Der Krieg um unseren Müll - Alexander Clapp - E-Book

Der Krieg um unseren Müll E-Book

Alexander Clapp

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Beschreibung

Das dreckige, globale Geschäft mit unserem Müll: Eine investigative Reportage des preisgekrönten Journalisten Alexander Clapp Mülldeponien auf der ganzen Welt sind überfüllt. Täglich fallen Millionen Tonnen von Müll an, und um deren Entsorgung entstehen oft regelrechte Kriege. Dabei entwickelt der Müll ein geheimes Nachleben. Er wird illegal entsorgt, als heiße Ware verschifft, verkauft und weiterverkauft und von einem Land ins andere geschmuggelt. So reist unser Abfall über mehrere Jahre Tausende von Kilometern. Alexander Clapp verbrachte zwei Jahre damit, den Spuren unseres Mülls auf fünf Kontinenten zu folgen. Er enthüllt eine katastrophale Realität: Unser Müll hat in den letzten vierzig Jahren eine weltumspannende, milliardenschwere Wirtschaft hervorgebracht – oft mit verheerenden Folgen für die ärmsten Länder der Welt. 

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Seitenzahl: 495

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Alexander Clapp

Der Krieg um unseren Müll

Abgründe eines globalen Milliardengeschäfts

 

Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer

 

Über dieses Buch

 

 

»Sie werden Plastiktüten nie wieder auf die gleiche Weise betrachten.« The Washington Post

 

Auf der ganzen Welt gibt es keinen Ort mehr, an den der Müll noch nicht vorgedrungen ist: Selbst in den Mägen von Tiefseefischen finden sich Plastikpartikel. Staaten zahlen Unsummen an Geld, um ihr Müllproblem möglichst weit weg von den eigenen Grenzen auszulagern. Der Müll wird verkauft, verschifft und geschmuggelt, bis seine Spur sich beinahe verliert.

Der renommierte Journalist Alexander Clapp ist diesen Spuren über zwei Jahre und auf fünf Kontinenten gefolgt. Er enthüllt die katastrophale Realität des milliardenschweren Müllhandels – und seine verheerenden Folgen.

 

»Aufwühlend und tiefgehend« Publishers Weekly

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Alexander Clapp ist ein mehrfach ausgezeichneter Journalist und Autor. Seine Reportagen wurden unter anderem in der »New York Times«, »The Economist« und der »London Review of Books« veröffentlicht. Alexander Clapp lebt in Griechenland.

 

Dr. Jürgen Neubauer studierte Anglistik und Germanistik und war als Lektor für das Sachbuchprogramm des Campus Verlags verantwortlich. Heute ist er als freiberuflicher Übersetzer und Buchautor tätig und hat u.a. Yuval Noah Harari, Anne Applebaum, den Dalai Lama und Malcolm Gladwell übersetzt.

Impressum

 

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die englische Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel: »Waste Wars. The Wild Afterlife of Your Trash« im Verlag Little, Brown and Company

Copyright © 2025 by Alexander Clapp

Für die deutsche Ausgabe:

© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main

Covergestaltung: KOSMOS - Büro für visuelle Kommunikation

Coverabbildung: iStock Images

ISBN 978-3-10-491698-9

 

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Inhalt

[Widmung]

Einleitung: Aufruhr in Mesopotamien

Eine rätselhafte Lieferung

Die globale Müll-Misswirtschaft

Das Reich des Mülls

Müllterror

I Toxische Tropen

1 Eine Bananenrepublik

2 Das Jahrhundert der Chemie

3 Geld für Dreck

4 Schulden und Entwicklung

5 Ein krankes Geschäft

6 Kanonen und Bazillen

7 Eine Müllodyssee

8 Aufschrei

9 Die Sonderstellung der Vereinigten Staaten

10 Die Müllhändler schlagen zurück

II Elektroschrott im Odaw

11 Staat und Slum

12 Am Kai von Tema

13 Der Schatz von Ghana

14 Eingeloggt

15 Technische Basteleien

16 Die flexible Rohstoffquelle

17 Eine Start-up-Kloake

18 Ein neues Agbogbloshie?

19 Wir gehen fischen

20 Müll-Voodoo

III Der Fluch der Ägäis

21 Der globale Schrottplatz

22 Ausgeschifft

23 Im Herzen Anatoliens

24 Ein tödliches Geschäft

25 Die Schrotthirten

26 Auf Altmetall gebaut

27 Am Rande Europas

28 Griechische Geschenke

29 Nach Hause

IV Plastikmeer

30 Eine lange Reise

31 Welt aus Plastik

32 Das größte aller Wunder

33 Der Ein-Mann-Konzern

34 Chinesisches Plastik

35 Ein irrer Wettlauf

36 Der Mülldirektor

37 Eine Plastikdynastie

38 Zurück zum Pazifik

Schluss: Quo vadis?

Müllproduzenten, Müllabnehmer

Dank

Register

Für meinen Vater

Einleitung: Aufruhr in Mesopotamien

Eine rätselhafte Lieferung

Wer viele Dinge besitzt, ist stets auf der Hut.

Altsumerisches Sprichwort[1]

An einem kühlen Herbstabend des Jahres 2016 saß ein kurdischer Bauer namens İzzettin Akman auf dem Balkon seines Betonhauses in der Nähe der türkischen Stadt Adana, als ein weißer Muldenkipper rückwärts an den Rand seines Zitrushains fuhr und eine große Ladung Müll am Straßenrand abkippte. Der Fahrer stieg aus, entzündete eine Papiertüte, warf sie auf den Müllhaufen und fuhr davon. Dicker Qualm quoll empor, schwärzer als der Nachthimmel, in den er aufstieg.

»Ji dil?«, rief Akman, sprang auf und rannte in seinen Sandalen die ungepflasterte Zufahrt seines Grundstücks hinunter zu dem schwelenden Müllhaufen. »Was soll das?«

Als İzzettin Akman den Müllhaufen erreichte, hatte sich dieser in ein zischendes Flammenmeer verwandelt. Plastik ist schwerer entflammbar als Holz, doch es brennt intensiver und heißer – wie leicht konnte es vom Wind fortgetragen werden und die gut 20 Hektar große Plantage mit ihren rund 6000 Zitronen- und Orangenbäumen erfassen!

»Kurê qahpê!« Akman machte auf dem Absatz kehrt, eilte zurück zum Haus, schnappte sich den erstbesten Eimer, rannte wieder zum lodernden Feuer, schöpfte Wasser aus einem kleinen Bach neben seiner Plantage und schüttete es in die Flammen. »Hurensohn!«

Unermüdlich schleppte er Wasser heran. Nach einer guten Stunde hatte er den Brand gelöscht, und zurück blieb ein Bett aus Abertausenden halbverbrannten Müllschnipseln. Erleichtert kniete sich Akman nieder und nahm die kokelnden Fetzen in Augenschein, so wie die Archäologen im nahe gelegenen Adana die Fliesen eines antiken Mosaiks. Als er die Bonbonpapierchen und Make-up-Dosen in die Hand nahm und begutachtete, fiel ihm etwas auf: Die Packungen trugen keine kurdische Aufschrift. Türkisch war es auch nicht. Um ganz sicher zu sein, durchwühlte er das rauchende Plastik auf der Suche nach Preisetiketten und wurde bald fündig. Sie waren nicht in türkischer Lira ausgezeichnet, sondern in Euro und Pfund.

Wie Generationen von Akmans vor ihm lebte İzzettin, ein schlanker Mann mittleren Alters mit rotbraunem Stoppelbart, von den Orangen und Zitronen, die er nach Europa verkaufte. Nun schienen ihm die Europäer zum Dank ihren Müll zu schicken. Etwas verblüfft erkannte Akman auch einige angekokelte Orangensaftbehälter.

»Da könnte gut auch Saft von meinen Orangen drin gewesen sein«, sagte er zu mir, als er mich sechs Jahre nach dieser unerbetenen Lieferung zu den duftenden Bäumen führte, um mir die Überreste des Müllhaufens zu zeigen – einen Berg aus schwarzen Asche - und Plastikklumpen, der aussah wie ein mit schmutzigem Konfetti bedecktes Grab ohne Grabstein.[2]

Einen Monat nach diesem Vorfall beobachtete er etwas Sonderbares: Erst wurden die Blätter gelb, dann fielen die Orangen und Zitronen von den Bäumen. So etwas hatte Akman in seinen über 30 Jahren als Obstbauer noch nie erlebt. Ein Jahr später trugen seine Bäume gar keine Früchte mehr, und Akmans Familie geriet in ernsthafte wirtschaftliche Schwierigkeiten. Offenbar ist eine Wagenladung Müll, die nur eine Stunde lang neben einer Obstplantage brennt, eine Art Umweltzeitbombe, deren gewaltiger Schaden sich erst auf lange Sicht entfaltet. Der Rauch, der noch über Stunden hinweg vom gelöschten Müllhaufen aufstieg, war nicht einfach in den Nachthimmel verschwunden, sondern hatte einen Teil der Bienenpopulation vernichtet, die an der Bestäubung der Zitrusbäume beteiligt waren. Und die zahllosen Klumpen von halbgeschmolzenem Plastik, die in den Zufluss zu Akmans Bewässerungssystem gelangten, waren nicht einfach fortgewaschen worden, sondern zu Abermilliarden Mikroplastikteilchen zerfallen, die in den Hain gespült und schließlich von den Bäumen aufgenommen wurden, wo sie sich in den Wurzeln ablagern wie Cholesterin in menschlichen Arterien.

İzzettin Akmans Obstplantage liegt westlich von Adana am Rand eines Dorfs namens Küçükçıldırım, zwei Autostunden von der syrischen Grenze entfernt, in einer grünen Küstenebene am Mittelmeer, deren Bäche von der Schneeschmelze des weiter nördlich gelegenen Taurusgebirges gespeist werden. Es ist eine paradiesische Landschaft, auf den Straßen duftet es nach Orangen, mittelalterliche Klöster und antike Festungen krallen sich in die umliegenden Felsen, und die Region ist seit Urzeiten für ihre Fruchtbarkeit berühmt. Nicht umsonst gaben die Menschen ausgerechnet hier ihre Existenz als Jäger und Nomaden auf und ließen sich nieder, um Landwirtschaft zu betreiben. Etwa 400 Kilometer östlich von Akmans Hain befindet sich das geheimnisvolle Steinzeitmonument von Göbekli Tepe, ein Heiligtum aus dieser Übergangszeit. Von dort aus nach Süden erstreckt sich die Ebene der Flüsse Euphrat und Tigris, das einstige Mesopotamien, wo die Schrift erfunden, die ersten Sternkarten gezeichnet, die Mathematik entwickelt und die ersten Zivilisationen errichtet wurden.

Als ich Akman kennenlernte, hatten sich seine Orangen- und Zitronenbäume wieder ein wenig erholt. Anders das Land rings um Adana. Die Wagenladung Abfall, die neben seinem Hain entsorgt wurde, war nämlich kein Einzelfall, sondern nur der Vorgeschmack auf einen größeren und systematischeren Irrsinn.

***

Im Sommer 2017 trat die Gattin des türkischen Präsidenten in der Hauptstadt Ankara an die Öffentlichkeit und verkündete ein großartiges Vorhaben für das Land. In den nächsten 15 Jahren solle die Türkei »abfallfrei« werden, versprach Emine Erdoğan. Andere Länder begannen den Aufbruch in eine grüne Zukunft mit der Reduzierung von Emissionen, dem Bau von Windfarmen oder der Besteuerung von Kohlendioxid. Doch die Türkei werde an anderer Stelle ansetzen, nämlich in den privaten Haushalten ihrer damals 80 Millionen Bürger.

Die Türken würden ihren Abfall verringern.

Tatsächlich war die Müllentsorgung der jüngeren Zeit haarsträubend. Während der zurückliegenden Jahrzehnte war die Türkei genauso plastiksüchtig geworden wie der Rest der Welt. Ihr Netz aus öffentlichen Brunnen namens sebile – eine über fünf Jahrhunderte alte Tradition, die auf die osmanischen Sultane zurückgeht und jeden Ort im Reich mit kostenlosem Trinkwasser versorgen sollte – hatte keine Chance gegen die unerbittliche Annehmlichkeit der Wasserflasche aus Polyethylenterephthalat, kurz PET, die 1984 in der Türkei eingeführt und Anfang des neuen Jahrhunderts täglich in Stückzahlen im zweistelligen Millionenbereich verkauft wurde. Die Straßenmärkte, von denen die Menschen ihr Obst und Gemüse in mitgebrachten Baumwolltüten nach Hause trugen, wurden von Supermärkten verdrängt, in denen sämtliche Einkäufe in Polyethylentüten eingepackt wurden – Plastiktüten, die so dünn sind, dass man durch sie hindurchsehen kann, und von denen die Türken schon im Jahr 2010 rund 35 Milliarden pro Jahr wegwarfen.[3] Mehr als 90 Prozent des Plastiks landete auf Müllkippen, in der Landschaft, oder im Meer.

Diese Farce zeigte der deutsch-türkische Filmemacher Fatih Akin in seinem Dokumentarfilm Müll im Garten Eden. Als Akin nach langer Abwesenheit in das malerische, über dem Schwarzen Meer gelegene Teedorf seiner Großeltern zurückkehrte, drehte er einen Dokumentarfilm über den Versuch, am Ortsrand eine offene Mülldeponie einzurichten. Sämtliche Bewohner waren dagegen, doch die Behörden erteilten die Genehmigung trotzdem, mit dem vorhersehbaren Ergebnis, dass das Dorf von einer Plastikflut überschwemmt wurde. Das veranlasste Akin zu der finsteren, wenngleich offenkundigen Schlussfolgerung: »Müll ist der Kot unserer Zivilisation.«[4]

Die Präsidentengattin versprach, diese Müllflut werde schon bald nicht mehr sein als eine traurige Episode in der an traurigen Episoden nicht armen Geschichte Anatoliens. Mit staatlichen Mitteln werde ihre Kampagne »die Türkei säubern« und die Welt »für künftige Generationen lebenswert« machen; das Plastik werde gesammelt und recycelt, und damit werde »der unkontrollierte Abfall« verhindert.[5]

Eine saubere Türkei! Eine lebenswerte Welt! In den kommenden Jahren wurde Emine Erdoğan für ihr »Null-Abfall-Projekt« mit Lob überschüttet. »Das Null-Abfall-Projekt ist mehr als eine Kampagne, es ist ein Lebensgefühl«, jubelte eine Istanbuler Tageszeitung, und internationale Institutionen wie die Vereinten Nationen und die Weltbank überhäuften es mit Preisen.[6] Die Präsidentengattin veröffentlichte ein Buch und ließ es Kindern vorlesen; dazu wurden die Kleinen in Scharen in den Garten des Präsidentenpalastes in Ankara gekarrt, einen modernen Palast mit 1150 Zimmern, bei dessen Bau ein alter Wald gerodet wurde. Sogar als Instrument der Außenpolitik musste das Null-Abfall-Projekt herhalten, die 250 Botschaften, Generalkonsulate und ständigen Vertretungen in aller Welten priesen damit das für den Nahen Osten einmalige Bekenntnis der Türkei zum Kampf gegen die Klimakrise. »Als Angehörige einer Religion, die Müll verbietet, und einer Zivilisation, die Brot auf den Boden legt, küsst und zur Stirn hebt, übernehmen wir eine Führungsrolle im Kampf gegen diese Bedrohung«, erklärte Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu.[7]

Diese Selbstvermarktung der Türkei als internationaler Vorreiter der Müllvermeidung hatte leider einen kleinen Haken. Kaum hatte Emine Erdoğan ihre Initiative vorgestellt, als die Türkei zu einem der weltgrößten Plastikmüllimporteure und einer der größten Müllkippen des Planeten wurde.

Die globale Müll-Misswirtschaft

Es besteht eine Kluft zwischen dem, was die Menschen über ihren Müll zu wissen glauben, und dem, was tatsächlich damit passiert.

Yeo Bee Yin, ehemaliger Minister Malaysias, 2018[1]

Wenige Monate nachdem jemand eine Lastwagenladung Müll neben İzzettin Akmans Zitrushain angesteckt hatte, und nur wenige Wochen bevor Emine Erdoğan die Türkei zur »abfallfreien Nation« erklärte, verkündete auch die Kommunistische Partei Chinas eine Neuausrichtung ihrer Müllpolitik.

China werde keinen Müll aus dem Ausland mehr annehmen.

Seit Anfang der 1990er Jahre, als die Einwegflasche aus Plastik zu einem wichtigen globalen Handelsprodukt wurde, war China Abnehmer für die Hälfte aller Kunststoffe aus den Recyclingtonnen in aller Welt. Die vielen Tonnen Müll, die Sie im Laufe Ihres bisherigen Lebens weggeworfen haben, ohne einen weiteren Gedanken darauf zu verschwenden, haben eine merkwürdige Wiedergeburt erlebt. Leere Chipstüten, Strohhalme, Plastikbecher – alles, was Sie jahrelang für wertlos gehalten und umsonst weggegeben hatten – machten sich auf eine lange und emissionsintensive Reise um die Welt, wurden in Dutzende oder Hunderte Kilometer entfernte Sammelstellen gebracht, von dort in einen Hafen weitertransportiert, auf Schiffe verladen und in eines von Hunderten Dörfern in China verfrachtet, die sich auf die Weiterverarbeitung des Inhalts Ihrer Recyclingtonne spezialisierten.

In den Vereinigten Staaten wurde der Großteil davon an Bord ebenjener Containerschiffe transportiert, die billige Konsumgüter wie Hundespielzeug, Schlüsselanhänger oder Selfiesticks aus China ins Land gebracht hatten. Auf dem Rückweg nahmen diese Schiffe nun das Plastik und Papier wieder mit, in das diese Produkte eingepackt gewesen waren.

Müll war zu Beginn des neuen Jahrhunderts der wichtigste Exportartikel der Vereinigten Staaten nach China. Die Europäische Union verschiffte mindestens genauso viel Plastik, allen voran selbsternannte Umwelthüter wie Deutschland, deren nationale Recyclingquoten oft auf einem schmutzigen Geheimnis beruhten: Einen Großteil des Plastiks, den sie angeblich recycelten, verfrachteten die Deutschen in Wirklichkeit ans andere Ende der Welt, und was dort mit ihm passierte, blieb im Dunkeln.

Als China 2017 die Welt davon in Kenntnis setzte, dass es fortan ihren Plastikmüll nicht mehr annehmen würde,[2] hinderte das die reichen Länder nicht daran, diesen so weit weg zu verfrachten wie möglich. Sie suchten sich einfach neue Abnehmer, die verzweifelt genug waren, oder fuhren ihn bei Nacht und Nebel über ungesicherte Grenzen und behaupteten nach wie vor, dass sie ihren Müll wiederverwerteten. Nur wenige Monate nach dem chinesischen Aufnahmestopp tauchte griechischer Müll in Liberia auf. Italienischer Abfall verschmutzte die Strände Tunesiens. Holländisches Plastik überflutete Thailand. Polen richtete eine Spezialeinheit für den aus Deutschland geschmuggelten Müll ein, und französische Grenzer, die früher Stoßstangen der aus dem benachbarten Belgien kommenden Autos auf Heroin absuchten, inspizierten nun Kofferräume auf Müllsäcke.[3] Die europäischen Abfallexporte nach Afrika vervierfachten sich, Malaysia wurde zum größten Empfänger von amerikanischem Plastikmüll, und die Philippinen drohten Kanada mit Krieg, weil das nordamerikanische Land Container voller schmutziger Windeln in die Hauptstadt Manila geschickt hatte.

Ein Jahr nach dem Start von Emine Erdoğans Null-Abfall-Projekt landeten mehr als 200000 Tonnen des Plastikmülls, der drei Jahrzehnte lang von China abgenommen worden war, im Südosten der Türkei.

In seiner harmlosesten Spielart verschiebt der internationale Müllhandel den Abfall aus den reichsten Ländern der Welt in diejenigen Regionen, die am wenigsten auf den Umgang damit vorbereitet sind. Und im schlimmsten Fall handelt es sich um kriminelle Unternehmungen.

Die Türkei wurde zum Paradebeispiel für beides. Ein Großteil des eingeführten Plastiks stammte aus Großbritannien, dessen Abfallmakler – die Mittelsmänner zwischen der meist staatlichen kommunalen Müllabfuhr und der meist privaten Weiterverarbeitung – sich auf die Anreize zum Export des Abfalls stürzten. Sie erhielten Geld vom Staat, der nach dem Brexit kaum noch Lkw-Fahrer und Hafenarbeiter fand, weshalb die Transportkosten explodierten, die Verzögerungen ausuferten und die Müllberge anschwollen.[4] Als China die Annahmen von Plastik verweigerte, resignierte der britische Staat und überließ die Entsorgung jedem, der sein Glück damit versuchen wollte. Für eine angeblich zur Wiederverwertung gesammelte Tonne Haushaltsplastik erhielten britische Abfallmakler bis zu 70 Pfund Sterling (ca. 80 Euro). Irgendwann gab es in Großbritannien mehr als 250000 nicht ordnungsgemäß zugelassene Abfallmakler – Goldgräber, die sich an Großbritanniens verzweifeltem Versuch bereicherten, weltweit wie ein Musterknabe des Umweltschutzes dazustehen und gleichzeitig sein Plastikmüllproblem auf andere abzuwälzen. Die Situation war derart absurd, dass ein Journalist versuchen konnte, seinen verblichenen Goldfisch als gewerblichen Abfallmakler anzumelden. Innerhalb von vier Minuten hatte der Leichnam von Zierfisch Algernon seine Lizenz zum Müllhandel.[5]

Aber niemand schien sich dafür zu interessieren, was aus dem ganzen Müll wurde. Schon bald wurde die Hälfte des britischen Plastikmülls per Export »wiederverwertet«, und davon wiederum landete die Hälfte in der Türkei.[6]

Und das war erst das erste Jahr. In den drei Jahren nach Emine Erdoğans Startschuss für das Null-Abfall-Projekt wurden 750000 Tonnen Plastikmüll aus ganz Europa nach Anatolien verfrachtet, und die angeblich abfallfreie Türkei war zum weltgrößten Abnehmer für Plastikmüll geworden. Alle sechs Minuten rollte eine Lkw-Ladung von ausländischem Müll ins Land.

Der Fairness halber sollte man anerkennen, dass ein Teil dieses Plastikmülls tatsächlich verwertet wurde. Allerdings wurde er nicht zu neuen Bonbonpapierchen und Cremedosen weiterverarbeitet, sondern zu Billigtextilien. Mit Hilfe unglaublich energieintensiver Verfahren, die Unmengen von Giftstoffen freisetzten, wurde das Plastik aus dem Westen gereinigt, geschreddert, chemisch reduziert und zu Polyester verarbeitet, das in der berühmten Textilindustrie der Türkei schon bald die Baumwolle als wichtigsten Rohstoff verdrängte. Was nicht in Teppichpolsterungen oder Wischtüchern endete, landete in einer der zahllosen Zementfabriken des Landes und lieferte günstigen oder kostenlosen Brennstoff für die Baubranche, die Anatolien mit tristen Betonhäusern zupflasterte (von denen viele durch das schwere Erdbeben im Februar 2023 in Trümmerhaufen verwandelt wurden).

Doch ein großer Teil des Plastiks, der in den Südosten der Türkei gebracht wurde, war zu wertlos oder schmutzig, um es zu Duschmatten zu verarbeiten oder zu verbrennen. Diesem Plastik erging es so wie dem, das neben İzzettin Akmans Zitrushain abgefackelt wurde: Es wurde illegal irgendwo in die Landschaft gekippt, wo es sich in den kommenden Jahrzehntausenden zu Abermillionen winzigen Teilchen zersetzt, die ins Meer gespült werden, Äcker vergiften und Felder bedecken.

Im Jahr 2021 kamen einige europäische Umweltschützer und Journalisten auf die Idee, leere Wasch- und Spülmittelbehälter mit GPS-Chips auszustatten, sie in die Recyclingtonne zu geben und auf ihrer Tausende Kilometer weiten Reise nach Osten an den Rand der Türkei zu verfolgen. Einige legten wilde Irrfahrten zurück – man mag kaum glauben, wie viel Energie auf den Transport dieses scheinbar wertlosen Materials verwendet wird. Eine Plastiktüte, die ein britischer Journalist in die Recyclingtonne eines Londoner Tescos warf – einer Supermarktkette, die gern mit ihrem Bekenntnis zur Nachhaltigkeit wirbt –, wurde zunächst in den 120 Kilometer entfernten Hafen von Harwich verfrachtet, von dort in die Niederlande verschifft, dann per Lkw weiter nach Polen transportiert, um schließlich 3000 Kilometer weiter südlich in einem Vorort von Adana in einem Industriehof zu landen, in dem sich europäischer Müll türmte.[7] Eine Plastiktüte! 4500 Kilometer über Straßen und Meere! Diese Tüte wirft ein Schlaglicht auf die Wirren des globalen Müllhandels, der die kurdischen Regionen der Türkei zu seinem letzten und vielleicht ahnungslosesten Opfer hatte. Bis 2022 wurde im Schutz der Dunkelheit so viel Abfall in den Tälern, an den Flussufern und neben den Äckern der Region von Adana abgeladen, dass Umweltschützer seine Ankunft nur mit Drohnen aus Hunderten Metern Höhe verfolgen konnten.

»Etwa einmal im Monat finden wir irgendwo einen riesigen neuen Müllhaufen«, sagte mir Sedat Gündoğdu, Meeresbiologe der Universität Çukurova in Adana.[8]

Nach einigen angenehmen Tagen in Adana, in denen der Frühling schier über Nacht den Winter hinwegfegte und die zahllosen Orangenbäume der Gegend in Weiß erstrahlen ließ, verabschiedete ich mich von İzzettin Akman. Erst nach meinem Abschied, irgendwo auf der dreizehnstündigen Busfahrt nach Istanbul, stieß ich im Internet auf einen Artikel über Pläne der türkischen Regierung, die »CO2-Bilanz der Türkei spürbar zu verbessern«. Der Plan betraf ausgerechnet die Region, die ich gerade hinter mir gelassen hatte – die sonnenverwöhnte Mittelmeerküste südlich von Adana. Im Oktober 2021 flog sogar Präsident Erdoğan ein, um den Grundstein für eine Wasserstoffgewinnungsanlage zu legen, die eine Fläche von 2000 Fußballplätzen einnehmen sollte. Der Staatsfonds Türkiye Varlık Fonu, der umgerechnet rund 10 Milliarden Euro für den Bau des Petrochemischen Mega-Industriegebiets Ceyhan vorgestreckt hatte, pries die Vorteile für die Umwelt: Wenn der Südosten der Türkei zu einem »globalen Umschlagplatz für die Erzeugnisse der Petrochemie« werde, dann setze dies langfristig türkisches Kapital zum Kampf gegen den Klimawandel frei – es klang wie eine Satire auf die Logik der Befürworter der grünen Energiewende, die behaupten, wenn man heute den Kohlendioxidausstoß steigere, ermögliche dies auf lange Sicht ein Ende der Kohlendioxidemissionen.[9]

Adana sollte also nicht mehr nur noch Müll aufnehmen. Und die Türkei wollte nicht länger so tun, als hätte sie ein Interesse an einer abfallfreien Zukunft. Stattdessen wollte man mit beiden Beinen in den Wahnwitz der Plastikproduktion springen – anderthalb Milliarden Tonnen pro Jahr, was rund 100 Milliarden Plastikflaschen entspricht. Die Umweltschützer würden keine Drohnen mehr benötigen, um das Plastik zu verfolgen, denn es würde direkt vor ihren Augen zusammengebraut.

Man konnte nicht umhin, in diesem Irrsinn – dem Umbau des Fruchtbaren Halbmonds, der Wiege der menschlichen Zivilisation, zu einer der größten Plastikmüllhalden des Planeten und zur Produktionsstätte genau jenes Materials, das seine Felder und Flüsse verschmutzte – ein beängstigendes Zeichen unserer Zeit und eine finstere Warnung für die Zukunft zu erkennen.

Das Reich des Mülls

Waren schienen uns wie Müll, selbst wenn sie im Geschäft noch unverkauft im Regal strahlten. Wir fragten nicht, welchen Auflauf können wir damit backen?, sondern welcher Müll wird das sein?

Don De Lillo, »Underworld«, 1997

Im Dezember 2020 veröffentlichte die Zeitschrift Nature einen Bericht über die verheerenden Veränderungen in der Beziehung des Menschen zur Erde. Das Gesamtgewicht der von Menschen gemachten Objekte reichte inzwischen an das der Biomasse des Planeten heran. Will heißen, dass künstliche Dinge – Wolkenkratzer, Autos, Computer oder Plastiktrinkhalme – bald mehr wiegen würden als alle Bäume, Pflanzen, Tiere und Menschen, also sämtliche Lebewesen zusammengenommen.[1] Oder noch anders ausgedrückt: Wir leben heute in einer Welt, in der die Kapazität der Menschheit zur Produktion von Müll (beziehungsweise von Dingen, die früher oder später zu Müll werden) die Kapazität des Planeten zur Reproduktion von Leben übersteigt.

Als ich den Bericht las, musste ich an Vance Packard denken. Packard kam als Sohn einer Familie von Milchbauern im US-Bundesstaat Pennsylvania zur Welt und sah als einer der Ersten vorher, dass wir in unserem Produktionswahn bald jegliche Sorge um die dabei verschwendeten Rohstoffe in den Wind schlagen würden. Packard war eine Art Seismograph für die tektonischen Bewegungen des amerikanischen Traums. Als Journalist entlarvte er den Mythos der wirtschaftlichen Mobilität, demzufolge sich Amerikaner aus der Armut der Alten Welt befreiten, und benannte die Scharlatane und Opportunisten, die von dieser Illusion profitierten. Bekannt wurde er mit seinem Buch Die geheimen Verführer aus dem Jahr 1957, in dem er darlegte, wie Verbraucher wie Marionetten von der aufstrebenden Werbebranche dazu gebracht werden, Dinge zu kaufen, die sie nicht brauchten, und von denen sie nicht einmal wussten, dass sie sie haben wollten. In diesem Buch zeigte er, wer ein Interesse daran hat, uns die Illusion der Befriedigung zu verkaufen. Sieben Jahre später vertiefte er das Thema in seinem Buch The Naked Society, in dem er der Frage nachging, wie wir durch unsere Kaufsucht zu Ansammlungen von persönlichen Daten werden, die von Unternehmen ausgebeutet werden.

Seine weitsichtigste Publikation war jedoch eine Kampfschrift, die er zwischen diesen beiden Büchern veröffentlichte. In Die große Verschwendung legte er seine Interpretation des atemberaubenden Wirtschaftswachstums der Nachkriegszeit vor. Die Vereinigten Staaten der Jahrhundertmitte unterschieden sich von jeder anderen Gesellschaft der Geschichte, so Packard. Alle früheren Gesellschaften hatten Materialien und Gegenstände hergestellt, die darauf angelegt waren, Generationen zu überdauern und möglichst lange verwendet zu werden. Jäger und Sammler gaben ihre Steinwerkzeuge weiter. Die Griechen und Römer arbeiteten ihre Marmorstatuen um, wenn sich Herrscherdynastien oder Religionen änderten. Mittelalterliche Pergamente wurden abgeschabt und für neue Manuskripte verwendet. Zur Herstellung eines Kleidungsstücks oder Trinkbechers waren Rohstoffe und Arbeitskraft nötig, und dieser Einsatz rentierte sich nur, wenn der betreffende Gegenstand so lange wie möglich in Gebrauch war, so Packard. Natürlich gab es zahlreiche Gegenstände, die nicht lange hielten. Doch ab den 1920er Jahren, und vor allem nach 1945, begann eine grundlegende Veränderung. Aus dem Blutvergießen des Zweiten Weltkriegs ging eine überdrehte Wirtschaft hervor, die wie die Umkehrung früherer Produktions- und Konsumsysteme funktionierte.

Die Vereinigten Staaten der Nachkriegszeit störten sich nicht am Abfall, so Packard. Im Gegenteil, sie legten es darauf an, so viel wie möglich davon zu produzieren. Packard schrieb dies dem Wachstumswahn zu, der Besessenheit, jedes Jahr mehr Wohlstand verkünden zu können und diesen Wohlstand an der Mehrproduktion zu messen. Dies war seit jeher ein Leitmotiv in der Geschichte der Vereinigten Staaten, einer Gesellschaft von Pionieren, die vor einer gewaltigen Landmasse mit beeindruckenden Ressourcen standen. Doch in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dies noch durch eine geopolitische Notwendigkeit verstärkt: Die Vereinigten Staaten mussten ihre materielle Überlegenheit gegenüber dem Sowjetkommunismus unter Beweis stellen.

Der Wachstumswahn brachte eine schiefe Gesellschaft hervor. Um immer mehr ihrer immer effizienter produzierten Güter zu verkaufen, griffen die Unternehmen zu etwas, das Packard als »Zwangskonsum« bezeichnete. Alles lief darauf hinaus, die Kunden zum Kauf von Dingen zu bewegen, die sie weder wollten noch brauchten. Die Nachkriegswirtschaft drehte sich nicht nur darum, Güter zu produzieren, sondern auch darum, das Bedürfnis nach ihnen zu wecken; mit psychologischen Mitteln wurden die Menschen künstlich zu neuen Konsumgewohnheiten angeleitet. Der Gewinn wurde nicht mit langlebigen Produkten erzielt – das wäre ja der Bilanz der Unternehmen abträglich gewesen –, sondern mit der immer schnelleren Massenproduktion. »Die gewaltige Produktivität unserer Wirtschaft verlangt von uns, dass wir den Konsum zu unserer Lebensform machen, dass wir den Kauf und Gebrauch von Gütern zum Ritual erheben, und dass wir im Konsum spirituelle Befriedigung und eine Bestätigung unseres Egos finden«, erklärte der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Victor Lebow 1955 in der Zeitschrift Journal of Retailing. »Wir müssen dafür sorgen, dass Dinge immer schneller verbraucht, verbrannt, verschlissen, ausgetauscht und weggeworfen werden.«[2]

Im ersten Nachkriegsjahrzehnt verdoppelten die Vereinigten Staaten ihre Warenproduktion. Der private Verbrauch machte zwei Drittel des Bruttoinlandsprodukts aus. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich um einen Poncho oder einen Pontiac handelte, das Ergebnis war dasselbe. Immer mehr Wohlstand produzierte immer mehr Müll. »Zwei Aspekte der amerikanischen Zivilisation stechen ins Auge«, schrieb der Essayist John Atlee Kouwenhoven. »Der Überfluss, den sie genießt, und der Müll, den sie zulässt.«[3] Nie zuvor hatte die Welt etwas Vergleichbares gesehen, so Packard: eine »Wegwerfgesellschaft«, in der Gegenstände nur scheinbar als Kleidung, Behälter oder Geräte dienten und ihr eigentlicher Zweck darin bestand, zu Müll zu werden. Zum ersten Mal war Abfall keine vertane wirtschaftliche Chance und keine Ressourcenverschwendung. Im Gegenteil: Mehr Müll bedeutete mehr Gewinn. Das war das streitbarste Argument von Die große Verschwendung: Müll werde fälschlich als Problem des Konsums behandelt, doch in Wirklichkeit sei Müll heute ein Problem der Produktion, genauer der Überproduktion.

Packard nahm zwar die amerikanische Industrie ins Visier, doch binnen einer Generation hatte die von ihm beschriebene Absurdität – eine Gesellschaft, die derart süchtig nach Wirtschaftswachstum war, dass es gleichgültig war, wenn sie einen Großteil ihrer Erzeugnisse direkt für die Tonne produzierte – den gesamten Erdball erfasst. Wie die Historikerin Victoria de Grazia in ihrer Konsumgeschichte Das unwiderstehliche Imperium schreibt, markiert das 20. Jahrhundert weniger den Triumph der freiheitlichen Demokratie über den Faschismus oder vier Jahrzehnte später den Sowjetkommunismus: Der eigentliche Sieg war ein wirtschaftlicher, nämlich der Sieg der amerikanischen Konsumkultur mit ihren Supermärkten, Markennamen und Werbeplakaten über die jahrhundertealten Handwerksgesellschaften des bürgerlichen Europa. Der Kalte Krieg machte die Wegwerfgesellschaft zum imperialistischen Projekt. Die Gelder des Marshallplans ermöglichten den Ausbau der amerikanischen Vorherrschaft über den gesamten Globus sowie den Umbau der gesamten Produktion von natürlichen Rohstoffen wie Holz, Metall und Baumwolle zu erdölbasierten Kunststoffen wie Gummi, Plastik und Polyester. Die Welt wurde nicht nur von den Vereinigten Staaten geführt, sondern sie sollte auch nach ihrem Vorbild produzieren. Und natürlich nach ihrem Vorbild wegwerfen.

Die aktuelle Müllbilanz der Welt ist astronomisch. Woche für Woche produziert die Menschheit ihr Eigengewicht an neuen Waren, von denen sechs Monate nach dem Kauf nur noch geschätzte ein Prozent in Gebrauch sind.[4] Dieses Konsummuster ist heute für mehr als die Hälfte unseres Kohlendioxidausstoßes verantwortlich.[5] Tag für Tag werden 1,5 Milliarden Plastikbecher, 120 Millionen Kilogramm Textilien, 220 Millionen Aludosen und drei Millionen Autoreifen weggeworfen.[6] Auf jeden heute lebenden Menschen kommt etwas mehr als eine Tonne Plastikmüll, der durch die Landschaft fliegt, im Boden vergraben wird oder im Meer schwimmt, und es besteht kein Zweifel, dass ein Großteil davon die Menschheit um viele Tausende oder gar Hunderttausende Jahre überleben wird. Allein in den Ozeanen treiben heute pro Kopf mehr als 21000 Plastikstücke, eine Flut von Einkaufstüten, Sixpackringen und Flaschendeckeln, deren Gewicht sich auf absehbare Zeit alle sechs Jahre verdoppeln und spätestens 2050 das Gewicht sämtlicher Fische übersteigen wird.[7] In der Minute, die Sie benötigt haben, um diesen Absatz zu lesen, wurde eine weitere Million Plastikflaschen weggeworfen und eine weitere Lastwagenladung Müll ins Meer gekippt.[8]

So weit das Panorama. Der Blick ins Detail ist noch deprimierender: In Guatemala musste die Mündung des Río Motagua – ein Gewässer, in dem drei Prozent des Plastikmülls der Welt schwimmen – mit einem mehrere Meter hohen Zaun gesichert werden, um zu verhindern, dass jeden Monat Tausende Tonnen Abfall in die Karibik gelangen.[9] In Indien wächst eine Müllhalde östlich von Neu-Delhi jährlich um zehn Meter und überragt inzwischen das Taj Mahal.[10] In Norwegen wurde 2017 ein toter Schnabelwal angespült, in dessen Verdauungstrakt mehr als 30 Plastiktüten und sonstiger Müll gefunden wurden, darunter Hähnchenverpackungen aus der Ukraine, ein Eiscremebehälter aus Dänemark und eine Chipstüte aus Großbritannien.[11] Auf den Galápagosinseln – einem der wenigen Ökosysteme der Welt, das bislang vom Vordringen des Menschen verschont wurde – ist man heute nie weiter als einen halben Meter vom nächsten Stück Plastikabfall entfernt, wie Forscher einer britischen Umweltorganisation ermittelten.[12] Auf den Malediven gibt es eine Insel namens Thilafushi, die ursprünglich gar keine Insel war, sondern eine Ansammlung von Sandbänken – bis 1991, als das Umweltministerium des Inselstaats Thilafushi als Deponie auswies und seine Dünen mit einer Geschwindigkeit von 330 Tonnen Abfall pro Tag auffüllte; bis heute ist der Müll auf ein Volumen von 25 Flugzeugträgern angeschwollen, und auf dem Ganzen thronen eine Fabrik zur Abfüllung von Methangas sowie mehrere Zementfabriken.[13] Und in der Erdumlaufbahn fliegt der Schrott von Satelliten und ausgebrannten Raketenstufen inzwischen so dicht, dass der sogenannte Kessler-Effekt näher rückt und es nicht mehr möglich sein wird, neue Raketen ins All zu schießen.[14]

Während sich der Müll in aller Welt mit beängstigender Geschwindigkeit auftürmt, passiert jedoch noch etwas anderes. Denn es war nicht nur die Ideologie der Konsumkultur, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über alle Grenzen hinweg ausbreitete.

Auch der Müll selbst ist in Bewegung geraten.

Müllterror

Abfall. Ich habe die ganze Woche an nichts anderes gedacht … Wir haben so viel von dem Zeug. Also, irgendwann haben wir doch bestimmt keinen Platz mehr dafür.

Sex, Lies, and Videotape (1989)

Die Geschichte von İzzettin Akmans Zitrushain wirft eine einfache Frage auf: Wie um alles in der Welt konnte es so weit kommen, dass eine Plastiktüte, die in Großbritannien in eine Recyclingtonne geworfen wird, für einen 5000 Kilometer entfernten kurdischen Obstbauern zum Fluch wird?

In Vance Packards Buch blieb der Müll noch in dem Land, in dem er anfiel – egal wie viel und wie gezielt er produziert wurde. Das hat sich jedoch geändert, in den vergangenen vier Jahrzehnten wurde er vom lokalen zum globalen Problem. Das 20. Jahrhundert ist auch die Geschichte der zunehmenden geographischen und psychologischen Trennung zwischen der Produktion des Mülls und seiner Entsorgung. In den 1980er Jahren nahm diese Geschichte jedoch eine merkwürdige Wende. Ein Teil unserer Abfälle wurde nicht mehr in der Deponie vor Ort entsorgt, sondern überquerte Grenzen und Meere. Aus Abfällen, die man in die nächste Tonne warf und vergaß, wurde ein Exportgut. Besonders gewinnträchtig war dabei weniger der Müll selbst, sondern vor allem dessen Transport.

Die Geschichte des Mülls verlief anders als die der übrigen Globalisierung, die nach dem Ende des Kalten Krieges ihren Anfang nahm. Sie ist nicht vergleichbar mit dem Aufstieg der organisierten Kriminalität, die nach dem Untergang der Sowjetunion in Osteuropa um sich griff. Sie unterscheidet sich auch vom Schwarzmarkthandel mit Kaviar, der im kriegsgebeutelten Kaukasus aufkam, oder vom Geschäft mit gestohlenen Autos und Sexarbeiterinnen, das mit dem Zerfall Jugoslawiens florierte. Dieser Aspekt der Globalisierung spielte sich unsichtbar direkt vor unserer Nase ab, und die Quelle der Einkünfte waren wir. In den vergangenen vier Jahrzehnten wurden Unmengen von unserem Müll im Stillen auf die ärmsten Regionen der Welt abgeladen; oft endete er in Ländern, die vor nicht allzu langer Zeit das Joch des Imperialismus abgeschüttelt hatten, nur um jetzt zu Abfalleimern der Konsumkultur des Nordens zu werden.

Spielen wir ein Spiel. Stellen Sie sich vor, Sie kommen aus einem armen Land und ich aus einem reichen. Sie sind an einem Ort zur Welt gekommen, an dem es wenig Geld und noch weniger Möglichkeiten gibt. Aber dieser Ort verfügt über echtes Kapital: Wälder, Bodenschätze, Baumwollfelder, Ölpalmen und Millionen Hektar fruchtbares Ackerland. Leider ist es nicht einfach, diese zu nutzen. Lange bevor Sie und ich geboren wurden, haben sich meine Vorfahren einen Großteil davon angeeignet. Und Generationen später, nachdem meine Landsleute Ihr Land verlassen haben, ist Ihre Wirtschaft noch immer darauf ausgelegt, Rohstoffe in mein Land zu schicken. Ich gebe zu, das ist ungerecht, also biete ich Ihnen im Gegenzug etwas an. Ihre Bäume kann ich Ihnen nicht zurückgeben, aber wie wäre es, wenn ich Ihnen stattdessen die ganzen alten Postwurfsendungen gebe, die aus Ihrem Holz hergestellt wurden? Die Goldminen will ich Ihnen nicht überlassen, aber wie wäre es, wenn ich Ihnen die ganzen alten Handys schicke, auf deren Platinen sich winzige Mengen des Edelmetalls befinden, das vielleicht sogar aus Ihrem Land stammt? Ihre Baumwollfelder mag ich Ihnen nicht abtreten, aber wie wäre es mit meinen alten Secondhand-Klamotten?

Wäre das nicht ein faires Geschäft?

Jahrhundertelang haben sich die Europäer bereichert, indem sie die südliche Erdhalbkugel als einen Ort behandelt haben, von dem sie sich nehmen konnten, was sie brauchten. Das hat sich bis heute nicht geändert, doch der amerikanische Wachstumswahn hat dem eine bösartige neue Dimension hinzugefügt. Seit den 1980er Jahren ist aus dem sogenannten globalen Süden ein Ort geworden, dem man nicht nur wünschenswerte Dinge wegnimmt, sondern in dem man unerwünschte Dinge ablädt – Dinge, die zu teuer, gefährlich, hässlich wären, oder von denen es einfach zu viel gibt, um sie zu Hause zu entsorgen. Arme Länder ermöglichen uns nicht nur, unseren hohen Lebensstandard zu wahren, sondern sie helfen uns obendrein, unsere Umwelt sauber zu halten. Es kommt zwar durchaus vor, dass der heutige Müllhandel seinen Dreck bei Nacht und Nebel an den Stränden und in den Bergen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas ablädt. Aber meist funktioniert er nach dem oben beschriebenen Prinzip: Er macht ärmeren Ländern weis, dass die Dinge, die wir wegwerfen – und die oft aus Rohstoffen hergestellt werden, die wir diesen Ländern weggenommen haben –, unschätzbare wirtschaftliche Chancen darstellen, für die sie uns auch noch bezahlen sollten.

Diese Lüge wurde schnell durchschaut. »Wenn wir nichts unternehmen, wird im Ausland bald immer mehr von ›toxischem Terrorismus‹ und ›Müllimperialismus‹ die Rede sein«, warnte ein amerikanischer Kongressabgeordneter im Sommer 1989, drei Monate vor dem Fall der Berliner Mauer.[1] Doch während sich im folgenden Jahrzehnt die Welt öffnete und Kapital und Handel entfesselt wurden, passierte etwas Merkwürdiges. Der Unmut über die Müllexporte hielt zwar an, und Dutzende Nationen unterzeichneten sogar internationale Vereinbarungen zu dessen Eindämmung. Doch der Müllhandel wuchs exponentiell weiter. Wenn es in den 1980er Jahren mit der sporadischen Entsorgung gefährlicher Industrieabfälle wie Asbest, abgelaufenen Pestiziden und alten Motorenölen begann, gehörte ab den 1990er Jahren die Verschiebung aller erdenklichen Überreste zum Tagesgeschäft. Der Müll wurde nicht nur globalisiert, er wurde sogar zu einer der tragenden Säulen der Globalisierung. Verschmierte Plastiklöffel, kaputte Fernbedienungen, zerlumpte Kleider – heute werden täglich Tausende Frachtcontainer davon um den ganzen Erdball verschifft.

Das Ergebnis? Die Auslagerung der schmutzigen Konsequenzen unseres Konsums hat die Müllproduktion noch weiter angekurbelt. Je mehr Abfälle die reichen Länder in den vergangenen vier Jahrzehnten ins Ausland verschifft haben, umso mehr haben sie produziert. In Ländern wie Deutschland oder Kanada sind sich nur wenige Bürger dessen bewusst. Denn der Müll, der um den Globus reist und oft nicht wiedergutzumachende Umweltschäden anrichtet, ist nicht der Müll, den wir mit schlechtem Gewissen in die Restmülltonne werfen und der von da auf die Deponie kommt. Es ist vielmehr das, was wir in die Recyclingtonne und den gelben Sack stecken, in dem Gefühl, dass wir damit dem Planeten etwas Gutes tun. Tatsächlich sind bestimmte Materialien wiederverwertbar, doch seit den 1990er Jahren werden wir angehalten, alles Mögliche zu recyceln – Elektrogeräte, Batterien, Styropor, Tetra Pak, Plastik und so weiter –, obwohl eine effektive Wiederverwendung schwierig oder schlechterdings unmöglich ist. Die systematische Überproduktion wurde in eine Frage der persönlichen Ethik umgemünzt: Solange wir unseren Abfall in die Recyclingtonne werfen, ist alles in Ordnung. Doch viel von dem, was angeblich »recycelt« wurde, hat dem Planeten keinen Gefallen getan. Im Gegenteil. Recycling war ein trojanisches Pferd der Umweltverschmutzung, unter diesem Deckmantel wurde giftiges Material in die ärmeren Regionen der Welt verschifft. Es gab reicheren Ländern die Möglichkeit zu einem Theater, das einem Moralitätenspiel gleichkommt, inklusive Requisiten wie gelben Säcken, grünen Punkten und flotten Werbesprüchen. So wurden die Verbraucher von ihrer Schuld freigesprochen und von der Verantwortung entbunden zu fragen, warum wir eigentlich so viel produzieren.

In der Folge entstand im globalen Süden eine gewaltige und komplexe Müllwirtschaft. Wie die Ankunft der Kartoffel in Europa oder die Einführung des domestizierten Pferdes auf dem amerikanischen Doppelkontinent zog der Export von Abermillionen Tonnen von neuen und gebrauchten Kunststoffen in Länder, die keine Erfahrung im Umgang mit diesen Materialien und keine Kapazitäten für ihre Aufnahme hatten, Konsequenzen nach sich, die wir wohl erst in einigen Jahrzehnten verstehen werden. Doch man kann ohne Übertreibung feststellen, dass in weiten Regionen entlang des Äquators die Sammlung, Sortierung und Verbrennung von Müll inzwischen die jahrtausendealte Landwirtschaft als zentrale wirtschaftliche Aktivität verdrängt hat. Mit der Verstädterung ziehen viele Menschen in Slums, wo sie auf Müllhalden ein kümmerliches Dasein fristen; 48 der 50 größten Deponien der Welt befinden sich in Entwicklungsländern und geben Millionen von Menschen informelle Beschäftigung.[2] Das passiert nicht, weil diese Länder arm sind. Im Gegenteil, es passiert, weil viele reich sind und über Rohstoffe, Erze, Ackerland und Süßwasser verfügen. Dass diese Orte zum Endlager für unsere unerwünschten Abfälle geworden sind, ist kein Zufall. Grund ist eine Verkettung von Ursachen, die sich bis in die letzte Phase des Kalten Kriegs zurückverfolgen lässt.

***

Über Müll wurden viele Bücher geschrieben. Es ist ein wichtiges Thema, das viel über unsere Werte und das Funktionieren unserer Gesellschaft aussagt. Wie oft wird unser Müll abgeholt? Wird die Müllabfuhr vom Staat übernommen, oder ist sie privatisiert? An wen wird sie delegiert?

Wenn unser Umgang mit dem Müll etwas über unsere Gesellschaften verrät, was verrät dann die globalisierte Müllverschiebung über die Welt von heute?

In diesem Buch geht es um die Frage, warum unser Müll von einem Kontinent zum anderen transportiert wird, und wie der scheinbar so banale Akt des Wegwerfens einen weltumspannenden Handel hervorbrachte, der wie ein Zerrspiegel der globalisierten Wirtschaft von Ausbeutung, Produktion und Konsum wirkt. Vier Jahrzehnte nachdem die weltweite Verschiffung des Mülls ihren Anfang nahm, gibt es kaum einen verlässlicheren Gradmesser für die Stellung eines Landes in der internationalen Hierarchie als die Frage, wer Müll annehmen muss und warum. Um es klar zu sagen, es geht hier nicht um Ästhetik. Bis zum Ende des 21. Jahrhunderts werden unsere Abfälle zur wichtigsten Ursache des Klimawandels werden. Die Verschiffung von Abermillionen Tonnen von abgeschiedenen und mit zahllosen Giften durchsetzten Kohlenstoffen in ärmere Länder gibt den Reichen, die ihre materielle Produktion drosseln und die von ihnen verschuldete Klimakrise bekämpfen müssten, die Möglichkeit, sich vor ihrer Verantwortung zu drücken.

Ehe ich fortfahre, muss ich Ihnen ein Geständnis machen. Als ich meine Recherchen zur Geopolitik des Mülls aufnahm, befand ich mich vermutlich in einer ähnlichen Situation wie Sie, die Sie diese Seiten lesen: Ich hatte keine Ahnung, warum der Müllhandel existiert und was er mit mir zu tun hat. Ich hatte nur das ungute Gefühl, dass der Müll der reichen Länder nicht verschifft und in arme Länder gekippt werden sollte. Ich würde mich nicht als Umweltschützer bezeichnen. Ich weiß wenig über die komplexen Verfahren, mit denen Erdgas zu Polyethylenterephthalat und schließlich zu einer PET-Flasche wird. Ich esse noch immer Fleisch, aber ich vermeide Plastik, wo immer ich kann, auch wenn ich bezweifle, dass die Entscheidungen von Einzelnen etwas zur Bekämpfung der Plastikepidemie beitragen können.

Doch nach zahllosen Flügen, Bus-, Zug-, Fähr-, Taxi- und Rikschafahrten; nach unzähligen Nächten in Unterkünften wie der in Guatemala, in der Scharen von Kakerlaken über den Boden huschten und Geckos an den Wänden hockten; nach der Begegnung mit zwei Polizeibeamten in Nairobi, die mich aus dem Taxi gezerrt und in eine furchteinflößende Zelle gesteckt hatten, weil ich keinen Pass bei mir trug, und denen ich umgerechnet 40 Euro in die Hand drückte (»Davon kaufen wir unseren Frauen was Nettes!«); nachdem ich gelernt hatte, dass man im schwülen Hochland von Java niemals in kurzen Hosen zu einem Interview erscheinen darf und dass man bei einem Gespräch im kühlen Landesinnern der Türkei stets an seinem Tee nippt und freundlich nickt; und nach zwei Jahren der Irrfahrt über fünf Kontinente mit ihren atemberaubenden Urwäldern, Wasserfällen, Vulkanen, Stränden, Wüsten und archäologischen Stätten, von denen ich wenig zu sehen bekam, weil ich stattdessen mit dem Rucksack die widerlichsten Deponien, Häfen und Slums dieser Länder abklapperte; nach alledem weiß ich eines:

Die Globalisierung des Mülls ist eine aberwitzige und unvernünftige Angelegenheit. Die Konzerne, die einen großen Teil unserer Konsumgüter produzieren – Coca-Cola, Nestlé, Apple, Samsung, Procter & Gamble, Unilever –, sind gute Bekannte und florierende Aktiengesellschaften. Jeder kennt sie. Vielleicht kennen Sie jemanden, der für sie arbeitet. Vielleicht arbeiten Sie sogar selbst für eines von ihnen.

Und die Unternehmen, die in Ihren Gelben Sack greifen, um den letzten schimmligen Rest an Profit herauszukratzen? Von denen haben Sie noch nie etwas gehört. Selbst wenn sie wollten, könnten Sie es nicht. Es sind Briefkastenfirmen in Anaheim oder Hongkong. Es sind Familiennetzwerke in Nigeria, Indien, dem Libanon oder China. Sie arbeiten in improvisierten Lagerhallen in Port Klang oder Daressalam. Von einem Monat zum anderen wechseln sie ihre Namen. Sie haben keinen Internetauftritt. Sie arbeiten mit WhatsApp-Nummern, Google Translate und Vettern in Newark oder Croydon. Den Handel mit wichtigen Gütern wie Stahl oder Erdöl übernehmen legendäre Namen wie Cargill oder Trafigura. Doch den Handel mit der größten Ware von allen – dem Unrat der Menschheit – erledigen Gauner und Abzocker. Sie erfragen ihre Preise in Internetforen. Sie werfen einen Blick in einen Container voll schmutzigem Plastik oder Kupferdraht und wissen ziemlich genau, woher er kommt und wohin er als Nächstes geschickt werden sollte.

»In der Welt des Abfalls brauchen Sie nicht mehr als ein Handy«, sagte mir Nathan Fruchter, ein ehemaliger Altmetallhändler von Glencore, der heute in einer der ehemaligen Sowjetrepubliken tätig ist.[3] »Sie müssen nur die richtigen Leute kennen«, verriet mir Patty Moore, einer der größten Plastikhändler Kaliforniens.[4] »Wenn Sie wissen wollen, wie der Müllhandel funktioniert, denken Sie an den Drogenhandel«, erklärte mir Teodor Niţă, ein rumänischer Staatsanwalt, der die illegale Entsorgung aus Westeuropa verfolgt. »Mit dem Unterschied, dass der Müll von den reichen in die armen Länder kommt.«[5]

Diese Leute verdanken ihre wirtschaftliche Existenz der Globalisierung. Doch ihre Tätigkeit ist oft eine Parodie der Globalisierung, sie öffnen die Schlupflöcher internationaler Handelsabkommen, nutzen schwammige Definitionen von »Müll«, »Schrott« oder »Rohstoffen«, und sie verdienen daran, dass von den 40000 Containern, die heute in Shenzhen oder Rotterdam verladen werden, nur ein Bruchteil geöffnet und ein noch geringerer Teil einer genaueren Untersuchung unterzogen wird. In einer Welt, in der wir über exakte Daten darüber verfügen, was sich wohin bewegt, bleiben selbst die groben Konturen des Müllhandels im Dunkeln.

Laut Schätzungen des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung ist allein der illegale Müllhandel noch einträglicher als der Menschenhandel, und die Vereinten Nationen kamen unlängst zu dem Schluss, dass das Volumen des globalen Handels mit Plastikmüll in den vergangenen drei Jahrzehnten noch 40 Prozent über den früheren Schätzungen lag; das bedeutet, dass seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1992 auf zwei vermutete Stück Plastikmüll in Wirklichkeit drei verschifft wurden, und dass das Billiardengeschäft mit dem Müll noch lukrativer ist als der globale Waffen-, Holz- und Weizenhandel zusammengenommen.[6] Im Jahr 2017 verwendete Interpol 30 Tage lang seine gewaltigen Kapazitäten auf eine Sonderermittlung, mit der die Wege des Mülls rekonstruiert werden sollten. Mehr als 40 Länder beteiligten sich. Dutzende Häfen wurden überwacht, Autobahnen beobachtet und Kontrollen in ländlichen Gegenden durchgeführt. Die wichtigste Erkenntnis? Nicht die vielen hundert Fälle von illegalen Mülllieferungen nach Westafrika oder Südostasien, die aufgedeckt wurden, und nicht die zig Millionen Dollar an nicht verzollten und nicht versteuerten Gewinnen. Nein: Es war die Tatsache, dass sich kaum ein Müllhändler die Mühe macht, seine Tätigkeit zu verschleiern.

»Beim illegalen Handel mit Holz oder Elfenbein verlieren Länder wertvolle Rohstoffe«, erklärte mir Joseph Poux, Leiter der Sonderermittlung von Interpol. »Aber wenn Müll außer Landes geschafft wird, entledigen sie sich einer Bürde. Sie haben allen Anreiz, ihn einfach ziehen zu lassen. Es ist ein Geschäft von unfassbaren Dimensionen.«[7]

Diesem befremdlichen, undurchschaubaren und unvorstellbar riesigen Geschäft wollte ich auf den Grund gehen: Schauplatz für Schauplatz, Müllart für Müllart, Geschichte für Geschichte zum Woher und Wohin unserer Abfälle – und was das alles mit unserem Planeten anrichtet.

IToxische Tropen

1Eine Bananenrepublik

Als die Trompete erschall,

wurde auf Erden alles bereitet,

und Gott verteilte die Welt

an die Coca-Cola Company, Anaconda,

Ford Motors und andere Konzerne.

Die United Fruit Company

sicherte sich das saftigste Stück,

die Küste im Herzen meines Landes,

die süße Taille Amerikas.

Pablo Neruda, »United Fruit Company«, 1950

Puerto Barrios ist zwar der größte Hafen Guatemalas, doch es ist ein unscheinbarer und verwahrloster Ort, ein brütendes Städtchen mit einigen tausend Betonhäuschen und einem Gewirr ungeteerter Straßen. Von Guatemala-Stadt kommt man nach einer siebenstündigen Busfahrt durch die Sierra de las Minas hierher, und auf dem letzten Stück passiert man endlose Schlangen von Lastwagen von Dole und Chiquita, die auf der einspurigen Landstraße von den Plantagen im Landesinneren zur Karibikküste unterwegs sind. Auf der Seite jedes der Kühlcontainer prangt eine matratzengroße Version des Logos, das wir von den Bananen im Supermarkt kennen. In einigen der Container könnte auch Kokain transportiert werden – das behaupten zumindest viele der Guatemalteken, denen ich begegne. Wo die Landstraße auf das Meer trifft, an der zwei oder drei Kilometer langen Küstenstraße, sitzen Hafenarbeiter herum und vertreiben sich den Rest des schwülen Nachmittags mit einer Flasche Bier der Marke Gallo. Leguane sonnen sich auf hölzernen Stegen, die in das porzellanblaue, von schmutzig braunen Schlieren durchzogene Wasser ragen. Streunende Hunde beschnüffeln Neuankömmlinge und verfolgen sie zum Spaß.

Puerto Barrios verdankt seine Existenz der Banane. Oder besser gesagt den Amerikanern, die vor mehr als einem Jahrhundert ihre Liebe zu dieser Frucht entdeckten. Noch Ende der 1880er Jahre hatten nur wenige Amerikaner je eine Paradiesfeige gesehen. Als jedoch Ende des Jahrhunderts die Zölle auf den Import aus Mittelamerika und der Karibik gesenkt wurden, entflammte ein regelrechtes Bananenfieber. Es entbrannte ein frenetischer Wettlauf darum, die Frucht nach Norden zu bringen. 1901 entdeckte ein Unternehmen namens United Fruit Company aus Boston, dass Guatemala eine ganz besondere Chance bot. Zuvor waren die Händler aus dem Norden meist nach Mittelamerika gekommen und hatten dort die Ware steigenweise von den Bauern am Hafen gekauft. Die United Fruit Company hatte eine andere Idee. Sie beschloss, in Guatemala eigene Plantagen einzurichten und die Frucht selbst anzubauen.

Allerdings hatte Guatemala nicht die Infrastruktur, die für die Umsetzung dieser Pläne nötig war. Also erklärte sich die United Fruit Company bereit, im Tausch für gewaltige Anbauflächen, die sich im Besitz der Reichen des Landes befanden, einen Großteil der Infrastruktur selbst zu finanzieren. Mit Hilfe von Theodore Roosevelts Ingenieurcorps baute das Unternehmen in den kommenden zehn Jahren eine 300 Kilometer lange Eisenbahnlinie von Guatemala-Stadt an die Atlantikküste. Sie ließ Brücken bauen und Bergwerke erschließen, richtete den ersten Postdienst von Guatemala ein und gründete die ersten größeren Funk- und Telegraphendienste.

Es dauerte nicht lange, und die United Fruit Company war »ein Staat im Staate«, wie es ein Beobachter beschrieb.[1] Als größter Grundbesitzer im größten Land Zentralamerikas gehörte es zu den Unternehmen mit den meisten Beschäftigten in der westlichen Hemisphäre. Bis 1930 wurde Puerto Barrios zum größten Hafen in Guatemala ausgebaut, auch wenn man kaum behaupten konnte, dass er wirklich Guatemala gehörte. Die Anlegestellen befanden sich im Besitz eines Unternehmens, dessen Zentrale 5000 Kilometer entfernt war, genau wie die Lagerhallen und das Hotel, in dem 1934 einige der Szenen für den Film Tarzans neuestes Abenteuer gedreht wurden. Und natürlich gehörte der United Fruit Company auch die Flotte von Kühlschiffen, die jedes Jahr mehr als fünf Millionen Bündel Bananen von Puerto Barrios in die Vereinigten Staaten transportierten.

Puerto Barrios ist ein Paradebeispiel für eine bestimmte Form des Kolonialismus im 20. Jahrhundert. Selbst wenn sich die Vereinigten Staaten und andere Länder den Anschein gaben, als würden sie ärmeren Ländern den Weg zu Entwicklung und Fortschritt ebnen, errichteten sie lediglich ein System des Raubbaus und der Ausbeutung, das nur ihren eigenen Bankiers, Industriellen und Verbrauchern zugutekam.

Bei einem Besuch im Puerto Barrios von heute kommt man nicht umhin festzustellen, dass sich erstaunlich wenig geändert hat. In Guatemala sind Eisenbahnen noch immer ausschließlich dazu da, Bananen und Kaffee vom Landesinneren an die Küste zu transportieren – die Guatemalteken reisen mit dem Bus. Und im Schatten der gewaltigen, sechs Stockwerke hohen Kräne, die Tag und Nacht die Lieblingsfrucht der Amerikaner auf Containerschiffe mit Ziel Delaware oder New Jersey verladen, kauert ein Ort, der bis heute auf eine zuverlässige Kanalisation, Trinkwasser- und Stromversorgung verzichten muss. Auch die Bananenbosse herrschen nach wie vor hier. Die United Fruit Company hat nie wirklich aufgehört zu existieren, auch wenn sie sich 1984 in Chiquita Brands International umbenannte.

Puerto Barrios ist zwar ein Beispiel für den modernen Kolonialismus. Doch ich nahm die siebenstündige Busfahrt hierher auf mich, um die verblüffenden Anfänge einer ganz neuen Form des Kolonialismus in Augenschein zu nehmen.

Im Jahr 1992, neun Jahrzehnte nach der Ankunft der United Fruit Company in Guatemala, legte die neue demokratisch gewählte Regierung des Landes Pläne für einen neuen Hafen vor, der 30 Kilometer entfernt an der Karibikküste gebaut werden sollte. Der Hafen sollte in einer Urwaldregion namens Cocolí angelegt werden und das genaue Gegenteil dessen tun, was die United Fruit Company Anfang des 20. Jahrhunderts in Puerto Barrios unternommen hatte: Er sollte Exporte aus den Vereinigten Staaten entgegennehmen. Genauer gesagt sollte er amerikanischen Klärschlamm annehmen.

Sprich: Guatemaltekische Bananen kamen nach Norden, amerikanische Scheiße sollte nach Süden.

Damals hatte Guatemala bereits eine traurige Geschichte als Giftmüllhalde amerikanischer Städte und Konzerne hinter sich. »Es konnte einem schwindelig werden bei all den Geschichten und Gerüchten, die wir hörten«, sagte mir Erwin Garzona, der Anfang der 1990er Jahre bei Greenpeace die Sondermülltransporte nach Mittelamerika verfolgte.[2] Im Jahr 1985 wollte ein Unternehmen aus Miami Abwasser in einem Küstenabschnitt in der Nähe von Puerto Barrios entsorgen; es sollte dort auf Betonplattformen verdunstet, und die verbleibenden Rückstände sollten als Düngemittel verwendet werden. Im Jahr darauf traf die Khian Sea, ein schwimmendes Wrack unter liberianischer Flagge, unangemeldet an der Küste Guatemalas ein, um mehr als 14000 Tonnen Asche und Schlacke aus einem Müllkraftwerk von Philadelphia zu entsorgen – die verkohlten Überreste von »Zigarettenstummeln, alten Schuhen und verbrauchten Batterien«, so die Presseagentur AP.[3] Wieder ein Jahr später wollte die Stadt Los Angeles auf der anderen Seite des Landes, in den Sümpfen entlang der Pazifikküste, 125000 Tonnen Klärschlamm verklappen; die Steuerzahler sollten diesen Abschnitt für 14 Millionen Dollar im Jahr »pachten«.[4] Die amerikanische Botschaft in Guatemala schrieb damals: »Wir haben die Anträge überprüft und keine Einwände. Die Verklappung von Klärschlamm könnte die Presse in Guatemala verstimmen. Mit Ausnahme dieser Einschränkung sehen wir keinerlei Schwierigkeiten.«[5] Anfang der 1990er Jahre war es nicht ungewöhnlich, dass wohlhabende guatemaltekische Familien mit großen Besitzungen an der Küste von amerikanischen Müllentsorgungsfirmen angesprochen wurden, die auf ihrem Grund und Boden Dreck abladen wollten.[6]

Cocolí war allerdings eine ganz andere Hausnummer. Seinen Namen sollte die Klärschlammdeponie von einem hübschen Wasserfall in der Region erhalten, Las Escobas (»die Besen«), benannt nach den Kalksteinfelsen, durch die das Wasser rauschte. Die Deponie sollte keine Einzellieferungen erhalten, sondern einen konstanten Strom von Klärschlamm aus Miami, Galveston und mehreren anderen Städten der Vereinigten Staaten aufnehmen, die der Regierung von Guatemala im Gegenzug eine hübsche Summe überweisen wollten. Von Las Escobas aus sollte das Abwasser am Río Dulce entlang ins Landesinnere gepumpt und im Izabal-See, dem Lebensraum von bedrohten Rundschwanzseekühen, endgelagert werden.

Laut Prensa Libre, der seinerzeit größten Tageszeitung Guatemalas, waren die Pläne im Frühjahr 1992 schon weit gereift. Für den Bau der Anlegestellen waren rund 400 Hektar Land gesichert worden. 200 Familien der Garifuna, einer afrokaribischen Minderheit, die seit mehr als 60 Jahren in Cocolí lebten, waren aufgefordert worden, ihre vier Dörfer zu verlassen. Sie sollten »die Bauernhöfe aufgeben, mit denen sie ihren Unterhalt bestritten«, und nach Puerto Barrios gehen, um dort ein neues Leben zu beginnen. Als Entschädigung versprach man ihnen ein monatliches Grundeinkommen in bar, das bereits mit staatlichen Hubschraubern gebracht worden war.[7] Das Nachrichtenmagazin Crónica berichtete jedoch, »die Bauern behaupten, sei seien drangsaliert worden, und verlangen Ermittlungen«.[8]

Es führt keine Straße nach Cocolí, der Ort ist nur vom Meer aus zu erreichen. An einem dunstigen Morgen im Mai mietete ich mir ein Boot von einem der Fischer in Puerto Barrios und ließ mich nach Norden in Richtung der Küste von Belize fahren. Es wäre schwer, einen schöneren Ort auf Erden zu finden. Die Küste des Departamentos Izabal, der Sumpfregion am Atlantik, hinterlässt einen bleibenden Eindruck bei allen Besuchern. Sie erinnert an einen Werbefilm. Ein kilometerlanger jungfräulicher Sandstrand, gesäumt von Palmen, in denen Brüllaffen hocken. Nach einer guten Stunde Fahrt biegt das Boot um die kleine, urwaldbewachsene Landzunge, die den Namen Cocolí trägt. Am Strand hacken einige Männer der Garifuna mit nacktem Oberkörper mit Macheten das Gehölz frei. Für einige Quetzals lassen sie mich anlegen, doch sie behaupten, sie hätten nie davon gehört, dass man vor 30 Jahren geplant habe, das Land unter unseren Füßen in eine Jauchegrube der Vereinigten Staaten zu verwandeln. Den Rest des Morgens gehe ich zwischen den Palmen am Strand spazieren und denke über das Schicksal nach, dem dieses Land so knapp entronnen ist.

Dass der Hafen von Las Escobas nie gebaut wurde, verdankt sich unter anderem einer Person, mit der vermutlich niemand gerechnet hatte. Im Juni 1992 verriet die damalige Gouverneurin von Izabal, eine frühere Sozialarbeiterin namens Lilian Vásquez de Guzmán, die Pläne für das Müllimportprogramm an die Presse von Guatemala. Vásquez de Guzmán machte der neuen demokratischen Führung des Landes eine lange Liste von schweren Vorwürfen. Der Drahtzieher und größte Nutznießer des Projekts sei Präsident Jorge Serrano Elías, der 18 Monate zuvor gewählt worden war und im Wahlkampf versprochen hatte, in dem Land, das ein halbes Jahrhundert lang Krieg gegen seine eigenen Ureinwohner geführt hatte, den Menschenrechten zur Durchsetzung zu verhelfen. Serrano habe dem Bau der Anlagen bei Cocolí zugestimmt, weil er selbst zig Millionen Dollar einstreichen sollte, so die Gouverneurin. Nach den Anschuldigungen begann ein hitziges Gefecht in den Tageszeitungen Guatemalas, und Serrano warf Vásquez de Guzmán seinerseits Korruption und schmutzige Geschäfte vor. Schließlich wurden die Pläne für Las Escobas begraben, doch zuvor musste die Gouverneurin außer Landes flüchten, weil sie in Puerto Barrios verfolgt worden war und um ihr Leben fürchtete. Drei Monate nachdem Vásquez de Guzmán die Regierung des zweitgrößten Departamentos ihres Landes geführt hatte, arbeitete sie in einer Apotheke in New Jersey.

Als ich Lilian Vásquez de Guzmán 30 Jahre später kennenlernte, lebte sie wieder in Guatemala, während sich Serrano im Exil in Panama befand und das Land nicht mehr betreten durfte, weil man ihm Korruption in gigantischem Ausmaß vorwarf. (Die Fälle hatten nichts mit Las Escobas zu tun.) Die inzwischen 76-jährige Vásquez de Guzmán wirkte gebrechlich. Heute lebt sie 150 Kilometer von Puerto Barrios entfernt im Landesinneren, in einem bescheidenen Haus in einem Vorort von Zacapa, einer staubigen, von Drogenbanden beherrschten Industriestadt. Während wir an einem Swimmingpool mit abgestandenem grünem Wasser saßen, tollten einige kleine Hunde um sie herum. Vásquez de Guzmán hielt unbeirrt an ihren Vorwürfen fest. Las Escobas sei ein doppeltes Verbrechen, sagte sie und blätterte mit knochigen Fingern durch vergilbte Zeitungsausschnitte. Eine kleine Clique der reichsten Männer des Landes hatte vorgehabt, sich an der Vergiftung des Landes und seiner Menschen noch weiter zu bereichern.

»Hätten Sie nicht auch versucht, das zu verhindern?«[9]

2Das Jahrhundert der Chemie

Bessere Dinge für ein besseres Leben – dank Chemie.

Werbeslogan von Du Pont, 1935 bis 1982

Die Geschichte des internationalen Müllhandels beginnt drei Jahrzehnte, bevor die Amerikaner planten, die Traumstrände Guatemalas in eine Kloake zu verwandeln. Sie nimmt ihren Anfang fern von gerissenen Geschäftemachern des Nordens und korrupten Eliten des Südens.

Am Anfang stand das schockierende Buch einer bemerkenswerten Frau und ihre bewundernswerte Absicht, künftigen Generationen eine saubere Welt zu hinterlassen.

Im Jahr 1960 geißelte der Journalist Vance Packard den künstlich angekurbelten Konsum, der das amerikanische Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit antrieb. Zwei Jahre später folgte eine noch verheerendere Kritik des amerikanischen Wohlstands, als die Meeresbiologin Rachel Carson zeigte, wie weit tödliche Gifte inzwischen in den modernen Alltag vorgedrungen waren. In ihrem Buch Der stumme Frühling ging sie viel weiter als Packard. Sie kritisierte die Konsumkultur nicht, sondern führte eine chemische Autopsie an ihr durch. Auf knapp 450 beredten Seiten präsentierte sie den amerikanischen Bürgern eine schwindelerregende Vielfalt von Substanzen, die seit den 1940er Jahren in Laboratorien zusammengebraut worden waren, um auf ihre Felder, Gärten und Gewässer gesprüht, gegossen und geschüttet zu werden. Eine davon war Dichlordiphenyltrichlorethan, kurz DDT, ein krebserregendes Insektenvernichtungsmittel, das im Zweiten Weltkrieg eingesetzt worden war, um die Verbreitung von Malaria unter den Soldaten einzudämmen, und das später als Mückenspray an private Haushalte verkauft wurde. Oder 2,4-Dichlorphenoxyessigsäure, kurz 2,4-D, ein tödliches Unkrautvernichtungsmittel, das auf Feldern versprüht wurde, in die Zellen von Weidetieren eindrang und schließlich in den menschlichen Körper gelangte. 200 chemische Substanzen waren entwickelt worden und kamen massenhaft zum Einsatz, ohne dass man die Folgen für die menschliche Gesundheit erforscht hätte. Diese Gifte hatten die amerikanische Gesellschaft und die Körper ihrer Bürger gänzlich durchdrungen.

Nun wurde klar, dass in Vance Packards »Wegwerfgesellschaft« kaum etwas wirklich »weg« kam. Die tödlichen Chemikalien –»synthetische Schöpfungen des menschlichen Erfindergeistes«, wie Carson sie nannte, die »dem Stoff des Lebens entgegengeschleudert wurden«– verblieben bis ans Ende der Tage unsichtbar in Wasserkreisläufen und im Erdreich.[1]

Die Umweltbewegung der 1960er Jahre war eine heterogene Gruppe mit ganz unterschiedlichen Interessen. Doch die Wirkung von Der stumme Frühling ist kaum zu überschätzen. Umweltschutzorganisationen wie Friends of the Earth und Greenpeace bezeichnen das Buch als ihr Gründungsdokument. Es wurde von Joni Mitchell und Glenn Frey besungen. Nachdem John F. Kennedy einen Vorabauszug gelesen hatte, berief er ein Wissenschaftlergremium ein, um die Behauptungen überprüfen zu lassen. »Wir brauchen einen Verfassungszusatz, der uns vor den modernen Giftmördern der Menschheit schützt«, forderte Verfassungsrichter William O. Douglas nach der Lektüre des Buchs.[2]

Galten Chemikalien in den 1950er Jahren noch als »Wunder« des modernen amerikanischen Lebensstils, erkannte man sie in den 1960er Jahren allmählich als heimliche Killer. Bis 1964 hatte sich Der stumme Frühling mehr als eine Million Mal verkauft. Rachel Carson erlebte diesen Meilenstein noch; im April 1964 erlag sie dem Brustkrebs, den sie möglicherweise genau den Giften verdankte, die sie jahrelang erforscht hatte.

Auch dank der Veröffentlichung von Der stumme Frühling veränderten Amerikaner in den kommenden anderthalb Jahrzehnten ihr Verhältnis zu ihrer Umwelt. Neue Gesetze regelten, welche Chemikalien produziert werden durften und wie sie entsorgt werden mussten. Und damit betraf die Korrektur ihrer Beziehung zu chemischen Substanzen auch ihr Verhältnis zum Müll.

Das für den Müllhandel entscheidende Gesetz war ausgerechnet das Gesetz zur Pestizidkontrolle aus dem Jahr 1972, das als Antwort auf Der stumme Frühling erlassen wurde. Dieses Gesetz verbot Dutzende Chemikalien, darunter auch das berüchtigte Insektenvernichtungsmittel DDT