Im Schatten der Loge - Hannes Nygaard - E-Book

Im Schatten der Loge E-Book

Hannes Nygaard

4,5

Beschreibung

Ein Thriller aus der faszinierenden Zeit der Freimaurerei. Ein Richter, Freimaurer und jüdischen Glaubens, wird auf Föhr rituell ermordet. Hat er Geheimnisse der Bruderschaft verraten? Oder hat ihn sein Amt das Leben gekostet? Lüder Lüders bekommt in diesem verzwickten Fall Unterstützung von den Kollegen aus Husum: Große Jäger und Cornilsen reisen an. Gemeinsam tauchen sie in ein Dickicht aus Verschwiegenheit, dunklen Machenschaften und Zeremonien.

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Hannes Nygaard ist das Pseudonym von Rainer Dissars-Nygaard. 1949 in Hamburg geboren, hat er sein halbes Leben in Schleswig-Holstein verbracht. Er studierte Betriebswirtschaft und war viele Jahre als Unternehmensberater tätig. Hannes Nygaard lebt auf der Insel Nordstrand.

www.hannes-nygaard.de

Jens Rusch ist 1950 in Norddeutschland geboren. 1994 wurde er als Freimaurer aufgenommen. Er ist bildender Künstler, Buchillustrator, Initiator der Benefiz-Veranstaltung »Wattolümpiade« und Gründer des Online-Lexikons »Freimaurer-Wiki«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog, Dr. Michael Wenzel (www.editio-dialog.com).

© 2017 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Regis Martin/Stockimo/Alamy

Umschlaggestaltung: Franziska Emons, Tobias Doetsch

Lektorat: Dr. Marion Heister

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-258-8

Hinterm Deich Krimi

Originalausgabe

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Für Birthe und Suse

Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen.

Albert Einstein

EINS

Am Tag zuvor hatten die Menschen den Spätherbsttag ausgenutzt und die Strandpromenade, aber auch den Strand selbst bevölkert. Am Sandwall, dem Hauptabschnitt der Kurpromenade, waren alle Plätze in den Außenbereichen der Cafés besetzt gewesen. Die Besucher hatten sich dort niedergelassen, genossen Kaffee und Kuchen und sahen den Vorbeischlendernden nach. Nicht selten hatte sich auch ein frisch gezapftes Bier dazwischengemogelt. Niemand war in Eile. Die Urlaubsgäste genossen das Nichtstun. Diese Muße strahlte auch auf die Einheimischen aus, die in den Geschäften und in der Gastronomie die Wünsche der Feriengäste erfüllten. Es war ein ruhiges und friedliches Miteinander. Föhr und seine Hauptstadt Wyk waren seit Langem ein Geheimtipp für Besucher, die die Ruhe schätzten, dabei aber auf viele Annehmlichkeiten eines gediegenen Badeortes nicht verzichten wollten.

Henrik Ostermeyer hatte vor vielen Jahren die Nase gerümpft, als seine Frau vorschlug, einen Teil des Jahresurlaubs hier zu verbringen. Der Ort schien ihm zu beschaulich. Aber gerade das machte den Reiz aus. Inzwischen war es keine Frage mehr, wohin die Reise im Herbst führen würde. Annelie verstand auch nicht, dass Henrik morgens früh aufstand, um am Wassersaum zu joggen.

»Das Hotel bietet Frühstück bis um halb elf«, hatte sie gesagt. »In Frankfurt müssen wir zu dieser Stunde am Schreibtisch sitzen. Und du? Weshalb kostest du es nicht aus? Der Strand läuft dir nicht weg.«

»Der Strand nicht, aber das Wasser«, hatte er geantwortet. »Man nennt es Ebbe und Flut.«

Annelie Ostermeyer hatte sich gähnend zur anderen Seite umgedreht. »Meine Motivation, aufzustehen, ist Ebbe. Ich flute jetzt noch einmal meinen Schlaftank.«

Schon vor Jahren waren sie vom Hotel in eine Ferienwohnung umgezogen. So war auch die vorgegebene Zeit für das Frühstück für Annelie kein Antrieb mehr, zeitig das Bett zu verlassen. Ostermeyer hingegen liebte das morgendliche Joggen am Strand. Nur wenige Leute waren unterwegs, suchten die Bäckereien auf oder führten ihre Hunde das erste Mal zum Gassigehen aus. Wenigstens im Urlaub wollte er sich von den Sünden eines Frankfurter Angestelltendaseins befreien und etwas für die Gesundheit tun. Das war er seiner Position als Abteilungsleiter einer Krankenkasse eigentlich schuldig. Aber zu Hause fand er immer wieder Ausreden, die ihn von einer ausgewogenen sportlichen Aktivität abhielten.

Er hatte die Ferienwohnung am Halligweg verlassen und war den menschenleeren Rebbelstieg am kleinen Krankenhaus vorbei bis zum Wellenbad Aquaföhr gelaufen. Dort bog er aus Gewohnheit Richtung Zentrum ab, warf nur einen schnellen Blick auf die Seeseite des großen Hotels und der wie angestückelt wirkenden Gebäude der Kurklinik. Nicht jedes Haus war eine architektonische Augenweide. Auf Höhe der Seglerbrücke verließ er die gepflasterte Promenade und wandte sich zum Meeressaum hinunter. Leise plätscherten die Ausläufer der Wellen an den Sandstrand. Es herrschte nur ein schwacher Wind. Er sah über die Schulter Richtung Nordsee. Ein leichter Dunstschleier lag über dem Wasser. Bald würde es sich vollends zu einem weiteren schönen Urlaubstag aufklaren. Gegen das Licht des aufgehenden Tages zeichneten sich die Häuser auf den Warften der Hallig Langeneß wie Schattenrisse ab. Es wirkte so, als würden sie auf dem Dunst schweben.

Ostermeyer begann zu schnaufen. Das Laufen strengte ihn an, obwohl er sich Mühe gab, die Luftnot und die Erschöpfungssymptome zu ignorieren. Er verringerte das ohnehin schon mäßige Tempo noch ein wenig und war froh, dass seine Frau ihn nicht beobachtete. »Das ist nur ein Pseudolaufen«, würde sie lästern.

Vor der Mittelbrücke, die etwa einhundert Meter ins Wasser hineinragte, würde er abbiegen und durch die Fußgängerzone den Bogen heimwärts schlagen. Sein Blick glitt an dem hölzernen Bauwerk entlang Richtung Meer. Die Pfeiler waren dem ständigen Wechsel von Ebbe und Flut ausgesetzt. Unverkennbar war, wie aggressiv das Salzwasser auf das Bauwerk einwirkte. Im unteren Bereich klebte Sand an den Trägern. Darüber schimmerte ein grüner Algenbelag. Ostermeyer ging gern auf die Brücke, besonders wenn das Wasser bei Flut die Illusion nährte, man würde über dem Meeresspiegel wandeln. Seine Frau weigerte sich, bei kräftigem Wind mit an die Spitze zu kommen. Dort führten ein paar Treppenstufen Richtung Wasser hinab, ohne ganz bis ins Watt zu reichen.

Ostermeyer stutzte. Inmitten des bizarren Gewirrs aus Pfeilern und Querstreben baumelte etwas von der Brücke herab. Ein Paket. Es pendelte kaum merklich im schwachen Wind hin und her. Immer wieder hörte man von der Verschmutzung der Weltmeere. Als er sich einmal näher mit dieser Problematik befasst hatte, war er sehr erschrocken gewesen. Es war unglaublich, was alles an den Stränden angespült wurde.

Er verringerte sein Lauftempo noch etwas mehr. Aus dem leichten Trab war jetzt ein Gehen geworden. Dann blieb er stehen und kniff die Augen zusammen. Irgendwelche Spaßvögel hatten sich offenbar einen makabren Scherz erlaubt und dort eine lebensgroße Puppe platziert. Seine Neugierde war geweckt. Er musste fast bis zur Promenade zurücklaufen, um die Treppe zu erklimmen und über die hölzernen Planken zum Brückenkopf zu laufen. Er spürte, wie seine Beine müde wurden, und schleppte sich fast schon ein wenig über die geriffelten Holzbretter mit den ausgeschlagenen Stellen an den Stoßkanten. Endlich hatte er die Plattform am Brückenkopf erreicht. Der knallrote Rettungsring war der einzige Farbtupfer im undefinierbaren Grau des verblichenen Holzes. Auf den Treppenstufen hatte sich eine dicke Algenschicht abgesetzt, die oberen Stufen waren mit Seetang bedeckt.

Ostermeyer blieb stehen, ließ den Oberkörper ein wenig nach vorn sinken und die Arme am Körper leicht auspendeln. Dann stützte er sich auf den angewinkelten Knien ab, hob den Kopf und suchte nach dem Gegenstand, den er vom Strand aus bemerkt hatte.

Erst auf den zweiten Blick gewahrte er die groben Profilsohlen der Schuhe, die ihm auf der untersten Stufe entgegenragten. Dann sah er Beine. Die Hosenumschläge waren schmutzig. Keine Jeans, stellte er im Unterbewusstsein fest. Die Schuhspitzen ragten zum Himmel. Die Schienbeine lagen oben. An den Knien knickte der Körper ab und hing kopfüber zum Wattboden hinab. Ostermeyer ging bis an das Ende der Seebrücke und beugte sich über das Geländer. Er schauderte. Da hing ein Mensch. Ein Mann. Bewegungslos. Er trug einen wetterfesten blauen Blouson mit dem Logo einer Edelmarke. Um seinen Hals baumelte ein etwa ein Meter langer Galgenstrick.

Ostermeyer holte mehrfach tief Luft. Er spürte, wie sein Kreislauf vibrierte. Immer wieder sah er auf das menschliche Paket, das kopfüber dort hing und Richtung See sah. Vermutlich. Zum Glück konnte Ostermeyer das Gesicht nicht erkennen. Er gab sich einen Ruck und rannte, so schnell es seine Kräfte zuließen, zur Promenade zurück.

Im letzten Moment bemerkte er den älteren Mann, der dort gemächlich entlangschritt. Ostermeyer ruderte wild mit den Armen, um eine Kollision zu vermeiden.

»Eh, was soll das?«, beklagte sich der Mann, als er ihn leicht touchierte.

»Sorry«, rief Ostermeyer atemlos und schaffte es knapp, vor dem Buchhändler zum Stehen zu kommen, der den nächsten Ständer mit Ansichtskarten vor die Tür seines Geschäfts rollte.

»Rufen Sie …«, setzte Ostermeyer an und verschluckte sich. »Rufen Sie die Polizei«, gelang es ihm im zweiten Versuch. Er streckte den Arm Richtung Wasser aus. »Dahinten. Da liegt jemand.«

»Bitte?« Der Buchhändler sah ihn ungläubig an.

»Dahinten. Brücke. Am Ende. Da hängt einer.«

»Nein?« Es war die typische Reaktion, wenn man mit einer unfassbaren Nachricht konfrontiert wurde.

»Doch. Wirklich.«

Der Buchhändler drehte sich um und ergriff das Telefon.

»Eh, hier Käpt’n Bu-Bu. Kommt mal vorbei. Da ist einer rein zu mir und sagt, am Strand –«

»An der Brücke«, fiel ihm Ostermeyer ins Wort.

»Auf der Mittelbrücke«, präzisierte der Buchhändler. »Da soll ein Mensch liegen.«

Er beendete das Gespräch, sah Ostermeyer an und sagte: »Sie kommen.«

ZWEI

Der VW-Passat war ein wenig zu schnell unterwegs gewesen. Sie waren am Ortseingang von Struckum von der Bundesstraße abgebogen und dem Flickenteppich von Straße durch die Reußenköge gefolgt, hatten den Fährhafen Schlüttsiel passiert und auf der Straße hinterm Deich schließlich Dagebüll erreicht. Die Ausfahrt aus dem Kreisverkehr bei Dagebüll nahm Mats Skov Cornilsen ein wenig zu scharf, sodass der Wagen ins Schlingern geriet. Cornilsen fing das Fahrzeug ab, konnte aber nicht verhindern, dass sein Beifahrer durchgeschüttelt wurde.

»He, Hosenmatz«, fluchte Oberkommissar Große Jäger. »Hast du deinen Führerschein bei Ebbe auf Hallig Hooge gemacht?«

»Nein, in Holland«, behauptete Cornilsen.

»Dann darfst du nur Autos mit gelbem Nummernschild fahren. Wer in Holland dreimal durch die Prüfung fällt, bekommt trotzdem einen Führerschein, darf aber nur Fahrzeuge mit gelbem Kennzeichen führen.«

»Die haben doch alle ein gelbes Nummernschild«, erwiderte Cornilsen.

»Eben.« Große Jäger reckte sich.

»So schlimm kann mein Fahrstil nicht sein. Du hast schon am Ortsausgangsschild von Husum geschnarcht.«

»Blödsinn.«

»Doch«, behauptete Cornilsen. »So heftig, dass ich das Martinshorn ausschalten konnte.« Er zeigte nach vorn. »Wir sind da.«

Am Kassenhäuschen zu den Fähren nach Föhr und Amrum entspann sich ein kurzer Dialog. Die Mitarbeiterin der Reederei bedauerte, dass das Schiff komplett ausgebucht sei. »Es ist eine Frachtfähre, die vorrangig für Versorgungs-Lkw reserviert ist«, erklärte die Angestellte. »Da kann ich nichts machen.«

»Polizei. Wir müssen dringend auf die Insel. Dienstlich.«

Die Frau zog eine Augenbraue in die Höhe. »Das kann jeder behaupten. Ich sagte doch, es geht nicht.«

Große Jäger beugte sich zur Fahrerseite hinüber. »Lassen Sie den Getränkelaster warten. Glauben Sie mir, wenn ich so einen Vorschlag mache, ist das wirklich wichtig.«

Jetzt lachte die Frau. Sie griff zum Telefon und gab durch, dass »da einer kommt, der wichtig ist«, ergänzt um das Kennzeichen.

Sie wurden auf dem Parkplatz unter dem Protest anderer Wartenden an der Schlange vorbeigelotst und vom Deckspersonal auf der Fähre »Uthlande« eingewiesen.

Die Überfahrt verbrachten die beiden Polizisten im Salon. Große Jäger schaffte es, zwei Becher Kaffee zu trinken, während Cornilsen sich an einer geliebten Cola gütlich tat.

Pricken markierten den engen Fahrweg. Die jungen Bäume wurden dem jeweiligen Verlauf der Fahrrinne folgend in den Meeresboden gesteckt. Am oberen Ende waren Reisigbündel festgebunden. Fremde wunderten sich über die altertümlich wirkende Methode. Tatsächlich gab es kaum eine andere Markierung, die so deutlich im Radar zu erkennen war.

»Weißt du, weshalb man hier Bäume gepflanzt hat?«, wollte Große Jäger von seinem Kollegen wissen.

Cornilsen versuchte, den Zweck der Pricken zu erklären, aber Große Jäger schüttelte nur den Kopf.

»Falsch. Die sind für die Seehunde gesetzt. Die brauchen schließlich auch Bäume.«

Die Fähre beschrieb einen Bogen um die Untiefen vor Föhr und fuhr dann an der Skyline Wyks entlang.

»Christoph, der Schöngeist, hätte jetzt angemerkt, dass sich die Bauten an der Wasserseite nicht harmonisch zeigen. Er hätte eine Vorermittlung gegen denjenigen gefordert, der sich von einfallslosen Architekten hat bestechen lassen und die hässlichen Betonklötze genehmigt hat.«

»Stimmt«, pflichtete Cornilsen bei. »Das hat Wyk nicht verdient.«

Die »Uthlande« lief den Wyker Hafen an und machte an der Brücke 1 fest.

Es entstand das übliche Gewusel bei Ankunft der Fähre. Wie überall auf der Welt hatten sich Schaulustige eingefunden, die sich der besonderen Atmosphäre beim Eintreffen eines Schiffes nicht entziehen konnten.

Die Decksleute der Fähre ließen sich nicht aus ihrer stoischen Ruhe bringen und winkten die Fahrzeuge nach ihrem Plan heraus. Vor den beiden Polizisten bemühte sich ein Milchtanklastzug die steile Rampe hinauf. Es war Ebbe. Rechts hinter ihnen lag der immer noch gut belegte Sportboothafen, halb rechts das Becken der Berufsschifffahrt. Die Dalben und die Kaimauer waren dick mit Tang besetzt. Gegenüber der »Alten Mole« lag ein kleiner Kutter tief unterhalb des Kais. Auf der anderen Hafenseite war die Polizeistation der Insel in einem unscheinbaren Ziegelgebäude untergebracht.

Der Parkplatz auf der linken Seite war fast voll. Große Jäger wunderte sich bei jedem Besuch, wie stark die Fähren nach Föhr und Amrum frequentiert wurden. Sie ließen den Parkplatz hinter sich und fuhren am modernen, auf einer Warft gelegenen Gebäude der Reederei vorbei.

Große Jäger zeigte auf die Stöpe, einen bei Hochwasser mit zwei Balkenlagen und dazwischengestopften Sandsäcken verschließbaren Deichdurchlass. »Da durch.«

»Das ist eine Einbahnstraße.«

»Du kannst ja die Polizei rufen«, erwiderte der Oberkommissar.

Cornilsen zuckte mit den Schultern und verließ die Hauptstraße. Er war gerade mit dem Passat durch die Stöpe geschlüpft, als ihnen ein Mercedes mit Berliner Kennzeichen entgegenkam.

Der Fahrer betätigte nachhaltig die Hupe und versuchte, Cornilsen die Weiterfahrt zu versperren. Er ließ das Fenster herab und brüllte: »Das ist eine Einbahnstraße, du Depp!«

»Das weiß ich«, erwiderte der junge Kommissar.

»Hast du nicht unser Kennzeichen gesehen?«, mischte sich Große Jäger ein. »Im Unterschied zu den Berliner Politikern denken wir in mehr als eine Richtung. Nun sieh zu, dass du zum Strand kommst, sonst sitzen dort die Walrösser aus der Nordsee.«

Der Berliner holte mehrfach tief Luft. »Ich werde …«, setzte er an.

»Zur Polizei gehen?«, riet Große Jäger. »Dann komm dahinten zur Seebrücke. Da ist die Polizei. Aber schön außen herumfahren, denn dies hier ist eine Einbahnstraße.« Er stieß Cornilsen in die Seite. »Los jetzt.«

Cornilsen grinste. »Na denn dann.«

Hinter dem Deich öffnete sich der Weg zu einem kopfsteingepflasterten Platz, der durch das Gebäude der Amtsverwaltung Föhr-Amrum begrenzt wurde. Auf dem Rand eines Brunnens tummelten sich zwei bronzene Seehunde.

Cornilsen ließ das Fahrzeug langsam durch die Fußgängerzone rollen, musste immer wieder stoppen, weil Passanten vor ihnen stehen blieben und ungläubig das Auto ansahen. Eine hölzerne Krippe, an deren Überbau mehrere eingeschweißte Schinken hingen, wies auf einen Hofladen hin.

Vor der Buchhandlung standen zwei Streifenwagen und der Mercedes Vito der Flensburger Spurensicherung. Cornilsen parkte den Passat hinter dem Vito. Sie waren noch nicht ausgestiegen, als sich ein Ring Neugieriger gebildet hatte.

»Was ist da los?«, wollte ein beleibter Mann wissen.

»Was sind das für Leute?«, fragte eine Frau mit einer bunten Strickmütze, die sich bei ihrem glatzköpfigen Begleiter untergehakt hatte.

Große Jäger machte eine Wischbewegung mit der Hand. »Lassen Sie uns bitte durch«, sagte er. »Wir haben Karten für die erste Reihe.« Er zeigte über die Schulter. »Gibt’s dahinten in der Kurverwaltung. Aber nur mit gültiger Kurkarte.«

Sie passierten den uniformierten Polizisten, der den Zugang zur Seebrücke absperrte, und gingen zum Brückenkopf. Dort wurden sie von einer kleinen Gruppe empfangen. Hauptkommissar Jürgensen, der Leiter der Spurensicherung, sah ihnen entgegen.

»Spät kommt ihr, aber ihr kommt. Der weite Weg entschuldigt euer Säumen«, empfing sie Jürgensen, der in einen weißen Schutzanzug gekleidet war. Auch die kaum sichtbaren Haarstoppeln waren unter der Kapuze verschwunden. »Das ist von Goethe«, fügte er an.

»Von Schiller«, korrigierte ihn Große Jäger. »Aber das macht nichts, Klaus. Du bist entschuldigt. Du kommst von der Ostküste.« Er drehte sich zu Cornilsen um. »Kennst du die beiden? Goethe und Schiller. Der eine ist Angreifer, der andere Rückraumspieler der Flensburger Handballer.« Dann sah er Jürgensen an. »Was haben wir denn, Klaus?«

»Blöde Frage.« Jürgensen zog hörbar die Nase hoch. »Wenn ich notgedrungen an die Westküste muss, handelt es sich um eine Leiche. Gibt es einen anderen Grund, hierherzukommen?«

»Christoph hat immer gesagt, ihr habt einen schweren Job.«

»Das ist zutreffend«, stöhnte Jürgensen. »Das Problem sind aber nicht die Toten, sondern die Fahrt hierher. Und außerdem … Wer sonst außer den Nordfriesen hängt jemanden mit dem Kopf nach unten und wartet darauf, dass die Flut kommt?«

»Mecker nicht rum. Wir lieben die Abwechslung. Hier gibt es Ebbe und Flut. Das haben die Täter ausgenutzt. Kennst du sie? Sie wollten extra für dich die Leiche durchspülen. Die wussten, dass du keine schmutzigen Toten magst.«

»Eins steht fest: Die Täter sind mit Sicherheit von der Westküste. Nur dort leben solche Barbaren. Der Tote hat einen Strick um den Hals. Als das Erhängen nicht geklappt hat, haben sie das Opfer ertränkt.« Jürgensen berichtete von der Auffindesituation.

Große Jäger strich sich mit einem vernehmlichen kratzenden Geräusch über die Bartstoppeln. »Merkwürdig.« Er sah sich um und bemerkte einen etwas abseitsstehenden Schutzpolizisten. »Moin, Thomsen.«

»Bist du nicht der Verrückte, der die Leiche von der Boldixumer Vogelkoje mit einem Radlader zum Krankenhaus gebracht hat?«, fragte Hauptkommissar Thomsen.

»Du meinst den Inselkönig. Das war, als wir meterhoch Schneeverwehungen hatten und es kein Durchkommen mit anderen Fahrzeugen gab«, erwiderte Große Jäger. Für einen kurzen Moment hielt er inne. »Der Verrückte war aber nicht ich. Das war mein Kollege Christoph.«

Hauptkommissar Thomsen zuckte mit den Schultern. »Von mir aus.« Plötzlich schien ihm doch noch etwas einzufallen.

»Richtig. Damals fuhr aufgrund der Witterungsverhältnisse keine Fähre. Das Krankenhaus wollte den Toten nicht annehmen. Ich erinnere mich. Da hast du den Leuten gedroht, du würdest die Leiche auf deinen Händen durch den Haupteingang hineinbringen.«

Cornilsen sah abwechselnd Große Jäger und den Inselpolizisten an. »Die Leiche insgesamt oder stückweise?«

»Im Unterschied zu dir, Hosenmatz, haben wir das Zerlegen den Rechtsmedizinern überlassen.« Große Jäger zeigte zur Strandpromenade. »Sieh man zu, dass du Zeugen findest. Der Häuptling der Inselsheriffs stellt dir dazu seine besten Leute ab.«

»Einen? Oder alle beide?«, antwortete Thomsen. »Wir haben bisher erst einen ernst zu nehmenden Zeugen gefunden. Ein Tourist, der beim Joggen die Leiche entdeckt hat. Das ist nicht viel.«

»Vielleicht hat irgendjemand beobachtet, wie das Opfer dorthin gebracht wurde. Es wird nicht allein auf die Seebrücke gelaufen sein.«

»Nachts ist hier nichts los. Wyk ist nicht Saint-Tropez mit lärmenden Strandpartys«, warf Thomsen ein.

»Ich tu das machen«, schaltete sich Cornilsen ein und deutete ein Salutieren in Große Jägers Richtung an. »Klar, Chef.«

Der Oberkommissar beugte sich über die Brüstung. »Das ist mit Sicherheit kein Unfall, sondern ein Gewaltverbrechen. Was soll der Galgenstrick um den Hals? Der Tampen ist viel zu kurz, als dass das Opfer erhängt werden sollte. Das sieht wie ein Symbol aus. Und dann wird er kopfüber ins Wasser gelassen.«

»Wir konnten noch keine Waschhautbildung feststellen«, sagte Jürgensen. »Dafür aber Spuren von feinblasigem Schaum vor der Atemöffnung. Das ist ein typisches Anzeichen von Ertrinken. Äußere Merkmale von Gewaltanwendungen haben wir nicht finden können. Aber das wird die Rechtsmedizin klären. Es geht bei uns nicht zu wie im Fernsehkrimi, wo der blöde Gehilfe der superschlauen Kommissare für Spurensicherung, Technik und Obduktion zuständig ist.« Dann wandte sich der Kriminaltechniker wieder ab.

»Hat man ihn ins Wasser gehängt oder bei Ebbe hinabgelassen? Das wäre teuflisch, wenn das Opfer dort bewegungslos baumelt und darauf warten muss, dass das Wasser steigt.«

»Wir haben hier normalerweise einen Tidenhub zwischen zwei Meter fünfzig und drei Metern«, erklärte Thomsen. »Das reicht, um jemanden hinabzuhängen und auf die Flut zu warten.«

»Verdammt«, fluchte Große Jäger. »Wann war Ebbe? Wann Flut?«

Thomsen sah auf die Uhr. »Jetzt ist es zwölf. Es ist auflaufendes Wasser. Niedrigwasser war gegen elf. Die letzte Flut demnach um etwa fünf Uhr früh. Der Jogger hat das Opfer gegen acht entdeckt.«

»Dann war das vorherige Niedrigwasser gegen dreiundzwanzig Uhr. Man hat ihn also irgendwann zwischen dreiundzwanzig Uhr und fünf Uhr früh hierhergebracht. Entweder haben die Täter Glück gehabt mit den Gezeiten, oder sie kannten sich damit aus und wussten, wann es am besten ist, das Opfer in diese Lage zu bringen.« Große Jäger kratzte sich nachdenklich die Bartstoppeln. »Wir müssen jetzt warten, bis die Rechtsmedizin uns sagt, woran er wirklich gestorben ist. Wie lange mag er kopfüber dort gehangen haben? Wie lange hält man es aus, kopfüber zu hängen und das Blut ins Gehirn steigen zu lassen? Ein nicht alltäglicher Mord. Und was, verflixt, sollen die Symbole uns sagen?« Er rief Jürgensen zu: »Klaus, habt ihr schon etwas gefunden?«

»Ja«, erwiderte der Hauptkommissar. »Die Beine waren mit einem Kunststofftau an der untersten Treppenstufe befestigt. Außerdem hat man dem Opfer eine Holzlatte unter den Anorak durchgesteckt. Dadurch konnte er den Rücken nicht durchbiegen und sich nicht durch Hin- und Herbewegen hochschaukeln. Auf dem Mund klebte ein handelsübliches Pflaster. Deshalb konnte er nicht um Hilfe rufen. Die Hände waren über dem Kopf am herausragenden Ende der Holzlatte festgebunden. Ebenfalls mit dem Seil, mit dem seine Füße gefesselt waren. Wir haben auch seinen Ausweis gefunden. Er heißt Ulrich von Herzberg, ist achtundfünfzig Jahre alt und wohnt in Uetersen.«

»Also kein Einheimischer, sondern ein Urlaubsgast.« Große Jäger wandte sich an Thomsen, der nickte und bestätigte, mitgehört zu haben.

»Ich werde mich umhören«, sagte er. »Wenn er Urlauber war, muss er irgendwo gewohnt haben.«

Große Jäger sah kurz auf. »Hosenmatz?«, fluchte er. »Alles muss man selbst machen.« Er zog sein Smartphone hervor und versuchte, eine Anfrage zu starten. Nach mehreren vergeblichen Anläufen gab er auf. »Scheißdinger. Wer hat diese blöden Touch-Tastaturen erfunden? Ein normaler Mensch kann dort doch gar nichts eingeben.«

Langsam ging er den Steg zurück zur Promenade und suchte die Buchhandlung auf. Dort traf er Cornilsen.

»Hast du Zeugen gefunden?«

»Keinen einzigen«, erwiderte Cornilsen. »Nur ein paar Spinner. Einer wollte wissen, ob es wahr ist, dass dort jemand ermordet wurde. ›Haben Sie etwas gesehen?‹, habe ich ihn gefragt. ›Nein‹, hat er geantwortet. ›Aber wenn Sie mir erzählen, was dort passiert ist … vielleicht kann ich Ihnen einen Rat erteilen.‹«

Thomsen trat zu ihnen. »Ich habe herausgefunden, wo von Herzberg auf Föhr gewohnt hat.« Er schien auf ein lobendes Wort von Große Jäger zu warten, aber der drängte nur: »Weiter.«

»Er wohnte bei einem privaten Vermieter in der Carl-Häberlin-Straße.« Thomsen streckte den Arm aus. »Das ist gleich dahinten.« Er nannte den Namen und die Hausnummer.

»Prima. Das ging ja fix«, sagte Große Jäger. »Dann werden wir uns dort einmal umsehen.«

Thomsen wollte losmarschieren, aber Große Jäger hielt ihn zurück. »Danke. Es reicht, wenn wir dort zu zweit aufkreuzen. Die Insulaner sind es ohnehin nicht gewohnt, mehr als einen Polizisten gleichzeitig zu erblicken. Dafür seid ihr viel zu dünn besetzt.«

Thomsen sah ihnen enttäuscht hinterher, als sie sich auf den Weg machten. Inzwischen hatte sich der Leichenfund herumgesprochen und war das beherrschende Thema in der Stadt. Sie entnahmen das den Gesprächsfetzen, die ihnen unterwegs zuflogen. Neugierige hatten die beiden Kripobeamten mit dem uniformierten Thomsen im Gespräch gesehen. Jetzt sahen sie ihnen hinterher.

»Was sind das für welche?«, hörten sie eine Frau fragen.

»Wichtigtuer«, erklärte ihr Begleiter. »Von der Kripo sind die nich. Die seh’n anders aus.«

»Woher willst das denn wissen, Rüdiger?«

»Von Fernseh’n. Musst mal hingucken, Isolde, wenn ›Tatort‹ läuft. Nich immer ’nen Kopf über die Häkelnadels halten.«

Die Carl-Häberlin-Straße war eher eine Gasse, die zwischen den beiden »Hauptstraßen« der Stadt von der Strandpromenade wegführte. In ihr gab es keine Geschäfte, sondern urige, gut erhaltene Häuschen. Jedes war sehenswert. Jedes sah anders aus. In zahlreichen Fenstern wiesen Schilder auf Ferienwohnungen hin, viele mit dem Zusatz »belegt«. Das traf auch auf das gepflegte Haus unter der genannten Adresse zu, vor dem Pflanzkübel standen. Eine weiß gestrichene Holzbank lud zum Verweilen ein.

Ein melodischer Gong ertönte, als sie den Messingknopf betätigten. Kurz darauf öffnete ihnen eine schlanke Frau, die ihre grauen Haare zu einem Dutt zusammengebunden hatte. Ihre Brille baumelte an einer goldfarbenen Kette vor der nur sehr schwach ausgeprägten weiblichen Brust. Sie musterte die beiden Beamten. Die Prüfung schien nicht positiv ausgefallen zu sein.

»Sie kommen wegen einer Ferienunterkunft?«, sagte sie ohne Begrüßung. Die Stimme klang abweisend und spitz. »Tut mir leid. Alles belegt.«

»Polizei«, erklärte Große Jäger. »Es geht um Ihren Gast, Herrn von Herzberg.«

Die Frau hatte ihre Skepsis nicht abgelegt.

»Polizei? Aber wieso?«

»Dürfen wir reinkommen?« Große Jäger warf einen Blick auf das messingfarbene Namensschild. »Frau Hämmerling?«

»Sind Sie wirklich von der Polizei? Man hört heute viel …« Sie ließ den Satz offen und legte ihr Misstrauen auch nicht ab, als Große Jäger seinen durchgesessenen Dienstausweis aus der Gesäßtasche angelte. Frau Hämmerling verzichtete darauf, das Dokument in die Hand zu nehmen. Mit leicht zusammengekniffenen Augen studierte sie den Ausweis.

»Der ist auch echt?«

»Möchten Sie, dass wir unsere uniformierten Kollegen von der Wyker Polizeistation hinzubitten?«

Nur zögerlich öffnete die Frau die Tür, ohne sie ganz freizugeben. »Was wollen Sie denn?«

»Herr von Herzberg ist Opfer einer Straftat geworden.«

Sie lächelte. »Das kann nicht sein. Er ist doch auf Föhr. Außerdem ist er Richter.«

Große Jäger ging nicht darauf ein. »Wir würden uns gern sein Zimmer ansehen.«

Frau Hämmerling nickte mit dem Kopf in Richtung der Treppe. »Das ist oben.« Bevor die Beamten reagieren konnten, hatte sie die Tür geschlossen.

»Eine merkwürdige Frau«, stellte Große Jäger fest. »Ist deine Oma auch so?«

Cornilsen grinste. »Oma ist ein Wegweiser. Die sagt jedem, wo es langgeht.«

Sie warteten eine Weile, bis die Tür wieder geöffnet wurde. Frau Hämmerling schwenkte einen Schlüssel. Dann sah sie auf Große Jägers Schuhe. »Die Putzfrau ist schon durch. Alles ist sauber.« Sie zeigte zur Treppe. »Da hinauf.«

Die Diele war in Blau-Weiß gehalten. Liebevoll angeordnete Dekorationselemente, die sauberen Bodenkacheln und die knarrende Holztreppe ins Obergeschoss passten zum äußeren Erscheinungsbild des Hauses. Alles wirkte freundlich, wobei der urige Charakter des Hauses gewahrt blieb. Vom kleinen Podest am Ende der Treppe gingen zwei Türen ab.

»Das sind die Ferienwohnungen«, erklärte die Frau ungefragt und suchte am Bund den passenden Schlüssel für das Sicherheitsschloss der rechten Tür. Sie öffnete, blieb aber in der Türöffnung stehen.

»Dürfen Sie das überhaupt? Müssen Sie nicht zuerst Herrn von Herzberg fragen?«

»Das geht nicht mehr«, sagte Cornilsen.

Frau Hämmerling wurde blass. Sie wankte leicht. Große Jäger warf dem jungen Kommissar einen wütenden Blick zu. Mit Sicherheit hatte er auf der Fachhochschule der Polizei einen anderen Umgang mit solchen Situationen gelernt.

»Es tut uns leid. Herr von Herzberg ist seinen Verletzungen erlegen«, sagte Große Jäger.

»Ist er …? Ist er …?«, setzte Frau Hämmerling mehrfach an. »Die Sache da … an der Promenade?«

Große Jäger war nicht überrascht. Solche Neuigkeiten sprachen sich in einem kleinen Ort, besonders auf einer Insel, schnell herum.

»Leider ja«, sagte er leise. »Sie verstehen, dass wir deshalb seine Unterkunft in Augenschein nehmen müssen?«

Die Frau antwortete mit einem schwachen Nicken und trat zur Seite. Sie betraten einen kleinen Raum mit Dachschrägen. Eine Anrichte, auf der ein rundes Spitzendeckchen lag, ein messingfarbener Leuchter darauf, ein kleiner runder Tisch, zwei Sessel mit ebenfalls blau-weißem Stoff bezogen, eine Stehlampe – natürlich aus Messing –, ein Fernsehapparat und ein Esstisch mit zwei Stühlen waren die ganze Einrichtung. Klein. Überschaubar. Sauber. Gemütlich. Eine Tür führte in das Schlafzimmer, das eher einer Kammer glich. Durch das Dachfenster fiel Licht auf das Doppelbett. Für den Schrank blieb nur wenig Platz.

»Herr von Herzberg war allein hier?«, fragte Große Jäger.

»Ja. Er kommt regelmäßig seit etwa fünf Jahren. Eine Woche im Frühjahr und eine im Herbst. So um diese Zeit.«

Der Oberkommissar ging zum Bett und schlug es auf. »Das ist nicht benutzt«, stellte er fest und probierte es bei der zweiten Schlafgelegenheit. »Das auch nicht.« Er drehte sich zu Frau Hämmerling um. »Sind die neu bezogen worden?«

»Die Putzfrau ist schon durch«, sagte die Frau leise.

»Werden die Betten täglich neu bezogen?«

Er erhielt keine Antwort und öffnete die Tür zum Bad, das von der Schlafkammer abging. Auch hier war es eng, aber modern eingerichtet. Alles wirkte klinisch rein. Die gläserne Duschabtrennung wies keine Wasserflecken auf. Das Waschbecken war geputzt. Handtücher hingen sauber gefaltet über der Wäschestange. Er öffnete den Toilettendeckel. Blitzblank.

Cornilsen schaute ihm über die Schulter. »Das glaube ich nicht«, sagte er. »Keine Zahnbürste, kein Rasierapparat. Nichts. Das Bad ist nicht benutzt worden.«

»Gut«, lobte Große Jäger den jungen Kollegen. »Das passt zum unbenutzten Bett.«

Sie öffneten den Kleiderschrank und fanden akkurat zusammengelegte Kleidung. Wäsche. Oberhemden. Einen Pullover. Eine Kombination. Eine Edeljeans.

»Fällt dir noch etwas auf?«, fragte Große Jäger.

»Einiges. Wie hat er das hierhergebracht? Ich sehe keinen Koffer. Im Urlaub lesen viele Menschen. Aber da ist kein Buch. Hat er ein Tablet gehabt? Ein Smartphone? Niemand läuft heute ohne solch ein Ding herum. Wenn er es in der Tasche hatte – wo ist das Ladegerät?«

»Können Sie es uns erklären?«, wandte sich Große Jäger an die Frau.

Sie wich Große Jägers Blick aus und zuckte hilflos mit den Schultern.

»Wann hat Herr von Herzberg heute das Haus verlassen?«

Erneutes Schulterzucken.

»War er überhaupt hier in der Nacht?«

Sie blieb beim Schulterzucken.

»Sie sind sich sicher, dass Herr von Herzberg hier gewohnt hat?«

»Ja – sicher«, sagte sie leise.

»Und in der anderen Wohnung? Wer ist da untergebracht?«

»Eine ältere Frau. Die kommt auch schon seit Jahren. Frau Beuthin stammt aus Hamburg und ist schon über achtzig.«

»Können wir uns in Ihren Räumen umsehen?«

Frau Hämmerling fuhr zusammen. »Ausgeschlossen«, sagte sie schnell. Es dauerte einen Augenblick, bis sie sich wieder gefangen hatte. »Nein.« Jetzt klang es entschlossener. »Was hat das mit dem … dem … Dingsbums von Herrn von Herzberg zu tun?«

»Finden Sie nicht auch, dass es merkwürdig aussieht? Gibt es in den Ferienwohnungen keine Kochgelegenheit?«

»Nein, das wissen die Gäste aber. Sie sehen, dass der Platz beschränkt ist. Die Gäste lieben die gemütliche Atmosphäre. Sie nehmen ihre Mahlzeiten im Restaurant ihrer Wahl ein. Das Angebot in Wyk ist wirklich ausreichend. Auf Wunsch bereite ich das Frühstück und bringe es in die Ferienwohnung.«

»Sie haben keinen Frühstücksraum?«

»Nein, das sind Ferienwohnungen. Ich habe keine Pension.«

»Leben Sie allein?«, fragte Große Jäger.

»Warum wollen Sie das wissen? Was hat das mit der Sache hier zu tun?«

»Wir müssen uns ein Bild von allen Beteiligten machen.«

»Ich bin doch kein Beteiligter«, protestierte Frau Hämmerling. Zorn schwang in ihrer Stimme mit.

»Doch«, widersprach Große Jäger. »Jeder, der ihn kannte, wird von uns befragt. Wir müssen wissen, wen er kannte. Wen hat er hier getroffen? Mit wem gesprochen? Wie hat er seine Tage zugebracht?« Große Jäger gab Cornilsen ein Zeichen. »Sieh dir die Kleidung an. Und prüfe, ob sich noch irgendetwas in den Schränken verbirgt.« Dann machte er einen Schritt auf die Frau zu.

»War Herr von Herzberg in den vergangenen fünf Jahren immer allein hier?«

Große Jäger schien es, als würde ein leichter Rotschimmer das Gesicht der Frau überziehen.

»Ja. Ich weiß, dass er verheiratet ist, aber schon lange getrennt lebt.«

»Kinder?«

»Was weiß denn ich.« Frau Hämmerling schwang die Arme durch die Luft. »Ich frage meine Gäste doch nicht aus.«

»Wie hat er den Tag verbracht?«

»Puuh. Was man so macht. Er hat morgens gefrühstückt. Nicht zu früh. Meistens so gegen zehn Uhr.«

»Allein?«

Sie wich seinem Blick aus. »Natürlich!«

»Und dann?«

»Ist er unterwegs gewesen. Fragen Sie mich nicht, wohin. Am Wasser entlang. Die Promenade rauf und runter. Zum Kurkonzert. In die Lesehalle. Durch die Stadt. Manchmal war er auch auf der Insel unterwegs. Ich weiß, dass er des Öfteren mittags in einem der Restaurants oder Cafés etwas gegessen hat. Die Hauptmahlzeit hat er abends eingenommen. Er aß gern Fisch und war oft in ›Klatt’s Gute Stuben‹ in der Mühlenstraße, aber auch in anderen Gaststätten.«

»Haben Sie ihn dabei begleitet?«

Frau Hämmerling wich seinem Blick aus. »Ich? Wie kommen Sie darauf?«

»Hatte er Bekannte auf Föhr? Haben Sie mitbekommen, dass er sich mit jemandem getroffen hat?«

»Jetzt reicht es aber.« Sie stampfte wie ein kleines Kind mit dem Fuß auf. »Herr von Herzberg ist ein angenehmer und ruhiger Gast. Immer nett und höflich. Er wollte hier entspannen und die Seele baumeln lassen. Dafür ist Föhr der ideale Platz. Er hat nicht den Rummel gesucht, sondern die Erholung. Die hat er hier gefunden. War’s das?« Sie wandte sich abrupt ab. »Dauert das noch lange?«, schimpfte sie.

»War er mit dem Auto auf der Insel?«

»Ja.«

»Wir haben keine Schlüssel gefunden.«

»Die … die …«, stammelte Frau Hämmerling. »Die hat mir die Putzfrau heute Morgen gegeben. Ich nehme an, sie sind ihm aus der Tasche gefallen. Ich habe sie in meiner Wohnung aufbewahrt.«

»Wann haben Sie Herrn von Herzberg zuletzt gesehen?«

»Das weiß ich nicht genau. Ich habe ihn gestern Abend gegen neunzehn Uhr gehört, als er das Haus verließ und zum Essen ging.«

»Wann ist er zurückgekommen?«

»Darauf habe ich nicht geachtet. Meine Gäste schätzen es, dass ich ihnen ihre Privatsphäre lasse. So – mehr kann ich nicht sagen.«

Cornilsen hatte inzwischen die Taschen durchsucht. »Nichts«, sagte er enttäuscht. »Keine Streichholzschachtel eines geheimnisvollen Nachtclubs, keine verschlüsselten Nachrichten, keine Telefonnummer einer mysteriösen Blondine.« Dabei grinste er, während die Vermieterin ihn mit offenem Mund anstarrte.

»Sie sind uns noch eine Antwort schuldig«, erinnerte Große Jäger Frau Hämmerling, als sie das Haus verließen und den Autoschlüssel an sich genommen hatten. Die Frau hatte behauptet, nicht zu wissen, wo das Fahrzeug geparkt sei.

Sie kehrten zur Seebrücke zurück und trafen dort Thomsen. Große Jäger bat den Hauptkommissar, nach einem BMW Ausschau zu halten, der auf von Herzberg zugelassen war. Als Einheimischer wisse er sicher besser, wo Urlaubsgäste einen Langzeitparkplatz fanden. Außerdem sollten Thomsen und seine Leute Erkundigungen einziehen, wo sich der Richter am Vorabend aufgehalten hatte, wer ihn gesehen und mit ihm gesprochen hatte.

Thomsen nicke. Begeisterung, stellte Große Jäger fest, sah anders aus.

Jürgensen gesellte sich zu ihnen und berichtete, dass sein Team die Leiche inzwischen geborgen habe. Zur Todesursache gab es keine neuen Erkenntnisse.

»Ein Raubmord war das nicht«, stellte der Flensburger fest. »Wir haben eine teure Armbanduhr der Marke Breitling beim Toten gefunden. In seiner Gesäßtasche steckte sein Portemonnaie mit etwas mehr als zweihundertfünfzig Euro. Die Brieftasche enthielt seinen Personalausweis, den Führerschein, die Kfz-Zulassung, den ADAC-Mitgliedsausweis, mehrere Kreditkarten, den Ausweis einer privaten Krankenversicherung und weitere Dinge, die belanglos erscheinen.«

»Keine Notizen oder bedeutsame Hinweise?«, fragte Große Jäger enttäuscht.

Jürgensen schüttelte den Kopf. »In der Jackentasche haben wir die Schlüssel zur Ferienunterkunft gefunden.«

»Und seine privaten Schlüssel?«

»Nichts. Dafür steckten in einer anderen Tasche aufgeweichte Umhüllungen für Zuckerwürfel. Ich nehme an, der Zucker hat sich im Wasser aufgelöst.«

»Kein Handy?«

»Nicht beim Opfer.« Jürgensen zeigte auf die schlammverkrusteten Beine eines Mitarbeiters. »Das Telefon ist ihm beim unfreiwilligen Kopfstand offenbar aus der Tasche gerutscht. Der Kollege hat es im Matsch unter dem Toten gefunden.«

»Kann man daraus etwas erkennen?«

Jürgensen lachte laut auf. »Du bist ein technisches Wildschwein, was? Wie gut funktioniert ein Mobiltelefon, das im Salzwasser der Nordsee gebadet wurde? Wir schicken es als Beigabe zur Leiche mit nach Kiel.«

»Hoffentlich sortieren die es richtig«, erwiderte Große Jäger. »Ich mag mir nicht ausmalen, was dabei herauskommt, wenn der Rechtsmediziner das Handy seziert und die Kriminaltechniker die Leiche aufbrechen.«

»Leiche aufbrechen?«, echote Jürgensen. »Dafür bist du doch zuständig. Du bist doch ein Jäger, sogar ein ganz großer.«

Der Oberkommissar formte lautlos mit den Lippen ein »Arschloch«, das Jürgensen mit dem Stinkefinger beantwortete. Dann klopfte Große Jäger dem Flensburger freundschaftlich auf die Schulter. »Danke, Klaus. Bis nächstes Mal.«

»Lieber nicht«, erwiderte Jürgensen, bevor sich Große Jäger und Cornilsen auf den Rückweg machten.

Unterwegs nahm der Oberkommissar Kontakt zum Landgericht Itzehoe auf, nachdem Cornilsen herausgefunden hatte, dass von Herzberg dort als Richter tätig war. Er wurde mit dem Vizepräsidenten verbunden. Der zeigte sich erschüttert, als der Oberkommissar vom gewaltsamen Tod von Herzbergs berichtete, und fragte nach Einzelheiten.

»Wir stehen noch am Anfang unserer Ermittlungen«, erklärte Große Jäger. »Bisher steht nur fest, dass Herr von Herzberg durch Fremdeinwirkung gestorben ist.«

»Wie?«, wollte der Vizepräsident wissen.

Das müsse die Rechtsmedizin feststellen, erwiderte Große Jäger. »Welchen Aufgabenbereich hat Herr von Herzberg am Landgericht wahrgenommen?«

»Er ist … war Vorsitzender Richter einer Zivilkammer.«

»Hat er auch mit Strafprozessen zu tun gehabt?«

»Nein«, entgegnete der Vizepräsident und war nicht bereit, am Telefon etwas zu den laufenden Verfahren zu sagen, mit denen von Herzberg betraut war.

Nachdem sie zur Dienststelle zurückgekehrt waren, suchte Große Jäger Kriminalrat Mommsen auf und berichtete vom Einsatz.

»Dir ist bewusst, dass wir diesen Fall nach Flensburg an die Bezirkskriminalinspektion abgeben müssen«, erklärte Harm Mommsen.

Große Jäger spitzte die Lippen und schlug mit den flachen Händen gegeneinander.

»Bitte – bitte«, sagte er in einem Tonfall, als würde ein kleines Kind um eine Extraportion Süßigkeiten betteln.

Mommsen lehnte sich zurück und lächelte. »Ich weiß. Du und Christoph – ihr habt euch unter dem Vorwand, Amtshilfe zu leisten, die Tötungsdelikte immer unter den Nagel gerissen. Mensch, Wilderich, wir sind nicht das K1. Die Kollegen sind Experten für solche Straftaten und haben neben der Erfahrung auch die ganze Infrastruktur für die Ermittlungen zur Verfügung.«

Große Jäger ballte die Faust. »Theoretisch hast du recht. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir in der Vergangenheit unter Christophs Ägide ausgesprochen erfolgreiche Ermittlungsarbeit geleistet haben. Erinnerst du dich an deine Anfänge bei der Kripo hier in Husum? Christoph hat dir doch das Laufen beigebracht.«

Mommsen nickte versonnen. »Ja – ja. Du hast mich ›das Kind‹ genannt.«

»Wir sind es Christoph schuldig, dass wir den Weg weiter beschreiten.«

Der Kriminalrat stöhnte laut auf. »Mensch, Wilderich. Du bist hier fehl am Platz. Mit deiner Überzeugungskraft solltest du Melkmaschinen an Landwirte verkaufen, die sich auf die Geflügelzucht spezialisiert haben.« Mommsen schwenkte den Zeigefinger. »Ihr hängt euch nicht tiefer in die Sache rein und leistet nur ein wenig Unterstützung für die Flensburger.«

»Klar, Chef.« Große Jäger strahlte und kehrte in sein Büro zurück. Er streckte den Daumen in die Höhe, zunächst in Cornilsens Richtung, dann zum leeren Schreibtisch in seinem Rücken. »Siehste, Christoph«, sagte er. »Du kannst zufrieden mit mir sein. Das hättest du auch nicht besser hinbekommen. Aber«, dabei senkte er die Stimme, »das habe ich von dir gelernt.« Er drehte sich zu Cornilsen um. »Auf geht’s, Hosenmatz.«

»Na denn dann.«

DREI

Dem Mord auf Föhr wurde nicht nur in der lokalen, sondern auch in der überregionalen Presse viel Aufmerksamkeit gewidmet.

»Wie gehen wir vor?«, fragte Cornilsen, als sie am nächsten Morgen auf der Dienststelle zusammentrafen.

»Du rufst Thomsen an und fragst, ob die etwas herausgefunden haben. Dann fahren wir nach Itzehoe und sprechen mit den Leuten auf dem Landgericht. Vielleicht ist das Motiv in einem aktuellen oder abgeschlossenen Fall zu finden, an dem von Herzberg mitgewirkt hat.«

»Der war Vorsitzender Richter einer Zivilkammer«, gab Cornilsen zu bedenken. »Bei Strafkammern … Ja, da würde ich es verstehen, dass ein schwerer Junge Rache üben möchte. Aber bei Zivilsachen?«

»Da geht es oft um Geld und damit auch um Existenzen. Wenn jemand glaubt, von Herzberg wäre verantwortlich für ein vermeintliches Fehlurteil, kann das Grund genug für einen Mord sein. Dafür spricht auch die Art und Weise der Tatausführung. Das war eine wohlüberlegte Hinrichtung. Eine grausame außerdem. Wie muss der Mann gelitten haben, als er kopfüber dort hing und auf das steigende Wasser wartete. Er konnte sich ausmalen, dass es für ihn kein Entkommen gab. Solche Mordmethoden hätte sich Edgar Allan Poe ausdenken können.«

»Den Namen habe ich schon einmal gehört. War das ein Massenmörder? So ähnlich wie Haarmann aus, äh … Na, der mit Hackebeilchen.«

Große Jäger schüttelte den Kopf. »Wo, sagtest du, hast du Abitur gemacht? In Niebüll? Du hättest lieber bei deiner Oma in die Lehre gehen sollen. Edgar Allan Poe ist der Begründer der schwarzen Kriminalliteratur.«

Cornilsen griff zum Telefonhörer und rief die Polizeistation auf Föhr an. Er verlangte Thomsen und stellte ihm zahlreiche Fragen.

Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, berichtete er: »Die Wyker haben einiges herausgefunden. Von Herzberg war gestern gegen sieben Uhr zum Essen in dem Fischrestaurant. Allein. Man kannte ihn dort vom Sehen. Er ist gegen halb neun aufgebrochen und war ungefähr eine Stunde später in einem Weinlokal namens ›Alte Druckerei‹. Das liegt in einer schmalen Gasse im Zentrum von Wyk. Auch dort hat man sich an ihn erinnert. Er ist dort öfter Gast gewesen und hat in aller Ruhe seine Viertele getrunken.«

»War er allein?«

»Er ist allein gekommen, hat sich aber an einem Tisch mit einem Ehepaar unterhalten, das dort zufällig saß. Worüber? Das konnte das Personal der Weinstube nicht sagen. Offensichtlich war es aber eine ruhige und friedliche Plauderei. Von Herzberg hat bezahlt und ist vor dem Ehepaar aufgebrochen. Leider konnte man sich nicht mehr daran erinnern, wie spät es war. Dann verlieren sich seine Spuren. Danach hat ihn niemand mehr gesehen.«

»Da müssen doch Leute unterwegs gewesen sein«, sagte Große Jäger.

»In Wyk gibt es kein ausschweifendes Nachtleben. Und wenn er wirklich irgendwelchen Leuten begegnet ist, so haben die Kollegen die nicht gefunden. Thomsen hat veranlasst, dass im ›Inselboten‹ ein entsprechender Aufruf veröffentlicht wird. Das Ergebnis müssen wir abwarten. Ach ja. Zu dem Ehepaar, mit dem von Herzberg an einem Tisch gesessen hat, gibt es keine weiteren Angaben. Das scheinen nach Einschätzung der Leute aus der Weinstube ganz normale Touristen gewesen zu sein.«

»Das ist nicht viel«, zeigte sich Große Jäger unzufrieden. »Ich habe inzwischen versucht, etwas über Charlotte herauszufinden.«

Cornilsen sah ihn fragend an.

»Charlotte Hämmerling. Die ist zwei Mal erfolgreich verwitwet, das letzte Mal vor acht Jahren. Neben einer Portion Trauer um den Verblichenen hat sie auch stets gut geerbt. Ihre Männer waren jeweils eine stattliche Anzahl von Jahren älter. Das Haus in der Carl-Häberlin-Straße in Wyk ist aber alter Familienbesitz.«

»Also eine Frau mit Weitsicht und der Perspektive auf eine nur mittelfristige Ehe.«

Große Jäger grinste. »Der eine verspricht bei der Hochzeit eine lebenslängliche Gemeinschaft und freut sich auf die Silberhochzeit, der andere, dass diese nicht erreicht wird.«

»Was macht Frau Hämmerling beruflich?«

Große Jäger zog die Stirn kraus. »Witwe?«, antwortete er, indem er die Stimme zu einer Frage hochzog.

»Und sonst?«

»Nichts. Ein absolut unbeschriebenes Blatt.«

»Warum durften wir keinen Blick in ihre Privaträume werfen?«

»Was meinst du?«, wollte Große Jäger wissen.

»Ich vermute, da hätten wir Rasierapparat, Zahnbürste und Herrenkosmetik gefunden. Vielleicht auch weitere persönliche Dinge Herzbergs. Und das Doppelbett …«

»… wäre auf beiden Seiten benutzt worden«, ergänzte Große Jäger. »Gut, Hosenmatz. Ich glaube, deine Perspektiven bei der Polizei sind nicht schlecht. Ich gebe dir zwanzig Jahre, dann bist du aus dem Gröbsten heraus.«

»Zwanzig Jahre?« Cornilsen sah den Oberkommissar erstaunt an.

»Wenn du dich anstrengst. Sonst dauert es länger. Nicht wahr, Christoph?« Dabei drehte er sich um und sah auf den leeren Arbeitsplatz hinter sich.

»Thomsens Leute haben Herzbergs BMW gefunden«, fuhr Cornilsen fort. »Im Fahrzeug waren aber keine weiterführenden Hinweise vorhanden. Klaus Jürgensen und seine Leute haben sich das Auto vorgenommen. Das Ergebnis liegt noch nicht vor.«

»Jetzt müssen wir die Ergebnisse der Handyauswertung abwarten. Mir ist immer noch nicht klar, welche Bewandtnis es mit der Art des Mordes hat. Das sieht nach einem Ritualmord aus.« Große Jäger zeigte auf Cornilsens Bildschirm. »Versuche herauszufinden, ob es irgendwelche Anhaltspunkte dafür gibt. Eine simple Rache, die ein im Prozess Unterlegener verübt, scheint ausgeschlossen. Wir haben außerdem noch keine Informationen über von Herzbergs Privatleben. Wenn wir vermuten, dass die merkwürdige Todesart rituellen Charakter hat, müssten wir auch einen möglichen spirituellen Hintergrund ausleuchten.«

Cornilsen lehnte sich zurück und lachte laut auf. »Du meinst, der ehrenwerte Richter war Mitglied in einer geheimnisvollen Sekte, in der regelmäßig irgendwelche Leute geopfert werden? Vielleicht dem Fliegenden Spaghettimonster? Ich habe gehört, dass diese Religion, die in den USA von einem Physiker begründet wurde, behauptet, die Welt wurde von einem Spaghettimonster erschaffen. Den Leuten geht es um eine Religionsparodie. Sie haben eine Million Dollar Belohnung für den Nachweis ausgesetzt, dass die Welt nicht vom Fliegenden Spaghettimonster erschaffen wurde. Der Hintergedanke ist, dass alle anderen Religionen auch nicht den Beweis für die Existenz ihres Gottes erbringen können.«

»Blödsinn«, erwiderte Große Jäger ungnädig. »Ich meine, die Sache mit dem Spaghettimonster.«

»Aber lustig«, ließ sich Cornilsen nicht beirren. »In vielen Religionen wird zum Beispiel die Kopfbedeckung rituell getragen. Die Pastafaris, wie sie sich selbst nennen, tragen zum Beispiel als Kopfbedeckung Kochtöpfe oder ein Nudelsieb. Es gab auch schon Streit mit Behörden, weil die Leute ihre Passbilder für den Personalausweis mit einer solchen Kopfbedeckung eingereicht haben. Und bevor du dich echauffierst … Das ist keine Story zum ersten April.«

»Wir arbeiten ernsthaft. Sieh zu, dass du etwas über die Todesart herausfindest. Prüfe auch, ob es früher schon einmal solch ungewöhnliche Mordmethoden gegeben hat. Dann fahren wir nach Itzehoe. Ach ja. Wo wohnt die getrennt lebende Ehefrau? Mit der sollten wir auch sprechen.«

»Tu ich machen«, erwiderte Cornilsen. »Und du?«

»Ich erledige die Führungsaufgaben«, sagte Große Jäger, griff seinen Kaffeebecher und verließ den Raum.

Als er nach einer halben Stunde zurückkehrte, wirkte Cornilsen enttäuscht.

»Nichts«, sagte er. »Es gibt keinerlei Hinweise auf rituelle Morde. In Norddeutschland wird ehrlich getötet. Da bedient man sich konventioneller und bewährter Methoden. Wenn jemand mit einem Strick um den Hals aufgefunden wird, hat er sich auch erhängt.« Dann berichtete er, dass Ulrich von Herzbergs Ehefrau Katharina hieß und in Quickborn bei einem Herrn Böttinger wohnte.

»Dann lass uns eine Rundfahrt durchs Land antreten«, beschloss Große Jäger. Er überließ Cornilsen das Steuer und zog sich, wie er es nannte, »ins Innere zurück«. Er wurde wieder wach, als der Wagen die Autobahn verließ. »Da drüben, hinter uns«, dabei zeigte er mit dem Daumen über die Schulter, »haben sich die Quickborner ordentlich was an Land gezogen. In ihrem Gewerbegebiet sitzen ein regionaler Stromanbieter und die Comdirect. Das sind nur zwei von vielen.«

Das Navigationsgerät führte sie durch den Ortsteil Heide, in kleine Nebenstraßen mit Grundstücken, die zugewachsen waren und nur selten den Blick auf großzügige Häuser freigaben.

»Wer hier wohnt, lebt nicht von der Sozialhilfe«, merkte Cornilsen an. Das galt auch für die Adresse, die sie ansteuerten. Den Zugang zum Grundstück versperrte ein schmiedeeisernes Tor. Ein Namensschild fehlte. Dafür war über dem Klingelknopf eine Kamera installiert.

Ihr Klingeln blieb auch nach mehreren Versuchen unbeantwortet. Auf der anderen Straßenseite erschien ein älterer Mann an der Gartenpforte. Er hielt einen Sloughi an der Leine. Der kurzhaarige nordafrikanische Windhund zerrte nervös am Geschirr.

Der Mann fasste sich an das Seidentuch, das seinen Hals verdeckte. »Suchen Sie etwas Bestimmtes?«, fragte er unfreundlich.

»Wir möchten zu Frau von Herzberg.«

»Kommen Sie ein anderes Mal wieder.«

»Ist sie verreist?«

»Das geht Sie nichts an. Nun verschwinden Sie.«

Große Jäger überquerte die Straße. »Ihr Misstrauen und Ihre Achtsamkeit sind in Ordnung«, sagte er. »Wir sind von der Polizei.« Ungefragt zeigte er seinen Dienstausweis.

»Sie kommen wegen des Todes ihres Mannes? Das ging durch die Medien.«

»Könnte sein«, erwiderte Große Jäger ausweichend.

»Versuchen Sie es im Golfclub an der Pinnau im Ortsteil Renzel. Ich habe sie heute Morgen mit ihrem Golfbag wegfahren sehen«, empfahl der Mann. »Das ist leicht zu finden. Fahren Sie einfach Richtung Pinneberg.« Er wartete, bis die Beamten abgefahren waren.