Sommer der Falken - Axel Schade - E-Book

Sommer der Falken E-Book

Axel Schade

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Beschreibung

Sommer der Falken ist eine Geschichte für Kinder und Erwachsene. Sie spielt in den Sommerferien 1969 auf dem Giersberg in der Stadt Siegen. Acki, Stefan, Omid, Lolli, Nüsschen, der kleine und der große Kwafti, bilden die Bande der Falken. Es sind nette Jungs, mit viel Unsinn im Kopf, die jedem Abenteuer hinterherjagen. Sie suchen einen Nazi-Schatz in einem Bergwerkstollen, befreien zwei gefangene Mädchen aus den Klauen der "Hardis" und jagen einen Vampir, der im Gartenschuppen einer geheimnisvollen Villa haust. Wie es sich für eine richtige Bande gehört, haben sie jede Menge Feinde und es kommt zu einer gewaltigen Schlacht mit den Weidenauern.

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Seitenzahl: 205

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Sommer der Falken

Die Geschichte einer Kinderbande.

Erzählt von Axel Schade.

1969 begannen die Sommerferien mit einer Hitzewelle. Über der Stadt Siegen staute sich eine Dunstglocke. Mit schonungsloser Härte brannte die Sonne. Die Gluthitze sog, wo sich ein Rest Feuchtigkeit versteckte, die Tropfen genüsslich auf und dörrte den Boden aus. Jeder, der ein schattiges Plätzchen sein eigen nannte, suchte diese Zuflucht auf und war froh, der flirrenden Hitze zu entgehen. Ausgenommen ein Junge in kurzen schwarzen Lederhosen. Ihm schien die sengende Sonne nichts auszumachen. Bäuchlings lag er auf dem Dach einer Garagenanlage und spähte in die Ferne. Rauchsäulen stiegen behäbig aus hohen Fabrikschloten des Hüttentals empor. Die Dämpfe vereinigten sich zu einer orangeroten Wolke am blauen Himmel. In den Fabriken schwitzten Arbeiter. Hammerschläge auf Blech dröhnten bis hinauf zu dem Burschen namens Axel. Freunde rufen ihn beim Spitznamen „Acki“. Neben dem Jungen lag ein selbstgefertigter Bogen mit Pfeilen. Ein chromblitzender Knallplättchenrevolver steckte im Hosengürtel. Seinen Kopf zierte ein rotes Stirnband mit drei daran befestigten Vogelfedern. Acki spähte das Gebiet der „Weidenauer“ aus. Die Kinderbande des benachbarten Hüttental-Weidenau, waren die erklärten Erzfeinde der „Falken“, zu denen er gehörte. Ein kehliger Ruf ertönte. „Hua!“ Gleich darauf ein Weiterer: „Hua Hu Hua!“ Acki erkannte die Stimme und beantwortete das Erkennungssignal: „Hua Hu Hua!“ Der Rufer kletterte daraufhin leichtfüßig auf einen an die Garagenwand grenzenden Zaun. Sekunden später erschienen seine Hände auf dem Garagendach. Geschickt zog sich der Ankömmling mit einem Klimmzug hinauf. Der Junge trug ebenfalls eine kurze Lederhose, ein Sommerhemd und um den Kopf ein rotes Band mit drei Vogelfedern. Er führte einen selbst gefertigten Bogen mit sich und an seinem Gürtel hing ein Köcher mit Pfeilen. „Hallo Acki!“, begrüßte er den Freund und platzierte sich im Indianersitz neben ihn. „Tag Stefan!“ „Gibt´s Neues an der Front?“ „Nö. Alles ruhig. Hab keinen Weidenauer gesehen. Denen ist vermutlich zu heiß. Schätze, die kreuzen erst gegen Abend auf den Feldern auf.“ „Denke ich auch. Also, was machen wir heute?“ Acki kratzte sich am Kopf und schlug vor, zu weiteren Überlegungen ein schattigeres Plätzchen aufzusuchen. Gemeinsam meisterten sie den Abstieg auf den Autowendeplatz. Diesem gegenüber erhob sich das felsige Massiv eines Steinbruchs. Auf dessen höchster Spitze wuchs ein stattlicher Baum. Bei genauem Hinsehen entdeckte der Betrachter in seinem Wipfel ein Baumhaus. Sie nannten es „Falkenhorst“. Das war nicht ihr Ziel, sondern ein dicht gewachsener stattlicher Holunderstrauch auf einem brachliegenden Grundstück, einige hundert Meter entfernt. Zu diesem Schlupfwinkel liefen sie zu Fuß. Ohne Vorwarnung ertönte aus dem Holunder eine Stimme: „Na, ihr Knallfrösche schwitzt ja ganz ordentlich!“ „Mann, hast du mich erschreckt, du Affe!“, schimpfte Acki. Stefan zeigte dem im Holunder hockenden Lolli einen Vogel. Der steckte seinen blonden Haarschopf durch ein Loch im Gestrüpp und lachte sich kaputt. „Kommt rein, ihr Orang-Utans, es ist geheizt!“, rief er fröhlich. Stefan und Acki folgten kichernd Lollis Einladung und krochen ins Innere. Die drei Freunde gingen in eine Klasse der Giersbergschule und kannten sich seit der Kindergartenzeit. Der Holunder besaß einen Hohlraum mit ausreichend Platz, um zehn bis elf Jungs ihrer Statur Unterschlupf zu bieten. Ein idealer Schlupfwinkel. Das Sonnenlicht strahlte nicht hinein, so entstand der Eindruck, es sei im Busch kühler als draußen. Von außen war das dichte Gehölz nicht einsehbar. Das Gewächs befand sich auf einer Anhöhe auf einem unbebauten Grundstück, um das sich niemand kümmerte. Wild wuchsen auf dem Gelände allerlei Pflanzen. Kniehoch stand das Gras. Disteln und Brennnesseln zogen an den Beinen, kletterte man den Hügel hinauf. Die Falken liebten diesen Zufluchtsort, obwohl sie auf dem Grundstück nicht spielen konnten. Für Fußball oder Völkerball war das Gelände zu schräg und uneben. Für Cowboy und Indianerspiele bot es kaum Deckung, man wurde zu schnell erschossen, zudem trugen Disteln und Brennnesseln nicht zum fröhlichen Spiel bei. Zum Ausgleich besaß der Holunder eine ideale Lage! Aus dem Inneren überblickten die Jungs die gesamte Umgebung. Das war ein enormer Vorteil! Feinde, die sich näherten, erspähten sie rechtzeitig genug, um sich gegen diese zu wappnen. Ihre Gegner waren zahlreich. Wie es sich für eine richtige Bande gehörte! Ihr Bandenname Falken war angelehnt, an den Namen der Falkstraße, in der sie auf dem Siegener Giersberg lebten. In ihrer Nachbarschaft unterhalb, findet sich die Gustav-von-Mevissen-Straße. Da die Falken gerne Spitznamen vergaben, sagten sie zu ihr „Mimistraße“ oder kurz „Die Mimi“. Sie war das Revier der „Mimis“, einer Horde Kleinkinder. Lolli wohnte dort, war jedoch Falke, weil er in ihrem Alter war und mit den Kindern seiner Straße nichts anzufangen wusste. Bandenmitglied „Nüsschen“, lebte gleichfalls in der Mimistraße. Tatsächlich hieß er Stefan, doch da es bereits einen Stefan in der Bande gab, wurde aus ihm Nüsschen. Er liebte Erdnüsse, daher lag der Spitzname nahe. Er war zugezogen und tauchte auf der Suche nach Spielgefährten in seinem Alter auf der Fußballwiese der Falken auf. Sie schlossen Freundschaft. Zur Zeit verbrachte er Urlaubstage bei der Oma auf dem Land. Ähnlich wie Nüsschen fand der stets gut gelaunte Omid den Weg zu ihnen. Er wohnte in der Steinstraße, die liegt unterhalb der Mimistraße. Omid stromerte durch die Gegend und lernte die Falken kennen. Sie verstanden sich auf Anhieb und er wurde Bandenmitglied. Oberhalb der Falkstraße findet man die Hardenbergstraße. In ihr wohnten viele Kinder und dort stehen einige Mehrfamilienhäuser. Die Falken lebten in Reihenhäusern, die je eine Familie beherbergten. Die Kinder aus der Hardenbergstraße nannten sie „Hardis.“

Acki berichtete Lolli, dass er das Gebiet der Weidenauer beobachtete, jedoch niemanden entdeckte. „Heute in aller Frühe spielten welche auf der Fußballwiese. Sind ruckzuck abgedampft, wo sie mich sahen.“, erzählte Lolli. „Hoffentlich haben sie unsere Tore nicht kaputtgemacht. Sonst war die ganze Mühe umsonst.“, befürchtete Stefan und legte seine Stirn in krause Falten. Er und Acki „besorgten“ vor kurzem Dachlatten, woraus sie Tore zimmerten. „Nee, haben sie nicht. Steht alles, wie gehabt.“, beruhigte Lolli. Er war kein Fußballspieler und verstand die Sorgen wegen ein paar alter Latten nicht. Das behielt er jedoch für sich und wechselte das Thema. „Ich hab mir einen tierischen Sonnenbrand geholt!“ Zum Beweis zeigte er knallrote Arme, auf denen sich stellenweise die Haut löste. Stefan und Acki hielten ihre braun gebrannten Arme zum Vergleich daneben. „Mama sagt, es liegt an meinen Hautpigmenten und daran weil ich blond bin. Deshalb bekäme ich leichter Sonnenbrand als ihr Typen mit dunklen Haaren.“ „Was sind denn Pigmente?“, fragte Acki. Stefan zuckte ratlos mit den Schultern und Lolli meinte: „Vielleicht sind´s Pickel.“ „Wir fragen den großen Kwafti.“, schlug Stefan vor. „Der Professor weiß doch immer alles.“ Acki riet ihm davon ab. „Mach das bloß nicht! Sonst hält er uns einen seiner wissenschaftlichen Vorträge! Ihr wisst doch wie er ist. Und der kleine Kwafti gibt seinen Senf dazu.“ Der große Kwafti hieß eigentlich Thomas und sein jüngerer Bruder Andreas. In der Bande waren sie „Die Kwaftis!“ Eine Zeit lang belastete die Brüder ein Problem. Sie sprachen Worte falsch aus. Statt „Knie“ sagten sie „Nie“ oder „Kwaft“ anstatt „Kraft“. So kamen sie zum Spitznamen Kwaftis. Anfangs regte sich Andreas furchtbar darüber auf, inzwischen akzeptierte er ihn als „Kampfnamen“. Den großen Kwafti nannten die Jungen zudem „Professor“. Diese ehrenvolle Auszeichnung verdiente er sich durch großartiges Wissen. Thomas war, was man landläufig eine Leseratte nennt. Unmengen von Büchern verschlang er im Laufe eines Jahres und merkte sich daraus kleinste Details. Lollis Spitzname kam, wie man leicht errät, von einer Vorliebe für Lutscher. Tatsächlich lautete sein Vorname Rolf. „Ich wette, Thomas weiß, was Pigmente sind!“, fing er erneut mit dem Thema an. „Lies mehr Bücher wie der große Kwafti, dann weißt du es auch! Erspar uns bitte, ihn in unserem Beisein zu fragen!“, bat Acki energisch. Er dachte daran, dass Thomas gerne lang und breit ein Thema besprach. Bei der herrschenden Affenhitze fehlte ihm das Bedürfnis, sich über Pigmente aufklären zu lassen. „Da kommt einer!“, flüsterte Lolli, der auf dem Ausguckast saß. Er schaute durchs Gestrüpp und suchte den Hang nach Herannahenden ab. „Die Kwaftis und Omid!“, meldete er und ließ ein „Hua“ ertönen. „Hua Hu Hua!“, kam die prompte Antwort aus drei Kehlen. „Ist das eine Hitze!“, stöhnte Thomas und trocknete mit einem Stofftaschentuch die schweißnasse Stirn. „Unsere Mutter wollte uns nicht rauslassen. Ich sagte, wir spielen bei dir im Keller mit der Autorennbahn.“ „Dann hockst du bis zum Winter da unten. Wir bauen die Bahn erst im November wieder auf!“, antwortete Stefan grinsend. Er rückte ein Stückchen zur Seite, damit Thomas sich setzen konnte. „Oho, was höre ich da? Du hast dein Fräulein Mutter angelogen, garstiger Bube? Hoffentlich kriegt sie das nicht raus. Sonst bekommst du eine seifige Abreibung!“, warnte Omid grinsend, streckte die Zunge heraus und rieb mit der Faust darüber. Die Jungs lachten, denn jeder wusste, was diese Geste bedeutete.

Mama Kwafti war eine auf Reinlichkeit bedachte Frau. Ertappte sie ihre Sprösslinge beim Lügen, oder hörte, dass sie „schweinische Worte“ sagten, wusch sie ihnen zur Strafe den Mund mit Seife aus. Auf diese rabiate Weise trachtete sie, ihren Söhnen solche Unarten auszutreiben. Allerdings war ihr Erfolg überschaubar, denn die Brüder fluchten wie die Wilden. Andreas gab zum Beweis seine zehn liebsten Kraftausdrücke zum Besten, um zu demonstrieren, dass er die Mutter nicht fürchtete. Die Freunde bezweifelten, dass er sich traute, die gleiche Vorstellung in ihrem Beisein aufzuführen.

„Leute, ich muss was erzählen, das haut euch glatt um!“, begann Omid aufgeregt. „Als wir gestern beim Abendessen saßen, erzählte mein großer Bruder, dass unter unserem Haus ein Stollen im Berg ist, wo die Nazis im Krieg Schätze versteckten, um sie vor Bomben zu schützen!“ Er machte eine Pause, um die Spannung zu steigern. „Und ich weiß, wo der Eingang ist!“ Vor Freude hopste er mit dem Hinterteil auf seinem Platz und erzeugte kleine Staubwolken. Kurze Zeit herrschte Stille im Holunderversteck. Dann brach Begeisterung aus. „Super!“, „Toll!“, „Klasse!“, „Das müssen wir uns ansehen!“, riefen alle durcheinander und klopften Omid auf die Schultern. Der klatschte vor Freude in die Hände und genoss den Moment der Berühmtheit. Anschließend gab er einen genauen Bericht ab. „Läuft man von unserem Haus die Steinstraße bis zum Ende, kommt man auf einen Wendeplatz. Der liegt direkt über einem Steinbruch. Klettert man runter, findet man den Eingang.“ „Warst du schon mal dort?“, fragte Thomas. „Nein, mein Bruder erzählte es.“, antwortete Omid. „Das wär ein tolles Abenteuer gleich in der ersten Ferienwoche!“ Acki war euphorisch. „Was meint ihr? Statten wir dem Stollen einen Besuch ab?“ „Lasst uns abstimmen, ich bin dafür!“, sagte Stefan und hob eine Hand. Die Jungs taten es ihm gleich und die Planungen zur „Aktion Stollen“ begannen. Im Laufe des Tages beschafften sie die Ausrüstung, die Abenteurer für eine solche Expedition benötigen. Manches holten sie aus ihren geheimen Lagern. Was sich dort nicht fand, „organisierten“ sie von zu Hause. Kerzen, Streichhölzer, Taschenlampen, Werkzeug und Seile verstauten sie im Holunderversteck. Am nächsten Tag wollten sie zeitig aufbrechen.

An diesem Punkt unterbreche ich für einige Informationen. Leser, die mit der Großstadt Siegen nicht vertraut sind, werden es danken. Die Universitätsstadt ist Oberzentrum von Südwestfalen (NRW), zwischen Sauerland und Westerwald gelegen. Siegen-Wittgenstein ist eine der ältesten Montanregionen Europas. In früheren Zeiten bauten Bergleute Eisenerz ab. Heute ist es industriell geprägt. Der „Hainer Stollen“ in Siegen erlangte weltweite Bekanntheit. Nationalsozialisten versteckten den Aachener Domschatz darin. Diese historische Tatsache ist Bestandteil des US-Spielfilms „Monument Men – Ungewöhnliche Helden“ (2014) von und mit George Clooney sowie Matt Damon, Bill Murray, John Goodman u. a.. Eine Spezialeinheit schlägt sich im 2. Weltkrieg nach Siegen durch, um die Kunstschätze zu retten. Beim „Hainer Stollen“ handelt es sich nicht um den von Omid beschriebenen Stollen. Sein Bruder verwechselte die Örtlichkeiten. Besagte Gruben liegen mehrere Kilometer voneinander entfernt. Informationen und Fotos zum Thema bietet das Internet: http://www.siegen-guide.de/sehenswuerdigkeit/hainer-stollen/

Pünktlich zum ausgemachten Zeitpunkt trafen sich Stefan, Acki und die Kwaftis. Aus dem Holunder holten sie die Gegenstände hervor, die sie für ihre Expedition benötigten. Alsdann gingen sie zum Wendeplatz der Mimistraße. Dort traf zeitgleich Lolli ein. „Tag zusammen!“, grüßte er, „Wir müssen unseren Plan ändern. Ich telefonierte mit Omid. Er sagt, wir sollen direkt zum Steinbruch gehen und nicht zu ihm nachhause. Seine Mutter bemerkte, dass Kerzen fehlen, und verhörte ihn deswegen. Er hat nichts verraten, befürchtet aber, sie riecht Lunte, kreuzen wir bei ihm auf!“ Sie zogen los und erreichten bald darauf den Wendeplatz der Steinstraße. Weil es auf dieser Seite des Giersberg keine Durchgangsstraßen gibt, schufen die Planer am Ende jeder Straße eine Fläche zum Wenden für Fahrzeuge. In der Steinstraße war diese kaum halb so groß wie in der Falkstraße. Von ihr aus bot sich ein imposanter Ausblick über die Stadt. Auf der dem Tal zugewandten Seite stand ein stabiles Geländer aus Eisenstäben, an dem zusätzlich ein hoher Maschendrahtzaun befestigt wurde, um zu verhindern, dass jemand in die Tiefe stürzte. Ein gelbes Warnschild mahnte eindringlich vor dem Betreten. In fetten schwarzen Buchstaben hob man das letzte Wort hervor: LEBENSGEFAHR! Omid stand, lässig ans Geländer gelehnt. „Hallo, da seid ihr ja!“, begrüßte er seine Freunde. „Mann, ist das tief!“ Andreas drückte sein Gesicht in den Maschendraht. Omid steckte einen Arm hindurch und zeigte hinunter. „Seht ihr die Baumgruppe? Dort wo die Birke mit dem krummen Stamm steht, soll der Eingang zum Stollen sein.“ Alle reckten ihre Hälse. „Ich sehe nichts. Wo denn?“, fragte der kleine Kwafti. „Pass auf!“, half Omid, „Schau die Eisenbahnschienen, die dort aus der Stadt auf den Berg zulaufen. Folgst du ihrem Verlauf, befindet sich der Eingang etwa an der Stelle, wo du die Schienen nicht mehr siehst.“ „Wo führen die denn hin?“, wollte Andreas wissen. „Na, in den Tunnel, was hast du gedacht?“, antwortete Omid. „Ich wusste nicht, dass dort einer ist!“, staunte der kleine Kwafti. „Der fängt hier an, führt durch den ganzen Giersberg und kommt dahinten raus.“ Er zeigte mit ausgestrecktem Arm in die Richtung, wo der Giersbergtunnel „irgendwo“ endete. Acki betrachtete das Geländer. Der untere Teil, gefertigt aus massiven Eisenstäben, stand stabil im Boden einbetoniert. Daran angeschweißt, ragten in regelmäßigen Abständen zwei Meter hohe Eisenstangen empor. Zwischen ihnen war Maschendraht gespannt. Am rechten Ende verankerte man die Konstruktion mit Stahlseilen im Fels. Dort zeigten sich Beschädigungen durch Rostfraß. Einen Strang hielten ein paar dünne Drähte zusammen. Dem Zweiten fehlte der komplette Anker, beim Dritten riss der Haltedraht. So entstand ein Durchschlupf, weit genug für einen schlanken Jungen. Flugs stand Acki auf der anderen Seite des Zauns auf einem Felsvorsprung. Er hielt sich am Geländer fest, bewegte sich bedachtsam vorwärts. „Was machst du denn da?“, rief Thomas, „Bist du verrückt? Das ist lebensgefährlich!“ Stefan reichte durch die Gitterstäbe ein Seil. „Sichere dich damit, ich halte fest.“ Acki legte es um die Brust und verknotete es. „Ich erkunde die Lage.“ Auf jeden Tritt achtend, kraxelte er auf dem schmalen Grat entlang. Bei einer kärglichen Birke angekommen, hielt er sich am Stamm fest und setzte sich. Daraufhin rutschte er mit den Beinen voraus, auf dem Hosenboden, zum tiefer gelegenen Felsvorsprung. Acki verschwand aus Stefans Blickfeld, so dass er nur Seil nachgab, zog der Freund zweimal hintereinander daran. Dieses Zeichen vereinbarten sie zuvor. Acki stand auf dem Gesims und überblickte den Steinbruch. Pflanzen wucherten zwischen Felsspalten. Bäumchen ragten aus dem Hang. Ihr Anblick erinnerte an Tentakel eines Kraken. Vereinzelt wuchsen Büsche und Lupinen. Die zauberten Farbtupfer in die mehrheitlich braune Wand. Insgesamt war die Vegetation dürftig. Terrassenförmig verliefen Felsvorsprünge entlang des Bergmassivs, deren Verlauf an verschiedenen Stellen von Erdrutschen unterbrochen war. Geröll lag darauf. Manche Terrasse war breit wie ein Bürgersteig, andere glichen schmalen Trampelpfaden. Zwischen ihnen bestanden diverse Höhenunterschiede. Bisweilen gering, dass man mühelos von einer zur nächsten gelangte. In der Mehrzahl jedoch derart hoch, dass man sie nur mit Seilen oder Strickleitern bezwänge. Um den Abstieg ins Tal sicher zu gestalten, benötigten sie ein robustes Tau, von mindestens zweihundert Metern Länge, schätzte Acki. Vorausgesetzt sie trieben einen derartigen Strick auf, erkannte er eine Gefahr, die das Vorhaben unmöglich machte. Ein Test bestätigte seine Sorge. Er trat mit einem Fuß auf den Rand des Felsvorsprungs. Sofort lösten sich Steine, die mit Getöse in die Tiefe polterten und wo sie auftrafen, weiteres Gestein mitrissen. Der brüchige Boden saß locker. Ein falscher Tritt und man stürzte ab oder herabfallendes Geröll traf einen. Das Schild mit der Aufschrift LEBENSGEFAHR kam ihm in den Sinn. Es reichte, er sah genug um sich ein Urteil zu bilden, und zog viermal am Seil. „Acki gibt das Zeichen, dass er zurückkommt!“, meldete Stefan. Nachdem der Freund wieder auf dem Wendeplatz stand, verschnaufte er, dann gab er den Falken einen Lagebericht. Sie setzten sich unter einem Fliederbaum in den Schatten und lauschten gespannt. Nachdem er endete, sah man den Jungs die Enttäuschung im Gesicht an. Stefan sagte: „Acki hat recht. Es ist zu gefährlich. Sicher findet sich ein anderer Weg. Lasst uns eine Nacht darüber schlafen.“ Thomas meldete sich zu Wort. In seiner unverwechselbaren Art sprach er: „Ich denke, ich entwickle eine Idee! Bisher ist es nur ein Nebel am Horizont, doch ich bin sicher, es formt sich daraus ein Plan!“ Mehr war nicht aus ihm herauszubekommen.

Morgens traf Acki beim Holunderversteck ein. Er staunte, dass Stefan, Lolli und Nüsschen vor ihm da waren. „Seid ihr heute früh aus dem Bett gefallen? Sogar Nüsschen ist da! Ich dachte, du bist bei deiner Oma im Urlaub?“ „Sie ist krank, da bin ich wieder heimgefahren. Zur rechten Zeit, wie es scheint.“ Lolli berichtete ihm von den Ereignissen des Vortages. „Hat einer was von den Kwaftis gehört?“, erkundigte sich Stefan. „Ich habe bei ihnen vorbeigeschaut. Sie frühstücken zu Ende, dann kommen sie.“, erklärte Acki. „Folglich handelt es sich um ein bis zwei Stunden, so wie der große Kwafti frisst!“, alberte Nüsschen, der Thomas und Andreas gerne foppte. Lolli, der auf dem Ausguckast wachte, beugte sich zu ihnen hinunter und meldete, das Omid in Sicht sei. „Guten Morgen werte Damen!“, witzelte er bester Laune, bei seiner Ankunft. „Jetzt kommen auch die Kwaftis!“, rief Lolli kurz darauf. „Lass mich mal sehen!“, bat Nüsschen und Lolli räumte den Ausguck für ihn. Schnaufend kraxelten Thomas und Andreas den Hang hinauf. „Wie viele Brötchen habt ihr verdrückt, ihr fetten Säcke?“, rief Nüsschen lachend. „Ihr kommt kaum den Berg rauf. Fresst ihr weiter in dem Maße, müssen wir ´nen Flaschenzug anbringen, um euch hochzuziehen!“ „Ach du Kacke! Nüsschen ist da und sondert blöde Sprüche ab.“, stöhnte der große Kwafti. „Du hast uns bei der Affenhitze gerade noch gefehlt! Als Oberaffe!“, veralberte ihn der kleine Kwafti lachend. Im Holunderversteck begrüßten sie sich mit einer Umarmung. „Was machst du denn hier? Ich dachte, du bist bei deiner Oma?“, wunderte sich Andreas. „Die ist krank!“ „Bei dir Knallerbse muss man auch krank werden!“, grinste der große Kwafti. „Gut gekontert!“, applaudierte Acki und klopfte Thomas anerkennend auf die Schulter. „Wer bis in die tiefe Nacht Pläne schmiedet, hat ein Recht auf ein reichhaltiges Frühstück, meine Herren!“, sprach der große Kwafti in seiner typischen Weise. Sie amüsierten sich köstlich über ihren Professor. „Platzieret euch und lauschet, was ich ersann.“ Thomas vollführte eine einladende Geste. Sie setzten sich in gespannter Erwartung im Kreis. Der große Kwafti war voll in seinem Element. Alle Augen richteten sich auf ihn. Sie wussten, was folgte: Eine seiner gefürchteten Ansprachen! „Geschätzte Gefährten!“, begann er theatralisch. Kaum ausgesprochen, kicherte Omid los. „Wie wir gestern feststellten, kommt es erstens anders, als zweitens wie man denkt!“ Er schaute in die Runde, um Bestätigung für seine wohlformulierte Einleitung zu finden. Stefan und Andreas nickten amüsiert, obwohl sie Thomas nicht wirklich folgen konnten. Omid, Acki und Nüsschen gackerten wie Hühner albern vor sich hin und Lolli grinste von einem Ohr zum anderen. Der große Kwafti ließ sich von derlei Albernheiten nicht aus dem Konzept bringen. „Wie sich die Situation darstellt, ist es unmöglich, die Route zum Stolleneingang zu nehmen, die wir ursprünglich wählten.“ Wieder warf er einen prüfenden Blick in die Runde. Als alle durch Kopfnicken oder verbal zustimmten, sprach er weiter. „Dies aus allerlei Gründen.“ Er hob den Zeigefinger der linken Hand: „Erstens. Wir haben kein Seil von der Länge und Stärke, wie wir brauchten!“ Zum Zeigefinger gesellte sich der Mittelfinger. „Zweitens. Der Weg erwies sich als lebensgefährlich.“ Sein Daumen folgte. „Drittens ließen wir das Wichtigste außer Acht! Die Zeit!“ Erneut schweifte sein bedeutungsvoller Blick durch die Runde. Die Albernheit legte sich, stattdessen kochte Spannung bei den Jungen hoch. „Wie meinst du das?“, wollte Omid wissen. Diese Frage erwartete Thomas und erklärte. „Brechen wir nach dem Mittagessen auf, steigen runter, besichtigen den Stollen, klettern den Berg wieder hinauf, brauchen wir sicher fünf Stunden. Eher mehr. Da Andreas und ich um achtzehn Uhr zu Hause sein müssen, wäre das eine üble Hetzerei!“ Das ist leider richtig, gaben sie zu. „Und jetzt zu meinem Alternativplan!“, kündigte Thomas an und griff in seine Hemdtasche. Der Professor holte ein säuberlich gefaltetes Blatt Papier hervor. Er öffnete es und breitete es auf dem Boden aus. Einige eingezeichnete Objekte, erkannten die Jungen bei genauerem Betrachten sofort. „Hier vermuten wir den Stolleneingang.“, erklärte der große Kwafti und zeigte auf ein schwarzes Kreuz. Er strich mit dem Finger über die Karte, an eine Stelle, wo man den Holunder erkannte. „Hier sind wir.“ Dann fuhr er fort: „Ich habe zwei Vorschläge. Die erste Möglichkeit: Wir laufen die Himmelsleiter herunter bis ins Tal. (Straßen der Seite des Siegener Giersberg verbindet eine Treppe. Kinder jener Zeit nannten sie Himmelsleiter.) Hier wenden wir uns nach rechts und gehen am Bahndamm entlang. Das Problem ist, dass wir nicht wissen, ob es eine Möglichkeit gibt, über die Gleise zu gelangen. Oder kennt sich einer von euch dort aus?“ Die Begebenheiten kannte keiner gut genug, um sicher Auskunft darüber zu geben. Thomas zeigte erneut auf seine Karte und sprach: „Die zweite Route, beginnt auf dem Wendeplatz. Von dort gehen wir zur Stelle, wo sich im Winter die Schlittenbahn teilt. Hier biegen wir links ins kleine Wäldchen ab. Der Teil des Wegs ist gefährlich, da die Weidenauer darin ihr Hauptquartier haben.“ Thomas markierte den Ort auf der Karte mit einem gezeichneten Pkw und ergänzte: „An der Stelle liegt das Autowrack im Bombentrichter. Von dort führt unsere Route geradewegs zum Steinbruch. Dies ist der schnellste Weg, allerdings über das Gebiet der Weidenauer hinweg, direkt an deren Hauptquartier vorbei. Erwischen sie uns, verpassen sie uns unter Umständen ein paar blaue Augen.“ Damit beendete der Professor seinen Vortrag. Sie besprachen die verschiedenen Möglichkeiten, ihr Vorhaben umzusetzen. „Schade, ich wäre gerne geklettert!“, maulte Omid und forderte: „Dann nehmen wir die Route durchs Gebiet der Weidenauer. Sonst ist es kein richtiges Abenteuer!“ Stefan beendete die Debatte, indem er sagte: „Ich bin dafür. Wer noch?“ Alle hoben die Hand. Damit war es beschlossen. Nach dem Mittagessen sollte es losgehen.

Acki saß vor einem Teller Gemüsesuppe und überlegte. Seit eh und je waren Weidenauer und Falken verfeindet. Den Grund dafür kannte niemand mehr. Den Giersberg teilten die Kontrahenten in zwei Hälften. Die Weltbahn, eine bei allen Kindern beliebte Schlittenbahn, stellte die Grenze dar. Hardis und Mimis kamen ebenfalls nicht mit den Weidenauern zurecht. Immer wieder entflammten an irgendeiner Ecke kleine Feuer, die sich in Einzelfällen zu einem Flächenbrand entwickelten. Mal zerstörten Weidenauer Fußballtore der Falken, im Gegenschlag demolierten sie ihnen eine Bude. So wogte es hin und her. Das die zerstrittenen Parteien zusammen spielten, war undenkbar. Im Winter galt ein Abkommen, die Schlittenbahn betreffend. Es war abgemacht, dass jeder unbehelligt darauf fahren durfte. Die Weltbahn war neutral und für alle zugänglich. An diese Vereinbarung hielten sich die Parteien eisern.