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Klara Priehm wird während eines Kuraufenthaltes ermordet. Die ungewöhnliche Tatwaffe, ein Moniereisen, steckt noch in ihrem Herzen, als die Leiche auf einem Waldweg gefunden wird. Kriminalhauptkommissar Ronny Mittler schickt die Mordermittlerinnen Lena Schösteen und Merle Jörgisdottir undercover zur Kur, um den Fall aufzuklären. Die Kommissarinnen machen sich auf die Suche nach dem Täter oder der Täterin. Als sich der Fall in eine Richtung entwickelt, der die Kommissarinnen überfordert, fordern sie ihre Kollegen vom Polizei Einsatzteam Spezialfälle (PETS) zur Unterstützung an.
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Seitenzahl: 209
Veröffentlichungsjahr: 2023
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DER MORDFALL KLARA PRIEHM
Von Axel Schade
*
Heribert Strecker blickt aus dem Flurfenster. Die Sonne scheint, der Himmel ist azurblau. Der Rentner freut sich, denn nach wochenlangem Regen ist es der erste Tag, an dem ein Hauch von Frühling in der Luft liegt.
„Ich brauche keine Regenjacke. Ist das nicht schön?“, fragt Heribert seinen Langhaardackel Seppel. Schwanzwedelnd zeigt der Hund seine Vorfreude auf den Morgenspaziergang. Mit kugelrunden Augen beobachtet er treu, wie Herrchen den Hut aufsetzt.
„Habe ich alles? Krücke. Gebiss. Gesangbuch?“ Tastend überprüft Strecker, ob Handy, Haustürschlüssel und Fernglas an ihrem Platz sind und greift nach dem Spazierstock, der in einer alten Milchkanne neben der Garderobe steht. „Dann wollen wir mal.“ Heribert öffnet die Haustür.
Seppel ist nicht zu bremsen. Bellend rennt er zum Gartentor. „Der hat’s eilig, als wäre ihm einer auf den Fersen!“, murmelt Strecker kopfschüttelnd. Er zieht die Haustüre zu, rüttelt daran, um sicherzugehen, dass sie verriegelt ist, und folgt dem Hund.
Mit heraushängender Zunge wartet Seppel auf das Öffnen der Gartentür. Ungeduldig kratzt er mit einer Vorderpfote am Holz. Heribert nimmt ihn an die Leine. Kaum ist das Tor einen Spalt geöffnet, zwängt sich der Vierbeiner hindurch und biegt nach rechts ab. Er weiß, wohin er muss und rennt vorwärts, bis ihn die Leine stoppt. Strecker lässt ihn nicht frei laufen. Typisch Dackel hört er nur, was er hören will. Kommandos wie „Sitz“, „Platz“ und „Komm bei Fuß“ befolgt der Rüde selten. Läuft er ohne Leine, verschwindet er blitzschnell im Unterholz, um Wild aufzuspüren. Die 15 Meter lange Leine gibt dem Hund das Gefühl von Freiheit und seinem Besitzer die Sicherheit, das geliebte Tier nicht zu verlieren.
Seit zwei Monaten ist der verwitwete Heribert Strecker Rentner. Seitdem geht er jeden Morgen mit Seppel in den Wald. Weit haben sie es nicht. Streckers Haus steht am Ende der Försterstraße, einer Sackgasse, die an den Staatsforst grenzt. 30 Meter sind es bis zu einem Wendeplatz am Waldrand. Dort führt ein befestigter Wirtschaftsweg bergauf. Er ist breit genug für Holztransporter und endet an einer stillgelegten Erzgrube.
Vögel zwitschern, Sonnenstrahlen wärmen die morschen Knochen. Heribert Strecker genießt die Waldluft und füllt seine Lungen mit tiefen Atemzügen.
Seppel flitzt, die Nase am Boden, kreuz und quer über den Waldweg. Bei jeder Gelegenheit hebt er das Bein und markiert sein Revier mit einigen Tropfen Urin. Er hetzt hin und her und folgt schnüffelnd einer Spur. Was ist es? Eine Maus? Ein Wiesel? Ein Marder? Wer weiß? Seppel stöbert im Laub. Scharrt darin herum. Rennt weiter. Im nächsten Moment geht die wilde Jagd wieder ein paar Schritte zurück.
Er findet einen Tannenzapfen. Trägt die Beute mit stolz erhobenem Kopf, bis ein Zweig am Wegesrand seine Aufmerksamkeit erregt. Sofort ist der Zapfen vergessen. Was ist der schon gegen ein so schönes Stück Holz?
Der Hund zieht daran und stößt auf Widerstand. Der Stock wehrt sich und will nicht wie der Dackel! Was tun? Erst mal knurren. Hilft nicht. Dann Gewalt! Tief schlägt der Dackel seine Zähne ins Holz, reißt, zerrt, zieht. Vier krumme Dackelbeine in den Waldboden gerammt, mit aller Kraft gezogen! Drohendes Grollen. Wauruck! Es gelingt!
Der stolze Sieger schleppt den Widerspenstigen aus dem Dickicht auf den Weg. Der Zweig entpuppt sich als Bäumchen. Fünfmal so lang wie der Hund. Egal. Beute gemacht, nach Hause gebracht! Schwankend schleppt Seppel die Jagdtrophäe den Weg hinauf.
Heribert Strecker amüsiert sich über seinen eigensinnigen Dackel. Er kennt ihn gut. Wäre ein Begleiter an seiner Seite, würde er mit ihm wetten, dass der Hund spätestens hinter der nächsten Wegbiegung eine neue Attraktion gegen den Ast eintauscht!
An einer Biegung weiter verliert Strecker den Hund aus den Augen. Hier macht der Waldweg einen Knick nach links. Deshalb sieht Herrchen nicht, wie Seppel den Ast fallen lässt und stehen bleibt. Er hebt eine Vorderpfote und schnuppert mit seiner feinen Dackelnase die Umgebungsluft. Was er erschnüffelt, gefällt ihm nicht. Der Rüde macht kehrt, rennt kläffend zu Herrchen und jammert.
Strecker lacht. „Was ist denn los? Bist du einem Wildschwein begegnet oder was soll die Aufregung?“
Als er sich Seppels Ast nähert, sieht Heribert etwa 60 Meter vor sich etwas Helles auf dem Weg liegen.
Er bleibt stehen. Seine Augen sind nicht mehr die Besten. Trotz Brille kann er nicht erkennen, was da auf dem Waldboden liegt. Ist es ein gerissenes Schaf? Seit Beginn des Winters treiben Wölfe in der Gemeinde ihr Unwesen. Man hat Spuren von Meister Isegrim gefunden. Strecker ist keinem begegnet, nimmt die Gefahr aber ernst.
Auf den zweiten Blick sieht es nicht mehr nach Schaf aus. Er greift zum Fernglas, nimmt das Ziel ins Visier und zuckt überrascht zusammen. Da liegt eine nackte Frau auf dem Waldweg! Sie hat die Hände vor dem Bauch verschränkt. In ihrer Brust steckt eine Eisenstange.
Strecker nimmt Seppel an die kurze Leine, nähert sich der Liegenden bis auf sechs Meter. „Hallo?“, spricht er sie an, obwohl er annimmt, dass sie nicht mehr unter den Lebenden weilt. „Hören Sie mich?“ Keine Antwort.
„Warte hier.“ Strecker bindet Seppels Leine an einen Baum und wirft einen Blick auf die Armbanduhr. Es ist 8 Uhr 30. Behutsam setzt er einen Fuß vor den anderen, geht auf die Frau zu.
Durch jahrzehntelangen Konsum von Kriminalfilmen und einschlägiger Literatur weiß er, dass er Spuren verwischen kann. Entsprechend vorsichtig schaut er auf den Boden, bevor er auftritt. Der Waldweg ist an dieser Stelle fest, der Untergrund steinig. Fußabdrücke oder Reifenspuren sind nicht zu sehen. Auch Strecker hinterlässt keine Spuren, wie er feststellt.
Da man bekanntlich nicht jeden Tag über einen Toten stolpert, geraten normal denkende Menschen bei einem Leichenfund oft in Hysterie. Die Gefühle spielen verrückt, Herzrasen und vermehrtes Schwitzen setzen ein, die Hände zittern. Manche erbrechen sich vor Aufregung auf der Stelle. Heribert Strecker nicht. Er bleibt ruhig. Tote Menschen sind ihm vertraut. 47 Jahre lang hat er in einem Bestattungsinstitut sein Geld verdient. Kein Wunder, dass ihn der Anblick der Toten wenig aufregt, auch wenn sie keines natürlichen Todes gestorben ist.
Ein massiver Stahlstab steckt in Höhe des Herzens im Brustkorb der Frau. Fast 30 Zentimeter ragt er heraus. Bei näherem Hinsehen erkennt Heribert, dass das Eisen etwas Besonderes ist. Wie er weiß, dient es zur Verstärkung von Stahlbetonbauteilen. Man nennt es Moniereisen.
Heribert blickt der Toten ins Gesicht. Nicht älter als 40 Jahre ist sie, schätzt er. Sie hat dunkle Haare, trägt einen burschikosen Kurzhaarschnitt. Die Frau ist nicht aus dem Ort. Die meisten Bürgerinnen und Bürger kennt Strecker persönlich oder zumindest vom Sehen.
Sie ist nass vom nächtlichen Regen. Ihre Augenlider sind geschlossen. Er tastet ihren Hals ab, ob da noch ein Rest Leben ist. Die Haut ist kalt, er spürt keinen Puls. Das Herz schlägt nicht mehr, was er nicht ernsthaft erwartet hatte, denn er erkennt Anzeichen von Leichenstarre.
Wie er aus seiner beruflichen Praxis weiß, beginnt die Muskulatur des Herzens eine halbe Stunde nach Eintritt des Todes zu erstarren. Weitere ein bis drei Stunden später ist die Totenstarre auch äußerlich erkennbar. Zuerst erstarrt die Muskulatur des Kauorgans, der Augenlider und der Sprunggelenke. Die Totenstarre breitet sich über die Nacken- und Rumpfmuskulatur aus und erfasst schließlich die Extremitäten. Nach Heriberts Schätzung ist die Frau seit mehr als acht Stunden tot. Ob seine Taxierung richtig ist, muss ein Facharzt feststellen.
Rechts neben dem Kopf der Toten liegt ihre Wäsche. Sie wurde nicht achtlos weggeworfen, sondern sorgfältig gefaltet und zu einem Haufen gestapelt. Auf dem Waldboden liegt ihre blaue Jeansjacke, darüber eine Jeanshose, darauf ein rotes T-Shirt, gefolgt von Unterwäsche und Socken. Obenauf liegen Sneaker, deren Sohlen zum Himmel zeigen. Links neben dem Kopf steht eine olivgrüne Handtasche mit langem Trageriemen. Alle Reißverschlüsse sind geöffnet. Der Inhalt liegt nach Größe sortiert nebeneinander auf dem Waldweg. Zuerst eine Brieftasche. Es folgt ein Smartphone. Daneben ein leeres Kosmetiktäschchen. Der Inhalt liegt aufgereiht davor. Handcreme, Deoroller, Parfüm, Lippenstift.
Heribert Strecker zieht sein Telefon aus der Hosentasche, wählt den Notruf und meldet den Leichenfund. Während er auf die Polizei wartet, filmt und fotografiert er den Fundort. Das Bildmaterial will er den Ermittlern zur Verfügung stellen.
*
Hätte die Ratlosigkeit einen Namen, hieße sie zweifellos Ludwig Ess! Plattfüßig steht der 63-jährige Polizist vor der Leiche und sagt: „An Eisenmangel ist sie nicht gestorben!“
Heribert Strecker verdreht angesichts dieser unsensiblen Äußerung die Augen und sieht zu, wie Ess eine Verletzung an seiner Glatze reibt.
Als der Polizist dreißig Jahre alt war, verabschiedete sich sein Haupthaar und machte einer käsefarbenen Platte Platz. Auf diesem Kahlkopf zeigt sich besagte Wunde von der Größe eines Zehncentstücks. Aufgrund des Heilungsprozesses juckt sie.
Die Blessur zog sich Polizeiobermeister Ess zu, als er eine Dame besuchte, die auf einem Pendlerparkplatz vor den Toren der Stadt in einem Wohnmobil ihrer Arbeit nachgeht. Sie ist unter dem Künstlernamen Madame Rosita bekannt, ihr richtiger lautet Susanna Romanesco. Offiziell arbeitet sie als Astrologin und widmet sich der Prophetie mit Blick in eine Glaskugel. Ihre weiteren Tätigkeiten bezeichnet sie als Kartomantie und Chiromantie, besser bekannt als Kartenlegen und Handlesen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Madame Rosita gegen ein großzügiges Honorar auch nackt wahrsagt. Ludwig Ess, der alleinstehende Polizeiobermeister, nimmt ihre Dienstleistung regelmäßig in Anspruch. Beim letzten Besuch fiel der Blick in die Zukunft ekstatisch aus und das Finale der Sitzung geriet derart euphorisch, dass Ess mit dem Schädel eine Messingwandleuchte rammte. Madame Rosita übernahm die Erstversorgung und klebte ein Pflaster mit Pumuckl Motiv auf die Wunde.
„Das ist eine große Sache, Herr Strecker“, stammelt Ess und starrt weiter auf die Leiche. „Einen Mord hatten wir im Ort noch nicht.“
Wieder rollen Heriberts Augen wie Murmeln in ihren Höhlen. Er ahnte schon, dass sich die Beweisaufnahme des Todesfalls in die Länge ziehen würde, als er den Fahrer des Streifenwagens wahrnahm. Polizeiobermeister Ess, im Volksmund „Pommes“ genannt, ist weder der hellste noch der schnellste Schutzmann diesseits der Alpen, es sei denn, es gibt Freibier. Ess ist ein Riese mit Schmerbauch und der Kraft eines Ochsen. Bei der alljährlichen Kirmes schlichtet er aufkeimende Raufereien, allein durch die Androhung, er werde mitboxen, kehrt nicht sofort Ruhe ein. Dass der 1,96 Meter große Hüne über einen Schlag wie ein Eseltritt verfügt, weiß man. Nähere Bekanntschaft mit seinen Fäusten möchte niemand machen.
In der Polizeischule haben die Ausbilder schnell erkannt, dass Ludwigs Stresslevel für den Dienst im Großstadtdschungel zu niedrig ist. Auch eine Kleinstadt würde ihn überfordern, befürchteten sie. Richtigerweise erkannten sie, dass Ess der geborene Dorfpolizist ist, und darum versetzten sie ihn in die Provinz. Seitdem leistet er Polizeiarbeit in ländlicher Idylle, wo er Vermisstenfällen nachgeht, meist tierischer Natur. Es gelingt ihm, entlaufene Katzen, Hunde, Rinder und Hühner aufzuspüren und ihren Besitzern zurückzugeben. Gelegentlich spürt er vermisste Ehemänner auf. In neun von zehn Fällen macht er sie im Gasthof Dreieck, dem einzigen Lokal im Ort, oder bei Madame Rosita auf dem Pendlerparkplatz ausfindig. Ansonsten widmet er sich der Verkehrsüberwachung.
POM Ess tritt wie ein Tanzbär unregelmäßig von einem Bein auf das andere. Dieses Verhalten zeigt er, wenn er dringend pinkeln muss oder wenn er unentschlossen ist. In diesem Fall ist von Letzterem auszugehen.
„Sollten Sie nicht die Kriminalpolizei aus der Kreisstadt rufen?“, hilft Strecker Ess auf die Sprünge.
„Hm?“, brummt der Dicke geistesabwesend.
„Ist das nicht das übliche Verfahren?“
„Was?“
„Die Kriminalpolizei zu rufen. Es sieht so aus, als hätte jemand die Dame umgebracht.“
Ess wiederholt sich. „Mord hatten wir hier noch nicht, Herr Strecker.“
„Genau. Deshalb ist es ratsam, Experten hinzuzuziehen.“
„Ja, natürlich“, murmelt Pommes nachdenklich. „Ich rufe Kollegen aus der Stadt herbei.“
Heriberts Augen rollen wieder eine Runde. „Gut. Ich verabschiede mich. Sie wissen ja, wo Sie mich finden. Auf Wiedersehen.“ Er geht zu Seppel, der dösend im Moos liegt, löst die Leine vom Baum und macht sich auf den Heimweg.
45 Minuten später rollen Polizeiwagen durch die Försterstraße. Heribert Strecker sitzt am Küchentisch vor einer Tasse Kaffee und beobachtet, wie sie im Staatsforst verschwinden. Seppel steht mit den Hinterläufen auf einem Stuhl, mit den Vorderpfoten auf der Fensterbank. Den Kopf zwischen zwei Primeltöpfen eingeklemmt, kläfft der Dackel den Autos hinterher. Strecker wirft einen Blick auf die Küchenuhr an der gegenüberliegenden Wand. „Ich bin gespannt, wann sie kommen, um mich zu befragen.“
Seppel springt vom Stuhl und dackelt ins Wohnzimmer in sein Körbchen zum Vormittagsschlaf.
*
Ein Polizeiwagen und ein Zivilfahrzeug halten vor Streckers Haus. POM Ess quält seine 1,96 m Körpergröße vom Fahrersitz und gesellt sich zu zwei Männern, die aus dem anderen Auto aussteigen. Es entwickelt sich ein Gespräch, in dessen Verlauf Ess mehrmals auf Streckers Haus zeigt. Schließlich legt er die Hand zum Gruß an die Dienstmütze und entfernt sich. Die Herren schauen zu, wie er in sein Fahrzeug steigt, umständlich wendet und davonfährt. Lachend schüttelt der Kleinere der Beamten den Kopf, der andere öffnet das Gartentor. Sie betreten das Grundstück.
Seppel läuft bellend zur Haustür. Der Hausherr öffnet den Herren, bevor sie klingeln können. „Der ist harmlos“, ruft er und zeigt auf den Hund. „Hat nur eine große Klappe.“ Kläffend rennt der Dackel zwischen ihren Beinen umher. „Er bringt einen höchstens zu Fall, wenn man über ihn stolpert. Also Vorsicht bitte. Ich bin Heribert Strecker. Guten Tag.“
„Kriminaloberkommissar Lukas Möller“, stellt sich der Kleinere vor und zeigt seinen Dienstausweis. „Das ist mein Kollege.“
„Hauptkommissar Hans Dieter Volk. Guten Tag.“
Strecker führt die Herren ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch stehen Kaffeetassen, Zuckerdose, Milchkännchen, Thermoskanne und eine Schüssel mit Keksen.
„Sie haben uns erwartet?“
„Das war doch zu klar, oder? Sie kommen wegen der Toten im Wald. Bitte nehmen Sie Platz.“ Er schenkt Kaffee ein.
„Man findet nicht jeden Tag eine Leiche. Wie geht es Ihnen damit?“, erkundigt sich Volk.
„Danke, dass Sie fragen. Ich kann Ihnen versichern, dass es mir gut geht. Durch meinen Beruf bin ich an den Anblick von Verstorbenen gewöhnt. Ich habe mein Geld als Bestatter verdient. Deshalb trifft es mich emotional nicht hart, wenn ich einen Toten finde. Was natürlich meine Anteilnahme am Schicksal der Dame nicht schmälert. Ich bedaure ihren Tod.“
„Sie sind Bestatter?“
„Ich war 47 Jahre beim Beerdigungsinstitut Engel hier im Ort angestellt. Den Weg in die Selbstständigkeit habe ich gescheut. Das kam für mich nicht in Frage. Seit zwei Monaten bin ich Rentner.“
„Leben Sie allein?“
„Seit vier Jahren. Ich bin Witwer. Ohne Kinder. Außer Seppel“, schmunzelt er und blickt auf den Hund im Körbchen.
„Ja, die sind wie Kinder“, bestätigt Möller schmunzelnd und Volk bittet: „Erzählen Sie uns doch mal, wie Sie die Tote gefunden haben.“
„Jeden Morgen gehe ich mit Seppel spazieren. Immer den gleichen Weg. Heute haben wir die Leiche gefunden. Es war genau 8.30 Uhr auf meiner Uhr.“
KHK Volk notiert die Uhrzeit in sein Notizbuch.
Strecker berichtet bis zum Zeitpunkt, wo er den Notruf absetzte, und fügt hinzu: „Die Wartezeit habe ich genutzt, um für Sie Fotos und ein Video vom Fundort zu machen. Das Bildmaterial habe ich auf diesem USB-Stick gespeichert.“ Strecker schiebt das Speichermedium über den Tisch.
Herr Volk staunt. „Wie kommen Sie denn darauf?“
„Kriminalfälle sind mein Steckenpferd.“
„Inwiefern? Lesen Sie Krimis?“
„Das auch. Ich schaue Kriminalfilme und Krimiserien.“
„Leider geben sie die Realität der Polizeiarbeit nicht genau wieder.“
„Deshalb bevorzuge ich Dokumentarfilme, in denen Ermittler von ihrer täglichen Arbeit erzählen. Oft geht es darum, wie Spuren verwischt werden. Deshalb war es mir wichtig, Fotos und eine Videoaufnahme zu machen, bevor jemand aus Unwissenheit oder Ungeschicklichkeit das Spurenbild verändert. Kennen Sie das aus Ihrer beruflichen Praxis?“
„Und ob! Wem sagen Sie das!“, bestätigt Volk.
„Wobei ich davon ausgehe, dass der Fundort dem Täter zur Zurschaustellung gedient hat. Der eigentliche Tatort ist woanders zu suchen, wenn ich mir diese Einschätzung erlauben darf.“
„Was führt Sie zu Ihrer Theorie, Herr Strecker?“, will KOK Möller wissen.
„Ich bin sicher, dass die Dame an einem anderen Ort gestorben ist und zum Fundort transportiert wurde.“
„Was bringt Sie zu dieser Annahme?“
„Es war nirgendwo Blut. Weder an der Leiche noch auf dem Waldboden. Das ist unnormal, bei einem Stich ins Herz. Außerdem hatte die Auffindesituation etwas Sakrales. Wie die Tote da lag, die Hände vor dem Bauch gefaltet. Ihre sortierte Wäsche. Die Anordnung des Tascheninhalts nach Größe. Was will der Täter damit ausdrücken, frage ich mich“, überlegt Strecker.
„Das herauszufinden ist unsere Aufgabe“, beendet Volk die Spekulationen. „Ist Ihnen nachts ein Fahrzeug aufgefallen, das in den Wald gefahren ist?“
„Nein. Ich habe tief und fest geschlafen.“
„Die Tote ist Ihnen unbekannt?“
„Ich habe sie noch nie gesehen. Sie ist nicht von hier. Da bin ich ganz sicher.“
Das Telefon klingelt und unterbricht das Gespräch. Strecker meldet sich, hört zu und antwortet: „Ja, sie sind bei mir.“ Heribert reicht den Hörer über den Tisch. „Es ist der Polizist Ess. Er möchte sie sprechen.“
Volk hört dem Anrufer zu, kritzelt in sein Notizbuch. „Moment, langsam. Wie ist der Name? Und die Adresse? Ist das hier im Ort? Okay. Danke. Wir kümmern uns darum. Tschüss.“ Volk gibt Strecker das Telefon zurück und sagt zu Möller: „Erinnere mich daran, dem Dicken unsere Handynummern zu geben.“
„Was wollte er?“
„Er bekam telefonisch eine Vermisstenanzeige. Die Beschreibung passt auf die Leiche.“
„Wer hat ihn angerufen?“
Volk schaut in sein Notizbuch. „Frau Minna von Hessen. Leiterin eines Kurhauses. Burgstraße 24.“
Möller ist überrascht. „Kur? Hier? Im Ernst?“
„Es gibt ein Kurhaus für Frauen“, bestätigt Heribert Strecker. „Das letzte Haus in der Burgstraße. Nicht zu übersehen. Ein großes, umzäuntes Gebäude. Im Dorfjargon heißt es Stressanstalt.“
Herr Volk lacht. „Warum das?“
„Dort kuren Frauen, die eine Auszeit vom Alltag brauchen.“
„Darauf bin ich gespannt“, sagt Möller.
Kriminalhauptkommissar Volk steht auf und reicht dem Rentner die Hand. „Danke, Herr Strecker. Sie bekommen Ihren USB-Stick zurück, wenn die Spurensicherung damit fertig ist.“
„Hat keine Eile.“
*
Im Auto gibt Möller Burgstraße 24 ins Navigationsgerät ein. „Wer kommt auf die Idee, in diesem verschlafenen Ort ein Kurhaus zu betreiben?“
„Vielleicht genau deshalb! Weil es hier so ruhig ist“, spekuliert Volk. Mit dem letzten Wort beginnt es zu regnen. „Nicht schon wieder. Es regnet seit Wochen. Als heute Morgen die Sonne rauskam, dachte ich, der Frühling ist da. Es war ein Aufflackern, mehr nicht.“
Am Ziel in der Burgstraße angekommen, stehen sie vor einem verschlossenen Tor. Links und rechts sind Überwachungskameras angebracht. Das Gelände dahinter ist nicht einsehbar.
„Hat was von Fort Knox“, ist Möllers Eindruck.
Er steigt aus und drückt den Klingelknopf einer Gegensprechanlage, die an einem Pfosten montiert ist. Aus dem Lautsprecher krächzt eine Frauenstimme: „Ja bitte, Sie wünschen?“
„Lukas Möller. Kriminalpolizei. Sie haben uns angerufen.“ Er hält den Dienstausweis in die Kamera.
„Fahren Sie zum Besucherparkplatz. Ich öffne.“, tönt es aus dem Lautsprecher. Am Tor schaltet ein rotes Warnlicht ein, gleichzeitig ertönt ein Warnton. Klappernd gleitet das Tor zur Seite.
Möller setzt sich in den Wagen, tritt aufs Gaspedal und fährt zum Parkplatz vor dem Haupteingang.
„Guten Tag“, begrüßt sie eine junge Frau. „Ich bin Sandra Heinz. Ich führe Sie zu Frau von Hessen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drückt sie den rechten Flügel der zweiflügeligen Glastür auf und geht voraus in eine lichtdurchflutete Lobby. Nichts deutet auf ein Kurhaus hin, das Ambiente entspricht dem eines Hotels. Gegenüber dem Eingang fällt der Blick durch eine Glaswand auf einen bepflanzten, begehbaren Innenhof. Rechter Hand befindet sich die Rezeption. „Das ist mein Arbeitsplatz“, sagt sie im Vorbeigehen.
Volk bleibt stehen und schaut über den Empfangstresen. „Schön haben Sie es hier.“
Frau Heinz dreht sich auf dem Absatz um. „Vor zwei Jahren wurde das Kurhaus entkernt und neu gestaltet.“
„Was sind Sie von Beruf?“
„Sozialpädagogin.“
„Welche Aufgabe haben Sie hier im Kurhaus?“
„Ich leite Gesprächskreise, koordiniere Anwendungen für Gäste, bin Rezeptionistin und Ansprechpartnerin für Fragen, Beschwerden, Wünsche.“
„Ich hoffe, Sie werden für so viel Verantwortung fürstlich entlohnt.“
Auf seinen Sarkasmus geht sie nicht ein.
„Ich wusste nicht, dass es im Ort eine solche Einrichtung gibt“, führt Volk den Dialog fort.
„Als Frauenkurheim existiert es seit 1971. Die Geschichte des Anwesens reicht jedoch weiter zurück. Ursprünglich war es ein Bauernhof, das ist lange her. Soweit ich weiß, war das Haus im Krieg ein Erholungsheim für Soldaten und später ein Kinderkurheim.“
„Was bieten Sie Ihren Kurgästen?“
„Wir arbeiten in einem interdisziplinären Team, um Frauen neue Lebensperspektiven aufzuzeigen.“
„Welche Problematiken behandeln Sie?“
„Hauptsächlich Psychische.“
„Nichts Körperliches?“
„Knochenbrüche behandeln wir nicht, wenn Sie das meinen.“
„Ich habe Kameras am Eingangstor gesehen. Wir hätten gerne die Aufnahmen der letzten 48 Stunden.“
Frau Heinz zuckt mit den Achseln. „Damit kann ich Ihnen nicht dienen. Die Kameras nehmen nichts auf. Man sieht nur, wer vor dem Tor steht.“
„Schade“, kommentiert Herr Volk den Umstand.
*
Sandra Heinz öffnet die Tür zum Büro der Heimleiterin und meldet: „Die Herren von der Kriminalpolizei sind da.“ Sie wendet sich ihnen zu und bittet: „Treten Sie ein. Frau von Hessen erwartet Sie.“
Hinter einem Schreibtisch steht eine elegante Dame in kerzengerader Haltung. Sie trägt einen blauen Faltenrock, der ihr bis über die Knie reicht. Ihre Oberbekleidung besteht aus einer schneeweißen Rüschenbluse und einem Blazer, der farblich auf den Rock abgestimmt ist. Am Revers glänzt eine goldene Brosche in Muschelform mit einer Perle in der Mitte. Die Frisur der Dame ist makellos. Jedes Haar sitzt perfekt. Freundlich lächelnd stellt sie sich vor. „Minna von Hessen. Ich bin die Hausleiterin. Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Sie faltet die Hände und schweigt, damit die Besucher das Wort ergreifen.
„Guten Tag. Ich bin Hauptkommissar Volk und das ist mein Kollege Oberkommissar Möller.“
„Bitte nehmen Sie Platz.“ Sie deutet auf ein Sofa. „Darf ich eine Erfrischung anbieten? Tee, Kaffee, Limonade, Mineralwasser?“ Mit einer jovialen Handbewegung deutet sie auf einen Teewagen mit Getränken.
„Ich nehme ein Wasser, bitte“, antwortet Möller.
Volk winkt ab. „Für mich nichts. Danke.“
Sie öffnet eine Flasche Mineralwasser, schenkt ein und stellt das Glas vor Möller auf den Tisch. „Zum Wohl“, wünscht sie und schiebt hinterher: „Entschuldigen Sie mich kurz. Ich möchte meiner Stellvertreterin Bescheid geben, dass Sie eingetroffen sind. Sie möchte an unserem Gespräch teilnehmen. Ich bin gleich zurück.“
Sie geht zum Schreibtisch, hebt den Hörer vom Telefon ab, drückt eine Kurzwahltaste. Jemand meldet sich. „Hallo Anita. Die Herren von der Kripo sind hier. Wenn du Zeit hast, komm bitte in mein Büro. Danke.“
Sie legt den Hörer auf die Gabel, ergreift ein Notebook, kommt zur Sitzgruppe, wo sie ihn auf den Tisch stellt. „Einen Moment“, lächelt sie verbindlich. „Ich bin gleich wieder da.“ Beim Teewagen gießt sie Kaffee aus einer Warmhaltekanne in eine Tasse, die sie auf den Tisch stellt. Dann setzt sie sich in einen Sessel, schlägt die Beine übereinander, legt die Hände in den Schoß, schaut die Beamten an und sagt: „Kommen wir zur Sache. Eine unserer Kurgästinnen ist“, sie stockt kurz, „wie soll ich es sagen? Abhandengekommen.“
Volk zückt sein Notizbuch. „Wie heißt die Vermisste?“
„Frau Klara Priehm.“
„Wie alt ist sie?“
„39 Jahre.“
„Woher kommt sie?“
„Aus Worms.“
„Wann wurde ihre Abwesenheit bemerkt?“
„Sie hatte heute Morgen um 10 Uhr einen Behandlungstermin. Sie ist nicht erschienen.“
„Was für einen?“, fragt Volk.
Frau von Hessen klappt unaufgeregt ihren Laptop auf. Nach kurzem Blick auf den Bildschirm antwortet sie: „Ein Stangerbad.“
„Was ist das?“
„Ein hydroelektrisches Vollbad. Die Patientin sitzt in einer mit Wasser gefüllten Wanne, durch die ein konstanter Gleichstrom fließt. Es ist eine elektrophysiologische Anwendung mit Wärmereiz. Das Stangerbad ist Bestandteil des Heilmittelkatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung. Laienhaft ausgedrückt wirkt es schmerzlindernd und durchblutungsfördernd. Wenn Sie mehr darüber erfahren möchten, empfehle ich ein Gespräch mit unserer medizinischen Bademeisterin.“
„Wie heißt diese Mitarbeiterin?“
„Cordula Zänker.“
„Hat Frau Zänker Sie über die Abwesenheit der Patientin informiert?“
„Ja, in der Teambesprechung.“
„Wann war die?“
„Um 14 Uhr. Bei dieser Gelegenheit stellten wir fest, dass Frau Priehm auch ihren Termin bei unserer Psychologin nicht wahrgenommen hatte.“
„Zu welcher Uhrzeit war der?“
„Von 12 bis 12.45 Uhr.“
Es klopft. Frau von Hessen ruft in freundlichem Ton: „Komm herein, Anita.“
Eine Frau von etwa 45 Jahren öffnet die Tür. Sie trägt ein buntes, bodenlanges Sommerkleid, das ihre Füße verdeckt. Anmutig gleitet sie in den Raum. Sie scheint zu schweben. Ihre goldenen Creolen-Ohrringe sind so groß, dass Kakadus bequem darin nisten könnten und um ihren schlanken Hals baumelt ein schwarzes Lederband mit drei farbigen Kugeln. Rot, gelb und grün. In der mittleren befindet sich ein Glöckchen. Lieblich bimmelnd begleitet es jede Bewegung ihres Körpers. Ihre langen Haare hat sie zu einer Bienenkorbfrisur aufgetürmt. Die Ähnlichkeit mit der Zeichentrickfigur Marge Simpson drängt sich auf. Mit dem Unterschied, dass die Frisur der schwebenden Anita nicht blau, sondern knallrot gefärbt ist. Zuerst segelt sie auf Hans Dieter Volk zu und stellt sich mit honigsüßer Stimme vor. „Anita Marianne Schlösser - Apfelboom“, haucht sie. „Ich bin Psychologin. Herzlich willkommen.“ Während ihrer Ansprache berührt sie seine Hand, ohne Druck auszuüben, und streicht mit der Linken über Volks Handrücken. Gleichzeitig sucht sie Augenkontakt und lächelt ihn an.
Er zuckt ein wenig zurück und murmelt wie in Trance: „Volk. Hans Dieter. Kriminalhauptkommissar.“
Möller schaut amüsiert zu. Die schwebende Anita hat einen gewaltigen Busen! Trotz des fließenden Sommerkleides ist ihre Oberweite beim besten Willen nicht zu übersehen. Als sie sich ihm zuwendet, muss er ausweichen, um nicht getroffen zu werden, und sich mit aller Kraft zwingen, ihr ins Gesicht zu sehen. Möller ist sich sicher, einen Hauch ätherischer Öle wahrzunehmen. Sein linkes Auge beginnt leicht zu tränen, als sie sich ihm vorstellt.