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Kevin Lacz diente im Irakkrieg der legendären Navy-Elitetruppe SEAL Team THREE. Schulter an Schulter mit »American Sniper« Chris Kyle kämpfte er in der Schlacht von Ramadi. Er und sein Team waren maßgeblich für die Absicherung der Schlüsselregionen verantwortlich. Der letzte Sniper ist ein schonungsloser und bewegender Bericht über Lacz' Zeit im Dienst und seine Einsätze an der Front. Er nimmt den Leser mit in die Welt eines Navy SEALs und lässt ihn die harte Realität des Krieges spüren. Fesselnd bis zum Schluss enthüllt Lacz Details aus seiner Mission in Ramadi. Er liefert Einblicke in das hitzige Gefecht unter Extrembedingungen und die erschreckenden Erfahrungen, die das Team dort tagtäglich machte. Reflektiert beleuchtet Lacz aber auch den Schrecken des Krieges, erzählt von seinen Gefühlen, als er den ersten tödlichen Schuss abgegeben hat, und zeigt auf, wie ihn diese Erfahrungen bis heute prägen und wie er daran gewachsen ist.
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Seitenzahl: 494
Veröffentlichungsjahr: 2017
KEVIN LACZ
MIT ETHAN E. ROCKE UND LINDSEY LACZ
EIN NAVY-SEAL-SCHARFSCHÜTZE BERICHTET ÜBER DIE SCHLACHT VON RAMADI
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen:
1. Auflage 2017
© 2017 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Die englische Originalausgabe erschien 2016 bei Threshold Editions, einem Imprint von Simon & Schuster, Inc., unter dem Titel The Last Punisher. Copyright © 2016 by Kevin Lacz. All rights reserved. Published by arrangement with the original publisher, Threshold Editions, a Division of Simon & Schuster, Inc.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Die Erläuterung des Begriffs Sniper auf S. 186 f. entstammt dem Buch: Michael Lee Lanning, Blood Warriors: American Military Elites (New York: Random House, 2002), S. 235 f.
Übersetzung: Dr. Kimiko Leibnitz
Redaktion: Matthias Michel
Umschlaggestaltung: Laura Osswald
Umschlagabbildung: Kevin Lacz, John Moore / Staff
Satz: Digital Design, Eka Rost
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN Print 978-3-7423-0170-3
ISBN E-Book (PDF) 978-3-95971-626-0
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95971-625-3
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Für G. W. und A. R.
Vorwort
Geleitwort
Prolog
Kapitel 1: Kaulquappe
Kapitel 2: Neuling
Kapitel 3: Charlie 13
Kapitel 4: Wechseln Sie mich ein, Coach!
Kapitel 5: Der erste Kill eines Punishers
Kapitel 6: Gefecht im Ma’Laab
Kapitel 7: Viele Opfer
Kapitel 8: Den Nagel auf den Kopf getroffen!
Kapitel 9: Hochmut kommt vor dem Fall
Kapitel 10: Einsatz mit Bernie
Kapitel 11: Kettensägenmassaker
Kapitel 12: 23 Tote in 24 Stunden
Kapitel 13: Zwei zum Preis von einem
Kapitel 14: Der Briefträger ist da
Kapitel 15: Patrouille hat Kontakt
Kapitel 16: Bauchschuss
Kapitel 17: Iwo-Jima-Spiele
Kapitel 18: Atemlos durch die Nacht
Kapitel 19: Soldat angeschossen
Kapitel 20: Alles auf Stopp
Kapitel 21: Letztes Geleit
Kapitel 22: Zahltag
Kapitel 23: Ein letzter Einsatz
Kapitel 24: Abreise
Epilog
Glossar
Dank
Ich lernte Kevin »Dauber« Lacz kennen, als ich 2009 mit Chris Kyle an seinem Buch American Sniper arbeitete. Chris versicherte mir, dass Kevin ein vertrauenswürdiger Ansprechpartner sei und Einzelheiten über Chris’ Tätigkeit im Irak kenne. Wichtiger noch, Chris bezeichnete ihn als guten Freund. Kevin wiederum gehörte zu den wenigen Leuten, die während der Arbeiten an Chris’ Buch von uns befragt wurden. Viele, wie ich selbst, kannten einen Teil der Geschichte, die Chris zu erzählen hatte; es gab jedoch nur wenige, und zu ihnen zählte Kevin, die praktisch über alles Bescheid wussten.
Einige Jahre später wurde American Sniper verfilmt und Kevin stellte sein Fachwissen den Filmemachern zur Verfügung. Kevin war nicht nur der einzige SEAL am Set, der dem Hauptdarsteller des Films, Bradley Cooper, und dem Regisseur Clint Eastwood als Berater zur Seite stand, er war auch die einzige Person am Set, die Chris wirklich gut gekannt hatte. Ohne Kevin Lacz hätte American Sniper niemals seine Authentizität erreicht oder wäre so erfolgreich gewesen. Durch Krieg, Ruhm, Reichtum und Tod hindurch blieb Kevin seinem Freund und Bruder Chris Kyle immer treu.
Ursprünglich wollte ich Die letzte Vergeltung lesen, um auf diese Weise neue Dinge über Chris zu erfahren. Schließlich diente Kevin in zwei Auslandsentsendungen mit ihm und hatte gewiss einige Dinge über den Mann zu erzählen, den wir heute »die Legende« nennen. Als ich mich in das Buch versenkte, merkte ich jedoch, wie komplex es ist – weit mehr als eine Sammlung von Kriegsgeschichten, in denen Chris Kyle gelegentlich vorkommt. In dem Buch geht es also nicht einfach um Chris. Es sind die wichtigen Erinnerungen eines Mannes mit einer Fähigkeit, Gewalt anzuwenden.
Ohne politische Agenda und schonungslos ehrlich taucht Die letzte Vergeltung tief in die Psyche eines Kommandosoldaten ein, der von dem unerbittlichen Drang getrieben ist, die Feinde seines Landes unschädlich zu machen. Vom allerersten Kapitel, in dem wir erfahren, warum Kevin eine militärische Laufbahn einschlug, bis zum Epilog verfolgen wir die persönliche Reifung eines SEALs, der in einem der blutigsten Sommer des Irakkriegs seine Feuertaufe bestand. Das Buch ist schonungslos ehrlich und in der zeitgenössischen Kriegsliteratur einzigartig. Es ist ein historisch wichtiges Dokument, und zwar nicht nur aufgrund seines Inhalts, sondern auch weil es einen neuen Ansatz verfolgt, Kriegserinnerungen auf mitreißende und unvergessliche Weise zu vermitteln.
Ich kenne Kevin mittlerweile recht gut und weiß, dass er im Rahmen seiner medizinischen Tätigkeit viel Zeit damit verbringt, anderen Menschen zu helfen. Daher glaube ich, dass dieses Buch eine besonders wichtige Lektion enthält: dass man aktiv am Krieg teilnehmen und ebenso aktiv am Zivilleben teilnehmen kann. Kevin verleiht einer großen, weitgehend unbeachteten Gruppe von Veteranen eine neue Stimme – nämlich jenen, die im Krieg gedient haben und jetzt ein sinnvolles und gutes Leben führen. Seine Erfahrungen im Ausland, auch wenn manche von ihnen grausam und schockierend sein mögen, haben ihn nicht daran gehindert, sich wieder in die Gesellschaft einzufügen und Erfolg zu haben mit dem, was er tut. Ich beglückwünsche ihn, dafür gesorgt zu haben, dass den Männern und Frauen Aufmerksamkeit zuteilwird, die ehrenvoll gedient haben und nach Hause zurückgekehrt sind, um Großes zu leisten – auch wenn sie im Krieg Gewalt erlebt und begangen haben.
In diesem Buch geht es um den unvergleichlichen Mut von SEAL Team THREE, Charlie Platoon, an einigen der härtesten Kriegstage in der Geschichte der U.S. Navy SEAL Teams (und der Vereinigten Staaten). Ich kannte Chris Kyles Geschichte natürlich schon gut, Kevins teilweise auch. Als ich mehr darüber las, erkannte ich, dass beide Männer außergewöhnliche Persönlichkeiten sind und dass sie beide ihre eigene, einzigartige Geschichte von Opferbereitschaft und Heldentum zu erzählen haben. Ich schätze Kevins Bereitschaft, die folgenden Seiten mit seinen Brüdern zu teilen und auch ihre Geschichten zu erzählen, weil diese Männer wahrhaftig das Beste von Amerika sind. Dieses Buch ist keine Selbstbeweihräucherung eines Mannes, sondern eine Respektbekundung an sein Team. Die Einstellung der SEALs, niemals aufzugeben, durchdringt Kevins gesamtes Wesen und findet sich auf jeder Seite dieses Buchs wieder.
Viele Leute verändern sich, sobald sie in das Scheinwerferlicht Hollywoods treten und mit der Schauspielerei in Berührung kommen, aber bei Kevin war das nicht der Fall. Er blieb seinen Freunden, seiner Familie, den Teams und dem Kodex treu, nach dem er lebt. Dafür schätze ich ihn sehr, und ich fühle mich sehr geehrt, ihn meinen Freund nennen zu dürfen.
Scott McEwenKoautor des #1 New-York-Times-Bestsellers American Sniper undder erfolgreichen Buchreihe Sniper Elite9. Mai 2016
In diesen Erinnerungen beschreibe ich die Schlacht von Ramadi, wie ich sie als Neuling in der Task Unit Bruiser im Charlie Platoon von SEAL Team THREE erlebt habe. 2006 wurde der Westirak von religiös motivierten Gewalttaten heimgesucht, die allgemeine Stimmung war schlecht und ein zu allem entschlossener Aufstand bedrohte die Mission der Koalitionskräfte. SEAL Team THREE wurde gerufen, um in der entscheidenden Schlacht von Ramadi mitzuwirken und auf diese Weise dazu beizutragen, die Hauptstadt der Provinz Anbar zu sichern. Es wurde zwar schon viel über unsere Arbeit in jenem Sommer gesprochen und geschrieben, aber Ramadi wurde nicht von den SEALs und Spezialkräften eingenommen. Es war kein einzelner Kommandeur dafür verantwortlich, den Feind in die Knie zu zwingen. Vielmehr sorgte die gemeinschaftliche Anstrengung von Army, Marines, Navy und Air Force dafür, dass sich das Blatt gegen den Aufstand gewendet hat. Diese Geschichte spiegelt diese Kooperation wider.
Die Arbeit, die wir im Frühling, Sommer und Herbst 2006 geleistet haben, gehört heute längst der Vergangenheit an. Den Frieden, der Häuserzug für Häuserzug, Gasse für Gasse, Zimmer für Zimmer erkämpft wurde, gibt es nicht mehr. Jene von uns, die dort gekämpft, ihr Blut vergossen und ihre Brüder verloren haben, können nur hoffen, dass die vielen Lektionen, die uns Ramadi gelehrt hat, eines Tages als Leitfaden dafür dienen, wie konventionelle Einheiten und Spezialkräfte zusammenarbeiten können, um auf künftigen Kampfschauplätzen siegreich zu sein. Zu diesem Zweck biete ich diese Geschichte als eine Quelle aus erster Hand all jenen an, die über die jüngere Vergangenheit forschen und sich fragen werden, wie sich die Gefechte auf dem Höhepunkt der Operation Iraqi Freedom zugetragen haben. Den Frieden in Ramadi gibt es nicht mehr. Unsere Geschichte hingegen schon.
Die Entscheidung, mich den SEAL Teams anzuschließen, traf ich schnell und beherzt. Der Weg zu meinem Dreizack hingegen war lang und beschwerlich. Während meiner Vorbereitung las ich so viele Erlebnisberichte über BUD/S, die SEAL Teams und Kampfeinsätze wie möglich. Als ich mich der Herausforderung stellte, dieses Buch zu schreiben, hatte ich die Hoffnung, dass meine Geschichte der nächsten Generation von Kriegern als Inspiration dienen würde. Ich weiß, dass es irgendwo da draußen herausragende junge Männer gibt, die alles über die Special Forces verschlingen, was sie in die Hände bekommen, und manche von ihnen werden den Dreizack mit Stolz tragen und künftig den Teams, der Bruderschaft und unserem Land dienen. Diese Geschichte ist auch ihnen gewidmet.
Eines der Grundprinzipien der SEAL Teams ist es, sich ihren Dreizack jeden Tag aufs Neue zu verdienen. Als SEALs streben wir ständig danach, unseren Ruf als verlässliche Krieger zu wahren, die ihren Auftrag stets erledigen. Wir sind stolz auf unsere Härte und die Fähigkeit, einen aggressiven Feind zu neutralisieren. Wir sind weder Roboter noch Schafe. Jeder Kommandosoldat ist eine individuelle Kampfmaschine, die in der Lage ist, auf jeder Ebene zu führen, und sich mit nichts weniger als einer erfolgreichen Mission zufriedengibt. Wir sind erbarmungslos. Ich habe auf diesen Seiten versucht, das dynamische Wesen der Männer zu beschreiben, die ich kannte. Im Verbund bildeten wir eine tödliche Spezialeinheit, doch als Einzelpersonen waren wir nach wie vor Brüder, Ehemänner, Väter und Söhne.
Ich habe großen Respekt vor dem menschlichen Leben. In sehr jungen Jahren beschloss ich, eine medizinische Laufbahn einzuschlagen, und heute bin ich als Arztassistent tätig. Als ich der Navy beitrat, um meinen Beitrag zur Bekämpfung des Terrorismus zu leisten, wusste ich, dass ich früher oder später dem Feind auf dem Schlachtfeld begegnen würde. Als SEAL war es meine Aufgabe, den Feind zu stellen und die richtige Menge an Gewalt aufzuwenden, um ihn unschädlich zu machen. Die meisten Menschen werden niemals dieses einfache Konzept verstehen und dass es wichtig ist, mit großer Härte durchzugreifen. Die meisten Menschen sind keine SEALs. Ich glaube, dass SEALs geboren, nicht geschaffen werden und dass ich das Glück hatte, von vornherein die Fähigkeit zu besitzen, mich ins Gefecht zu stürzen und das zu tun, was eben getan werden muss. Viele meiner Kameraden, die in den Krieg gezogen sind, wissen, was ich meine. Aus diesen Gründen werde ich, egal wie viele Jahre mir beschieden sind, das Leben nie wieder so intensiv spüren wie damals mit meinen Brüdern, meiner Familie.
In meiner Zeit in den Teams wurde ich Zeuge von Heldentaten und mutigen Handlungen meiner Kameraden, von denen viele nicht mehr leben. Dieses Buch ist ein Beitrag zu ihrem Vermächtnis wie auch dem aller SEAL Teams. Ich habe die Hoffnung, dass dieses Buch die Erwartungen der Brüder erfüllt, die mir halfen, der SEAL zu werden, der ich bin, und für die ich höchste Hochachtung und Respekt empfinde.
Die Entscheidung, dieses Buch zu schreiben, war nicht einfach, und viele andere SEALs haben mich gefragt, warum ich mich dazu entschlossen habe. Manche hätten es nicht getan. Ich respektiere die Verschwiegenheit meiner Kameraden. Aber ich glaube, dass ich auf viele Dinge eine andere Perspektive habe als ein SEAL, der 20 Jahre Erfahrung in den verschiedenen Teams hat. Meine acht Jahre in der Navy waren im Vergleich zur Dienstzeit anderer Kameraden verhältnismäßig kurz. Ich trat den Streitkräften nach dem 11. September 2001 bei, stellte meine Zeit und Erfahrung zur Verfügung und wendete mich in meinem Leben dann anderen Dingen zu. Meine militärische Laufbahn ist eine Sache, die ich im Leben gemacht habe, aber nicht die einzige. Viele Männer, mit denen ich gedient habe, waren schon vor dem Krieg in den Teams. Ich schloss mich den Teams wegen des Kriegs an. Das ist meine Geschichte.
In meiner Zeit in Ramadi hielt ich meine Erfahrungen in meinem Tagebuch fest. Ich wollte etwas Greifbares haben, wenn meine Erinnerungen im hohen Alter einmal verblassen werden. Als ich 2006, damals noch ein junger Froschmann, meine Tagebucheinträge – in der Regel bei schlechter Beleuchtung – schrieb, ahnte ich nicht, welchen Wert meine Aufzeichnungen einmal haben würden. Sie waren für die Niederschrift der vorliegenden Memoiren sehr hilfreich. Ich habe mich bemüht, die Dialoge möglichst authentisch wiederzugeben, wenn ich mich nicht mehr an den genauen Wortlaut erinnern konnte. Fast zehn Jahre später kann ich mich leider an vieles nicht mehr erinnern, was damals gesagt wurde. Die tatsächlichen Ereignisse, die beschrieben werden, vor allem die Kampfhandlungen, habe ich anhand meiner eigenen Erinnerungen wie auch der Erinnerungen anderer Personen rekonstruiert, die damals vor Ort waren und die ich während meiner Arbeit an diesem Buch um Rat fragte.
An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass für diese Memoiren keine vertraulichen Informationen verwendet wurden. Ich habe einige meiner engsten Freunde zu verschiedenen Zeiten herangezogen, um einige Dinge zu klären und Details zu spezifizieren. Ich danke ihnen für ihre Mithilfe. Das Manuskript wurde dem Verteidigungsministerium und der Naval Special Warfare vorgelegt und nach einer Sicherheitsprüfung für unbedenklich erklärt. Außerdem wurden die Mitglieder des Zugs, wie auch andere Mitglieder der Navy, die in diesen Memoiren erwähnt werden, im Vorfeld kontaktiert. Die große Mehrheit war hilfsbereit und erklärte sich mit ihrer Darstellung einverstanden. Sie werden entweder mit ihrem Vornamen oder Spitznamen erwähnt. Ich danke ihnen für ihre Unterstützung. Hin und wieder habe ich Pseudonyme verwendet, um die Identität bestimmter Militärangehöriger zu schützen.
Meine Zeit in den Teams hat mich zu dem Mann gemacht, der ich heute bin. Weder die guten noch die schlechten Erfahrungen würde ich ändern wollen; ich glaube, dass man im Leben ein einschneidendes Erlebnis niemals abhakt, sondern immer etwas daraus lernt. Die SEAL Teams halfen mir dabei, mein eigenes Potenzial zu entdecken, und zwar vor allem dann, wenn ich am wenigsten damit rechnete. Als meine Dienstzeit endete, lernte ich aus meinen Erfahrungen und wandte sie auf mein Bachelorstudium der Politikwissenschaften an der University of Connecticut an, auf das ich den Master der Medizinwissenschaft an der Wake Forest University folgen ließ. Ich wurde Arztassistent und bin zurzeit ein Kompagnon von Lifestyle & Performance Medicine Powered by Regenesis, das Menschen dabei hilft, ihr körperliches und gesundheitliches Potenzial auszuschöpfen.
Meine Erfahrungen beim Militär haben mir erlaubt, den Menschen, mit denen ich gedient habe, etwas zurückzugeben. Meine Frau Lindsey hat mich zur Gründung von »Hunting for Healing« inspiriert; im Rahmen dieser Organisation arbeiten wir mit behinderten Veteranen und ihren Ehepartnern zusammen, indem wir gemeinsam Outdoor-, Jagd- und Angelausflüge unternehmen. Ich bin davon überzeugt, dass stärkere Individuen stärkere Teams bilden. Ich bin kein Selfmademan. Ich bin lediglich das Produkt der Menschen, die mich glücklicherweise umgeben. Ich brüte nicht über Ramadi, die Teams oder meine Kriegserlebnisse. Ich nutze sie jedoch, um jede Umgebung zu formen, in der ich mich bewege. Ich bin unendlich dankbar dafür, diese Erfahrungen gemacht zu haben.
»Holt euren Scheiß! Alle Mann aufs Dach des Sharkhouse!« Marc Lees atemlos gebrüllter Befehl riss mich aus dem Schlaf.
Ich dachte nicht nach, als ich aus meinem Feldbett sprang, barfuß in meine Oakley-Stiefel stieg und nach Einsatzweste, Maschinengewehr, Helm und Nachtsichtgerät (NSG) griff. Ich war Marc dicht auf den Fersen, nur mit Trainingsshorts und Einsatzweste bekleidet, und wir legten die knapp 100 Meter zum Dach zurück wie gierige Haie, die Blut gewittert hatten.
Ein Ausbruch von Gewalt lag in der modrigen Luft, die den Euphrat umgab.
»Muj-Schwimmer versuchen, Blue Diamond anzugreifen«, rief mir Marc zu, als wir am Eingang im Erdgeschoss des Hauses eintrafen. Camp Blue Diamond war die Basis der Marines auf der Ostseite des Flusses. Wir rannten die Treppen hinauf, die losen Schnürsenkel peitschten gegen unsere nackten Beine. Auf dem Dach kamen etwa 20 weitere Teamleute dazu, die meisten von uns in Trainingsshorts und mit nacktem Oberkörper, unsere inoffizielle Uniform, wenn wir mitten in der Nacht, unvermittelt aus dem Schlaf gerissen, Jagd auf Muj machten. Einige trugen ein T-Shirt, doch als ich Guy, einen unserer Offiziere, in kompletter Uniform sah, musste ich ein Lachen unterdrücken. Verschiedene Unterstützungskräfte stießen zu uns. Als Marc »Alle Mann« sagte, hatte er das auch so gemeint. Jeder wollte ein Stück vom Kuchen abbekommen.
Für den Angriff auf den Marines-Stützpunkt hatten die Muj einen armseligen Haufen Möchtegernkämpfer ins Wasser geschickt. Blue Diamond hatte unseren Gefechtsstand (Tactical Operations Center, TOC) benachrichtigt, der wiederum den perfekten L-förmigen Überraschungsangriff koordiniert. Wir standen bereit und warteten auf das grüne Licht unserer Stützpunkt-Verteidigungszentrale in Camp Ramadi. Unsere fehlenden oder unvollständigen Uniformen täuschten über unser tödliches Potenzial hinweg. Wir warteten lautlos wie Giftschlangen, um im richtigen Augenblick blitzartig zuzuschlagen.
Für den einen oder anderen würde die Nacht übel enden.
Direkt links von mir stand Guy, danach Marc Lee und Ryan Job. JP war zu meiner Rechten. Der Krieg bedeutete für uns noch eine neue Erfahrung, aber unsere Bruderschaft gab es bereits seit vielen Generationen und sie hatte eine stolze Kriegertradition hervorgebracht. Wir waren bereit.
Einige Plätze rechts neben mir befand sich ein bis an die Zähne bewaffneter Unterstützungsmann namens Neal. Wieder musste ich ein Lachen unterdrücken. Seine Ausrüstung bestand aus einem Arsenal an Handgranaten, M4-Magazinen und Kleinkram. Er hatte kein NSG dabei. Ich blickte wieder auf den ruhigen Fluss. Mit meinem Nachtsichtgerät spähte ich in die Dunkelheit und erkannte eine Bewegung. Ich entsicherte mein Gewehr und schaltete meinen Infrarotlaser an.
Dann kam der Befehl.
Drei, zwei, eins. Feuer frei.
Gemeinsam ließen wir die Hölle über dem Fluss und den ahnungslosen Muj im Wasser ausbrechen. Es war geradezu berauschend. Ich gab 150 Schuss in gleichmäßigen Salven von acht bis zehn Schuss ab. Die Leuchtspuren pfiffen über das Wasser. Manche trafen ihr Ziel, die anderen prallten ab und zischten durch die Nacht. Die geballte Energie der amerikanischen Geschütze und das Rattern der Maschinengewehre um mich herum sagten mir unmissverständlich: Ich bin genau dafür geboren.
Ich sah mich um, beobachtete meine Kameraden, die genau dasselbe taten, und erkannte, dass es schon immer so gewesen war. Es fing damit an, dass der erste Mensch einen Stein warf, sein Nachfahre einen Speer schleuderte oder noch später eine Muskete abfeuerte – es ging immer um einen Mann, seine Waffe und die Brüder, die mit ihm kämpften. In jenem Augenblick war jeder, der mir etwas bedeutete, auf diesem Dach. Nichts existierte jenseits von Ramadi. Das waren die Männer, die mich hier lebend herausbringen würden, so wie ich sie lebend herausbringen würde. Ich hatte im Grunde nichts anderes als mein Gewehr und meine Brüder. Ich hoffe, das wird immer so sein.
Ich merkte nicht, wie die brennend heiße Hülse einer meiner Patronen gegen JPs nacktes Bein prallte, und es war mir auch egal. Als der Befehl kam, das Feuer einzustellen, klingelte es in meinen Ohren, meine Hände vibrierten noch nach und der Feind war tot oder lag gerade im Sterben. Ich fühlte mich lebendig.
Jemand schrie Neal an, weil er sechs Magazine verschossen hatte, ohne ein Nachtsichtgerät zu tragen. Für den Rest unserer Zeit im Irak nannten wir ihn »Shadow Stalker«, Schattenjäger. Ein Kanonenmaat fragte verlegen: »Hey, wie ist das eigentlich – bekomme ich dafür jetzt einen Orden?«
»Na klar«, sagte ich, damit er sich noch ein bisschen in seinem Ruhm sonnen konnte.
Ich blickte nach links. Guy, Marc und Ryan hatten den vertrauten Gesichtsausdruck tiefer Zufriedenheit, den die Bedienung einer großkalibrigen Waffe in der Regel mit sich bringt. Rechts von mir fluchte JP über die Brandverletzung auf seiner linken Wade, die meine Hülse verursacht hatte. Ich zuckte mit den Achseln und atmete tief durch. Der Geruch von Kordit, den Hunderte verschossener Patronen verströmten, mischte sich mit der Brise, die über die alten Gewässer des Euphrat zog. Ich sicherte mein Gewehr und schaltete den Laser wieder aus. Ich nahm meine Ausrüstung und kehrte langsam in mein Zelt zurück. Wie viele ähnliche Gelegenheiten würden sich wohl in den nächsten sieben Monaten noch ergeben? So könnte es weitergehen – für mich oder uns oder jeden einzelnen meiner Kameraden. Ich dachte nicht an die Zukunft – wo ich als Mann, Ehemann oder Vater in zehn Jahren vielleicht sein würde. Das war mir damals egal. Ich musste nur meine Waffe reinigen. Ich war in Ramadi und lag schon wieder im Bett, noch bevor die Fliegen sich über die Leichen hermachten, die wir für sie im Schilf hinterlassen hatten.
Später lag ich noch kurz wach, bevor ich zufrieden einschlief, guten Gewissens angesichts der Arbeit, die ich gemeinsam mit den anderen erledigt hatte.
Ich hoffe, das wird immer so sein.
2. FEBRUAR 2013
Es war eine typische Studentenkneipe. Mit ihrem alternativen Hippieflair gehörte die Bar zu jener Sorte, um die ich in meinem früheren Leben einen großen Bogen gemacht hätte. Es war noch früh und die Nacht in Winston-Salem, North Carolina, erwachte erst langsam zum Leben. Ich gönnte mir eine wohlverdiente Pause vom Lernen und vom Studienalltag, als der Stoß eines Queues gegen eine Billardkugel mich aus meiner Unterhaltung mit meiner Frau Lindsey riss. Ich nahm einen Schluck aus meiner Coors-Light-Flasche. Manche Dinge ändern sich eben nie.
Mein Telefon vibrierte in der Hosentasche. Einen Augenblick lang überlegte ich, nicht darauf zu reagieren. Ich genoss diesen seltenen freien Abend, an dem ich den Geburtstag eines Freundes feierte, und wollte mich nicht ablenken lassen. Allerdings war ich nicht der typische Student und angehende Arztassistent. Ich hatte ein Kind, auf das zu Hause gerade eine Babysitterin aufpasste, und einen Job außerhalb der Universität. Ich sah nach. Das Letzte, was ich gebrauchen konnte, war ein wichtiger verpasster Anruf.
Auf dem Display stand STEVEN YOUNG – CRAFT CEO.
Ich fand es seltsam, dass der Chef um 20 Uhr anrief, noch dazu am Wochenende. Ich hob ab, weil es um etwas Wichtiges gehen musste.
»Hey, Steven«, sagte ich und presste mein Telefon ans rechte Ohr, während ich mir mit den Fingern das linke Ohr zuhielt, um die Geräuschkulisse der Bar auszublenden. »Was gibt’s?«
An Steves Stimme erkannte ich sofort, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Die Worte drangen in mich ein und ich versuchte ihnen einen Sinn zuzuordnen. »Dauber … vorhin ist was Schlimmes passiert … Chris ist tot … heute erschossen, Chad auch … ermordet … es tut mir so leid …«
Das Telefon klebte förmlich an meinem Ohr, aber ich hörte nichts mehr von dem, was er noch sagte. Ich hatte das Gefühl, als hätte mir jemand soeben ins Gesicht geschlagen. Ich stand wohl unter Schock. Ich ließ meinen Blick über die Bar schweifen und mein Blick traf den Blick Lindseys, die mich prüfend ansah. Sie wusste, dass etwas nicht stimmte.
Hastig bedankte ich mich bei Steven und bat ihn darum, mich auf dem Laufenden zu halten, dann legte ich auf.
Ich stand auf und ging zu Lindsey. Ich wollte es ihr nicht sagen. Seitdem wir uns sieben Jahre zuvor kennengelernt hatten, hatten wir uns daran gewöhnt, uns diese Art von Nachrichten gegenseitig möglichst schonend beizubringen. Normalerweise war ich es, der die schlechte Nachricht überbrachte, manchmal telefonisch, wenn ich erfuhr, dass ein ehemaliger Kamerad verstorben war, manchmal sogar per SMS, gelegentlich aber auch persönlich, so wie jetzt.
Ich wollte es ihr nicht sagen.
Sie war glücklich, so wie sie dastand, und genoss den Abend unter Freunden. Widerstrebend nahm ich ihre Hand und führte sie aus der Bar. Als wir draußen waren, sah ich sie im Schein der Straßenlaterne an. Ich musste daran denken, wie ich ihr im Laufe der Jahre immer wieder solche Neuigkeiten mitteilen musste, wie sie jedes Mal Anteil nahm, weil ich darunter litt. Jedes Mal trauerte sie mit mir und zollte den Männern, die ich meine Brüder nannte, ihre Anerkennung. Heute würde es anders sein. Je länger ich nicht mehr den Teams angehörte, umso mehr war mein engster Freundeskreis geschrumpft. Chris war eine Konstante geblieben. Ich wusste, dass sie diese Nachricht hart treffen würde.
Als wir noch nicht verheiratet waren und in Imperial Beach, Kalifornien, lebten, nahm ich sie einmal mit auf ein Treffen der Scharfschützen, das östlich von San Diego stattfand. Alle Sniper der Task Unit kamen und einige von uns brachten ihre Freundinnen mit.
Chris war an jenem Tag ohne Begleitung da, und deshalb verbrachten wir den Nachmittag damit, die Visierung der Waffen einzustellen und den Mädchen das Schießen beizubringen. Lindsey hatte noch nie zuvor ein Gewehr in den Händen gehalten, aber ich sah, dass es ihr Spaß machte, vor allem nachdem sie auf eine Entfernung von 500 Metern eine Mannscheibe auf Kopfhöhe getroffen hatte. Chris war der Erste, dem ein anerkennendes »Eins a!« über die Lippen kam. Auf das Lob der Legende war sie damals besonders stolz.
Ich dachte an all die vielen schönen und lustigen Momente, die wir über die Jahre hinweg erlebt hatten. Diesmal war es auch ihr Verlust.
Als ich ihr die Nachricht überbrachte, konnte ich förmlich dabei zusehen, wie sie die Fassung verlor. Eine Mischung aus Ungläubigkeit und Verwirrung zeichnete sich in ihrem Gesicht ab, bevor sie schließlich in Tränen ausbrach. Sie umarmte mich kurz und wortlos, offensichtlich stand sie wie ich unter Schock. Als wir die kurze Strecke zum Auto zurücklegten, hielt sie plötzlich an, lief in eine Seitenstraße, beugte sich vor und übergab sich. Dann richtete sie sich wortlos auf und stieg ins Auto. Auf der Rückfahrt nach Hause gingen mir Tausende von Gedanken durch den Kopf. Ich hatte nur einen Tag zuvor mit Chris über ein berufliches Projekt gesprochen. Wenige Stunden vor seiner Ermordung hatte er mir eine SMS geschickt. Wir hatten ausgemacht, am nächsten Tag miteinander zu reden. Ich konnte nicht glauben, dass er so jäh aus dem Leben gerissen worden war.
Natürlich lebt man als SEAL gefährlich. Bevor ich mich bei der Navy verpflichtete, war mir durchaus bewusst, dass ich im Dienst verwundet werden könnte. Mir war auch klar, dass ich oder jemand, den ich kannte, bei der Ausübung seiner Pflicht zu Tode kommen könnte. Das ist nicht morbid. Das ist eben so. Diese Einsicht half mir vermutlich dabei, mich auf die schlechten Nachrichten einzustellen, die ständig eintrafen. Ich war am Strand in Jacksonville, Florida, als ich von Extortion 17 erfuhr (einer Hubschraubermission in Afghanistan, die 2011 stattfand und scheiterte) und dem Schicksal von Jon Tumilson und Darrik »D-Rock« Benson – Männer, mit denen ich in Team THREE gedient hatte. Ich war schockiert, aber immerhin tröstete mich der Umstand, dass sie bei der Arbeit starben, für die sie sich entschieden hatten. Sie kämpften Seite an Seite mit Brüdern. Bei Chris war das anders.
Als ich durch die menschenleeren Straßen von Winston-Salem fuhr, rief ich Guy an, unseren alten Leutnant. Anrufbeantworter. »LT, das ist Dauber, ruf mich mal zurück, wenn du das hörst.«
Dann strömten die SMS der anderen Kameraden aus SEAL-Zeiten herein, aber ich wollte sie eigentlich gar nicht lesen.
HAST DU DAS VON CHRIS GEHÖRT? … WTF …
Als ich wieder zu Hause war, holte ich eine Flasche Bourbon aus dem Schrank und starrte auf den Computerbildschirm. Mord. Der Schnaps, der in meiner Kehle brannte, brannte so scharf wie der Schmerz, den dieses Wort in mir auslöste. Es klang schmutzig. Ermordet. Chris und Chad. Ich schenkte mir noch ein Glas ein und schloss die Augen.
Ich hatte einige Monate zuvor auf einer Geschäftsreise Zwischenstopp in Dallas gemacht und saß damals mit Chris in seinem Wohnzimmer in Midlothian. Mir tat der Bauch vor Lachen weh, weil wir uns so viele Witze erzählt und ständig dumme Sprüche vom Stapel gelassen hatten. Seine Unterschenkel waren bandagiert, weil er sich am Golf von Mexiko einen schweren Sonnenbrand zugezogen hatte. Ich hatte mit Chris einige Jahre in den Teams verbracht, ihn aber selten in Shorts gesehen. Sein letzter Angelausflug hatte nicht nur seine Haut verbrannt; auch sein Ego war leicht angekratzt. Wir saßen zusammen, scherzten, tranken und schoben uns Kautabak in den Mund, während im Hintergrund das Spiel der Rangers lief.
Wir hatten gemeinsam im Irak gedient – da, wo die harten Jungs hingehen und härter zurückkommen. Wir hatten uns gut ins Zivilleben eingefunden und arbeiteten jetzt in seiner Firma. Wir teilten zwar viele gemeinsame Kriegserlebnisse, redeten aber nicht über den Krieg. Ich sah dasselbe Lächeln, mit dem er sich 2006 von uns im Irak verabschiedete, als er nach Hause fuhr, um bei seinen Kindern zu sein. Wir erzählten uns gegenseitig Geschichten über unsere Kinder – er freute sich auf den Start der Footballsaison. Ich versprach, ihn bei jedem Sieg der Patriots und jeder Niederlage der Cowboys anzurufen. Er sagte mir, dass ich wohl nicht oft anrufen würde. … Alles das würde sich jetzt ändern.
Ich öffnete meine Augen, als Lindsey die Tür zu meinem Arbeitszimmer einen Spalt öffnete. Keine Ahnung, wie lange ich in Gedanken versunken gewesen war. Ich sah sie an und dann auf mein Telefon. Sie merkte sofort, dass mir nicht nach Reden zumute war. Lindsey ist mein Fels in der Brandung, aber es gibt manche Dinge, mit denen ich einfach selbst klarkommen muss. Das weiß sie auch. Sie schloss die Tür, als mein Telefon wieder klingelte.
Ich erzählte Guy alles, was ich wusste. Er war sprachlos. Guy war 2008 unser Offizier gewesen und wir drei waren in den Jahren nach unserer aktiven Dienstzeit in engem Kontakt geblieben. Die Stille am anderen Ende der Leitung war so endlos wie eine Patrouillenfahrt durch die irakische Wüste. »Scheiße, das tut mir so leid, Daubs. Halt mich auf dem Laufenden. Ich bin für dich da.« Ich sagte ihm dasselbe und schenkte mir ein weiteres Glas ein. In meinem Zimmer dachte ich an die guten alten Zeiten. Als ich das Militär verließ, änderte sich mein Verhältnis zu den Teams. Mit einem Mal war ich ein Ehemaliger – jemand, der früher einmal coole Sachen auf Lager hatte, aber jetzt etwas anderes tat. Es ist nicht die tollste Selbsterkenntnis, aber nun einmal eine Tatsache. Als ich die Teams verließ, änderte sich die Richtung in meinem Leben. Nun war ich dabei, Arztassistent zu werden, hatte einen Bachelor in Politikwissenschaft, eine Frau, einen Sohn, ein Haus und ein ganzes Leben, das mich von der Person trennte, die ich früher einmal war, als ich in den Teams diente. Trotzdem übten die Teams immer noch eine magische Anziehungskraft auf mich aus. Vor allem in Zeiten wie diesen, dem Tod eines Bruders. Ich erkannte, dass ein ehemaliger SEAL niemals wirklich weg ist. Die Bruderschaft verbindet uns länger als eine Auslandsentsendung, länger als ein Zug oder die Vorbereitung auf einen Kampfeinsatz.
Ich erinnerte mich an den Telefonanruf, mit dem mich Chris damals informierte, dass Ryan »Biggles« Job 2009 gestorben war. Es war das erste Mal, dass ich nach meiner Zeit in den Teams den Tod eines ehemaligen Kameraden beklagen musste, und das traf mich schwer. Ich konnte verstehen, wenn jemand auf dem Schlachtfeld starb, aber Ryan hatte seine Verletzungen überwunden und einige Jahre sein Leben genossen, bevor er den Komplikationen eines rekonstruktiven Eingriffs erlag. Als Chris mich anrief und mir davon erzählte, war ich wütend – es war so, als hätte man uns betrogen. Es gab keinen Abschied. Nur einige Tage vor seinem Tod hatte Ryan mich angerufen, um mir zu sagen, dass seine Frau schwanger war. Er wirkte so glücklich. Dann war er plötzlich weg. Ich bereute es, ihm damals nicht mehr gesagt zu haben. Ich hatte ihm nicht gesagt, wie stolz ich auf ihn war. Nicht, wie sehr er seine Mitmenschen – und natürlich auch die Teamleute – inspirierte. Es gab kein Zurück. Nur Erinnerungen, die man wieder aufleben lassen konnte.
Ryan bildete den Anfang in einer Reihe von Todesfällen. Es folgten weitere Anrufe und schlechte Nachrichten. Mehr Wut und Erinnerungen und ständig aufs Neue das Gefühl, dass ich immer mit der Bruderschaft verbunden bin, ganz gleich, wie lange es schon her ist, dass ich die Uniform getragen habe. Pat Feeks. Nick Cheque. Matt Leathers. Tim Martin. Die Liste ließe sich fortsetzen. Nach jedem Verlust steigen wieder die Erinnerungen in mir auf.
Und jetzt hatte uns Chris genauso plötzlich verlassen wie Biggles und all die anderen, und zurück bleiben nur Erinnerungen, in die man sich versenken kann.
Die Nachricht ruft jedes Mal dieselbe Wut in mir hervor. Die Wut ist nicht gegen eine bestimmte Person gerichtet, sondern darauf, dass die Welt einen besonders begabten Sohn verloren hat. Die Erinnerungen, die ich mit diesen Menschen verband, legten Zeugnis davon ab. Es waren besondere Männer, die sich von der Masse absetzten, und nun sind sie nicht mehr unter uns. Ich bedaure die künftigen Generationen, die sie nicht kennen werden. Ich spürte, wie die Wut in mir hochkam, als ich an Chris dachte.
Ich trank den letzten Schluck Bourbon. Es gibt nur einen Ort, an den man gehen kann, wenn man einen guten Freund verliert. Zu einem anderen Teamkameraden. Einem Bruder. Man muss zurück in den Schoß der Gemeinschaft. Meine Dienstzeit in den Teams kreuzt sich immer wieder mit der Gegenwart. Das lässt sich nicht vermeiden. Immer wenn ich einen Todesfall beklagen muss, kehre ich in Gedanken zu der Zeit zurück, als die Person noch am Leben war. Ich kehre an den Anfang zurück – meine frühen Tage als Froschmann. Diese Reise hat etwas Beruhigendes an sich. Ich erinnere mich an die Bruderschaft, das Blut, den Schweiß und die Tränen, die ich beim Schultern der geliebten Last vergoss. Es hilft mir, den Tod eines Teamkameraden nicht zu betrauern, sondern vielmehr dankbar dafür zu sein, das Privileg gehabt zu haben, an seiner Seite leben und kämpfen zu dürfen.
Viele Menschen suchen ihr Leben lang nach einem Sinn oder einer einzigen bedeutungsvollen Erfahrung. Meine Zeit in den Teams mit den Punishern, mit Chris, war mein Heiliger Gral.
Ich schob mein Glas beiseite und öffnete am Computer eine Datei. Ich starrte auf das Bild von Chris und mir bei der Ordensverleihung 2007. Eine Woge der Energie durchflutete mich. Wir alle hatten im Anschluss daran Danny’s Island Bar besucht. Mein Vater war dort gewesen, ebenso Lindsey, Momma Lee und die etwa 100 Froschmänner von Team THREE. Ich lachte laut auf, als ich mich daran erinnerte, wie ich das Glasauge meines Vaters am Tresen auffing. Wir hatten einige ahnungslose BUD/S-Auszubildende mitgenommen und ihnen einige »teambildende Maßnahmen« aufgezwungen. Ich ließ meine Gedanken schweifen; mir fielen der anschließende Umtrunk und die Afterparty in Ty Woods’ Bar ein, dem Far East Rock. Die Erinnerungen waren in mein Gedächtnis eingebrannt. Das würden sie auch immer sein. Ich lächelte, als ich daran dachte, wie ich mich von einer kleinen Kaulquappe zu einem waschechten Frosch entwickelt hatte.
Ich öffnete eine CD-Hülle und legte ein Video meines Zugs von 2006 ein. Kurz nach meinem Weggang von den Teams hatte ich es mir oft angesehen, aber im Laufe der Zeit nahm die Häufigkeit ab. Heute Abend hatte ich das Gefühl, dass es wieder einmal so weit war. Als ich den Ton hörte und die bewegten Bilder auf dem Bildschirm erschienen, waren sie so lebhaft wie meine Erinnerungen.
Und da war ich wieder. Ich fühlte mich wie in einem Sog – und dachte an die vielen Erfahrungen, die Männer, mit denen ich gekämpft hatte, und die gemeinsamen Erlebnisse. Das war das pralle Leben. Obwohl jemand an jenem Tag im Februar Chris das Leben genommen hatte, konnte er mir meine Erinnerungen an ihn nicht nehmen. Dasselbe galt für Biggles, Marc Lee, D-Rock, JD und all die anderen, die mich zu dem machten, der ich heute bin. Ich wurde in eine andere Richtung, in ein anderes Leben gezogen. Doch mit einem Mal war ich wieder da, wo ich angefangen hatte. Zurück in den Teams.
»Es zahlt sich aus, ein Gewinner zu sein.«Inoffizieller Wahlspruch der SEAL Teams
Als ich noch ein Kind war, wurde ich manchmal als »hartnäckig« beschrieben, was im Grunde nichts anderes als ein Euphemismus für trotzig ist. Auf jeden Fall war ich jemand, der stets seinen eigenen Weg gegangen ist, auch wenn das hieß, Entscheidungen zu treffen, die für die anderen in meinem Umfeld nicht viel Sinn ergaben. Manchmal weigerte ich mich, Dinge aufzugeben, die niemand sonst für lohnenswert hielt. In anderen Fällen änderte ich meine Marschrichtung jäh, obwohl es klüger schien, den ursprünglich eingeschlagenen Kurs zu halten.
Meine Hartnäckigkeit zog sich durch meine gesamte Kindheit, die ich in Connecticut verbrachte, und äußerte sich in einer seltsamen Mischung aus Leistungen und Leistungsverweigerungen: Ich war Werfer in einem Baseballteam der Little League, das beinahe die New-England-Meisterschaft gewann, und schmiss im nächsten Jahr alles hin, um Fußball zu spielen – eine Sportart, in der ich nicht annähernd so begabt war. Ich war über zehn Jahre lang Pfadfinder und hörte kurz vor der höchsten Auszeichnung auf, dem Eagle Scout, weil mich die Langwierigkeit dieses Projekts abschreckte. Ebenso trat ich in der Highschool aus dem Golfteam aus, weil mich der Sport zu langweilen begann, obwohl ich ein hervorragender Spieler war. Stattdessen fing ich mit dem Schwimmen an und nahm im letzten Schuljahr an den Landesmeisterschaften teil.
Ich besaß eines der schlimmsten Dinge, die ein Teenager ohne echte Motivation haben kann: ein gottgegebenes Talent. Es war nicht so, dass ich nicht gut sein wollte. Das wollte ich und bemühte mich auch redlich. Ich ging also in den Unterricht und zählte zu den Klassenbesten, aber nichts forderte oder reizte mich so sehr, dass ich mich der Sache wirklich voll und ganz verschreiben wollte. Ich bekam durchgängig gute Noten und Anerkennung, hatte dabei aber nie das Gefühl, wirklich auf die Probe gestellt zu werden. In der katholischen Jungenschule, die ich besuchte, gab es nichts, was mich wirklich anspornte, und so sah ich mich nicht dazu veranlasst, meine gesamten Anstrengungen darauf zu verwenden, die Weichen für meine Zukunft zu stellen.
Als Achtzehnjähriger betrachtete ich das College in erster Linie als Möglichkeit, meine vertraute Umgebung zu verlassen und neue Wege zu beschreiten. Zwei Semester lang kämpfte ich mich mehr schlecht als recht durch mein Studium an der James Madison University in Harrisonburg, Virginia, und scheiterte mit einem unterirdisch schlechten Notendurchschnitt von 0,7. Im Herbst 2001 war ich ein 19-jähriger Student mit Irokesenschnitt, einer mehr oder weniger großen Anzahl von Blutergüssen und Veilchen, die ich mir bei diversen Handgreiflichkeiten und Prügeleien zugezogen hatte, und einer grundsätzlichen Abneigung gegen alles, was nichts mit Mädchen, Alkohol oder Rugby zu tun hatte.
Obwohl ich es nicht zustande brachte, den Unterricht zu besuchen oder meine schriftlichen Hausarbeiten rechtzeitig einzureichen, war mein erster Anlauf im College nicht völlig umsonst. Gleich zu Beginn des ersten Semesters stolperte ich ins Rugby House in der Harrison Street, das schnell mein neues Zuhause wurde. Das Rugbyteam nahm mich unter seine Fittiche. Die Mannschaft bestand aus jungen Männern mit Spitznamen wie Blumpkin (RIP), Strapper, Spidey, Beardo, Reeper, Snorty, Metal Head Nick, Dirty Dustin, AY und Weird Jason. Mittwochs tranken wir Bier, hörten Heavy Metal, spielten Beer Pong und stemmten Hanteln. Mädchen wagten es nicht, unser Haus zu betreten. Wir veranstalteten Themenpartys. Wir prügelten uns mit den Jungs aus den Studentenverbindungen. Wir machten eine Menge gegnerischer Teams auf dem Spielfeld fertig.
Ich ging in dieser Lebensweise auf, vielleicht etwas zu sehr. Meine Eltern waren nicht gerade begeistert, als ich bei ihrem Wochenendbesuch mit einem blauen Auge erschien, das ich mir in einem Rugbyspiel eingefangen hatte. Auch von meinem Iro waren sie nicht gerade angetan. Ich hatte aber meine Nische im Team gefunden und fühlte mich dort wohl. Wenn mich meine Zeit als junger Collegestudent etwas gelehrt hat, dann das: dass ich ein Rudeltier bin.
Als ich am 11. September 2001 im Rugby House aufwachte, loggte ich mich kurz darauf in den AOL Instant Messenger ein. Auf dem Bildschirm las ich dieselben furchtbaren Nachrichten, die auch den Rest der Welt in Schrecken versetzten. Aus irgendwelchen Gründen erfasste ich zunächst nicht die Tragweite der Situation. Es schien unwirklich. Ich putzte mir die Zähne, zog mich an und hob wie gewohnt ab, als meine Mutter anrief. Als sie mir Einzelheiten über die beiden Flugzeuge berichtete, die in das World Trade Center geflogen waren, nur zwei Stunden nachdem ich aufgewacht war, begriff ich schließlich das Ausmaß der Katastrophe.
Ich ging ins Haus nebenan und sah im Fernsehen die dunklen Rauchschwaden, die verzweifelten Menschen, die in Todesangst aus den Türmen sprangen, um nicht qualvoll in der Feuersbrunst umzukommen, den Einsturz der Gebäude zu Staub und Trümmern. Ich wurde von demselben Gefühl der Wut übermannt, das das kollektive amerikanische Bewusstsein erfasste.
Im Lauf des Tages erfuhr ich von Bruce Eagleson, einem engen Freund der Familie, der in meiner Jugend in Middlefield, Connecticut, mein Mentor gewesen war. Bruce arbeitete für die Westfield Corporation und rief seinen Sohn an jenem Morgen aus einem der beiden Zwillingstürme an. »Ich habe da oben Mitarbeiter«, sagte Bruce. »Ich muss noch einmal rein und nach ihnen sehen.« Seine Leiche wurde nie gefunden.
Auf seiner Beerdigung stand ich an einem Scheideweg. Ich machte nicht genug aus meinem Leben. Böse Menschen hatten meinen Freund ermordet, doch was konnte ich dagegen tun? Rugby und Beer Pong bis zum Erbrechen hatten schlagartig ihren Reiz verloren. Ich wollte die Männer töten, die den Massenmord an beinahe 3000 Amerikanern geplant hatten. Das war das Pearl Harbor meiner Generation. Ich musste daran denken, dass die Männer in meiner Familie im Zweiten Weltkrieg in der Navy gedient hatten. Mein Großvater war Maschinenmaat auf einem Schiff im Südpazifik gewesen und mein Großonkel flog in einem Doppeldecker über den Pazifik und jagte Japaner. Er wurde abgeschossen und trieb vier Tage lang im offenen Meer, bis er von Kameraden gerettet wurde.
In der Rekrutierungsstelle der Navy faszinierte mich ein altes Werbeplakat für die SEALs. Darauf zu sehen waren fünf bewaffnete Froschmänner mit Tarnschminke, Einsatzwesten und mächtigen Schnauzbärten, die gerade dem Wasser entstiegen. Sie sahen aus, als wären sie zu allem bereit. Auf dem Plakat stand nur »SEALs«. Ich wusste dumpf, dass ich schon einmal von ihnen gehört hatte; mein Interesse war geweckt. Nach einigen Recherchen war mir bald klar, dass ich einer von ihnen werden wollte. Ich hatte genug von meinem mittelmäßigen Leben. Es war das erste echte Risiko, das ich jemals eingegangen bin – der Augenblick, in dem ich die bewusste Entscheidung traf, Verantwortung zu übernehmen und mich wie ein Mann zu verhalten.
Als ich meinen Eltern von meinem Vorhaben erzählte, stieß ich auf Unverständnis. Ich bin der älteste von drei Brüdern und entstamme einer stolzen Arbeiterfamilie aus Connecticut. Meine Urgroßeltern mütterlicherseits und meine Großeltern väterlicherseits kamen Anfang des 20. Jahrhunderts als polnische Einwanderer ins Land. Mein Großvater väterlicherseits war Fabrikarbeiter und Landwirt. Der Vater meiner Mutter arbeitete in einer Fabrik, bis er sich als Hersteller von Gussformen selbstständig machte. Meine Eltern haben ihr gesamtes Leben in Connecticut in einer kleinen Gemeinde verbracht, in der jeder jeden kennt, und sie fanden, dass ich meine Zukunft aufschob, wenn ich der Navy beitrat.
Meine Ergebnisse in dem militärischen Eignungstest waren außergewöhnlich gut; deshalb versuchte mich mein Anwerber mit Hinweis auf die technische Ausbildung, die besonderen Fertigkeiten, Prämien und die Collegegebühren davon zu überzeugen, mich für das Atomwaffenprogramm der Navy zu melden. Doch ich wollte davon nichts wissen. Mein Ziel war es, in die Schlacht zu ziehen und Terroristen zu erschießen.
Meine Navy-Grundausbildung begann im März 2002 im Recruit Training Command Great Lakes, von den Rekruten auch gerne »Great Mistakes« (Große Fehler) genannt. Die Grundausbildung enttäuschte mich, weil sie nicht so anspruchsvoll war, wie ich angenommen hatte. Die Navy hatte eine Redewendung: Unsere Schiffe sind aus Holz, unsere Männer aus Stahl. In der Ausbildung hatte ich aber eher den Eindruck, dass die Schiffe der heutigen Navy aus Stahl sind und ihre Matrosen aus Pudding. Die meisten Matrosen, mit denen ich zu tun hatte, bereiteten sich nicht auf die SEAL-Ausbildung vor.
Nach den Great Mistakes folgten 16 Wochen Ausbildung an der Hospital Corpsman School. Ich tat nichts anderes, als zu trainieren, zu lernen und an die bevorstehende Herausforderung zu denken. Ich arbeitete hart, fand gelegentlich Zeit, um mit meinen Freunden ein wenig zu feiern, und schloss als einer der Besten meiner Jahrgangsstufe ab.
Im Januar 2003 holte mich ein Freund vom Flughafen ab und fuhr mich über die San-Diego-Coronado-Brücke. Auf Coronado Island sollte das Programm Basic Underwater Demolition/SEAL (BUD/S) stattfinden, für das ich mich gemeldet hatte. Als ich in meinem Dienstanzug über die Brücke fuhr, hatte ich das Gefühl, endlich da zu sein, wo ich hingehörte.
Manche Leute werden Ihnen erzählen, dass SEALs gemacht werden. Sie schildern BUD/S, weisen auf die etwa 80-prozentige Durchfallquote hin und versuchen alles in allem klarzumachen, dass die Naval Special Warfare die härtesten Männer abschöpft und sie zu SEALs formt.
Ich sage, dass das absoluter Schwachsinn ist.
SEALs werden nicht gemacht. Sie werden schon als solche geboren. In dem Augenblick, in dem ein Rekrut auf den Strand von Coronado tritt, hat er entweder das, was nötig ist, oder er hat es eben nicht. Trotz aller Bemühungen der Navy lässt sich das »gewisse Etwas« schwer ausmachen. Die Bewerber stammen aus allen gesellschaftlichen Schichten, aus allen Regionen, es sind alle Körpergrößen und Staturen vertreten. Es ist nicht gesagt, dass die schnellsten, stärksten und schlanksten Rekruten die Ausbildung schaffen. Eine bestimmte Laufzeit oder ein Hantelgewicht sind für den Erfolg nicht ausschlaggebend. Die Männer, die BUD/S und das SEAL-Qualifikationstraining überstehen und sich den Teams anschließen, zeichnen sich alle durch eine unfassbare Motivation und Widerstandskraft aus, die mehr wert ist als Tausende von Stunden, die man auf einer Aschenbahn oder in einem Schwimmbecken verbringt.
Die Teams »erschaffen« keine SEALs, sondern schärfen die Fähigkeiten, die ein Mann bereits hat. Sie entfernen die verschiedenen Lagen, die den schlummernden Killerinstinkt verdecken, und zeigen ihm, wie er sich nützlich macht. Die Teams meißeln alles weg, was überflüssig ist.
Wir nennen es eine Bruderschaft, weil wir durch unsere Erfahrungen feste Bande schmieden, aber auch weil wir eine Familie aus Männern sind, die sich von allen anderen unterscheiden. Unser Kampfgeist eint uns. Auf der grundlegendsten, tiefsten Ebene sind wir aus demselben Holz geschnitzt.
Ich war 21 Jahre alt, als ich Anfang 2003 BUD/S mit der Klasse 245 begann. Ich absolvierte fünf Wochen Schulung und Vortraining, bevor die erste und härteste Phase von BUD/S begann. Tag 1 begann auf dem BUD/S-Grinder, dem großen asphaltierten Innenhof, auf dem sich die Rekruten jeden Morgen einfinden. Es waren über 200 Männer, die mit mir den sechsmonatigen Kurs begannen. Die meisten von ihnen würden spätestens in der sechsten Woche verschwunden sein. Die Gruppe war voll von muskelbepackten Typen mit mehr oder weniger entschlossenem Blick, der zu sagen schien, dass sie hierhergehörten. Mit einer Körpergröße von 1,91 Meter und etwa 90 Kilogramm fügte ich mich bestens ein. Ich wusste, dass mein entschlossener Gesichtsausdruck echt war, der der meisten anderen jedoch nicht.
Der erste Bewerber gab schon auf, bevor das Training am ersten Tag überhaupt losging. Um auszusteigen, muss man »die Glocke« dreimal läuten; so teilt man seinen Klassenkameraden mit, dass man für die Teams ungeeignet ist. Das Eingeständnis seines Scheiterns ist besonders demütigend, wenn man an 150 Kameraden vorbeigehen muss, die gerade ihren dreihundertsten Viererblock Beinscheren machen. Die Glocke ist überall da, wo die Klasse gerade ist, ob auf dem Hindernisparcours, am Strand oder an einem anderen Ort. Sie zu läuten verspricht heißen Kaffee, Donuts und ein Leben lang Selbstvorwürfe.
Ich fand schnell Anschluss. Alphatiere erkennen sich auf Anhieb. Die Bootsmannschaften werden nach ihrer Körpergröße gewählt und ich gehörte zu den sechs größten Männern der 245. Als solche hätten wir vermutlich zu den Langsamsten zählen müssen, aber Tim Martin trieb uns ständig an, auf das Tempo zu achten. Tim war ein durchtrainiertes Monster aus Wisconsin, er war unglaublich schnell und hatte stets eine positive Grundeinstellung. Ganz gleich, wie schlecht sich die Dinge entwickelten, er pflegte sein breites Grinsen aufzusetzen und etwas Aufmunterndes zu sagen. Seine ständigen Beschwörungen, dass ich es schon schaffe, trieben mich in den kältesten Augenblicken der Höllenwoche mehr als einmal an, alle meine Reserven zu mobilisieren.
Wenn wir erschöpft und unterkühlt waren, wendeten wir uns an Matz. Er war ein ruhiger Neuengländer aus New Hampshire mit schwarzem Haar und noch schwärzerem Humor. In den schlimmsten Momenten lenkte er uns mit seinem pseudophilosophischen Geschwätz ab. Wir lachten, wenn normalen Menschen vermutlich zum Heulen zumute gewesen wäre. So schöpften wir Kraft. BUD/S bildet den Anfang eines Bandes, das in der Not geschmiedet und durch Opfer gehärtet wird.
Die erste achtwöchige Phase von BUD/S ist ein nicht enden wollendes Ausdauertraining und mit Abstand die härteste Phase. Man muss so viele Liegestütze und Beinscheren machen, wie es am Strand von Coronado Sandkörner gibt, und sie sind so sicher wie die Nässe und Kälte, die durch die Wellen und Wasserschläuche in die Knochen dringt und den Geist zermürbt. Es geht darum, Schlafmangel, das Herumwuchten schwerer Baumstämme und sadistische Ausbilder zu erdulden, die fest entschlossen sind, alle jene auszumustern, die sich nicht zum SEAL eignen. Es geht darum, Strandläufe, brennende Unterschenkel und Ausbilder hinzunehmen, die dich immer weiter antreiben, weil sie dich zum Aufgeben bewegen wollen. Es geht darum, dreieinhalb Kilometer im Meer zu schwimmen, unter Zeitdruck, und sich durch brutale Strömungen und Situationen zu quälen, in denen man Haie im Wasser zu sehen glaubt. Es geht darum, möglichst schnell einen Hindernisparcours zu überwinden, Artilleriesimulatoren zu bewältigen und dabei auf seine Brüder aufzupassen, die umgekehrt auf dich aufpassen. Es geht darum, mit fünf anderen Männern ein 50 Kilogramm schweres Schlauchboot über dem Kopf zu tragen, bis die Arme brennen, zittern und nachgeben – und man sich zusammenreißt und das Boot wieder in die Höhe hebt. Es geht darum, das Boot ins Meer zu werfen und den kurzen Moment der Erleichterung zu spüren, bevor man hinterherspringt, durch die Brandung paddelt und zum Strand zurück, immer ein nahezu unmöglich einzuhaltendes Zeitlimit vor Augen. Es geht darum, dass dein Ausbilder dir sagt, dass du es nicht rechtzeitig geschafft hast und du diesmal das Boot mit Sand füllen musst, bevor du es wieder über den Strand trägst. Es ist die ständige Erinnerung daran, dass es sich »bezahlt macht, ein Gewinner zu sein«. Es geht darum, die Sonne nach einem Tag untergehen zu sehen, der vor Sonnenaufgang begann, und die Kälte und das schmerzliche Bewusstsein zu ertragen, dass es am nächsten Tag genauso weitergeht.
BUD/S war kein Highschool-Fußball oder Rugby. Es ging für mich um viel mehr als je zuvor und ich trieb mich immer wieder an meine Grenzen und darüber hinaus. Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich etwas so sehr, dass ich bereit war, alles zu geben und noch mehr. Als wir unsere Tempoläufe absolvieren mussten, gehörte ich zur »Versagertruppe« – eine fragwürdige Ehre, die allen jenen vorbehalten ist, die zu langsam sind und das Zeitlimit überschreiten. Immer wenn ich zu hören bekam, dass ich wieder zu langsam gelaufen war, nahm ich meine Strafe hin und versuchte es wieder. Ich biss mich durch die zusätzlichen Beinscheren, die Qualen am Strand und die ständig wund gescheuerte Haut, weil der Sand am Körper rieb. Ich kämpfte mich durch und machte weiter, angetrieben von dem Wissen, dass jeder Mann, der die Glocke läutete und aufgab, schwächer war als ich.
Einige Wochen nach Beginn meiner Ausbildung starteten die USA die Invasion des Irak. Die Tatsache, dass wir einen Zweifrontenkrieg führten, belastete mich sehr. »Wir befinden uns im Krieg und ich sitze hier mit euch Versagern fest!«, brüllte Ausbilder Torsen meine Bootsmannschaft in der Höllenwoche an. »Und ihr könnt nicht einmal ein Boot halten!« Das spornte mich an. Immer wenn ein Kamerad die Glocke läutete und aufhörte, festigte sich mein Entschluss und meine Motivation wuchs. Ich setzte mich geistig immer von den Rekruten ab, die es nicht schafften. Sie hatten sich zuvor gefragt, ob sie BUD/S schaffen. Ich hatte mich gefragt, in welchen Zug ich komme und wann ich endlich in die Schlacht ziehen kann.
Die Höllenwoche ist die vierte Woche der ersten Phase, ihr Ziel ist es, die Bewerber über einen längeren Zeitraum einem größtmöglichen Maß an Stress auszusetzen. Ab dem Augenblick, in dem sie am Sonntagabend beginnt, bis zum Freitagnachmittag, wenn die Klasse entlassen wird, werden die Bewerber einem dauerhaften körperlichen, mentalen und emotionalen Stress ausgesetzt, und das bei insgesamt drei Stunden Schlaf in einer ganzen Woche.
Der Anfang der Höllenwoche ist das reinste Chaos. Wenn der Abend hereinbricht, werfen die Ausbilder Fackeln in metallene Mülltonnen, schießen in die Luft und läuten die Woche mit heftigem Gebrüll ein, das die ganze Woche gnadenlos anhält, während die Bewerber sich alle Mühe geben, Aufgaben zu erfüllen, für die ein Zeitlimit gesetzt ist, das nicht eingehalten werden kann.
Meine Höllenwoche war im April. Es war gerade der Anfang des Monats, wir froren, waren durchnässt, fühlten uns elend, und meine Bootsmannschaft hatte das Boot am Strand aufgestellt, um uns vor dem Hagel und Regen zu schützen, während wir uns über unsere Einmannpackungen hermachten. Einer unserer Ausbilder, Dale, beugte sich über mich und sah mir dabei zu, wie ich versuchte, kalte Reispfanne aus einem rechteckigen grünen Beutel zu essen, den ich mit meinen blauen, verfrorenen Fingern kaum öffnen konnte. Von Kopf bis Fuß zitterte ich vor Kälte. Jeder Zentimeter meines Körpers war wund gescheuert und schmerzte. In jenem Augenblick war die kalte Reispfanne mein kleiner Trost – und Dale wusste das. Er nahm ein Paddel, schaufelte etwas Sand darauf und kippte ihn in mein Essen. Stellen Sie sich den übelsten Tritt in die Kronjuwelen vor, den man sich einfangen kann. So fühlte sich Dales Paddel voller Sand an. Die sandige Reispfanne war ekelhaft und ich musste sie hinunterwürgen, aber ich kann mit Gewissheit sagen, dass der erste Bissen Pizza am Freitag umso besser schmeckte.
Ich erfuhr, warum in den Teams der Satz »Alles eine Frage der Einstellung« so beliebt ist. BUD/S ist in erster Linie eine mentale Herausforderung. Es geht nicht einfach nur darum, die Kälte und Müdigkeit zu ertragen. Es geht darum, die Kälte und Müdigkeit zu ertragen und sich innerlich darauf einzustellen, dass beides kein Ende nimmt, während man sich mit anderen Männern misst und dabei gleichzeitig von wieder anderen Männern verhöhnt und kritisiert wird, die diese Aufgaben überstanden haben. Das ist beängstigend. Ich beobachtete, wie mein Zimmernachbar vor dem 50-Meter-Tauchgang die Glocke läutete, weil die Nerven mit ihm durchgingen. Ich glaube nicht, dass es wirklich um den Tauchgang ging, den jeder von uns geschafft hätte. Es war die Gesamtsituation. Du musst BUD/S in Angriff nehmen, weil es dich sonst auffrisst.
In der zweiten Phase zog ich mir eine Rückenverletzung zu und wurde nach einer kurzen Rehabilitation der Klasse 246 zugewiesen. Ich traf dort auf eine neue Gruppe von Brüdern: unter anderem Tanner, B-Dub, Mikey, Maro, Bito, Gilby, Biggs, KPM und Clark, der auch Billy genannt wurde. 17 Wochen lang kämpften wir uns immer wieder durch den Hindernisparcours, das Schwimmbecken und den Sand von Coronado. In der »Shady Squat« (wie wir uns selbst nannten) war alles vertreten. Wir kamen aus allen Ecken der Vereinigten Staaten und waren zwischen 1,68 und 1,91 Meter groß, 19-jährige Milchgesichter waren ebenso vertreten wie gestandene 30-jährige Männer. Wir waren ein anschauliches Beispiel für die grundlegende Wahrheit der Teams: Es gibt kein körperliches Merkmal oder Anzeichen dafür, dass man das BUD/S erfolgreich übersteht oder ein SEAL wird. Von den über 200 Männern, die die Klasse 246 begonnen hatten, schafften nur 44 Bewerber alle drei Phasen und beendeten die Ausbildung. Auf dem Papier waren unsere Unterschiede groß, aber unsere größte Gemeinsamkeit war die Widerstandskraft und Hartnäckigkeit, die ein Krieger von Geburt an besitzt und die er kultivieren muss. Wir lernten, diese Qualität in uns und unseren Kameraden zu erkennen. Wir fingen an, uns gegenseitig »Bruder« zu nennen – und gemeinsam schafften wir es.
Am letzten Ausbildungstag fanden wir uns am frühen Morgen am Strand ein, um mit unserem Commanding Officer einen letzten Dauerlauf zu absolvieren. Unser CO war ein großer, drahtiger Mann mit braunem Haar und Oberlippenbart. Er war ein Froschmann der alten Schule und ein zäher Hund. Er hätte die meisten von uns leicht in Grund und Boden laufen können, wenn er es gewollt hätte. Stattdessen führte er uns durch einen entspannten Fünf-Kilometer-Lauf, während die Sonne über dem Strand von Coronado aufging, und hielt gelegentlich an, um inspirierende Dinge über die Geschichte und das Vermächtnis der Naval Special Warfare zu erzählen. Er sagte uns, dass wir jetzt Teil einer stolzen Tradition von Elitekämpfern seien und einer Bruderschaft angehörten, die bis zum Zweiten Weltkrieg zurückreicht, als die ersten Froschmänner der Navy ihren Dienst antraten, aus denen die Kampfschwimmer und schließlich die SEALs hervorgingen. Ich war stolz, in ihre Fußstapfen zu treten, und wusste genau, was ich und die anderen 43 Männer geleistet hatten.
Später stand ich im Dienstanzug im Innenhof der Kaserne, wo ich sechs Monate zuvor meinen ersten Tag angetreten hatte. Meine Mutter, mein Vater und meine beiden jüngeren Brüder nahmen an der Abschlussfeier mit großem Stolz, aber auch mit gewisser Verwunderung teil. Die Teams waren das Einzige, was mir jemals so viel bedeutet hat, dass ich mein ganzes Herzblut dafür gab. Ich vermute, meine Familie war von meiner Entschlossenheit überrascht. Mein letzter Tag im BUD/S zählt zu den schönsten Tagen meines Lebens.
Der erfolgreiche Abschluss des BUD/S ist eine große Leistung, aber dieser Meilenstein markiert nicht einmal annähernd das Ende des Weges, wenn man ein SEAL werden will. Man fühlt sich allerdings in gewisser Weise beruhigt, weil man weiß, dass die schlimmste körperliche Quälerei vorbei ist.
Nach BUD/S absolvierte ich im Januar 2004 die Basic Airborne Jump School in Fort Benning, Georgia. Das Fallschirmspringerprogramm ist zwar keine Eliteausbildung, aber ein Spaß war es auch nicht gerade. Manche Jungs finden vielleicht Gefallen daran, sich aus Flugzeugen zu stürzen, doch ich bin definitiv keiner davon. Trotzdem schloss ich die Grundausbildung erfolgreich ab und machte im Februar 2004 mit dem SEAL-Qualifikationstraining (SQT) weiter.
SQT ist ein viermonatiger Kurs, in dem SEALs anfangen, die vielen Fähigkeiten und Taktiken zu lernen, die sie zu den besten Kommandosoldaten der Welt machen. Im SQT lernte ich, wie man Missionen plant und Informationen sammelt, außerdem Kommunikation, Aufklärung, Navigation zu Wasser und zu Land und etwa eine Million anderer Dinge. Ich absolvierte Tag- und Nachtsprünge an einer Aufziehleine, seilte mich von schwebenden Hubschraubern ab und übte mit meinen Kameraden an einem speziellen Seilsystem, dem sogenannten SPIE-Rig, das Anlanden und Bergen von Einsatzkräften aus der Luft. Ich trainierte mit und qualifizierte mich für die Bedienung der besten Waffensysteme der Welt, vom M4 über das Mk 48 bis hin zur reaktiven Panzerbüchse, der Carl Gustaf im Kaliber 84 mm. Ich übte das Patrouillieren, Pirschen, die Verwendung von Sprengstoff und lernte, wie man Sprengfallen baut. Und ich bekam eine große Dosis Kampftraining, als ich an Übungen mit scharfer Munition teilnahm, die darauf ausgelegt waren, echte Kampfsituationen und den Nebel des Krieges zu simulieren. Am Ende des SQT war ich offiziell ein SEAL und fühlte mich endlich bereit, mich einem Zug anzuschließen.
Die meisten Leute nehmen an, dass der erfolgreiche Abschluss von BUD/S die größte Errungenschaft im Leben eines SEALs ist, aber es ist nicht das, worauf wir uns am meisten freuen. Man bekommt nach dem BUD/S nicht einmal seinen Dreizack. Wie jeder andere genoss ich das Ende von BUD/S, weil das hieß, dass ich mich nicht mehr am Strand quälen musste, mich nicht mehr im Wasser und Sand wälzen oder mit meinen Kameraden einen Baumstamm tragen musste. Am meisten freute ich mich auf das Ende des SQT, weil ich dann endlich ein waschechter SEAL mit einem Dreizack auf der Brust sein würde.