor der Rucksacktouristen aus aller Welt und an einer Busstation liegen geblieben war, mietete ich das billigste Zimmer, das ich in Danlí finden konnte. Die dunklen Skorpione an der Wand über meinem Bett schreckten mich nicht. Mein Sternzeichen, dachte ich nur. Sobald mir danach war, wollte ich mich ohne Eile von Honduras über Nicaragua nach Costa Rica begeben, um im Frühling 1977 von dort oder aus Panama nach Venezuela zu fliegen und mich an der medizinischen Fakultät der Zentraluniversität einzuschreiben.

Typen, die ich untertags kennenlernte, waren abends Verbündete, keine Vertrauten, aber auf eine Art, die wir einander nicht erklären mussten, Verbündete, ich sog ihre Geschichten auf und ihre Geschichten mich. Einige von ihnen waren gezeichnet von der Flucht vor den autoritären Regimen Argentiniens, Chiles oder Perus und von ihrer Angst, hingerichtet zu werden; so, verglich ich, war es den Verfolgten im »Dritten Reich« ergangen.

Ein Peace Corps Volunteer der amerikanischen Entwicklungshilfe, der an einer Schule aushalf, lieh mir seine Ausgabe von Tolkiens Herr der Ringe. Nachts kämpfte ich mich durch 1700 Seiten High Fantasy auf Englisch. Ans Schlafen dachte ich über zwei oder drei Wochen so gut wie gar nicht mehr, an Essen selten. Doch jetzt fühlte ich mich nicht erschöpft und maulig wie noch in Tegucigalpa, sondern immer aufgewühlter und dabei wissend und immer wissender, sogar allwissend und stark, as high as a kite, ohne Drogen genommen zu haben. Einer der Typen sorgte sich um die überdrehte Europäerin und brachte mich zu einer Krankenschwester. Sie war kaum älter als ich und holte mich mit Diazepam auf den Boden. In einer dieser Nächte hielt mich meine eigene Geschichte wach und der Wunsch, mit meinem Vater Frieden zu schließen. Auf mehreren Seiten öffnete ich mich ihm, wie ich es vorher und nachher nie getan hatte, und bot ihm meine Entschuldigung und meine Hand zur Versöhnung an. Bevor ich nach Nicaragua trampte, brachte ich den Brief zur Post.

Durch Managua wollte ich eigentlich nur durchreisen und blieb doch mehrere Wochen. Auf einem Straßenmarkt ließ ich mich von einem Händler aus Peru ansprechen. Mit meinem wenig ausgeprägten Orientierungssinn wäre ich in dem Netzwerk von Straßen ohne Namen verloren gewesen. An seiner Seite spazierte ich stundenlang durch die Kolonialstadt. Neunzig Prozent der Innenstadt waren im Erdbeben von 1972 zerstört worden. An jeder Ecke stand jemand mit Maschinengewehr, jederzeit schussbereit, bloß keinen Blickkontakt provozieren. »Er ist ein Schweinehund. Aber er ist unser Schweinehund«, soll Franklin D. Roosevelt über Anastasio Somoza García gesagt haben. 1939 hatte der US-Präsident seinen nicaraguanischen Amtskollegen zu einem Staatsbesuch mit allen protokollarischen Ehren, Paraden und Galadiner in Washington empfangen. Mehr als dreißig Jahre später hielt der Somoza-Clan sich mit diktatorischer Gewalt immer noch an der Macht.

In diesem aufgeladenen Umfeld wirkte mein neuer Freund auf mich wie einer, der angekommen ist, einer, der sich hinterfragt, ohne sich übermäßig wichtig zu nehmen, einer, der weiß, wie man Grenzen setzt, und der trotz allem an das Gute im Menschen glaubt, schlicht entspannter als die meisten anderen. Er beschäftigte sich mit alternativer Medizin und der Heilkraft des Meditierens und sprach vom lebenswichtigen Schutz der Natur und von der Würde aller Wesen. Von ihm bekam ich meine ersten Einblicke in die spirituelle Astrologie. Ich ließ mich von ihm faszinieren, und ich vertraute ihm. Wenn er von sich als »New-Age-Hippie« sprach, grinste er unwiderstehlich. Als er sich so sehr an meine Gesellschaft gewöhnt hatte, dass er anfing, anderen Frauen nachzupfeifen, ging ich. Nach außen hin war das die einfachste Sache der Welt – weggehen. Nicht zurückschauen. Ich bin ja so unabhängig. Doch in mir brodelte es.

Ein Männerpaar nahm mich im Auto mit über die Grenze nach Costa Rica. Sie sprachen Deutsch, einer von ihnen hatte eine Weile in Frankfurt studiert, sein Bruder war kurz vorher vom Somoza-Regime hingerichtet worden. Leid und Unheil, so nah. Um mein Visum für Venezuela zu beantragen, musste ich in die Hauptstadt.

Eine Woche wartete ich auf den Termin bei der Einwanderungsbehörde. Eben noch hatte ich es genossen, meine Zeit allein zu verbringen. Jetzt vermied ich es. Tagsüber schloss ich mich einer Gruppe von Freunden aus Toronto an, spätabends setzte ich mich zum Nachtportier des Hotels, unterhielt mich mit ihm und redete mich dabei – das weiß ich heute – zunehmend um Kopf und Kragen. Jede Nacht aufs Neue versuchte ich ihn aus der Reserve zu locken, prahlte, seine Gedanken lesen zu können, und fiel ihm damit bis in den Morgen auf die Nerven. Als ich endlich bei der Behörde vorsprach, war ich so überdreht oder high, dass ich mich im Ton vergriff. Du hältst mich wohl für eine komische gringa, die gerade ausflippt, unterstellte ich dem Beamten. Mehr weiß ich nicht mehr. Jedenfalls reichte es für meine Verhaftung. Ich wurde in eine Gefängniszelle gebracht, ohne Stuhl, ohne Bett, nur ein Holzbalken, den ich wütend gegen die Wand schleuderte. Ich hatte doch kein Gesetz übertreten und fühlte mich als Opfer der Willkür. In meiner Panik schrie ich und wehrte mich gegen die Beamten. Die Antwort kam am nächsten Morgen, als man mich aus dem Gefängnis in die Psychiatrie überstellte. Es war der 21. März 1977.

 

Schizophrene Episode. Erst hielt ich die Diagnose für eine Verwechslung, dann für eine Verschwörung, dann für Verrat. Ich hatte Hannah Greens I Never Promised You a Rosegarden gelesen und wusste Bescheid über Psychosen und Stimmen aus der Tiefe der Hölle. Ich war nicht krank! Wer mich ausschalten wollte, hatte sich geirrt. Ich war in Kampfstimmung. Mehrere Pfleger halfen zusammen, um mich ans Bett zu binden.

Als ich, warum auch immer, mit einer anderen Patientin aneinandergeriet, drohte man mir mit Elektroschocks. Ich wehrte mich sehr. Umso überzeugter war man, mich dazu nötigen zu müssen. In zwei Mal dreißig Sekunden zerstörte man nicht nur meine Erinnerungen, sondern auch meine Lebensfreude.

1946

Er hat sich vergiftet! Weißt du’s schon? Er hat sich vergiftet!« Die Mitschülerinnen scharten sich um sie, als Roswitha an jenem Oktobermorgen ins Klassenzimmer kam. Sie ließ den Ansturm über sich ergehen. Ihre Vermieterin hatte ihr schon beim Frühstück vom Coup ihres Onkels erzählt. Natürlich war sie erleichtert. Erleichtert, stolz und, so sagt sie, »einfach glücklich«. Wie die anderen Mädchen empfanden? Er war doch beim Volk beliebt.8

Roswitha Hueber war fünfzehn, als Hermann Göring sich in der Nacht vor seiner geplanten Hinrichtung durch den Strang das Leben nahm. Ende April 1945 habe sie ihren Onkel zuletzt gesehen, erzählt sie – wortkarg und widerwillig. Viel mehr kann ich ihr dazu nicht entlocken. Anhand, wen wundert es, sich teils widersprechender Überlieferungen habe ich deshalb zu rekonstruieren versucht, was ihr und den anderen Familienmitgliedern in diesen letzten Kriegsmonaten und ersten Nachkriegstagen widerfahren ist.

 

Auf Onkel Hermanns Anweisung hatte Roswitha den Waldhof in der Schorfheide bereits gegen Ende Januar 1945 verlassen. Ob sie ahnte, dass der Abschied endgültig war? Zusammen mit ihrer Mutter Paula, Hermanns treu ergebener Lieblingsschwester, vermutlich auch Tante Ole, die Hermann nicht minder ergeben, aber kritischer war, sowie Tante Emmy, Cousine Edda und einem Tross aus Freunden und Personal war sie per Auto nach Berlin und von dort mit dem Sonderzug nach Berchtesgaden gereist. (Tante Ole war es übrigens, die Roswitha gut zehn Jahre später dazu verdonnerte, meine Patentante zu werden – eine dieser gut gemeinten Maßnahmen, zusammenzuhalten, was vom einst so eng verbundenen Göring-Clan noch übrig war.)

Sie hätten alle Menschen mitgenommen, die in Richtung München wollten, schrieb Emmy Göring später über die Reise im überfüllten Zug, und unterwegs mehrere Umwege nehmen müssen, um Bombenangriffen zu entgehen.9 In Hermanns »Alpenhaus«10 auf dem Obersalzberg fühlten sie sich vorerst sicher.

An den Osterfeiertagen, die 1945 auf das erste Aprilwochenende fielen, hatte der Onkel überraschend bei seiner Familie vorbeigeschaut und war gleich darauf wieder nach Berlin und Carinhall zurückgekehrt. Der entscheidende Angriff der Roten Armee auf die Hauptstadt lief bereits, als er Adolf Hitler am 20. April seine Geburtstagswünsche überbrachte. Ihr letztes Zusammentreffen. Noch in derselben Nacht war er schließlich im Automobil in Richtung Obersalzberg aufgebrochen, und wenn man den Tagebucheinträgen seines Adjutanten glauben darf, war er unterwegs auf Menschen getroffen, die ihn »umringten« und »begeistert begrüßten«.11

Dann überschlugen sich die Ereignisse. Die Bombenangriffe der Royal Air Force vom 25. April 1945 auf die Gegend von Bad Reichenhall bis Berchtesgaden, bei denen auf dem Obersalzberg neben dem Führerhauptquartier auch das Alpenhaus zerstört wurde, hatten Roswitha, Paula und Ole, wie Hermann, in einer Art Luftschutzbunker abgewartet. Danach waren sie alle zusammen zu Hermanns etwa einhundert Kilometer entfernter Burg Mauterndorf im Salzburger Lungau gefahren, besser gesagt vom Sicherheitsdienst dorthin verbracht worden; denn bekanntlich war Hermann, nachdem er bei seiner Ankunft auf dem Obersalzberg versucht hatte, sich mit einem Telegramm nach Berlin als Hitlers Nachfolger zu installieren, aller seiner Ämter enthoben, stand unter Arrest und sollte als Verräter hingerichtet werden. Fünfzig Mann einer SS-Einheit bewachten ihn.12

Wenige Tage später, am 3. Mai, traf »überraschend noch Hueber auf dem Weg nach M. ein, um seine Frau und Tochter zu holen«, notierte Görings Adjutant.13 Spätestens dann müssen Roswitha und Paula also von Hermann Abschied genommen haben. Am 7. Mai, als der Onkel sich aus Furcht vor den Russen und weil er in seinem offensichtlich getrübten Realitätsbewusstsein überzeugt war, mit General Dwight Eisenhower über eine Neubildung der Regierung verhandeln zu können, in der Nähe der Burg von einer amerikanischen Infanteriedivision gefangen nehmen ließ, waren Roswitha, Paula und Franz Hueber bereits daheim. Daheim, das ist bis heute jenes ländliche Haus aus dem 16. Jahrhundert, das der gebürtige Oberösterreicher Franz Hueber 1927 erwarb, nachdem er entschieden hatte, sich in der Gemeinde Mattsee, einem Sommerfrischeort im Salzburgischen, als Notar niederzulassen. Der Ort rühmte sich schon damals als »judenrein«. Seit Anfang der 1920er-Jahre hatte man jüdische Gäste mit wüsten Drohungen und Denunziationen konsequent von dort vertrieben.14

Seit Kriegsende bemühte Paula sich, Ruhe und Regelmäßigkeit in Roswithas Leben einkehren zu lassen. Nach den Jahren, in denen Mutter und Tochter auf Zuruf von Onkel Hermann ein Pendlerleben zwischen Mattsee, Franz Huebers Dienstvilla in Berlin-Wannsee, der Schorfheide, dem Obersalzberg geführt hatten, das Mädchen nur sporadisch zur Schule gegangen und zwischendurch auch einmal von einem Privatlehrer unterrichtet worden war, besuchte Roswitha nun ein Gymnasium in Salzburg. Weil die zwanzig Kilometer von Mattsee in jener Zeit zu weit waren, um täglich hin und her zu fahren, wohnte sie zur Untermiete in der Stadt, die Mutter sah sie an den Wochenenden und in den Ferien, der Vater war – offenbar in Roswithas Beisein – verhaftet worden und wartete auf seinen Prozess. Zuletzt war der Jurist, der seinem Schwager Hermann all die Jahre zugearbeitet und von 1940 bis 1942 Kriegsdienst bei einer Flakabteilung geleistet hatte, Präsident des Reichsverwaltungsgerichts in Berlin gewesen.

Paula hoffte auf die Begnadigung des Ehemanns, wie sie offenbar auch auf ein mildes Urteil für ihren Bruder Hermann hoffte. Nicht so Roswitha. Ihr, sagt sie, sei von Anfang an klar gewesen, dass man den »War Criminal Number 1« nicht am Leben lassen würde. Davon, so kann sie sich erinnern, sprach sie sogar in einem ihrer Briefe, die sie dem Onkel nach Nürnberg schicken durfte. Als Emmy und Paula, eine nach der anderen, ihn am Tag vor der Urteilsverkündung besuchten, kam er darauf zu sprechen. Die Einzige in der Familie, die wirklich weiß, was los ist, soll er kommentiert haben, ist Roswitha.

»Es kann kein mildernder Umstand angeführt werden … Diese Schuld ist einmalig in ihrer Ungeheuerlichkeit. Für diesen Mann lässt sich in dem gesamten Material keine Entschuldigung finden … Urteil: Tod durch den Strang«, heißt es im offiziellen Urteilsprotokoll.15 Wie Hermann Göring selbst auf den Urteilsspruch reagierte? Der »Ratgeber, tatkräftige Handlanger Hitlers und einer der allerersten Führer der Nazi-Bewegung« sei gewankt. Das Entsetzen sei ihm im Gesicht gestanden. Am Abend »lag er vollkommen erschöpft auf der Pritsche und wurde immer weniger«.16

Nun hatte er schwarz auf weiß, was er erwartet hatte. »Wenn Du diesen Brief lesen wirst, dann ist schon alles vorüber und ich habe die letzte, ewige Ruhe«, so hatte er im November 1945, unmittelbar vor dem Beginn der Nürnberger Prozesse, seinen mehrseitigen Abschiedsbrief an Emmy begonnen.17 Offenbar hatte er zu diesem Zeitpunkt mit einem schnellen Verfahren und einem schnellen Ende gerechnet.

Ein knappes Jahr später, beim Wiedersehen mit Emmy und Paula, soll er die beiden Frauen gebeten haben, sich keine Hoffnungen mehr zu machen.18 Ein Schuldgeständnis war das natürlich nicht. Im Gegenteil: Hermann Göring bereute nichts, sah keinen Anlass dazu. »Wir sollen aller Welt als gemeine Verbrecher gezeigt werden. Das mag zurzeit möglich sein, […], aber einst wird die Geschichte auch dieses Gerichtsurteil kassieren und die absolute Wahrheit wird kommen«, heißt es in seinem Brief vom November 1945; und bei dieser Meinung blieb er. Der amerikanische Gefängnispsychologe Gustave Mark Gilbert, der ihn das Prozessjahr hindurch begleitete und ihn »trotz seines aktiven, aggressiven Charakters« für einen »moralischen Feigling« hielt, der »die Gräueltaten mit Drogen aus [seinem] Bewusstsein zu verbannen suchte«, ordnete diese »absolute Wahrheit« so ein: »Göring starb so, wie er gelebt hatte, als ein Psychopath, der versuchte, alle humanen Werte zu verspotten und seine Schuld durch dramatische Gesten zu vertuschen.«19 Seinen sorgsam geplanten Selbstmord – »Auf etwas kannst du dich felsenfest verlassen: Sie hängen mich nicht«20 – empfanden die Familienmitglieder, ebenso wie er selbst, allerdings weniger als dramatische Geste denn als Triumph über die Richter.

Dass er abstritt, in die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes verwickelt gewesen zu sein, dass er sogar vorgab, nichts davon gewusst zu haben, hat mich mein Leben lang empört. Vielleicht noch mehr hat mich aber belastet, wie seine Frau und seine Familie, auch meine Großmutti Ilse, auch mein Papa Heinz, zu ihm hielten, selbst dann noch, als sie es längst hätten besser wissen müssen. Heute kann ich es mir erklären; denn neben seiner unverzeihlichen Skrupellosigkeit standen ganz offensichtlich die sentimentalen und geradezu aufopfernd fürsorglichen, liebevollen Wesenszüge, mit denen er die ihm nahestehenden Menschen an sich band. Seinen engsten Verwandten vermittelte er in überschwänglichen Worten und großzügigen Taten, wie wichtig sie ihm waren. »Was ich Dir an Liebe, an guten Gedanken und an Sehnen senden kann, wirst Du fühlen«, verabschiedete er sich von Emmy. »Er hat mich halt sehr verwöhnt und sehr geliebt«, sagt Roswitha. Schöne Erinnerungen. Darauf beharrt sie.

Anders als etwa Joseph Goebbels dachte Hermann Göring offenbar nie daran, gemeinsam mit Frau und Kind in den Tod zu gehen, als der Untergang sich abzeichnete. Ich habe das immer als ein Zeichen seiner Gesinnungslosigkeit verstanden. Letztlich galt seine Loyalität weder Hitler noch Deutschland, er war vernarrt in Macht und persönlichen Reichtum.21 In der Haft beschäftigte ihn, wie es nach seinem Tod mit seinen beiden Liebsten weitergehen sollte. »Es gibt vielleicht folgende Möglichkeiten für Euch«, schrieb er. »Das Leben auf Veldenstein, falls man Dir die Burg belässt. Dein kleines Haus in Wenningstedt, […] Die Auswanderung nach Schweden, falls sie Euch erlaubt wird. Die schwedische Regierung weiß, dass sie mir viel Dank schuldet und dass ich alles getan habe, dass dieses Land nicht in die Kriegsfurie hineingezogen wurde. Sie müsste eigentlich Eure Aufnahme bewilligen. Aber niemals dürft Ihr dabei durch Gebiet fahren, das von den Russen besetzt ist, sondern über England. […] – Niemals, Emmy, kannst Du mit Edda dort leben, wo russischer oder auch deutscher Bolschewismus herrscht. Das wäre für Euch schlimmer als das Ende.«22

Tatsächlich hatten Emmy und Edda sich nach Hermann Görings Verhaftung zur inzwischen leer geplünderten Burg Veldenstein bringen lassen. An die fünf Monate standen sie dort – bewacht von amerikanischen Soldaten – unter Hausarrest, dann wurde Emmy ins Zuchthaus Straubing überstellt. Bis sie durchsetzen konnte, dass ihre Tochter an ihrer Seite in Haft leben durfte, wurde Edda von einer Bauernfamilie versorgt. Nach ihrer Entlassung Mitte 1946 führte ihre Suche nach einer Unterkunft die beiden wieder in die Nähe von Veldenstein. Sie durften jedoch nicht, wie von Hermann ersonnen, in seiner Burg wohnen, sondern kamen in einer seiner ehemaligen Dienst- und Jagdhütten in der Einöde von Sackdilling unter, einem kleinen Haus mitten im Wald. Dass es – immerhin – gemauert war, betonten Freunde wie Feinde.

 

Und wo erfuhr meine Großmutter Ilse vom Selbstmord ihres Onkels und Schwagers?

Die letzten Kriegstage und die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht hatte sie als Schwesternhelferin des Deutschen Roten Kreuzes in Lübeck erlebt. Neben dem DRK-Krankenhaus waren dort seit 1944 zahlreiche Notlazarette in Schulen und Pensionen für die aus allen Richtungen in die Stadt strömenden Lazaretteinheiten eingerichtet worden. Als ehemalige DRK-Generaloberin war sie vermutlich dorthin gegangen, wo ihre Hilfe besonders dringend gebraucht wurde. Und: Hauptsache weg aus Berlin! Ihre Grunewalder Villa hatte 1944 gebrannt und war seither nicht mehr bewohnbar.23

Wann sie die untergehende Stadt endgültig verlassen, ob ihr guter Onkel Hermann die Dinge ein letztes Mal für sie in die Hand genommen oder sie ihre Entscheidungen allein getroffen hatte – das kann ich nicht sagen. Jedenfalls war sie, nachdem sie den Dienst im Sommer 1945 quittiert hatte, im niedersächsischen Poggenhagen gelandet, damals ein Vorort von Neustadt am Rübenberge und – das dürfte bei ihrer Entscheidung eine wesentliche Rolle gespielt haben – in der britischen Besatzungszone gelegen. Hier wurde ihr, wie sie schrieb, »noch auf meine alten Tage eine regelrechte Lehre zuteil«.24

Mittlerweile achtundvierzig Jahre alt, lebte sie in »einem ganz kleinen Zimmerchen«25, als sie von Hermanns Tod erfuhr, und – »mit ihrer Energie ist sie ja zu bewundern«26 – hatte eine Lehre zur Schneiderin begonnen.

Wer ihr dort, im Raum Hannover, half? Eben noch im Göring’schen inner circle, war sie ohne Zweifel tief gefallen – und verlassen. »In der ganzen Zeit lebte ich gänzlich einsam«, schrieb sie später an Rudolf Diels.27 Ihr Ex-Mann, von dem sie 1944 nach anderthalb Jahren Ehe geschieden wurde, hielt sie auf Distanz. Ihre Söhne hatte sie verloren. Die beiden jüngeren, Peter und Helmuth, waren 1941 und 1944 ums Leben gekommen. Kampfflieger. Heldentod. Mein Vater Heinz galt als vermisst.

Ob sie in ihrer Not – die materielle und die seelische Not dürften einander die Waage gehalten haben – an die Zeit vor 1933 anzuknüpfen versuchte, als sie ausgerechnet in Poggenhagen ihren Neustart versuchte? Schließlich hatte sie mit ihrem ersten Mann Karl Ernst Göring bis zu dessen Tod im Oktober 1932 im nur etwa fünfundzwanzig Kilometer entfernten Hannover gelebt. Oder ob sie trotz allem die Nähe zu Diels suchte, wie einige Jahre später in Berghausen auch? Als ehemaliger Gestapo-Chef und Regierungspräsident erst von Köln, später von Hannover war er für die Briten ein interessanter Informant: Im Sommer 1945