Der Inselkönig - Hannes Nygaard - E-Book

Der Inselkönig E-Book

Hannes Nygaard

4,6

Beschreibung

Niemand ist traurig, als der "Inselkönig" Thies Nommensen tot aufgefunden wird: erfroren und mit herabgelassener Hose an einen Baum gebunden. Viele Föhrer haben unter seiner Machtbesessenheit und der Brutalität, mit der er Leben zerstörte, gelitten. Während eines heftigen Wintereinbruchs ist das Husumer Team auf der vom Festland abgeschnittenen Insel auf sich allein gestellt. Ohne technische Unterstützung gilt es, den Täter zu finden - und ein Motiv für den Mord hatten viele. Doch die Einheimischen hüllen sich in tiefes Schweigen, denn: Den "Erlöser" verrät man nicht ...

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Rainer Dissars-Nygaard, Jahrgang 1949, studierte Betriebswirtschaft und war als Unternehmensberater tätig. Er lebt als freier Autor auf der Insel Nordstrand. Im Emons Verlag erschienen unter dem Pseudonym Hannes Nygaard die Hinterm Deich Krimis »Tod in der Marsch«, »Vom Himmel hoch«, »Mordlicht«, »Tod an der Förde«, »Todeshaus am Deich«, »Küstenfilz«, »Todesküste«, »Tod am Kanal«, »Der Inselkönig«, »Der Tote vom Kliff«, »Sturmtief« sowie die Niedersachsen Krimis »Mord an der Leine« und »Niedersachsen Mafia«. In der Emons-TATORT-Reihe erschienen »Erntedank« und »Borowski und die einsamen Herzen«.

www.hannes-nygaard.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2009 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch, Berlin eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-038-4 Hinterm Deich Krimi 10 Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur EDITIO DIALOG,

Für Sabine, Walter und Christian

Reicher Mann und armer MannStanden da und sah’n sich an,Und der Arme sagte bleich:Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich.Bertolt Brecht

EINS

Die dunkle Wolkendecke hing drohend am Himmel. Es schien, als erdrücke sie alles, was sich im eiskalten Ostwind unter ihr duckte. Im Grau des vergehenden Tages zeichneten sich am Horizont schemenhaft die Warften der gegenüberliegenden Halligen ab. Wie an einer Perlenkette aufgereiht waren die Wohnstätten der Bewohner von Langeneß auszumachen. Im diesigen Dämmerlicht des Nachmittags waren die Häuser nur als mattgrauer Schattenriss zu erkennen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Dämmerung des unwirtlichen Februartages das gestreckte Eiland gänzlich verschlucken und erst am Folgetag wieder freigeben würde, wenn nicht Nebel oder Niederschlag die Sicht über das Wattenmeer behinderten.

Anna Bergmann zog den Kragen ihrer Winterjacke enger zusammen. Aus zusammengekniffenen Augen blickte sie über das Wasser.

»Brrr. Kalt ist es«, sagte sie und schüttelte sich. Dann legte sie den Kopf zurück und ließ ihn gegen Christophs sinken, der hinter ihr stand und sie mit beiden Armen umfasste.

»Das ist um diese Jahreszeit so«, sagte er und lächelte dabei.

»Ach du Schlauberger«, erwiderte Anna und fiel in sein leises Lachen ein.

Er zog sie an sich. »Trotzdem ist es ein unvergleichliches Erlebnis, einen Wintertag auf Föhr zu erleben. Die Stille, die klare Luft – man glaubt, die Zeit würde langsamer vergehen, und man tauscht Hektik gegen Leben.«

»Mein kleiner Philosoph.« Anna rieb vorsichtig ihren Hinterkopf an seiner Wange. »Wenn es nicht so kalt wäre, könnte ich dir zustimmen. Aber ein klarer Wintertag mit blauem Himmel und reiner Luft wäre mir jetzt lieber.«

»Das ist Kuschelwetter«, sagte Christoph. »Man atmet tief durch, trinkt einen Tee, und allein der Gedanke an das feuchtkalte Wetter lässt die Menschen enger zusammenrücken.«

Anna drehte sich zu ihm um und gab ihm einen Kuss. »Das würde mir aber nicht gefallen … Ich meine, wenn du an diesem Näherrücken beteiligt wärst.«

Er ließ seine Arme sinken. »So?«, fragte er spöttisch. »Soll ich dich loslassen?«

Sie drängte sich an ihn. »Nein, Herr Hauptkommissar. So war das nicht gemeint.«

»Erster Hauptkommissar«, sagte Christoph betont. »Aber das bin ich erst ab morgen wieder.«

Anna löste sich vorsichtig aus seiner Umarmung. »Ich möchte zurück zum Auto«, sagte sie. »Es sieht nach Schnee aus.«

Christoph lachte. »Wie kommst du darauf? Orakelst du auch, wenn Patienten zu euch in die Praxis kommen und über unklare Beschwerden klagen?«

»Du bist doof. Spürst du das nicht? Die Schneeluft?«

»Frauen und ihre Gefühle. Ich dachte, du bist noch Lichtjahre davon entfernt, wetterfühlig zu werden.«

Sie knuffte ihm zart mit der geballten Faust in die Seite. »Frauen sind eben sensibler als Männer.«

Christoph lächelte sie an. »Ich liebe deine Sensibilität, besonders wenn wir allein sind.«

Sie standen eine Weile schweigend da, als Anna plötzlich »Hah« sagte und sich mit dem Zeigefinger über die Nasenspitze fuhr.

»Was möchtest du damit kundtun?«, fragte Christoph gegen den Wind, der noch mehr aufgefrischt hatte.

»Das war die erste Schneeflocke.«

»Ich spüre nichts«, erwiderte er und vermied es, sich eine Reaktion anmerken zu lassen, als auch er die erste Flocke auf seiner Stirn spürte.

Sie gingen langsam Richtung Parkplatz, auf dem ein paar Fahrzeuge auf die Ankunft der Fähre warteten, die sie zurück zum Festland bringen sollte. Auch Christophs schwarzer Volvo Kombi stand dort. Er warf einen Blick auf das Wasser. Es war noch eine gute Stunde Zeit, bis das Schiff um halb fünf an der Brücke 1 in Wyk ablegen würde, um sie nach Dagebüll zu bringen. Von dort war es eine Dreiviertelstunde bis zu ihrer Wohnung, in der sie seit einem halben Jahr gemeinsam lebten.

»Ob es wieder die ›Nordfriesland‹ ist?«, fragte Anna.

»Es ist doch gleich, mit welcher Fähre wir fahren«, antwortete Christoph eine Spur geistesabwesend. In Gedanken war er jetzt bei dem Fall, der ihn auf die Insel geführt hatte.

Ein junger Mann hatte die scheinbare Abgeschiedenheit Föhrs genutzt und sich eifrig als Produzent von Musik- und Filmdatenträgern betätigt. Auch als Versender von Unterhaltungsangeboten im Internet hatte er sich schnell einen guten Namen gemacht. Seine Kunden schätzen nicht nur die Zuverlässigkeit, sondern auch das preiswerte Angebot. Leider waren die Produkte, die er anbot, ausnahmslos Raubkopien.

Christoph hatte sich des Falls angenommen, der von seinen Mitarbeitern gründlich vorbereitet worden war, und war am Sonnabend nach Föhr gereist. Mit Unterstützung der Beamten der einheimischen Polizeizentralstation hatten sie das Fälschernest ausgehoben und die Beweise sichergestellt. Der junge Mann hatte sich reuig gezeigt und ein umfangreiches Geständnis abgelegt. Es war ein Routinefall, der für die Kriminalpolizeistelle in der Husumer Polizeidirektion nichts Spektakuläres bedeutete und, abgesehen von der üblichen administrativen Nachbearbeitung, abgeschlossen war.

Christoph hatte zwei dienstfreie Tage genutzt, um mit Anna ein paar ruhige Stunden auf Föhr zu verbringen. Morgen würde er am Husumer Schreibtisch wieder seiner Tätigkeit als Leiter der Kriminalpolizei nachgehen, und Anna würde sich der Sorgen kranker Mitbürger annehmen, die ihr in der Praxis von Dr. Hinrichsen im Husumer Schlossgang vorgetragen wurden. Morgen war wieder Alltag, auch wenn das trübe Wetter den Abschied vom Kurzurlaub nicht schwerfallen ließ.

Christoph hatte die Fahrzeugtüren entriegelt, die Beifahrerseite geöffnet und Anna einsteigen lassen. Nachdem er selbst hinterm Steuer Platz genommen hatte, zeigte Anna zum Himmel.

»Ob das liegen bleibt?«

»Doch nicht bei uns. Wann hast du das letzte Mal Schnee gesehen in Nordfriesland? Durch die gespeicherte Wärme des Wassers kann die Luft gar nicht so weit abkühlen, dass der Niederschlag als Schnee fällt, geschweige denn liegen bleibt.«

Anna kuschelte sich in ihre Winterjacke. »Es ist dumm, dass dein Auto keine Standheizung hat.«

Christoph stöhnte theatralisch auf. »In unserer gemäßigten Klimazone sind solche Extravaganzen Luxus. So üppig werden die Staatsdiener nicht besoldet, dass sie sich jedes verfügbare Extra leisten können.«

»Nun stöhne nicht«, erwiderte sie. »Außerdem kommt dein Auto aus Schweden. Da müssten Standheizungen doch serienmäßig eingebaut sein.«

»Frauen und Technik … Ich habe dir bereits erklärt, dass hier kein Schnee liegen bleibt.«

»Sooo?«, fragte Anna spitz. »Und was ist das?« Sie nickte mit dem Kopf zur Frontscheibe, über die mit schabendem Quietschen die Gummis der Scheibenwischer kratzten, nachdem Christoph die Zündung angeschaltet und den Hebel am Lenkrad kurz angetippt hatte.

»Konzentriere du dich auf das Wesentliche«, sagte er lachend, »und sammle vor allem keine Indizien, die du gegen mich verwenden könntest.«

»Dann ist das da draußen nur ein Luftschloss? Ein weißes Phantasiegebilde?«

Christoph sah aus dem Fenster. Die Hallig war schon lange ihrem Blick entschwunden. Jetzt sah man auch vom Wasser hinter der Verladebrücke nur noch eine weiße Wand. Die großen Lampen auf dem Parkplatz waren angegangen und beleuchteten das dichte Schneetreiben. Der kräftige Wind ließ die hohen Masten hin und her schwanken. Die Böen rüttelten am Fahrzeug, und das Heulen des Windes, der sich an den Kanten und Ecken des Volvos fing, klang wie ein mystisches und anheimelndes Lied zugleich.

Christoph sah den Flocken hinterher, die wild über das Pflaster des Parkplatzes tanzten. Er summte leise die ersten Takte des Säbeltanzes, bis Anna ihn fragend ansah. Dann zeigte er nach draußen. »Die Flocken tanzen wie die Derwische im Wind. Diese Rauheit der Natur ist doch ein unbeschreibliches Geschenk, das wir zum Glück noch nicht beeinflussen können.«

Anna zog demonstrativ den Kragen ihrer Jacke noch weiter zu. »Brrr«, sagte sie überbetont. »Ich kann diesem Geschenk nichts abgewinnen. Das ist eher ein Dänengeschenk.«

»Danaergeschenk«, korrigierte sie Christoph. »Das ist eine Gabe, die sich für den Empfänger als unheilvoll erweist. Das bekannteste Beispiel ist das Trojanische Pferd.«

»Nun sei nicht so kleinlich.«

»Die Dänen, denen du so etwas in die Schuhe schieben möchtest, sind doch liebenswerte Nachbarn, fern jeder Bösartigkeit.«

Anna schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Und wenn sie uns nun diesen Schnee schicken?«

»Der kommt aus dem Osten.«

»Wie willst du das erkennen?« Sie zeigte zur Seite, nachdem sich auf der Frontscheibe schon wieder eine Schneeschicht gebildet hatte. »Im Augenblick kommt das weiße Zeug von überall her.«

Christoph musste ihr recht geben. Tatsächlich wirbelte der Wind die Schneewand so durcheinander, dass es unmöglich war, eine Richtung zu bestimmen. Christoph sah auf die Uhr. »Noch eine Viertelstunde. Dann sind wir auf der Fähre und dampfen Richtung Heimat.«

»Die müsste doch schon da sein«, sagte Anna. »Weshalb hat die Verspätung?«

»Weil der Kapitän bei der schlechten Sicht seinen Bootsmann mit einem Ruderboot vorwegschickt, sozusagen als Pfadfinder. Und der ist nun einmal nicht so schnell.«

»Ich glaube, ich verzichte auf deine Erläuterungen. Jetzt wird es aber wirklich kalt.« Sie zog den Kopf zwischen die Schulterblätter.

Christoph hatte das Gebläse angeschaltet, weil die feuchte Atemluft sich auf den Innenseiten der Scheiben niederschlug und ihnen die Sicht nahm.

»Wir haben zwei Grad minus«, erklärte er, nachdem er einen Blick auf das Thermometer seines Bordcomputers geworfen hatte.

»Dazu brauche ich nicht so ein Ding. Das hätte ich dir auch so sagen können.«

Christoph nahm sie in den Arm und rieb ihre Winterjacke. »In ein paar Minuten bekommst du auf der Fähre einen heißen Tee. Dann ist alles vergessen.«

»Tee? Ich werde mindestens zwei Pharisäer trinken.«

»Sieben«, korrigierte Christoph sie. »Nach gutem Brauch bekommst du den siebten überall an der Küste umsonst.« Er sah an ihr vorbei. »Hoppla, was will der denn?«, fragte er.

»Wer?« Annas Stimme klang müde. Sie hatte sich an Christophs Schulter eingekuschelt.

»Der Streifenwagen.« Christoph sah dem grün-weiß lackierten VW Bulli nach, der langsam über den Parkplatz fuhr, als suche er etwas. Als das Fahrzeug neben Christophs Volvo stand, stoppte es, und der Beamte am Steuer stieg aus. Mit der linken Hand hielt er seine Mütze fest, die ihm sonst vom Kopf gerissen worden wäre. Er neigte seinen Oberkörper ein wenig, umrundete Christophs Kühlerhaube und kam zur Fahrertür.

»Herr Thomsen«, sagte Anna. »Was will der denn? Noch mal tschüss sagen?«

Christoph beugte sich über seine Sitzlehne und griff zum hinteren Türöffner. Hauptkommissar Hauke Thomsen, der Leiter der Polizeizentralstation auf Föhr, ließ sich in den Fond fallen, nahm seine Dienstmütze ab, wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht und sagte: »Das ist aber plötzlich gekommen. Damit hatte ich nicht gerechnet.«

»Es ist Winter«, erwiderte Christoph und erntete dafür einen spöttischen Blick von Anna.

»Ich habe gehört, dass die Schneefront von Osten kommt«, erklärte der Hauptkommissar. »An der Ostküste soll schon der Teufel los sein. Es werden die ersten Schneeverwehungen gemeldet. Das Zeug bläst mit Macht. So was hatten wir schon lange nicht mehr.«

»Man sollte sich nicht voreilig erschrecken lassen«, wiegelte Christoph ab. »Wollten Sie uns warnen? Das ist aber nett. Trotzdem hätten Sie sich deshalb nicht herbemühen müssen.«

»Das ist es auch nicht. Wir haben da etwas Merkwürdiges hereinbekommen. Eine Vermisstenmeldung.« Hauptkommissar Thomsen sah erst Christoph, dann Anna an. Er hatte eine Augenbraue fragend in die Höhe gezogen, als er sich wieder Christoph zuwandte.

»Wenn es etwas geheimnisvolles Dienstliches sein sollte … Ich steige bei diesem Wetter nicht aus«, protestierte Anna vorbeugend.

Thomsen nickte. »Bei uns auf Föhr ist vieles anders als auf dem Festland. Allein durch die Insellage«, erklärte er beiläufig. »Wir beschäftigen uns hier mit anderen Dingen als drüben. So gibt es bei uns auch selten bis gar nicht eine Vermisstenmeldung. Schön, es kommt mal vor, dass ein paar Tiere ausgebrochen sind. Aber Menschen … Manchmal melden sich besorgte Touristen, wenn ihre unbedarften Angehörigen nicht zur erwarteten Zeit vom Spaziergang aus dem Watt zurückgekehrt sind. Aber dies – das ist etwas anderes.«

»Ein Kind?«, mischte sich Anna ein. Besorgnis schwang in ihrer Stimme mit.

»Nein«, beruhigte Thomsen sie. »Ein Mann. Einheimischer.«

»Ist er krank? Dement? Gibt es andere Gründe, die seine Abwesenheit erklären könnten?«

Thomsen schüttelte den Kopf. Dabei verteilten sich kleine Wassertropfen, so als würde sich ein Hund nach dem Aufenthalt im Wasser schütteln. »Nichts trifft zu. Sie können zudem sicher sein, dass ich nicht um Ihren Rat gebeten hätte, wenn der Verdacht bestehen würde, der Vermisste sei geschäftlich oder privat auf dem Festland unterwegs oder habe sich womöglich bei irgendeinem Tête-à-Tête verzettelt. Obwohl es ihm zuzutrauen wäre«, schob Thomsen ein wenig leiser hinterher. »Es handelt sich um einen prominenten Insulaner. Man nennt ihn den ›Inselkönig‹.«

Christoph lachte laut auf. »Das klingt gewaltig. Die Insulaner sind doch stets sehr selbstbewusst und stolz gewesen und haben sich erfolgreich gegen jede Fremdbestimmung zur Wehr gesetzt.«

»Das mag zutreffen«, stöhnte Hauptkommissar Thomsen. »Bis er kam: Thies Nommensen.«

»Was zeichnet den Mann aus?«

»Nommensen ist zweiundsechzig, verheiratet, eine Tochter. Es geschieht praktisch nichts auf Föhr, in dem er nicht seine Finger hat. Wenn ein größeres Bauvorhaben geplant ist … Nommensen versteht es, das Projekt an sich zu ziehen. Er bestimmt, wem Kredit gewährt und wer ins Abseits gestellt wird. Er … Es würde zu weit führen. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man Vergleiche mit alten Western ziehen. Dort trifft man auch häufig den Herrscher der Stadt an, nach dessen Pfeife getanzt wird.«

»Na … na«, sagte Christoph mit spöttischem Unterton. »Auf Föhr wird doch nicht der Sheriff gekauft sein? Ich glaube eigentlich, mich gut in Nordfriesland auszukennen, auch auf den Inseln und Halligen. Aber von Thies Nommensen oder einem ›Inselkönig‹ habe ich noch nie etwas gehört.«

»Daran sehen Sie, wie geschickt der Mann seine Fäden zu spinnen versteht. Den Gästen und Besuchern wird er unbekannt sein, und vielen Föhringern sagt der Name auch nichts, zumindest nicht in Verbindung mit den Dingen, die hinter den Kulissen geschehen.«

Christoph lehnte sich entspannt zurück. »Erzählen Sie«, forderte er Thomsen auf.

»Nommensen hat definitiv die Insel nicht verlassen. Das geht nur mit der Fähre oder dem Flugzeug. Beide Möglichkeiten haben wir überprüft. Nichts.« Der Hauptkommissar schüttelte zur Bestätigung seiner Feststellung den Kopf. »Der Mann ist auch nicht verunglückt und liegt in einem Krankenhaus. Das ist bei uns alles sehr familiär. Und auch die Variante, dass er unentdeckt in irgendeinem Graben liegt, scheidet aus. Nein! Nommensen ist verschwunden. Und seit heute Mittag liegt eine Vermisstenanzeige vor.«

»Wer hat die aufgegeben?«

»Seine Ehefrau, Telse Nommensen.«

Christoph umfasste mit beiden Händen das Lenkrad und stemmte sich ein wenig ab. »Das mag rätselhaft erscheinen, liegt aber für mich immer noch im Bereich der Routine.«

»Wir sind als Polizei auf einer Insel in vielen Fällen auf uns allein gestellt«, erwiderte Hauptkommissar Thomsen. »Damit können wir auch umgehen. Während auf dem Festland Unterstützung eines Fachkommissariats angefordert oder Hilfe von der Bereitschaft erbeten werden kann, müssen wir auf der Insel das Problem häufig selbst lösen. Das macht den besonderen Reiz unseres Dienstes aus. In diesem Fall würde ich aber gern auf Ihren Rat zurückgreifen, weil allein in der Person des Vermissten besondere Brisanz liegt.«

Christoph atmete tief durch. »Schön«, sagt er. »Dann werden wir eben die nächste Fähre nehmen.«

»Danke«, sagte Thomsen, setzte sich die Mütze auf und öffnete mit Mühe die hintere Wagentür, um sich zum Streifenwagen zurückzubegeben.

Christoph startete den Motor.

»Was soll das jetzt?«, protestierte Anna. »Die werden doch allein nach diesem Thies suchen. Und überhaupt: Inselkönig! Das klang sehr dramatisch. Es hört sich an, als wären die schon mit einfachen Dingen überfordert, die nicht in das Schema ihres Alltags passen.«

»Das ist ungerecht«, entgegnete Christoph. »Die Beamten auf den Inseln haben einen vielschichtigen und verantwortungsvollen Job. Sie sind Mädchen für alles. Und wenn er mich um Rat fragt, steckt mehr dahinter.«

»Und was ist mit mir?«

»Du wirst dich um ein wenig Geduld bemühen. Wie oft warte ich auf dich, weil dich Doktor Hinrichsen nicht aus der Praxis lässt. Hast du gezählt, wie häufig du mich versetzt hast, wenn wir in der Mittagspause in Jacquelines Café oder bei Schmidt verabredet waren?«

Christoph dachte an die Gelegenheiten, bei denen er allein in der obersten Etage des Husumer Kaufhauses nach Anna Ausschau gehalten hatte, dort, wo es zu jeder Tageszeit schwierig ist, einen freien Tisch zu bekommen, weil nicht nur Einheimische, sondern auch viele Gäste das umfangreiche Angebot des weit über die Grenzen Husums bekannten Restaurants zu schätzen wussten.

»Das ist etwas anderes«, protestierte Anna. »Wenn ich Überstunden mache, handelt es sich um Menschen, die Hilfe benötigen.«

»Und wann ruft man die Polizei?« Christoph lachte laut auf.

Anna zog einen Schmollmund. »Die Argumente zählen nicht«, erwiderte sie, und an der Art und Weise, wie sie es sagte, erkannte Christoph, dass ihr Widerstand erlahmte. Dafür zeigte sie mit dem Finger zur Verladebrücke, an der inzwischen die Fähre festgemacht hatte. »Ich hatte doch recht. Es ist die ›Nordfriesland‹.«

Christoph scherte aus der überschaubaren Warteschlange aus, wendete und fuhr langsam um das Hafenbecken herum, um Thomsen zum Polizeigebäude zu folgen, das auf der gegenüberliegenden Seite lag. Jetzt konnte man es allerdings nicht einmal erahnen, so dicht war das Schneetreiben. Auf der Fahrbahn hatte sich in kürzester Zeit ein weißer Belag gebildet, und Anna entfuhr ein erschrecktes »Huch!«, als Christoph das Gaspedal nur ein wenig zu viel antippte und der Wagen ein kleines Stück zur Seite wegrutschte.

»Bei den Kollegen bekommst du sicher einen heißen Kaffee«, versuchte Christoph sie zu trösten und täschelte ihre Wange.

»Halt bei diesem Wetter die Hände am Steuer«, sagte sie, neigte aber trotzdem ihren Kopf und klemmte seine Hand zwischen Kopf und Schulter ein. »Und mit einem Beamtenkaffee lasse ich mich nicht bestechen«, fügte sie hinzu.

Wenig später hielten sie vor dem schmucklosen Gebäude aus landestypischen roten Backsteinen. Die Polizeizentralstation war am Hafendeich untergebracht, direkt am Wasser und außendeichs. Bei Hochwasser lag das Dienstgebäude im ungeschützten Bereich. Deshalb befanden sich zu ebener Erde keine Fenster, sondern eine Treppe aus nacktem Sichtbeton führte in das Obergeschoss. Christoph nickte in Richtung des Amtsschildes am Haus, auf dem nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Friesisch zu lesen war, dass hier die Polizei residierte. »Die Zweisprachigkeit an Amtsgebäuden, Bahnhöfen und Ortsschildern gibt es nur in Nordfriesland«, erklärte Christoph gegen den Schneesturm. Er war sich nicht sicher, ob Anna es überhaupt gehört hatte. Wenn nicht der Wind seine Worte davongetragen hatte, dann konzentrierten sich Annas Gedanken nur auf einen heißen Kaffee.

Doch sie küsste ihn auf die Wange, bevor sie sagte: Nun höre auf, so belehrend zu sein. Natürlich weiß ich das. Schließlich lebe ich schon länger in Nordfriesland als du Kieler Sprotte.«

»Schön, dass Sie noch einen Blick auf die Angelegenheit werfen«, empfing sie Hauptkommissar Thomsen und berichtete von dem Fall, nachdem er heiße Getränke für seine Gäste beschafft hatte.

ZWEI

Hauptkommissar Thomsens Bitte um Unterstützung hatte Christophs Pläne durcheinandergeworfen. Sie hatten am Vortag die letzte Fähre verpasst und noch eine weitere Nacht auf Föhr zugebracht.

Der Raum war gemütlich eingerichtet. Kleine Tische mit akkurat ausgerichteten Decken und liebevollem Tischschmuck verliehen ihm das rechte Maß an Heimeligkeit, ohne spießig zu wirken. Lediglich die zahlreichen Accessoires an den Wänden, auf der Fensterbank und an weiteren sich bietenden Abstellmöglichkeiten, die auf eine ausgeprägte Vorliebe für Afrika schließen ließen, lenkten davon ab, dass man sich im Frühstücksraum eines Gästehauses auf Föhr befand.

Thomsens Erläuterungen hatten zu keinen weiteren Erkenntnissen geführt. Der »Inselkönig« war als vermisst gemeldet worden. Zum Zeitpunkt der Anzeige durch seine Ehefrau war er noch keine vierundzwanzig Stunden abgängig, wie es etwas umständlich heißt. Christoph hielt die Aufregung für übertrieben, auch wenn es sich um einen Mitbürger handelte, der offenbar intensiver im Fokus der Öffentlichkeit stand als andere. Thies Nommensen, so hatte Hauptkommissar Thomsen einräumen müssen, war kein Kind von Traurigkeit. Es war nicht auszuschließen, dass er sich irgendwo auf der Insel vergnügte und eine darüber erboste Ehefrau ihm mit einem Hauch von Boshaftigkeit die Polizei hinterherschickte.

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