Der letzte Himmel - Alena Jabarine - E-Book

Der letzte Himmel E-Book

Alena Jabarine

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Beschreibung

Bunte Eiskugeln, süße Säfte, lange laue Nächte mit zirpenden Grillen – eingebettet in die Geborgenheit einer großen Familie. Diese Bilder prägen Alena Jabarines Erinnerungen an die Sommer ihrer Kindheit. Weniger als 20 Kilometer trennen das Haus ihrer Großeltern, das sich im heutigen Israel befindet, vom besetzten palästinensischen Gebiet. Als Kind hatte sie nur eine Ahnung davon, dass eine zunächst unsichtbare Grenze dieses Land in zwei Welten teilt – mit großen Unterschieden, was die Rechte, die Lebenserwartungen und auch den Status in den Augen der Welt angeht. Anfang 2020 zog Jabarine nach Ramallah, um zu verstehen, was »Palästina« bedeutet: für die Menschen auf der einen Seite der Mauer und für die auf der anderen. Und für ihre eigene Identität. In ihrem Buch erzählt sie Geschichten von Menschlichkeit und Lebensfreude, aber auch von Widerstand. Geschichten, die dabei helfen, die Realität in Israel und Palästina zu verstehen.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Der letzte Himmel

ALENA JABARINE (geboren 1985 in Hamburg) ist Deutsch-Palästinenserin mit deutscher und israelischer Staatsbürgerschaft. Sie studierte Politik, absolvierte ein journalistisches Volontariat beim NDR und arbeitete viele Jahre für öffentlich-rechtliche Formate. Von 2020 bis 2022 lebte sie in Ramallah im besetzten Westjordanland und war dort für eine deutsche Stiftung tätig. In dieser Zeit begann sie, auf Instagram aus dem Alltagsleben der palästinensischen Bevölkerung zu berichten.

Bunte Eiskugeln, süße Säfte, lange laue Nächte mit zirpenden Grillen – eingebettet in die Geborgenheit einer großen Familie. Diese Bilder prägen Alena Jabarines Erinnerungen an die Sommer ihrer Kindheit. Weniger als 20 Kilometer trennen das Haus ihrer Großeltern, das sich im heutigen Israel befindet, vom besetzten Westjordanland. Als Kind wusste sie nicht, dass eine Grenze dieses Land spaltet – und seine Menschen einteilt in Gruppen mit ungleichen Rechten, Lebenserwartungen und Wertigkeiten in den Augen der Welt.2020 entschied sich Jabarine, auf die andere Seite der Grenze zu ziehen, dort zu arbeiten und den Alltag zwischen Mauern und Checkpoints zu leben, wenn auch mit dem Privileg, jederzeit wieder gehen zu können. Klug beobachtet, sorgfältig dokumentiert und liebevoll erzählt, ist ein so erhellendes wie berührendes Buch entstanden, das Perspektiven eröffnet, die im deutschen Diskurs zu kurz kommen.

Alena Jabarine

Der letzte Himmel

Meine Suche nach Palästina

Ullstein

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Vorwort

Prolog

1   Ankommen

2   Judy

3   Sterile Gebiete

4   Alhamdulillah

5   God Bless Our Home

6   Birzeit

7   Warten

8   Schönheit

9   Outlaws

10   Zaytoni

11   Weihnachten

12   Arbeiter

13   Demokratie

14   Krieg

15   Nachbarn

16   Amira Hass

17   7850

18   Randy

19   Verräter

20   Masafer Yatta

21   Monster

22   Gaza

23   Guy

24   Balqees

25   Besucher

26   Ramadan

27   Shireen

28   Adnan

29   Rückkehr

Danksagung

Anmerkungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Vorwort

Vorwort

»Für wen schreibst du dieses Buch, Alena?«, fragt meine Freundin Diana. Ich halte inne und denke an Farah, die mir zum Abschied, als ich nach fast drei Jahren Palästina verließ, einen Gedichtband von Mahmoud Darwish schenkte. »Die Erde wird zu eng für uns«, las ich, während meine Maschine in Tel Aviv abhob und über die Küste davonflog. »Die Erde wird zu eng für uns, zwängt uns in den letzten Durchgang.« Ich dachte an die klaustrophobische Realität des Lebens unter Besatzung. Mauern und Grenzen. An besetztes Wasser, an besetzten Himmel. »Wo sollen die Vögel fliegen nach dem letzten Himmel?«, fragt Darwish.1

Ich flog im September 2022 zurück nach Hause und fand die Enge auch hier. Denn für das, was ich gesehen und erlebt hatte, gibt es in Deutschland keine Sprache. Bereits das bloße Beschreiben von Realitäten ruft Abwehr hervor. Vielleicht zu Recht. Haben wir doch versagt mit all unseren Genfer Konventionen und Menschenrechtserklärungen, die nichts wert sind, wenn sie niemanden schützen. Eine Erkenntnis, die mir Angst macht. Und die allen Angst machen sollte. Das Sprechen über Palästina wird beobachtet, eingeschränkt, kriminalisiert. Linien der Sagbarkeit verschieben sich ständig. Viele wollen nichts Falsches sagen und sagen stattdessen nichts. Auch wenn dies heute offener und in einem neuen Ausmaß geschieht, so ist dieser Zustand mir dennoch nicht neu. Seitdem ich erwachsen bin, habe ich gehört, dass man vorsichtig sein soll, wenn man über Palästina redet.

Ich hatte nicht vor, ein Buch zu schreiben, als ich 2020 nach Ramallah zog. Ich hatte keinen journalistischen Auftrag und wollte meine Zeit vor Ort nicht durch die Filter der Verwertbarkeit erleben. Die Orte, die ich besuchte, besuchte ich, weil ich es so wollte. Aus Neugier oder weil das Schicksal mich dorthin geleitet hatte. Die Menschen, die ich traf, und die Gespräche, die ich führte – all das tat ich für mich, mit offenem Herzen und im Wunsch, sie und dadurch schließlich auch mich selbst besser zu verstehen.

Nach meiner Rückkehr behielt ich viele Geschichten, Gedanken und Fragen für mich. Konnte sie mir nicht vorstellen in einer Öffentlichkeit, deren Debatten sich in nicht enden wollenden rhetorischen Spiralen verstricken, sich um sich selbst drehen. Wollte sie schützen. Erst als ich im November 2023 einen Text über meine Kufiya für eine deutsche Zeitung schrieb – zu einem Zeitpunkt, als Sprechen sich anfühlte, als würde ich barfuß über ein Minenfeld gehen, verstand ich, dass es gerade jetzt notwendig war, nach vorne zu treten. Dass die Unterdrückung von Sprechen vielleicht ein Hinweis darauf ist, dass Sprache mächtig ist. Deswegen existiert heute dieses Buch.

Ein Buch über die Jahre, die ich in Palästina verbrachte. Über eine Zeit vor dem Angriff der Hamas am 7. Oktober, doch geschrieben in dem Zustand danach. Israel und Palästina sind in aller Munde und gleichzeitig herrscht Sprachlosigkeit. Angesichts der Verschleppten, der unzähligen Verletzten und der Anzahl von Toten, die nicht aufhört zu steigen. Angesichts der Schamlosigkeit politischer Machthaber:innen, der Hilflosigkeit, der Brüche. Die Entmenschlichung palästinensischen Lebens hat ein Ausmaß angenommen, das mir die Luft zum Atmen nimmt. Die Stimme, den Stift zu erheben ist auch der Versuch, dem etwas entgegenzusetzen.

Zu zeigen, dass wir hier sind und dass wir für uns selbst sprechen können. Bedingungslos und frei. Viel zu häufig sollen wir uns im Bezug zu hiesigen Wertevorstellungen distanzieren und positionieren, anstatt über die Realitäten zu sprechen, denen Palästinenser:innen jetzt in diesem Moment ausgesetzt sind. Über vergangene Zeiten zu schreiben ist für mich auch das Festhalten einer Wahrheit, die ihre Gültigkeit niemals verlieren wird.

Ich schöpfe Kraft aus den Erinnerungen, die sich heute anfühlen wie aus einem anderen Leben. Mit Freund:innen parkten wir abends auf kleinen Hügeln, ausgestattet mit Wasserpfeifen, Sonnenblumenkernen, Softdrinks. »Siehst du, da hinten, das Meer, Alena?«, fragten sie. Ich kniff meine Augen zusammen und sah es nicht. »Es ist ein wenig neblig heute«, erklärten sie, während ich versuchte, meinen Blick zu schärfen. »Ja, stimmt!« sagte ich dann. »Da ist es, das Meer.«

Mich ausgerechnet jetzt zu erinnern, war eine Herausforderung. Auch weil mein Blick auf die Welt sich verändert hat. Alte Notizen zu lesen, Gespräche mit Freund:innen und Familie ins Gedächtnis zu rufen war schmerzhaft. Ihre Träume und Pläne schienen im Rückblick oft wie aus einem Paralleluniversum angesichts der Zerstörung, die wir heute erleben. Manche Menschen, denen ich begegnete, leben nicht mehr. Andere stehen immer wieder auf, bauen auf, passen ihre Pläne den neuen Umständen an. Wie könnte ich, hier, jemals in Hoffnungslosigkeit versinken, wenn sie, dort, es nicht tun?

Und so schreibe ich in einem Gefühl der Scham darüber, Worte aneinanderzureihen, während Tausende unter Trümmern ersticken. Worte, an deren Kraft ich glaube, obwohl sie nicht imstande sind, der Brutalität Einhalt zu gebieten. Trost und Inspiration finde ich in den Werken anderer und verstehe auch durch sie, dass es sich lohnt, Worte zu finden. Weil es hilft, einer Verzweiflung entgegenzutreten, die wir uns nicht leisten können. Im Angesicht von Ungerechtigkeit haben wir die Verantwortung, unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Stumm zu sein in der Gesellschaft, in der ich zu Hause bin, ist keine Option.

Dieses Buch ist ein unvollständiger Einblick in meine Zeit in Palästina. Eine Sammlung persönlicher Erlebnisse auf einem Stück Land, auf dem ich mich, trotz allem, so lebendig gefühlt habe wie an keinem anderen Ort. Geschichten, von denen ich geglaubt hätte, sie würden eine zentrale Rolle spielen, schrieb ich nicht auf. Dafür fanden scheinbar bedeutungslose Szenen plötzlich ihren Platz in der Erzählung. Nicht immer gelang es mir, mich von dem Klima, in dem ich dieses Buch schrieb, freizumachen. Doch zumeist versuchte ich mir vorzustellen, dass dieses Buch, irgendwann, offenherzig und unvoreingenommen, mit Liebe gelesen wird.

»Vielleicht für mich«, antworte ich Diana schließlich auf ihre Frage. Vielleicht für meine Freund:innen, denke ich später. Oder für all diejenigen, die die Hoffnung aufgegeben haben, gehört zu werden in einem Raum, dessen Wände immer näher zu kommen scheinen. Die nicht mehr daran glauben, dass man uns aufrichtig zuhört, wenn wir unsere Geschichten so erzählen, wie wir es wollen. Mit unseren Begriffen und ohne dem Bedürfnis nachzugeben, unsere eigene Menschlichkeit immer und immer wieder unter Beweis zu stellen.

»We’ll keep talking and they’ll listen«, hat die britisch-palästinensische Autorin Isabella Hammad kürzlich gesagt. »When they’re ready, they’ll listen.«2

Prolog

Ich gehe blinzelnd der Abendsonne entgegen. Vor meinen halbgeschlossenen Augen entstehen Bilder wie damals in den kleinen Klickfernsehern. Die Kulisse bilden hügelige, steinige Landschaften, deren flache Linien von vereinzelten Olivenbäumen unterbrochen werden. Im Vordergrund versperren überquellende Mülltonnen den Fußweg. Ich rieche den süßlichen Geruch der durch die Sonne erhitzten Abfälle, den Kardamom im Kaffee meiner Onkel, das Chlor der frisch gewischten Fliesen. Und dann den Duft von Sittis selbst gebackenem Brot. Meine Großmutter breitet die flachen Vollmonde auf einem Tuch auf dem Boden aus. Ungefragt richte ich sie ordentlich an und verbrenne mir die kleinen Finger.

Mit frischen Früchten und Gemüse beladene Pick-ups rollen gemächlich durch die Straßen. Aus Megafonen tönen in Dauerschleife die Stimmen der Bauern, die die Schekelpreise für ihre Tomaten und Aprikosen ausrufen und die Hausfrauen vor ihre Türen locken. Glänzende Pferde galoppieren durch das Bild, gefolgt von Kindern in Fleecepyjamas und den viel zu großen Latschen ihrer älteren Geschwister. Ich denke an sorgfältig frisierte Mädchen, saubere Scheitel, Spangen und Schleifen. Nie gelingt es meiner deutschen Mutter, meine Locken so zu bändigen, wie die palästinensischen Mütter es können.

Ich klettere mit meinen Cousinen in Häuserskelette, deren Besitzer die Fertigstellung ihrer zukünftigen Paläste auf unbestimmte Zeit verschoben haben, weil ihnen das Geld ausgegangen ist. Wir steigen den Hügel Iskandar hinauf, an dessen Fuß das Haus unserer Großeltern liegt. Saubere Wäsche weht an langen Leinen und teilt Dächer in kleine Abschnitte. Teres und Rim sind leichtfüßiger unterwegs als ich, darauf bedacht, nicht auf den Seifenwasserbächen auszurutschen, wenn ein Nachbar seine Terrasse wischt. Oben am Spielplatz angekommen, essen wir quietschbunte Eiskugeln und trinken viel zu süße Säfte, während ich ehrfürchtig die älteren Jugendlichen beobachte.

Ich sehe mich in vollen Autos durchs Land brausen, meine Onkel singen lachend deutsche Kinderlieder mit: »Wer dahin will, hebt die Hand – nach Kinderland …« An unserem Lieblingspool in einem Kibbuz liest meine Mutter unter ihrer Lieblingspalme und isst dabei Wassermelone. Im Hintergrund kreischen Kinder eines palästinensischen Sommercamps im Wasser. In Akka springt mein kleiner Bruder mit braun gebrannten, drahtigen Jungs von den hohen Stadtmauern, die Napoleon nicht zu erobern vermochte, in das felsige Meer, das in dunklem Türkis schimmert. Mein Vater filmt ihn stolz. Er ist voller Vertrauen, dass niemand diese wilde Brandung besser kennt als die Jungs, die hier zu Hause sind und seinen Sohn aufgenommen haben, obwohl er nur zu Besuch ist.

Ich bin zurückversetzt in die langen Nächte unserer Sommerferien: in die Zauberwelt des Morgengrauens, wenn die Gebetsrufe sich mit dem Krähen des Nachbarhahns und dem Jaulen der Straßenhunde vermischten. Wenn mein Vater und meine Onkel noch immer laut debattierend am Küchentisch saßen, beobachtete ich von der Terrasse meiner Großeltern aus die Welt. Ihr Haus liegt auch heute noch an einem der höchsten und letzten Punkte der Stadt Umm Al-Fahem – nach Rahat und Nazareth die drittgrößte palästinensische Stadt in Israel.3 Ein schmaler, unscheinbarer Weg befand sich nur wenige Hundert Meter vom Haus entfernt. Dahinter lag das Westjordanland.

Von der Terrasse aus sah ich Menschen an mir vorbeiziehen – sie sahen arm aus, waren vollbepackt mit Taschen und Tüten. Ich sah auch Kinder. Wohin gingen sie so schwer beladen und allein, fragte ich mich. Heute weiß ich, dass sie die Grenze nach Israel überquerten, um als Tagelöhner Geld für ihre Familien zu verdienen. Das Bild eines schmalen Jungen hat sich bis heute in meine Erinnerung geprägt. Von dem Gewicht seiner Lasten nach hinten gebeugt, bewegte er sich beschwerlich voran. Wir waren zwei Kinder vom selben Land und im gleichen Alter, doch genoss ich meinen Urlaub, während er unter Gefahren seine Familie versorgte.

Eines Nachmittags wurde ich Zeugin davon, wie israelische Polizisten einen Mann niederknüppelten, der ebenfalls auf unsere Seite gekommen war. Stundenlang musste er gebückt und geknebelt in der Hitze vor dem Polizeijeep hocken. Ich weiß nicht mehr, ob ich damals fragte, warum das geschah. Doch das Bild hat sich bis heute eingebrannt.

So gewährte mir die Terrasse meiner Großeltern als Kind die ersten Berührungen mit Palästinenser:innen von der anderen Seite. Ich wusste damals nicht, dass auch meine Familie in ihren Schuhen stecken könnte, hätten meine Großeltern sich nach ihrer Vertreibung nur wenige Kilometer weiter östlich niedergelassen.4 Dann hätten sie die israelische Staatsbürgerschaft nicht bekommen und mein Vater wäre wahrscheinlich nie für sein Studium nach Deutschland gekommen, wo er meine Mutter kennenlernte. Es hätte also auch mich, das Mädchen zwischen Deutschland und Palästina, nicht gegeben, das dort auf der Terrasse saß und sich zu Hause fühlte in dem kleinen Ausschnitt des Landes, der ihr vertraut war.

Es dauerte noch viele Jahre, bis ich mich selbst auf die andere Seite der militärischen Sperranlage begab, die heute da steht, wo sich damals nur ein unscheinbarer Weg befand. Bis ich den Ort besuchte, den die Welt für Palästina hält. Durch die Sommer meiner Kindheit hindurch bedeutete Palästina für mich das Gefühl von Geborgenheit in einer großen, starken Familie.

1   Ankommen

Hier saß ich zusammengekauert vor einer kleinen glühenden Elektroheizung und fror trotzdem. Die Kälte in Ramallah ist anders. Kriecht sie einmal in deinen Körper, lässt sie dich nicht wieder los. Ich fror im Schlaf und fror beim Aufwachen, unter der Dusche und den ganzen Tag über, bis ich frierend wieder schlafen ging. Mit einer Wärmflasche war die Nacht zu überstehen. Doch am Morgen war meine Nasenspitze eiskalt, und es kostete mich Überwindung, unter den schweren bunten Decken wieder hervorzukriechen.

Manchmal packte ich mich dick ein und verließ das Haus. Ich spazierte durch meine Straße, die Hollanda Street, am Vertretungsbüro der Niederlande vorbei. Ich ging weiter durch Al-Bireh, unsere teure Nachbarschaft mit schicken Villen, an meinem neuen Arbeitsplatz vorbei und schaute, was es für Supermärkte in der Nähe und ob es Restaurants gab. Doch alles schien grau und ungemütlich, als hinge der Himmel ganz tief. Nebel nahm mir die Sicht auf die hügelige Landschaft, Regen verwandelte die Straßen, noch immer behangen mit prächtiger Weihnachtsdekoration, in reißende Flüsse, die den Müll in Richtung der überlaufenden Gullys trugen. Dies würde mein neues Zuhause sein. Es war ganz anders als alles, was ich kannte.

Nur wenige Wochen war es her, dass meine Freundin Elisabeth mir die Stellenausschreibung einer deutschen Stiftung in Ramallah über Facebook weitergeleitet hatte, auf die ich selbst im Leben nicht gekommen wäre. Aus einem Bauchgefühl heraus bewarb ich mich und überließ die Entscheidung dem Schicksal. Und das Schicksal entschied.

So war ich spontan und für viele überraschend nach Palästina gezogen. Doch das Gefühl, dass ich hier irgendwann einmal leben müsste, hatte ich schon lange. Ich wehrte mich stets gegen die Vorschläge meiner Eltern, doch auch mal woanders Urlaub zu machen. Während mein Bruder irgendwann nach New York, Costa Rica und Mexiko reiste, verbrachte ich auch als Erwachsene fast jeden Urlaub meines Lebens in Palästina. Palästina war für mich der wärmste Ort der Welt. Aufregend. Ich beneidete meine Cousinen, die immer hier lebten, fließend Arabisch sprachen und stets in den Häusern unserer Onkel Zuflucht und in ihren Worten Trost finden konnten.

Ich wollte nicht mehr unbeholfen sein in einem Land, das ich als meine Heimat empfand. Ich suchte die Konfrontation mit der Realität, mit dem Alltag hier. Wollte all das erfahren, was jenseits der Vorstellungen lag, die ich aus der Ferne und auf Besuchen entwickelt hatte. Ich fühlte mich verbunden mit diesem Land und wusste gleichzeitig so wenig. Ich kannte die Zahlen und Fakten, konnte aber kein palästinensisches Gericht zubereiten. Ich war in der Lage, UN-Resolutionen aufzuzählen, hätte aber keine Blume in Jerusalem anhand ihres Dufts benennen können. »But to write, to draw that map, to pull us into the wilderness, you cannot merely stand at the edge«, schreibt Ta-Nehisi Coates. »You have to walk the land.«5

Ich musste das Land selbst durchwandern. Ich sagte kaum jemandem Bescheid, wollte keinen Druck, vielleicht würde ich nach einigen Wochen wiederkommen, vielleicht auch für immer bleiben. Online suchte ich nach einer Unterkunft und entschied mich für die große Wohnung in der Nähe meines Büros. Mir gefiel der Zitronenbaum im Vorgarten. Ich willigte ein, für eine Übergangszeit mit der Tochter des Hauses zusammenzuwohnen, einer jungen US-Palästinenserin, die bald wieder in die USA zurückkehren würde. Leise packte ich meine Sachen und verließ Deutschland diskret. Ich erinnere mich noch nicht einmal mehr an den Abschied am Flughafen, vermutlich spielte ich alles herunter, denn meinen Vater emotional zu sehen war für mich schon immer schwer auszuhalten. Und dies war, auch das war klar, ein emotionaler Akt. Ich flog von Hamburg nach Tel Aviv, denn der Weg nach Palästina führt immer über Israel. Eine Strecke, die ich schon mein Leben lang geflogen bin. Sonst war ich immer schon während des Hinflugs mit der Wehmut des Abschieds erfüllt, doch dieses Mal müsste ich die Tage nicht zählen. »Welcome to Israel«, stand auf Postern im Ankunftsterminal. »Your Life Will Never Be the Same.« Ich war überzeugt, dass das stimmte.

Stromausfall in Al-Bireh. Nun war es nicht nur kalt, sondern auch noch finster. Ich verkroch mich unter den Decken. Es war nicht der erste palästinensische Winter, den ich erlebte. Mit sechzehn Jahren wohnte ich während meines Auslandsjahres in Haifa für einige Wochen bei meinen Großeltern in Umm Al-Fahem.6 Sidi, so nannte ich meinen Großvater, verbot uns, mit der Klimaanlage zu heizen, weil er wusste, wie viel Strom sie verbrauchte. Stattdessen quetschten Sitti – meine Großmutter –, meine Tante Tahia und ich uns zu dritt vor einen kleinen elektrischen Heizkörper, den ich an einem Henkel mit mir herumtrug wie ein Kind seinen Teddybären. Wir wärmten uns nicht nur daran, sondern rösteten darauf auch beim Frühstück das Pitabrot, bis es leicht angekokelt rauchte und bereit war, in Olivenöl und Za’atar getunkt zu werden. Der Duft erfüllte das ganze Haus.

Es gab damals weder Smartphones noch Laptops, und das Fernsehprogramm verstand ich nicht, denn ich sprach kaum Arabisch. So ließ ich meinen Blick in langer Weile über jedes Detail im Wohnzimmer streifen: Auf dem Fernseher stand ein kupferner Stammbaum auf einem Häkeldeckchen. An den Ästen baumelten kleine Rahmen mit Fotos von Sidi und Sitti und ihren neun Söhnen. Sidi hatte sie, penibel wie er war, in der Chronologie ihrer Geburt angeordnet. Auch für die drei Töchter gab es einen Stammbaum, der sich auf einem kleineren Fernseher im Schlafzimmer befand. Entlang der linken Wand hingen noch einmal die Söhne, pyramidenartig präsentiert, jeweils an der Seite meiner Großeltern und ihrer Braut.

Die einzige Braut, die kein weißes Kleid trägt, ist meine Mutter. Die Hochzeitsfeier meiner Eltern hat in ihrer Studentenwohnung in Hamburg-Eimsbüttel stattgefunden. Auf dem in Umm Al-Fahem nachträglich geschossenen Foto steht Mama lachend in einem kurzen schwarzen Kostüm neben meinen Großeltern – die schönste Braut von allen.

Im Wohnzimmer hingen schief und viel zu hoch weitere Fotos an allen Wänden: Porträtzeichnungen meines jungen Großvaters mit elegantem Schnauzbart, meine Großeltern in Mekka, Moskau und Andalusien, unscharf und vermutlich von einem Passanten fotografiert. Sidi und Sitti blicken staatstragend in die Kamera. Auf einem Foto drehe ich mich im Kreis, damit mein geblümtes Kleid in die Luft fliegt. In Dauerschleife haben wir »Lambada« und »I Wanna Dance with Somebody« auf dem Plattenspieler meiner Onkel abgespielt und ich habe barfuß auf dem kühlen Steinboden des Innenhofs des alten Hauses getanzt.

Links von mir, dem Mädchen im geblümten Kleid, hing die Zeichnung eines anderen Mädchens. Wunderschön liegt es in einer Blutlache. Ich war von diesem Bild fasziniert, verlor mich in ihm, könnte es in jedem Detail beschreiben. Dabei wusste ich damals noch nicht, wer dieses Mädchen war.

Im Gästesalon, dort, wo man sich präsentierte, hatte Sidi die akademischen Zertifikate seiner Kinder aufgehängt. Urkunden israelischer, italienischer und deutscher Universitäten bezeugten die Tatsache, dass er es geschafft hatte. Auch seine eigenen Zeugnisse hatte er gerahmt. Sidi war in Jenin zur Grundschule gegangen.

Ich liebte es, durch das Haus meiner Großeltern zu streifen und alles zu inspizieren. Dies war der Teil der Familie, den ich, im Gegensatz zu meiner Familie in Deutschland, immer nur ausschnittartig erlebte, von dem ich aber trotzdem viel in mir trug. Das wusste ich.

Nachts ignorierte ich Sidis Anordnung, die Heizung auszuschalten, und nahm sie heimlich mit in mein Schlafzimmer. Als er mich einmal zum Morgengrauen weckte, damit ich mit ihm die letzte Mahlzeit vor dem Fastentag einnehmen könnte, erblickte er die glühende Heizung, sagte jedoch nichts. Ich war seine Lieblingsenkelin, die sich stundenlang mit ihm hinsetzte, um die Verlobungs- und Hochzeitsvideos seiner Kinder anzuschauen. Für andere eine Qual, denn die Aufnahmen dokumentierten jede Minute des Abends, damit man später genau inspizieren könnte, wer da gewesen war und wie und mit wem getanzt hatte. Manche Hochzeitsfotografen waren besonders kreativ, und so teilte sich das Bild immer wieder in kleine Mosaik-Kacheln auf, die sich dann zu einer neuen Szene zusammensetzten. Symbole wie Tauben, Ringe und Herzen wurden wild und bunt eingeblendet. Für mich als Mädchen aus Deutschland eine Wunderwelt: die bunten Kleider, das Gold, die ausgelassenen Gäste. Sidi und ich hatten eine enge Verbindung, und er verzieh mir trotz seiner Strenge auch die glühende Heizung am Bett. Ich genoss trotz der Kälte die Nähe und Wärme meiner Familie.

Jetzt, zwanzig Jahre später, war ich auf der anderen Seite der Sperranlage, im Westjordanland. Allein. Jeden Morgen ging ich zu Fuß ins Büro der Stiftung, das sich in einer alten ehemaligen Privatvilla befand. Apfel-, Aprikosen- und Zitronenbäume standen im Garten. In der Küche lernte ich meine neuen Kolleginnen kennen, war eingenommen von Mirals Charisma und berührt von Farahs samtiger Stimme, die mir umgehend das wohlige Gefühl vermittelte, nach dem ich mich gesehnt hatte.

»Ich liebe die Winter in Palästina«, sagte sie, während sie neben dem Gasherd darauf wartete, dass das Wasser zu kochen begann. »Die Natur spielt verrückt, sie umarmt dich. Der Regen, die Stürme, der Schnee …« Sie griff nach Salbeiblättern in einem Glasbehälter und streute sie mit Bedacht in den dampfenden Kessel. »Der Winter ist die Zeit der Familien. Alle sitzen zusammen, die Alten erzählen Geschichten …« Ich stand auf und lehnte mich an die Heizung. »Vor allem in den Dörfern, auf dem Land. Jetzt wird hier überall die Ernte des kommenden Sommers gesät: Weizen, Gerste und Kichererbsen. Man macht kleine Feuer, singt traditionelle Lieder und bittet Gott um Regen, damit es nächsten Sommer genug Nahrung gibt.« Sie nahm den Kessel vom Gas und stellte ihn auf einen Untersetzer. »Kennst du Khobbeizeh?« Ich kannte es nicht. »Oh mein Gott, ya Aleeena! Khobbeizeh wächst im Winter überall in Palästina. Weißt du, wo ganz besonders? Auf dem Gelände der Al-Aqsa. Wenn wir mal zusammen nach Jerusalem fahren, pflücken wir es dort und ich bereite es dir zu. Mit Zwiebeln und Brot … Dafür würde ich sterben!« Und während der Tee unsere Büroküche mit dem Geruch frischen Salbeis füllte, setzte sie sich, griff nach ihrem Handy und spielte »Der Winter ist zurückgekehrt« von Fairuz, um ihrer Liebe für die kalte Jahreszeit Nachdruck zu verleihen.

Auch meine Übergangsmitbewohnerin schien das Gemeinschaftsgefühl des Winters zu genießen. Nach Feierabend, wenn ich nach Hause kam, begegnete ich auf dem Weg in mein Zimmer fast täglich ihren Freund:innen im Wohnzimmer: Mitarbeiter:innen internationaler NGOs, Künstler:innen und feministischen Aktivist:innen. Auch eine Frankfurterin, Pauline, ging bei uns ein und aus. Sie klagte darüber, wie wenig Lust sie hatte, zurück nach Deutschland zu fliegen, wie gern sie bleiben würde. Doch Israel gestattete ihr statt des gängigen Dreimonatsvisums nur zwei Wochen Aufenthalt.

Internationals lieben Ramallah, denn hier trifft man spannende und herzliche Menschen, es gibt gute Gin Tonics und Supermärkte mit Hafermilch, wenn sie auch ungefähr dreimal so viel kostet wie in Deutschland. Palästinenser:innen hingegen haben ein gespaltenes Verhältnis zur Stadt, und das hat unterschiedliche Gründe. Einerseits ist Ramallah in all seiner Freizügigkeit für Menschen aus konservativen Orten eine Provokation. Zudem gilt der Stolz vieler Palästinenser:innen vor allem Städten wie Nablus, Bethlehem oder Hebron, Städten mit einer Tausende Jahre alten Geschichte und einem reichen kulturellen Erbe. Das ehemalige christliche Dorf Ramallah ist dagegen historisch unbedeutend, in erster Linie Arbeits- oder anonymer Zufluchtsort. Vor allem aber repräsentiert Ramallah für viele Palästinenser:innen Heuchelei – die Farce eines Staates, der nie einer war. Hier sitzt die unbeliebte politische Führung, die Palästinensische Autonomiebehörde (PA). Sie verleiht Ramallah das Gesicht einer Hauptstadt, obwohl Palästinenser:innen Jerusalem, auf Arabisch Al-Quds, als ihre Hauptstadt betrachten.

Jerusalem ist nah, doch für viele Palästinenser:innen unerreichbarer als Singapur. Israel hat Ost-Jerusalem 1967 besetzt und 1980 mit dem Jerusalemgesetz erklärt, dass das vollständige und vereinte Jerusalem die Hauptstadt Israels sei. Obwohl dies völkerrechtlich nicht anerkannt ist, schnitt Israel Jerusalem Anfang der Nullerjahre durch den Bau der Mauer vom Rest des Westjordanlands ab.7 Deswegen haben sich die palästinensischen Ministerien, Institutionen und internationalen Organisationen mit ihren gut gekleideten palästinensischen und internationalen Angestellten in Ramallah angesiedelt. Die reichen Kinder der politischen Führung rasen in glänzenden Range Rovers durch die Straßen – an ihren Altersgenossen vorbei, die trotz akademischer Abschlüsse am Straßenrand Mais verkaufen.

Ramallah ist bis heute eine Blase, in der muslimische und christliche Palästinenser:innen ebenso wie antizionistische Jüd:innen und Internationals gemeinsam in Hipster-Cafés abhängen, in der Techno-Partys und Oktoberfeste veranstaltet werden und in der es angeblich sogar Swinger-Clubs gibt. Doch die Realität lauert nur zehn Minuten Autofahrt entfernt. Ramallah ist inzwischen vollständig von israelischen Siedlungen umgeben, die die Stadt daran hindern, sich auszudehnen: Beit El im Norden, Psagot im Osten, Pisgat Ze’ev im Süden und Dolev im Westen. Ramallah hat sieben Ein- und Ausgänge, die vom israelischen Militär jederzeit geschlossen werden können. Selbst auf den Dächern der schicksten Villen stehen Wassertanks, denn in der Regel gibt es hier nur an zwei Tagen in der Woche fließendes Wasser.8 Israel kontrolliert einen Großteil der natürlichen Wasserressourcen im Westjordanland und verkauft Palästinenser:innen ihr eigenes Wasser zu horrenden Preisen.9

Nur etwa vier Wochen nach meiner Ankunft in Ramallah rief die Vermieterin, die in den USA lebte, mich an. Sie wollte mir die Wohnung doch nicht vermieten. Sie sei davon ausgegangen, ich sei »ganz deutsch« und habe erst jetzt erfahren, dass ich aus einer Familie arabischer Israelis komme, so sagte sie. Das sei so nicht abgesprochen gewesen. Ich war irritiert, verstand nicht, ob ihr Problem das »arabisch« oder das »Israelis« war, und nahm das Schicksal an.

»Mach dir nichts draus«, sagte Farah am nächsten Tag in der Büroküche. »So sind die Leute aus Al-Bireh, hochnäsig, halten sich für etwas Besseres. Erst recht diejenigen, die in die USA ausgewandert sind. Wir finden etwas Cooleres für dich, was willst du schon hier, so nah am Büro?« Ich nahm ihre Fürsorge dankbar an. Hier funktionierte alles über Menschen, die dich an die Hand nahmen. »Vielleicht halten sie dich auch für eine israelische Spionin«, grinste sie.

Farah begann, über Internetplattformen zu suchen, zu telefonieren und nach Feierabend mit mir durch die Stadt zu fahren, jungen Immobilienmaklern hinterher, die uns eine Wohnung nach der anderen zeigten. In Ramallah wurde gebaut und gebaut, immer weiter nach oben. Unser Bauchgefühl sagte bei einer kleinen Zweizimmerwohnung Ja. Sie gehörte einem wohlhabenden Arzt aus Nablus, war mit schweren dunklen Holzmöbeln zugestellt, die ich altertümlich und er offenbar edel fand, und befand sich in einem der schickeren Wohnviertel der Stadt: Al-Masyon. Dr. Rohi musterte mich streng, die Brille vorn auf der Nase, bevor ich den Mietvertrag unterschreiben durfte. Wer meine Familie sei, wollte er wissen. Ob ich verheiratet sei. Ich betonte, dass ich für eine große deutsche Organisation arbeite, die ein regelmäßiges Gehalt garantiere. Ich versuchte, brav zu wirken. Die sogenannten Internationals waren bekannt für ihr ausuferndes Verhalten und jegliche Unsittlichkeit fiel auf das Ansehen der Wohnungsbesitzer:innen zurück. Dr. Rohi sagte zu. Das Geld sollte ich, wann immer er in der Stadt war, bar bezahlen: 450 Dollar pro Monat.

In meiner ersten Nacht in der neuen Wohnung heulten die Hunde im Tal vor meinem Schlafzimmerfenster. Ich öffnete es und blickte auf einen beleuchteten Hügel. Mithilfe von Maps begriff ich, dass dies die israelische Siedlung Psagot war. So nah. Ich schloss das Fenster.

Am Tag nach meinem Einzug klopfte ein junges Mädchen von nebenan an meine Tür und überreichte mir einen Teller mit winterlichen, selbst gebackenen Teigwaren: Zeyneps Finger, in Zuckersirup getränkte Grießkekse und Dahdah, Kuchenstücke aus Schichten von Grieß, Kokosnuss und Nüssen. Wenn in Palästina gekocht oder gebacken wird, teilt man, erst recht mit Menschen, die allein sind.

Für meine neue Wohnung brachte mir meine Kollegin Miral eine ihrer Gasheizungen vorbei, und die heizte auch während der zahlreichen Stromausfälle unbeirrt weiter. Ich überwand meine Angst davor, dass die Gasflasche explodieren könnte, und kroch immer näher an das Gerät heran. Einige Male so nah, dass ich Löcher in meinen Pyjama brannte und mich noch lange zwei kleine Narben an diese einsamen Abende erinnerten. War das Gas leer, wählte ich eine Nummer und Männer kamen mit einem Truck voller Gasflaschen, die sie innerhalb von Sekunden für etwa 75 israelische Schekel, was ungefähr zwanzig Euro entspricht, austauschten. Überhaupt gab es hier für jedes Problem Nummern oder Männer. Wenn auch weitaus weniger luxuriös, so hatte ich das Gefühl, dass das Zusammenleben in Palästina komfortabler war als in Deutschland. Es gab nichts, was man nicht rund um die Uhr und an jedem Tag im Jahr besorgen oder erledigen konnte.

Oft kam es vor, dass Menschen mich fragten, ob ich etwas bräuchte, wenn ich gedankenversunken unterwegs war. Erkundigte ich mich nach dem Weg, forderte man mich auf, ins Auto zu steigen, fuhr mich oder begleitete mich zu Fuß. Auf jeden Small Talk folgte eine Einladung zum Essen, die ich aus Höflichkeit ablehnte. Jede noch so kleine Unterhaltung offenbarte die unglaublichen Geschichten, die jeder hier erzählen konnte.

Die Menschen waren offen und kommunikativ. Ich fühlte, dass sie den Austausch mit Besucher:innen aus dem Ausland schätzten. Vielleicht weil er ihnen Einblicke in Welten bot, die viele von ihnen selbst nie erkunden durften. In Warteräumen sprangen Männer auf, um mir einen Platz anzubieten, Jungs trugen meine Einkäufe, wenn sie sahen, dass ich allein war, zum Tanken musste ich das Auto nicht verlassen. Ich fühlte mich sicher und aufgehoben, von einer Gemeinschaft getragen, wie ich es aus Deutschland nicht kannte. Doch ich lernte bald, dass diese Art der Nähe auch erdrückend sein konnte, wenn man nicht freiwillig gewählt hatte, sich stets im Blickfeld anderer aufzuhalten. Denn auch wenn es in Ramallah Nachtclubs, Literaturfestivals und leuchtende Billboards gab, so waren die meisten Menschen hier eingeschlossen, gefangen in ihrem Heimatland.

Meine neue Straße grenzte unmittelbar an Qaddura, eines der vielen Flüchtlingscamps im Westjordanland. Es ist winzig klein und im Gegensatz zu den anderen Camps mitten in der Stadt gelegen. Die improvisierten mehrstöckigen Gebäude im Camp sind wie Tetris-Blöcke so angeordnet, dass sie eine wachsende Anzahl von Menschen auf einem nicht wachsenden Raum beherbergen können. Hier leben die Nachkommen von Palästinenser:innen, die 1948 ihre Dörfer verlassen mussten, um Platz für den neuen Staat Israel zu machen. Sie kamen aus Orten wie Lid, Lifta und Jaffa. Ein großer Teil der Campbewohner:innen sind Kinder, von denen einige bei mir in der Straße spielten, denn weder in ihrem Camp noch in ihren Wohnungen gab es Platz. Ich freute mich, wenn ich nach Hause kam und sie auf mein Auto zulaufen sah. Sie waren meine ersten Freund:innen in der mir noch fremden Heimat.

Farah, meine Kollegin, zog mich in ihren Bann, seit ich sie das erste Mal sah. Vielleicht war es die Würde, die sie ausstrahlte. Ihr schwarzes Haar glänzte wie das Amulett um ihren Hals – die Ayat al-Kursi, der Koranvers, der sie schützen sollte. Zunächst schien sie mich mit freundlicher Skepsis zu betrachten. Sie hält mich für eine dieser Europäerinnen, dachte ich, die für ein paar Monate kommen, ihre Privilegien auskosten und dann wieder gehen. Und irgendwie war das ja auch so.

Wenn es regnete, holte sie mich morgens ab, und wann immer ich Fragen hatte, schrieb ich ihr. Wie viel zahle ich dem Taxifahrer, welcher Supermarkt ist empfehlenswert, wie lade ich den Strom in meiner Wohnung auf? Wenn ich mit meinen begrenzten arabischen Sprachkenntnissen nicht weiterkam, rief ich sie an, reichte mein Telefon der Person hinter dem Schalter und ließ die beiden direkt sprechen. Auch das war gängige Praxis unter Palästinenser:innen. Farah gab mir nie das Gefühl, von meinen Fragen genervt zu sein, und ich dachte bald, dass vielleicht auch sie als alleinlebende Frau dankbar dafür war, mit mir eine Person gefunden zu haben, die für spontane Ausflüge ins Einkaufszentrum, Restaurantbesuche oder auch nächtliche Fahrten durch die Umgebung bereit war.

Farah kam aus Jericho, der am tiefsten gelegenen und angeblich ältesten Stadt der Welt, voller Dattelpalmen und Bananenplantagen, in der man im Sommer vor Hitze die klimatisierten Häuser nicht verlassen kann. Dass sie allein in Ramallah wohnte, war ungewöhnlich, doch unvermeidlich, denn unter Militärbesatzung täglich zwischen Städten zu pendeln ist kein erfolgversprechendes Unterfangen. Dabei trennen nur etwa fünfundzwanzig Kilometer Luftlinie Ramallah und Jericho, eine Zahl, die hier nicht viel bedeutet. Ich fragte mich lange, woher Farah ihre Ruhe nahm. Sie war anders als die Gesellschaft um sie herum, in der viele Menschen vor Nervosität mit den Beinen zuckten oder eine Zigarette nach der anderen rauchten. Vielleicht war es die enge Beziehung zu ihrer Familie. Täglich telefonierte sie mit ihren Eltern, erzählte ihnen alles, von Projekten bei der Arbeit bis zu ihren Mahlzeiten. Jedes Wochenende verbrachte sie bei ihnen in Jericho und kam dann mit Dosen für ihr Gefrierfach wieder zurück, denn, ebenso wie ich, war Farah keine Köchin.

Vielleicht war es auch ihr Glaube. Das Kopftuch hatte sie vor einigen Jahren abgelegt, doch ihre Gebete verrichtete sie konsequent und pünktlich. Disziplinierter als diejenigen, die abends die Gebete, die ihnen tagsüber nicht in den Plan gepasst haben, in einem Rutsch nachholen. Manchmal saß ich in Farahs Büro auf dem Sofa und wartete, während sie vor ihrem elektrischen Klavier in einem weißen Gewand die Bewegungsabfolgen vollzog. Dass ich im Raum war, störte sie nicht, sie war woanders. Ich dachte an die Yoga- und Achtsamkeitsübungen, zu denen meine Freundinnen in Deutschland sich durchrangen, um ihren Alltag zu überstehen. Farah war davon überzeugt, dass Gott der beste Planer war, und obwohl sie kaum über ihren Glauben sprach, übertrug sich ihre Gewissheit auf mich und gab mir Zuversicht, wann immer es schwer war, nicht den Verstand zu verlieren.

2   Judy

»Yalla, komm nach Haifa, ich habe ein Auto für dich gefunden«, sagte mein vierter Onkel am Telefon, nachdem mein Vater ihn kurz nach meiner Ankunft in Ramallah von Deutschland aus mit der Suche beauftragt hatte. In unserer Familie sprachen wir meistens Englisch. Ich lernte erst spät Arabisch und es erforderte sprachliche Eloquenz und Präzision, um in den hitzigen Debatten, die meine Familie ständig und um alles führte, eine Chance zu haben. »Cool, welche Marke, welche Farbe?«, wollte ich von meinem Sofa aus wissen. »Das habe ich nicht gefragt«, antwortete er. »Und es spielt auch keine Rolle. Was zählt, ist, dass es sicher ist und du nicht irgendwo im Westjordanland liegen bleibst.« Bliebe ich im Westjordanland liegen, so die Sorge meines Onkels, könnte möglicherweise niemand schnell zu mir gelangen.

Kein Auto war für mich keine Option. Für Palästinenser:innen im Westjordanland gibt es Busse nur auf bestimmten Strecken. Was würde es auch für einen Sinn machen, hier Bushaltestellen und Fahrpläne zu installieren?10 Auf besetztem Land, wo Menschen von der Willkür des israelischen Militärs abhängen, brauchen sie ein flexibles System. Daher nutzen diejenigen, die kein eigenes Auto haben, Sammeltaxen. Die Fahrer dieser gelben Kleinbusse sind über die aktuelle Lage bestens informiert, wissen, wenn Siedler auf Landstraßen Autos angreifen oder wo Soldat:innen plötzlich einen Checkpoint geschlossen haben. Die Fahrer finden immer eine Lösung. Im Zweifel den Weg über Felder und durch abgelegene Dörfer. Im Westjordanland ist unversehrtes Ankommen die Priorität, und das Streben nach Pünktlichkeit aussichtslos.

Die Fahrer starten erst dann, wenn alle Plätze besetzt sind. Oft wartete ich in halb vollen Taxen, auf einem Parkplatz in Hebron oder am Straßenrand in Bethlehem. Neben mir eine gestresste Studentin mit Kopfhörern auf den Ohren, vor mir ein Mann mit Einkaufstüten, der Fahrer draußen rauchend. Ein Minusgeschäft kann er sich nicht leisten. Wenn die Hoffnung auf weitere Passagier:innen geschwunden ist, schlägt meistens irgendjemand vor, doch einfach die Kosten für die leer gebliebenen Plätze aufzuteilen. Hauptsache, es geht los.

Sobald das Taxi sich in Bewegung setzt, kommt das Zahlungssystem in Gang. Man klopft der Person vor sich dezent auf die Schulter oder macht aus Gründen des Anstands anderweitig auf sich aufmerksam, denn Männer und Frauen berühren sich in der Regel nicht oder zumindest nicht vor den Augen anderer, es sei denn, sie sind blutsverwandt. Dann reicht man kommentarlos einen Schein oder Münzen nach vorn. Hat man nicht den passenden Betrag, wühlt der Fahrer in seiner Schatulle und gibt häufig erst sehr viel später das Rückgeld aus. Auf mysteriöse Weise findet stets der richtige Betrag seinen Weg zurück.

Selten fürchtete ich in Palästina so sehr um mein Leben wie während der Fahrten im Sammeltaxi. Ich fokussierte mich auf die Koransuren, die in Dauerschleife aus den schlechten Boxen ertönten, und ergab mich dem Schicksal. »Kheir inshallah«, sagt man – mit Gottes Hilfe würde alles gut werden.

Doch diese Angst war nicht der Grund, aus dem ich ein eigenes Auto brauchte. Vielmehr ging es um die Tatsache, dass auch der Bewegungsradius der Sammeltaxen von der Militärbesatzung bestimmt wird. Die israelische Sperranlage und die Militär-Checkpoints sind die physischen Außengrenzen für Palästinenser:innen im Westjordanland. Da ich diese Grenzen mit meinem israelischen Pass überqueren konnte und wollte, kam für mich nur ein eigenes Auto mit israelischem Kennzeichen infrage. Nun wartete eines in Haifa auf mich.

Ich hatte Panik bei der Vorstellung, allein in einem neuen Auto die lange Rückfahrt von Haifa nach Ramallah anzutreten – auf noch unbekannten Straßen, durch besetztes Gebiet. Also fragte ich Merit, die gerade ein Praktikum bei uns im Büro absolvierte, ob sie Lust auf einen Trip nach Haifa habe. Frühmorgens warteten wir darauf, dass der Bus 218 von Ramallah-Zentrum aus zum Damaskustor in Ost-Jerusalem losfährt. Der große grüne Bus war nicht zu übersehen, ganz allein stand er auf dem Platz, um den herum die Stadt erwachte. Aus einzelnen Läden erklangen Koran-Rezitationen, an einer Ecke stand ein kleiner duftender Kaffeewagen. Nur wenige Menschen stiegen ein, vor allem Expats und Tourist:innen. Palästinenser:innen dürfen nur mit Sondergenehmigung nach Jerusalem fahren.

Der Bus bahnte sich seinen Weg vorbei an Schulkindern in blau-weiß gestreiften Uniformen und an einem Verkäufer, der Berge von Orangen auf einem hölzernen Wagen vor sich herschob. Nach längerer Fahrt auf einer Hauptstraße erreichten wir schließlich den Qalandia-Militär-Checkpoint.11 Wir hielten in einer der Schlangen und ich beobachtete still den unwirklichen Ort, an dem wir uns befanden. Zu unserer Rechten die Mauer mit dem Banksy-Graffito, das ein Mädchen bei dem Versuch zeigt, mit sieben Ballons über die acht Meter hohe Mauer zu gleiten. Daneben ein ausgebrannter Militärturm, an dem eine abgewetzte israelische Fahne hing. Vor uns kontrollierten bewaffnete Soldat:innen die Autos. Palästinensische Kinder versuchten, den wartenden Fahrer:innen Wasserflaschen oder Schokowaffeln zu verkaufen, während weiter hinten Palästinenser:innen hinter Betonblöcken darauf warteten, zu Fuß die Inspektion des massiven Militärapparats zu durchlaufen.

Drei Männer betraten den Bus und verlangten unsere Pässe. Die Nähe zu Gewehren nicht gewohnt, kramten die Internationals ehrfürchtig ihre Papiere aus ihren Taschen, dann öffnete sich die Schranke und der Bus passierte den Checkpoint. Hier lag die Mauer zu unserer Linken. Israel, das die Grenzen seines Staatsgebiets nie offiziell definiert hat, hat die Mauer größtenteils auf palästinensischem Land gebaut. Sie schlängelt sich immer wieder tief ins Westjordanland hinein und macht manchmal sogar kleine Schlaufen um palästinensische Dörfer.12 Die Mauer ist mehr als doppelt so lang wie die sogenannte Grüne Linie, die seit dem Waffenstillstandsabkommen von 1949 als international anerkannte Grenze des Staates gilt.13

Nach nur dreißig Minuten erreichten wir das Damaskustor, von dem aus Sammeltaxen und Busse in Städte auf beiden Seiten der israelischen Sperranlage fahren. Hinter den Mauern der Altstadt blitzte die goldene Kuppel des Felsendoms hervor, als Merit und ich in die Straßenbahn zum Jerusalemer Busbahnhof stiegen. Ich hielt mich an einer der Stangen fest und beobachtete die Menschen. Am Damaskustor war der Waggon noch voll von Palästinenser:innen, doch schon wenige Stationen weiter betraten orthodoxe Jüd:innen die Bahn. Vor mir auf der Bank saßen nebeneinander zwei fromme Frauen mit Kopftuch und Rock, eine Muslimin und eine Jüdin. Am Busbahnhof, der gleichzeitig ein kleines Einkaufszentrum war, kamen dann, ob sie wollten oder nicht, alle zusammen: von Palästinenser:innen über orthodoxe Jüd:innen, Student:innen, Soldat:innen und Internationals.

Im Bus von Jerusalem nach Haifa saßen Merit und ich hintereinander in den letzten beiden Reihen, die ganze Fahrt über unterhielten wir uns laut. Merit, umgedreht auf den Knien sitzend, erzählte mir von ihren Erlebnissen in Ramallah. Von einem Club namens Radio, palästinensischen Rapkonzerten und langen Dabke-Nächten in einer Bar namens Garage. Ich kannte das Westjordanland bisher vor allem von politischen Exkursionen und hatte über die Jahre enge Beziehungen zu Familien in unterschiedlichen Städten aufgebaut, doch die alternative Szene Ramallahs war mir fremd. Merits Ausführungen faszinierten mich.

»Ich spreche auch Deutsch.« Ich guckte nach rechts und blickte in das Gesicht der jungen Frau neben mir, die ich bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht richtig wahrgenommen hatte. »Meine Großeltern kamen aus Österreich und Deutschland. Woher kommt ihr?«

»Aus Deutschland«, sagte ich.

»Und wir arbeiten in Ramallah«, fügte Merit hinzu.

Die Frau nahm ihre Kopfhörer aus dem Ohr und wendete sich uns zu.

»Ramallah?«, fragte die Frau ungläubig. »Ist es nicht gefährlich dort?«

Sie sprach leise, schüchtern.

»Ehrlich gesagt habe ich mich noch nie irgendwo so sicher gefühlt«, sagte Merit. »Ich bin ständig nachts unterwegs, gehe zu Fuß nach Hause, alles ist fein.«

»Warst du schon mal dort?«, fragte ich nach rechts.

»Nur als Soldatin. Beim Militär haben sie uns immer davor gewarnt … Ich hasse meinen Militärdienst!«, fügte sie plötzlich hinzu. »Ich muss so viel arbeiten, für so wenig Geld, und ich bin so weit weg von zu Hause.« Ich wunderte mich, dass sie uns das erzählte. »Es gibt vieles, über das ich gern reden würde, doch das kann ich erst, wenn ich meinen Dienst im Sommer beendet habe.«

Unser Gespräch klang ab, den Kopf ans Fenster gelehnt, hörte sie weiter etwas, das nach Rockmusik klang. Merit und ich sprachen nun zurückhaltender und schwiegen irgendwann. Mein Blick fiel auf zwei palästinensische Jugendliche, die direkt vor zwei orthodox-jüdischen Jugendlichen saßen. Lautes Arabisch vermischte sich mit lautem Hebräisch. Sie waren an die Präsenz der jeweils anderen gewöhnt.

Als wir uns für den Ausstieg bereit machten, sprach die junge Frau mich noch einmal an: »Wirst du im Juli noch in Ramallah sein?«

»Vermutlich ja«, sagte ich. »Warum?«

»Würdest du mich mitnehmen, mir die Stadt zeigen?« Stille. »Als Zivilistin, nicht als Soldatin?«

»Ja, würde ich.«

»Ehrlich?« Es schien ihr wichtig zu sein. Wir tauschten Telefonnummern und Facebook-Profile und verabschiedeten uns.

Die Begegnung blieb mir im Gedächtnis. Was hatte den inneren Drang in ihr ausgelöst, ohne Uniform und Waffe an den Ort zurückzukehren, an dem sie als Soldatin gedient hatte? Von dem ihr erzählt wurde, dass er gefährlich sei? Warum ließ sie ihn nicht hinter sich, hinter den Mauern und Zäunen, wie vermutlich die meisten es taten? Dieses Treffen mit einer Soldatin in einem Raum, der so neutral war, wie er es hier nur sein konnte, würde für mich in den folgenden Jahren eine Ausnahme bleiben. Wir saßen nebeneinander, zwei Frauen, in der Lage, die gleiche Sprache zu sprechen. Es wäre nie zu einer ähnlichen Unterhaltung gekommen, wären wir uns am selben Tag an einem Checkpoint begegnet – sie in Uniform und ich als vermeintliche Gefahr. Genauso wie es zu vielen anderen Begegnungen niemals kommen kann, an einem Ort, an dem Menschen durch Tausende sichtbare und unsichtbare Grenzen voneinander getrennt werden. Was sie dazu bewogen hat, sich uns zu öffnen, habe ich nie erfahren. Auch nicht, ob sie den Schritt auf die andere Seite als unbewaffneter Mensch jemals gewagt hat. Aufgrund der bald eintretenden Pandemieeinschränkungen kam es nie zu einem Treffen.

Einige Stunden später saßen Merit und ich in dem weißen Hyundai i30, den ich auf den Namen Judy getauft hatte – nach dem Verkäufer, einem alten Schulfreund meines Onkels. Mit dem gelben israelischen Kennzeichen würde ich nun auf allen Seiten der Mauer und durch Militär-Checkpoints fahren dürfen. Noch wusste ich nicht, wie zentral die Rolle dieses Autos in den kommenden drei Jahren für mich sein würde. Mein Refugium, wenn ich Emotionen hinausschreien musste, mein mobiler Kleiderschrank, wenn die Besatzung mich daran hinderte, nach Hause zu fahren, der Ort für stundenlange Gespräche mit Farah bei Anistee, wenn die Routine des Westjordanlands uns nachts auf die Straßen trieb.

Von Haifa nach Ramallah sind es rund 150 Kilometer. Die Route 2 verläuft zunächst Richtung Süden am Mittelmeer entlang, das zu unserer Rechten glitzerte. Bei diesem Anblick und »Donʼt Start Now« von Dua Lipa im Radio empfand ich hier zum ersten Mal Frühlingsgefühle.

»Wo ich jetzt schon ein Auto habe und wir im Norden sind, wollen wir bei meiner Großmutter vorbeifahren?«

»Klar!«, sagte Merit.

Seit meiner Ankunft hatte ich Sitti noch nicht besucht. Ich freute mich auf sie, wollte aber vor allem mein schlechtes Gewissen beruhigen. Wir drehten um und bogen Richtung Osten ab, weg vom Meer, in Richtung der Hügel. Umm Al-Fahem ist Teil der sogenannten Triangel-Region, eine von zahlreichen Städten innerhalb des israelischen Staatsgebiets, in denen ausschließlich Palästinenser:innen leben.

Wenige Minuten vor der Ankunft kamen wir an einer Kreuzung zum Stehen. »Das hier ist unser Land. Von dort bis genau dort. Und auf der anderen Seite, das da, das gehört alles uns«, hatten meine Onkel mir bei früheren Fahrten genau hier gesagt und auf die linke Seite gezeigt.

Dort hatte sich das Dorf meiner Urgroßeltern befunden: Al-Lajoun.14 Inmitten eines Tals, dessen Land als das ertragreichste Land der Region gilt. Alles wuchs hier, von Wassermelonen über Kichererbsen bis hin zu Baumwolle. 331,3 Dunam hatte Uropa Sidi Khalil hier besessen und bewirtschaftet. Das entspricht ungefähr vierundvierzig Fußballfeldern, so haben wir es irgendwann mal ausgerechnet. Seine Ernte verkaufte er in beträchtlichen Mengen in der gesamten Region: Weizen, Gerste, Simsim. Er war ein wohlhabender Mann gewesen.

Doch dann kam 1948, die Nakba. Hunderttausende Palästinenser:innen wurden vertrieben und flohen nach Jordanien, Syrien, in den Libanon, das Westjordanland, nach Gaza und an andere Orte, und ließen das, was sie besaßen, zurück. Israel erließ das sogenannte Absentees’ Property Law, mit dem sämtliches Eigentum der sogenannten Abwesenden zum »Eigentum Abwesender« wurde und vom Staat enteignet werden konnte, ohne Entschädigung.15

Und obwohl Sidi Khalil das Land nicht verlassen hatte und sich in Umm Al-Fahem, nur wenige Kilometer davon entfernt, befand, wurde mithilfe anderer Gesetze auch sein Land enteignet. Und weil Umm Al-Fahem innerhalb der Grenzen des neuen Staates Israel lag, wurde Sidi Khalil zum israelischen Staatsbürger. Die Besitzurkunden für sein Land verwahrte er, so wie die meisten Palästinenser:innen, sorgfältig und vererbte sie nach seinem Tod an seine Kinder. Bis heute sind sie der wertvollste Besitz meiner Familie. Denn bis heute glauben viele Palästinenser:innen daran, dass es irgendwann Gerechtigkeit geben wird. Bis dahin scherzen sie, auch über die verlorenen Häuser. »Akhathouha mafrousha«, sagen die Alten lachend – »Sie nahmen unsere Häuser möbliert«. »Und der Kaffee, der war noch warm.«

Ganz in der Nähe des verlorenen Dorfes Al-Lajoun befindet sich das UNESCO-Kulturerbe Megiddo. Es ist ein Ort mit historischer und biblischer Bedeutung, laut der Johannes-Offenbarung soll hier die letzte Schlacht stattfinden: Armageddon. Genau da, wo Sidi Khalil einst seinen Sesam anbaute. Wenn Tourist:innen kommen, sehen sie die Überbleibsel der arabischen Häuser nicht. Ein Pinienwald, der später vor die Ruinen gepflanzt wurde, versperrt die Sicht.

Zum ersten Mal fuhr ich die Strecke meiner Kindheit selbst. Wir bogen nach rechts, an McDonaldʼs vorbei, wo die Landschaft hügeliger wird. Auf beiden Seiten passierten wir Auffahrten zu palästinensischen Städten. Umm Al-Fahem erreichten wir nach zehn Minuten. Die Stadt war gewachsen: Einkaufszentrum reihte sich an Einkaufszentrum, auch jüdische Israelis kamen für ihre Großeinkäufe hierher, nur blieben sie in der Regel unten, am Stadteingang. Die Energie der vielen Menschen, Lichter und Geräusche erfasste mich durch das offene Fenster.

Mit Leichtigkeit fand ich das Haus, in dem Sitti inzwischen allein wohnte, am höchsten Punkt des Berges. Wir parkten und stiegen den mit Jasmin bewachsenen Treppenaufgang hinauf, unter dem sich Sittis kleiner Garten befand: ein Zitronenbaum, ein Grapefruitbaum und ganz viel Minze. Sittis Tür stand wie bei den meisten palästinensischen Häusern offen. Sie war alt geworden. Inzwischen war sie über neunzig und saß wie damals an ihrem Platz vor der Elektroheizung. Ihr Gesicht erstrahlte, als sie mich sah: »Willkommen, willkommen der Schönen«, sagte sie mit ihrer krächzigen Stimme. Ich küsste ihre Wangen, über ihrer rechten Schulter hing ein langer geflochtener Zopf. Tante Tahia brachte Tee, wir setzten uns.

»Ich werde nicht lange bleiben, Sitti, aber ich habe mir ein Auto gekauft und wollte dich kurz grüßen.« Ich ließ meinen Blick schweifen. Alles stand und hing an seinem alten Platz. Der Stammbaum, die Hochzeitsbilder, das tote Mädchen.

Ich bereue noch immer, dass ich meinem Großvater nicht mehr Fragen gestellt habe, als er noch lebte. Zum Aufwachsen unter britischer Besatzung, seiner Studienzeit in Damaskus und dem Erleben der Nakba. Doch ich liebte auch die Anekdoten meiner Oma, deren blau-silberne Augen vor Freude über meine Anwesenheit leuchteten. Am liebsten erzählte sie von ihren drei Jahren in der Schule. Nicht nur das, ihr Vater, Sidi Yousef, hatte sogar Geld für den Bau einer Mädchenschule zur Verfügung gestellt. Vor achtzig Jahren keine Selbstverständlichkeit. Und sie wiederholte eine weitere Geschichte ihres Vaters, der gegen die britische Besatzung Palästinas gekämpft hatte. Es hieß, als Sidi Yousef sich weigerte, seine Waffe abzugeben, hätten die Briten ihn zur Strafe nackt in einen Kaktus-Strauch geworfen. Meine Urgroßmutter hielt bis zu ihrem Tod an der Geschichte fest, dass sie noch Jahre später Stacheln aus dem Körper ihres Mannes ziehen musste. Sitti war stolz auf ihren Vater. Wer Widerstand leistete, war ein Held.

»Bleibt doch!«, sagte Sitti wie immer. So wie ich vermisste auch sie die alten Zeiten, das volle Haus, als viele ihrer Söhne noch zu Hause lebten, immer jemand kochte, diskutierte, im Weg lag oder schlief. Doch alle waren erwachsen geworden, in die Städte gezogen, sodass Sittis Haus sich nur noch an Feiertagen, manchmal an Freitagen füllte.