Kriminalhauptkommissar Ronny Mittler - Axel Schade - E-Book

Kriminalhauptkommissar Ronny Mittler E-Book

Axel Schade

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Beschreibung

Krankenschwester Friederike findet den Patienten Thilo van der Leuwen erhängt im Treppenhaus der Zentralklinik! KHK Ronny Mittler glaubt nicht an einen Suizid des jungen Segelsportlers. Er setzt die MordermittlerInnen Lena Schösteen und Merle Jörgisdottir auf den Fall an. Durch die Befragung der Wirtin "Lola" Andersen im Vereinslokal BOOTSHAUS fällt der Verdacht auf das Liebespaar Dennis & Carola. Die KommissarInnen glauben nicht an ihre Schuld. Die Zufallsbekanntschaft mit Rentnerin Hilde Bogena führt zu neuen Erkenntnissen. Kurz darauf wird die alte Dame bestialisch ermordet. Indizien sprechen für einen psychisch schwer gestörten Mörder. KHK Mittler bezweifelt, dass ein Einzeltäter verantwortlich ist. Bei der Tätersuche entdecken die Kriminalisten unaufgeklärte Vermisstenfälle, die bis ins Jahr 1947 zurückreichen. Alle Spuren führen zu einem einsam gelegenen Haus. Je näher die Ermittler der Wahrheit kommen, desto mehr schweben sie selbst in höchster Todesgefahr! Der Nachtwolf ist der dritte Fall von KHK Ronny Mittler, der im Ruf steht, spektakuläre Verbrechen wie ein Magnet anzuziehen.

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Blinddarmdurchbruch.
Der Erhängte.
Suizid?
Visite.
Im BOOTSHAUS.
Dennis.
Carola.
Wir haben einen Mordfall!
Friederike.
Fassen wir zusammen.
Recherche.
Das Haus in Westermarsch.
Wer Nachbarn hat, braucht keine Feinde!
Im Kommissariat.
Alphafrau und zartes Mäuschen.
Ein Verbrechen mit der Zunge.
Schön haben sie es hier.
Im Loch.
Ich fühle mich wie eine Roulade!
Aus eins wird zwei!
Hausmannskost!
Der geflieste Raum.
Ein paranoides System.
Ich bin Kevin!
Todesreigen.
Die Kavallerie!
Enthüllungen.
Die Kinemathek.
Wie Helma starb.
Tante Martha.
Numero Uno.
Das Tagebuch.
Videostudium.
Dressur ist keine Erziehung.
Eine Eule ruft Huhu.

Impressum neobooks

Kriminalhauptkommissar

Ronny Mittler

-

DER NACHTWOLF

Kriminalroman von Axel Schade

Buchbeschreibung:

Krankenschwester Friederike findet den Patienten Thilo van der Leuwen erhängt im Treppenhaus der Zentralklinik! KHK Ronny Mittler glaubt nicht an einen Suizid des jungen Segelsportlers. Er setzt die MordermittlerInnen Lena Schösteen und Merle Jörgisdottir auf den Fall an. Durch die Befragung der Wirtin „Lola“ Andersen im Vereinslokal BOOTHAUS fällt der Verdacht auf das Liebespaar Dennis & Carola. Die KommissarInnen glauben nicht an ihre Schuld. Die Zufallsbekanntschaft mit Rentnerin Hilde Bogena führt zu neuen Erkenntnissen. Kurz darauf wird die alte Dame bestialisch ermordet. Indizien sprechen für einen psychisch schwer gestörten Mörder. KHK Mittler bezweifelt, dass ein Einzeltäter verantwortlich ist. Bei der Tätersuche entdecken die Kriminalisten unaufgeklärte Vermisstenfälle, die bis ins Jahr 1947 zurückreichen. Alle Spuren führen zu einem einsam gelegenen Haus. Je näher die Ermittler der Wahrheit kommen, desto mehr schweben sie selbst in höchster Todesgefahr!

Der Nachtwolf ist der dritte Fall von KHK Ronny Mittler, der im Ruf steht, spektakuläre Verbrechen wie ein Magnet anzuziehen.

Über den Autor:

Axel Schade, 1959 in Siegen geboren, lebt seit 2001 in Ostfriesland. Er arbeitete im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Seit 2009 ist er wegen einer Lungenkrankheit Renter.

1. Auflage, 2021

© Alle Rechte vorbehalten.

Blinddarmdurchbruch.

„Er kommt zu sich.“, flüstert Lena Schösteen ihrer Kollegin zu. Merle Jörgisdottir sitzt auf der Fensterbank des Krankenzimmers 611 im 6. Stock der Zentralklinik. Sie schaut auf den künstlich angelegten See vor dem Gebäudekomplex in Georgsheil. „Wie bitte? Was sagtest du?“ „Der Chef wacht auf!“ Lena tritt näher an das Bett des Patienten. Zuckende Bewegungen der Augenlider deuten an, Ronny Mittler erwacht aus der Narkose. Merle gesellt sich zu ihrer Kollegin. „Blass ist er.“, findet sie. „Was hast du erwartet nach der OP?“ „Stimmt auch wieder.“

Schleichend kehrt Mittlers Körperwahrnehmung zurück. Er hat ein taubes Gefühl im Unterleib. Gemächlich tastet er sich ab. In der Leistengegend berührt die Rechte einen Fremdkörper. Ein fingerdicker Schlauch verschwindet in seinem Bauch. Mit Klebeband und Verbandsmaterial ist er fixiert. Mittlers Kopf dröhnt, wie nach einem Glas Mariacron zuviel am Abend zuvor. Behäbig bewegt er ihn hin und her, öffnet und schließt den Mund. Es löst schmatzende Geräusche aus. Eine Frauenstimme findet den Weg in sein Unterbewusstsein. Sie klingt, wie aus einer fernen Welt.

„Ob er Durst hat?“ Mittler dreht sein Gesicht in die Richtung, aus der ihre Worte ihn erreichen. Schemenhaft nimmt er Konturen wahr. Lena holt einen Schnabelbecher vom Nachttischschrank. Sie führt das Gefäß an die Lippen des Patienten. „Hier Ronny. Trink einen Schluck Wasser.“ Er trinkt mit saugenden Zügen.

„Darf er überhaupt schon was zu sich nehmen, so kurz nach der OP?“, fragt Merle besorgt. „Sicher. Sonst hätte die Krankenschwester es ihm bestimmt nicht hingestellt.“ „Danke,“, krächzt der Kriminalhauptkommissar (KHK) heiser. Lena stellt den Becher zurück.

Merle drängt sie zur Seite, um zu Mittler zu gelangen. „Da ist er wieder!“, freut sie sich und schmatzt dem Patienten einen Kuss auf die Stirn. Im Anschluss gibt sie den Platz für ihre Kollegin frei. „Du kannst einem Schrecken einjagen! Mach das nicht nochmal mit uns!“, schimpft Lena. Sie umarmt und drückt ihren Vorgesetzten behutsam.

„Schluss mit der Gefühlsduselei! Erklärt mir lieber, wie ich hierherkomme! Was ist passiert?“ „Weißt du das nicht mehr?“ „Nein. Keine Ahnung.“ „Du bist im Büro umgekippt. Blinddarmdurchbruch.“, berichtet Lena. „Kannst von Glück reden, das du nicht alleine warst. Das hätte tödlich enden können!“ „Blinddarmdurchbruch? Damit erklären sich meine anhaltenden Bauchschmerzen. Nebst anderen Problemchen. Hatte ich seit ein paar Tagen.“

Merle boxt den Hauptkommissar mit geballter Faust gegen den Oberarm. „Problemchen? Du Honk! Wenn ich das schon höre! Typisch Mann! Bloß nicht zum Arzt gehen. Wird schon nichts Großes sein. Hängt sicher nur ein Furz quer! Was von selbst kommt, geht auch wieder, bla, bla, bla! Das sind Machosprüche. Dabei bist du vom Macho so weit entfernt, wie die Sonne von der Erde. Ich verstehe nicht, warum du nichts sagst.“, schimpft sie. „Was denn?“ „Na, dass es dir nicht gut geht, zum Beispiel?“ „Ich dachte, es sind Blähungen. Das ist ein Thema, das ich ungern mit jungen Damen bespreche, Kommissarin Jörgisdottir.“ „Sicher. Alles klar! Wenn der Papst pupst, steigt weißer Rauch auf!“ „Jetzt lass den Chef in Ruhe, Merle. Er ist zu geschwächt, um mit dir über Flatulenzen zu diskutieren.“ „Hahaha!“, lacht Mittler und hält sich den Bauch. Die Frauen stimmen in sein Gelächter ein.

„Wir waren in deiner Wohnung, Ronny.“ „Oje! Klingt nach Hausdurchsuchung, wenn du das sagst!“, scherzt er. Kriminaloberkommissarin Lena Schösteen ignoriert seine Bemerkung. „Wir packten das Notwendigste ein.“ Sie zählt auf: „Wasch- und Rasierzeug. Zahnbürste. Zahncreme. Waschlappen. Handtücher. Duschgel und so weiter.“ Merle öffnet eine Schranktür neben dem Bett. „Hier sind deine Klamotten.“, zeigt sie. „Unterwäsche. Schlafanzug. Jogginganzug. Jeans. T-Shirts. Pullover. Uns ist aufgefallen, du hast ein paar echt schicke Outfits zuhause im Schrank! Die hattest du in der Dienststelle noch nie an.“ Lena nickt. „Ja wirklich, Ronny, du könntest viel mehr aus dir machen!“ „Klamottentechnische Typberatung bekommst du von uns gratis. Nutz das doch!“, ergänzt Merle. „Kommen bei euch Muttergefühle auf, oder was? Ich mach mich doch nicht zu eurer Anziehpuppe!“ Mittler lacht aus vollem Hals bei der Vorstellung. „Ach du oller Blödian.“, kichert Merle und schließt die Schranktür. „Muttergefühle! Also wirklich! Bilde dir mal nichts ein!“ Lena fügt einen Seufzer ausstoßend an: „Ich bin enttäuscht. Den Hang zu dämlichen Kommentaren entfernte man dir bei der OP nicht. Dabei hatte ich extra darum gebeten!“

Mittler will kontern, da klopft es an die Zimmertür und unterbricht ihre Alberei. Ein Herr in Arztkittel tritt ein. Mit leicht vorgebeugtem Oberkörper und auf dem Rücken verschränkten Armen bewegt sich der Mann mit Trippelschritten zum Krankenbett. Eine pummelige Krankenschwester begleitet ihn. „Moin zusammen.“, grüßt der Arzt. „Freudiges Gelächter dringt in meine Ohren. Schön. Sehr schön. Lachen ist immer noch die beste Medizin, nicht wahr? Ich diagnostiziere, damit befinden sie sich auf dem Weg der Besserung! Schön. Sehr schön.“

„Moin.“, antwortet Mittler. „Wenn sie das sagen, Herr Doktor, dann muss es wohl stimmen.“ Der Kriminalist betrachtet den Mann. Tastet ihn von Kopf bis Fuß mit den Augen ab. Auf 60 Jahre taxiert er ihn. Auf der Nasenspitze jongliert er eine Nickelbrille. Das Modell wirkt aus der Zeit gefallen. Es erinnert an Ex-Beatle John Lennon, der eine Ebensolche trug. Das antike Nasenfahrrad des Professors ist zweifelsfrei vierzig Jahre alt. Annehmbar, dass er die Brille bereits als Student besaß. Der Arzt schaut aus braunen Augen in die Welt. Darüber wuchern dichte buschige Brauen. Von seinem eckigen Schädel stehen in sämtliche Richtungen graue Haare ab. Sie schreien nach Kamm, Bürste und professioneller Behandlung. Die eigenwillige Frisur erinnert Ronny Mittler an einen geplatzten Kanarienvogel. Und an den britischen Premierminister Boris Johnson, was kaum einen Unterschied ausmacht. Am Hals des Doktors baumelt ein Stethoskop. Sein Arztkittel reicht ihm bis zu den Füßen, was unter Umständen daran liegt, dass der gute Mann kaum größer wie 1,65 m ist. In der Brusttasche stecken 4 Kugelschreiber! Darüber prangt ein silberfarbenes Namensschild.

ZENTRALKLINIK GEORGSHEIL

Prof. Dr. med. H. Harr

„Ich darf mich vorstellen.“, leitet er seine Präsentation ein. „Harr, lautet der werte Hintername. Vorne heißt es Hermann. Macht zusammen Hermann Harr. Professor Doktor med..“ Elegant deutet er eine Verbeugung an. „Ich leite diese Station. Hilfreich zur Seite steht mir meine Perle Oberschwester Ulrike Kill. Wo steckt sie?“

Die pummelige Frau hält sich bis zur Namensnennung hinter ihm auf. Nun tritt sie aus seinem Schatten. Zu der Zeit wo Harr das Hohelied über Perle sang, verzog die Gelobte nicht ansatzweise ihre Mine. Als ginge sie sein Geschwätz nicht das mindeste an ignorierte sie es. Keine Gefühlsregung war in ihrem Mondgesicht abzulesen.

„Moin“ grüßt sie mit rauer Stimme. Mehr trägt sie nicht zum Gespräch bei. Unaufgefordert macht sie sich nützlich. Überprüft medizinische Gerätschaften. Schaut hier. Kontrolliert dort. Gibt sich geschäftig.

„Oberschwester Ulrike ..., gute Seele der Station!“, nuschelt Professor Harr grübelnd. „Ich wüsste nicht, wie der Laden ohne sie funktionieren sollte!“ Er lacht zweimal kurz hintereinander, was dem Kläffen eines Hundewelpen ähnelt. Mittler erkennt keinen Witz und wundert sich. „Ulrike.“, näselt der Doktor wiederholt. „Gute Seele. Wie gesagt. Schön, schön.“

Dr. Harr zieht Mittlers Patientenblatt aus einem Kästchen, das am Bett angebracht ist und murmelt: „Die jungen Damen verlassen jetzt bitte das Zimmer. Patientenschutz, Datenschutz und dergleichen. Sie verstehen? Wie gesagt. Schön, schön. Auf Wiedersehen.“ Die angesprochenen Kommissarinnen schauen sich vielsagend an. Lena winkt ihrem Chef lächelnd zu. „Bye-bye. Wir gehen dann mal. Morgen besuchen wir dich wieder Ronny. Mach es gut.“ „Mach es besser!“, schließt sich Merle an. „Tschüss ihr zwei. Danke für alles.“ Bei der Zimmertür dreht sich Merle um. „Mir fällt gerade ein, sollen wir irgendetwas mitbringen?“ „Ja gerne! Wenn möglich, das neue Lustige Taschenbuch.“ „Okay, geht klar.“ Die Frauen verlassen das Zimmer.

„Sie schmökern Comics?“, erkundigt sich Professor Harr. „Ja. Ein Überbleibsel aus der Kindheit. Hinübergerettet in die Erwachsenenwelt.“ „Aha! Schön. Sehr schön. ... Nett. ... Ein Rudiment der Vergangenheit und dergleichen. ... Ein Hobby ... wie Modelleisenbahn. ... Nur zum Lesen. Schön. Schön. Wie gesagt.“ Weiter äußert sich Professor Doktor Harr nicht zu Comics, Kindheit und Reliquien. In Gedanken versunken studiert er das Patientenblatt.

Obwohl Modellbau zu Mittlers Hobbys zählt, greift er das Thema nicht auf. Es drängt ihn zwar, profunde Sachkenntnis kundzutun, aber der Mediziner macht nicht den Eindruck, des passenden Gesprächspartners. Doktor Hermann Harr führt ein Arztgespräch. „Face-to-Face-Kommunikation.“, tituliert er die Konsultation. „Darauf hat ein Privatpatient Anspruch. Wie gesagt! Ein Fachgespräch und dergleichen. Von Arzt zu Patient. Wie es sich gehört! Schön. Schön. ... Nun denn. Ein Blinddarmdurchbruch ist die Eskalation einer Blinddarmentzündung. Der Wurmfortsatz platzt. Der Darminhalt gelangt in die Bauchhöhle. Das kann zum Exitus führen!“

Bildhaft doziert Professor Harr über die fachgerechte Entfernung des Blinddarms. Mittler, der es gar nicht so detailliert wissen möchte, denkt zur Ablenkung ganz fest an Donald Duck, Modelleisenbahnzüge und Einhörner, die mit Delfinen schwimmen.

Der Erhängte.

„Hallo? Herr Mittler?“ Krankenschwester Friederike steht am Bett des Kommissars und stupst ihn an der Schulter. „Bitte wachen sie auf.“

Friederike stellte sich ihm vor, wo sie ihren Nachtdienst antrat. Eine zierliche Person mit schwarzem Zopf. 1,65 m groß. 25 Jahre alt. Eine Weile unterhielten sie sich. Später servierte sie Abendbrot. Erklärte, wie das TV-Gerät bedient wird. Koppelte sein Smartphone mit dem Ladegerät. Friederike ist freundlich, hilfsbereit, höflich, eifrig, andernteils schüchtern und kindisch.

„Was ist denn?“, murmelt der aus dem Tiefschlaf gerissene. „Können sie ganz schnell mitkommen?“ „Was? Jetzt?“ „Bitte. Herr Mittler!“ „Wie spät ist es?“ „3 Uhr 10.“ „Oh je. Ich hoffe, es gibt plausible Gründe mich zu wecken!“ „Da ist ein Toter.“

Der Kriminalhauptkommissar glaubt, nicht richtig zu hören. Augenblicklich ist er hellwach. „Was?“

„Ein Mann. Ein Patient. Er hat sich erhängt!“ „Wo?“ „Im Treppenhaus! Kommen sie. Ich zeige es ihnen.“, drängt Friederike. Fahrig zieht sie ohne Vorwarnung die Bettdecke weg. „Ich helfe ihnen beim Aufstehen.“ Vor dem Bett steht ein Rollstuhl. „Sie haben an alles gedacht!“, wundert sich Mittler und richtet sich mit ihrer Hilfe auf. „Ich weiß doch, dass sie nicht gut gehen können, so kurz nach der OP.“

Schwester Friederike steuert den Rollstuhl auf den Flur und schlägt den Weg zum Treppenhaus ein. Vor der Glastür zum Hausflur stehen drei Verkaufsautomaten. Süßwaren. Limonade. Heißgetränke. Es ist dermaßen still im Haus, das man ihre Aggregate summen hört. Im Moment, wo sie daran vorbei kommen, erfasst sie ein Bewegungsmelder. Automatisch schwingt die Glastür auf. Friederike schiebt den Rollstuhl im Treppenhaus an die Brüstung.

„Sehen sie?“ Die Krankenschwester zeigt auf ein Seil. Es ist am Handlauf des Treppengeländers verknotet. Ein Kletterseil, schießt es Mittler durch den Kopf, wo er das blau-schwarz gefärbte Kunststoffseil erblickt. Der Strick ist mehrmals um das Geländer gewickelt und mit Knoten befestigt. Das übrig gebliebene Seilende bildet auf dem Boden einen kleinen Haufen.

Mittler erhebt sich mit Friederikes Hilfe aus dem Rollstuhl, um ins Treppenhaus hinabzuschauen. 5 bis 6 Meter entfernt hängt ein Mann am Ende des Seils. „Das ist Thilo van der Leuwen.“, wispert Schwester Friederike dem Ermittler ins Ohr. „Sie kennen ihn?“ „Ja. Er ist Privatpatient von Doktor Harr. Zimmer 609.“

Der Körper des Erhängten schwingt sanft. Dreht sich in mäßigem Tempo um die eigene Achse. Verantwortlich ist ein Luftzug, der durch das sechs Stockwerke tiefe Treppenhaus zieht. Der Kopf des Toten ist auf die Brust gesackt. Nach Mittlers Erfahrung spricht dies für einen Genickbruch. Der Verstorbene hat schwarze Haare. Bekleidet ist er mit einem blauweiß gestreiften Schlafanzug. Der rechte Arm ist in Höhe des Handgelenks eingegipst. Am linken Fuß trägt er einen Hausschuh mit Schachbrettmuster. Der andere Fuß ist nackt. Den fehlenden Pantoffel sieht Mittler nirgends. Mehr gewahrt der Hauptkommissar nicht. Das Alter des Toten ist aus dieser Warte nicht einzuschätzen, weshalb er Friederike fragt. „Ich glaube, er ist 20.“, antwortet sie flüsternd.

Dem Kriminalhauptkommissar werden die Knie weich. Ihm schwindelt. Er zittert vor Anstrengung. Vor seinen Pupillen tanzen silberne Sternchen. Die aufrechte Position ist strapaziös, obwohl er sich auf dem Geländer abstützt. Friederike hilft ihm in den Rollstuhl. Mittler ist froh, wo er wieder sitzt.

„Was machen wir nun?“, fragt die Krankenschwester. „Die Polizei holen. Was sonst? Schildern sie den Vorfall. Melden sie ihren Vorgesetzten, was passiert ist. Und sorgen sie bitte dafür, dass keiner auf die Idee kommt, den Toten abzuhängen. Das bewerkstelligen meine Kollegen.“ „Und was machen sie?“ „Ich? Ich lege mich wieder ins Bett. Wo ich hingehöre.“

Suizid?

„Herein!“, ruft Mittler. Doktor Albert Meyer tritt ein. Er stellt seinen Tatortkoffer, den er beständig bei sich trägt neben den Nachtischschrank und reicht dem Patienten die Hand. „Na, du alte Runkelrübe, was machen Sachen?“, grüßt der Gerichtsmediziner seinen besten Freund. „Ich hole Kinderkrankheiten nach! Das machen Sachen!“ „Aha. So lautet deine Ausrede! Du drückst dich doch vor der Arbeit. Gib´s zu.“, lacht der Pathologe. Er zieht einen Stuhl ans Bett, lässt sich darauf fallen. „War in der Gegend. Dachte, schau mal bei Ronny rein. Wie geht´s, alter Kumpel?“ „Ist gerade noch zu ertragen. Danke der Nachfrage!“

Meyer und Mittler sind seit der Kindheit Freunde. Sie begegneten sich erstmals in der 5. Klasse des Gymnasiums von Waldgrund, ihrer Heimatstadt. Nachdem es Ronny beruflich an die Nordseeküste verschlug, besuchte Albert ihn dort. In diesem Urlaub lernte er eine Frau aus Mittlers Bekanntenkreis kennen und lieben. Es dauerte sechs Monate, da verlagerte Meyer seinen Lebensmittelpunkt ebenfalls nach Ostfriesland.

„Du kannst von Glück reden, das Merle und Lena bei dir waren! Wenn der Blinddarmdurchbruch zuhause passiert wäre, ... ich will lieber nicht darüber nachdenken.“ „Ja, ich verdanke den Mädels viel. Zeige mich erkenntlich, sobald ich aus dem Krankenhaus komme. Ich lade sie zu einem todschicken Essen ein.“ „Das klingt nett. Darüber freuen sie sich. Ein paar Tage bleibst du aber noch unter Beobachtung. Schone dich. Werde gesund.“

„Du bist beruflich in der Klinik, richtig? Wegen des Erhängten im Treppenhaus.“ Der Gerichtsmediziner ist sichtlich überrascht. „Du weißt davon? Wie das?“ „Ich sah den Toten vergangene Nacht. Die Stationsschwester weckte mich deswegen. Sie fand ihn.“ „Alter Schwede! Langsam wirst du mir unheimlich! Am Ende stimmt der Flurfunk noch ...? Hast du doch einen Magneten in der Tasche, der Todesfälle anzieht?“ „Sicher hab ich einen! Was denkst du denn? Der Schlingel zeigt sogar die Richtung an. Genau an dieser Stelle sitzt er!“ Mittler tippt mit dem Zeigefinger auf die Bettdecke in Höhe seines Geschlechtsteils. Sie lachen.

„Jetzt im Ernst, Albi. Was ist los? Haben wir einen Fall?“ „Ich weiß es nicht. Muss die Leiche auf dem Tisch haben, bevor ....“ „Ja, ist klar, ich kenne den Spruch.“, unterbricht Mittler. „Was kannst du inoffiziell sagen? Dein erster Eindruck?“ „Na hör mal! Du gehst ja ran. Stehst schon wieder auf dem Gaspedal. Du bist krank, Mann. Sollst dich nicht damit beschäftigen, sondern gesund werden! Ich verweigere die Aussage!“

Es klopft. Lena und Merle betreten das Zimmer. „Moin Ronny!“, zwitschern sie aus einem Mund. „Wie geht es dir heute?“, erkundigt sich Lena. „Danke der Nachfrage, ganz gut.“ „So blass wie gestern bist du nicht mehr.“, bemerkt Merle. Sie reicht Mittler eine Papiertüte. „Hier. Deine Bestellung.“

„Ich wette 500 Euro, es ist ein Walt Disney Lustiges Taschenbuch! Stimmts? Hab ich recht?“, meldet sich Meyer. „Bitteschön. Sieh selber nach.“ Mittler reicht ihm die Tüte. „Aber die Kohle bekomme ich, wenn du falsch liegst!“ „Klar. Wettschulden sind Ehrenschulden!“, versichert sein Freund und zieht den Inhalt heraus. „Wusst ich´s doch!“, triumphiert er, das Comicbuch in der Luft schwenkend. „Wann wirst du eigentlich erwachsen, Ronny?“ „Bevor ich so eine Spaßbremse, wie du werde? Dann nie!“, lacht der Hauptkommissar. „Spaßbremse! Das ist mein Stichwort! Ich muss los. Sachen machen!“ Meyer steht auf. Reicht Mittler die Hand. „Mach´s besser, alter Freund. Ich halte dich auf dem Laufenden. Smartphone hast du? Ich erreiche dich, wie gewohnt?“ „Ja. Alles an Bord. Danke für den Besuch. Lass dich bloß nicht nochmal bei mir blicken und frohes Sachen machen!“ „Tschüss die Damen und tschö mit Ö alter Sack.“, verabschiedet sich Meyer und rauscht aus dem Krankenzimmer.

„Wer euch zuhört, denkt, er hätte zwei Minderbemittelte vor sich.“, grinst Lena und führt die Scheibenwischergeste aus. „Man merkt, das ihr alte Freunde seid. Kein normaler Mensch versteht euer Sachenmachen Gelaber.“

Merle gähnt. „Spät ins Bett gekommen?“, erkundigt sich Mittler. „Nein. Zu früh raus.“ „Warum?“ „Wegen des Toten im Treppenhaus! Von dem du selbstredend längst weißt, wie wir von Schwester Friederike erfuhren. Du hast den Leichnam als erster besichtigt.“ „Erwischt! Zwar aus einiger Distanz, aber ja. Was wisst ihr über den Verblichenen? Irgendwelche Erkenntnisse?“

Lena kramt ihr Notizbuch aus der Tasche. Ein für sie wichtiges Arbeitsutensil. Merle macht darüber Witze. Nennt es uncool oder Oldschool. „Warum benutzt du nicht dein Smartphone?“, fragte sie kopfschüttelnd und erklärte: „Das hat eine Memofunktion und einen Rekorder. Du kannst schreiben oder diktieren. Keine Ahnung, aus welchem Grund du dir die Mühe mit der Kladde machst.“ Lena antwortete: „Ich traue Handys nicht. Dauernd hört man von Datenklau. Das Notizbuch habe ich lieber.“

Lena schaut Mittler an. „Eigentlich wollten wir dir nichts sagen. Weil du krank bist und Ruhe benötigst. Andererseits konnten wir uns an fünf Fingern abzählen, dass du fragst. Erst recht, da du Wind von der Sache bekommen hast.“ Sie öffnet die Kladde und liest: „Bei dem Verstorbenen handelt es sich um Thilo van der Leuwen. 20 Jahre alt. BWL Student. Einzelkind. Sohn des Volkmar van der Leuwen und Gattin Griselda, geborene Baroness von Siegtal. Schwerreiche Familie. Inhaber diverser Firmen der Baubranche. Das sind die sogenannten Bau-Leuwen, Ronny. Ihnen gehören Handwerkermärkte. Darunter ein Baustoffhandel, ein Betrieb für Hoch- und Tiefbau sowie die Firma AruH - Alles rund ums Haus. Darin beinhaltet sind Dachdeckerbetrieb, Schreinerei, Fensterbau und Glaserei.“

„Kenne ich! Habe im Frühjahr fünf neue Fenster von AruH einbauen lassen. Das Dach meiner Garage erneuerten sie ebenfalls. Solides Unternehmen. Verlässlich. Gut organisiert. Preiswert und akkurat!“

„Thilo lag hier auf der Privatstation.“, sagt Lena. „Zwei Türen weiter. Zimmer 609.“ „Weshalb war er im Krankenhaus?“, erkundigt sich Mittler. „Ich sah einen Gips an seinem rechten Arm.“

„Nichts Schwerwiegendes. Fraktur des Handgelenks. Interessant ist allerdings der Grund, der zum Bruch führte.“ „Ah ja? Der da wäre?“ „Schlägerei im BOOTSHAUS. Das Vereinslokal des Yacht & Segelsportvereins in Norddeich am Hafen. Thilo ist 1. Vorsitzender der Jugendabteilung. Er ist Segler. Mehrfacher Landesmeister seiner Bootsklasse. Seit zwei Jahren gehört er zum Olympiakader. Der hatte was drauf.“ „Lass mich raten, Lena. Gehe ich recht in der Annahme, der Zoff drehte sich nicht um den Segelsport?“ „Volltreffer. Der Kandidat hat hundert Punkte! Wir haben den Klassiker des Knatsches unter Männern. Bei dem Streit ging es um eine Frau! Genaueres wissen wir noch nicht.“ „Wurde Anzeige erstattet? Kontrolliert bitte, ob es eine Akte gibt.“ Lena trägt es ein, dann klappt sie ihr Notizbuch zu. „Das war´s vorerst. Was sagst du zu der Sache, Ronny?“

„An Suizid glaube ich nicht. Ich gehe von Mord aus!“ „Echt? Wie kommst du zu diesem Schluss?“, wundert sich Merle. „Mehrere Anzeichen machen mich stutzig. Zum Beispiel das Seil, an dem der junge Mann hing. Woher hatte er es? Kein normal tickender Mensch nimmt ein solch spezielles Seil mit ins Krankenhaus, oder? Diese Art benutzt man zum Klettern. Unter Umständen verwendet man es beim Segelsport. Vorstellbar ist es. Ich weiß es nicht. Findet es für mich heraus. Notier das bitte, Lena. Lass den Notizblock offen, es kommt noch was hinzu.“ Die Oberkommissarin macht sich zum Mitschreiben bereit.

„Was für meine Mordtheorie spricht, ist die Art, wie das Seil ans Treppengeländer gebunden war. Mehrmals um den Handlauf gewickelt, mit simplen Knoten befestigt. Schließt ihr euch der Meinung an, dass ein ausgewiesener Segelsportler wie Thilo van der Leuwen mutmaßlich eher einen Seemannsknoten verwendet hätte?“ „Vorausgesetzt er war dazu in der Lage.“, merkt Merle an. „Was meinst du?“, erkundigt sich Lena. „Bedenkt bitte, er war gehandicapt. Der Gips! Konnte er mit dieser Einschränkung Seemannsknoten binden?“ „Ein berechtigter Einwand. Das müssen wir abklären.“, erklärt Lena. Sie kritzelt in ihr Notizbuch. „Ich notiere ebenfalls, das wir wegen des Stunks im Vereinslokal nachfragen. Was war da genau los? Wer waren die Beteiligten? Gibt es ein Rachemotiv?“ Mittler bittet: „Fragt nach, ob Thilo Feinde hatte. Wie war sein seelischer Zustand? Litt er unter Depressionen? Grabt alles über ihn aus.“

„Fangen wir im Vereinslokal an, Lena? Das BOOTSHAUS öffnet um 10 Uhr. Ich habe es auf der Homepage gecheckt.“, erklärt Merle und steckt ihr Smartphone ein. „Danke. Ja gut. Beginnen wir dort. Ein Ausflug zum Hafen am morgen. Wie schön!“, grinst Lena. Sie steht auf, zieht ihre Jeansjacke an.

„Ich spreche bei der Visite mit Doktor Harr und frage, ob Thilo einen Knoten hinbekam. Schaut ihr nachmittags nochmal bei mir rein? Vielleicht hat Albert bis dahin ein Ergebnis, das uns voranbringt.“ „Machen wir. Falls was dazwischen kommt, rufen wir an. Brauchst du was? Sollen wir etwas mitbringen?“ „Nein. Alles gut.“ „Okay. Bis dann.“ „Viel Erfolg bei der Ermittlung.“ „Danke. Tschüss Ronny. Bis später.“ Sie gehen.

„Moment bitte! Kommt nochmal rein!“, ruft Mittler ihnen nach. „Was ist?“, fragt Merle. „Ich werde alt oder es liegt an den Medikamenten. Ich vergaß, zu fragen, ob ihr den rechten Hausschuh des Verstorbenen gefunden habt?“ Die Kommissarinnen sehen sich überrascht an. „Im Augenblick bin ich überfragt ....“, gesteht Lena. „Ich dito.“, schließt Merle sich schulterzuckend an.

Mittler erklärt: „Während ich in der Nacht den Leichnam betrachtete, bemerkte ich, dass an seinem rechten Fuß kein Pantoffel war. Der Fuß war nackt. Am Linken war ein karierter Hausschuh. Schwarze und weiße Quadrate hatte der. Wie ein Schachbrett, versteht ihr? Wo ist er? Lag er auf dem Grund des Treppenschachts? Im Treppenhaus vielleicht?“ „Davon weiß ich nichts, Ronny. Was ist mit dir Merle?“ „Nein. Keine Ahnung. Ich höre zum ersten Mal davon.“

Lena erklärt: „Wo wir eintrafen, war der Tote bereits geborgen. Albert Meyer veranlasste es. Er war vor uns am Ort des Geschehens. Der Tote war schon im Leichensack, bereit zum Abtransport in die Rechtsmedizin. Wie der Verstorbene aufgefunden wurde, sahen wir auf dem Kameradisplay eines Kollegen der Gerichtsmedizin. Dass ein Hausschuh fehlte, bemerkten wir nicht.“

„Dann los! Geht ins Zimmer des Toten. Seht nach, ob ihr den Pantoffel findet. Wenn nicht, fragt im Haus, ob ihn jemand fand. Putzfrauen. Hausmeister. Schwestern. Pfleger. Jeden, der in Frage kommt. Ich will wissen, wo der Latschen ist.“ „Puh! 6 Stockwerke. 41000 Quadratmeter Nutzfläche. 814 Betten.“, stöhnt Merle. „Damit sind wir den restlichen Tag beschäftigt. Ist das nicht ein bisschen viel Aufwand wegen dem Hauslatschen?“ „Nein, ist es nicht! Es kommt vor, dass Kriminelle Trophäen ihrer Taten sammeln. Psychisch Gestörte vor allem.“ „Entschuldigung. Das habe ich nicht bedacht. Du hast recht! Tut mir leid.“ „Noch was! Erkundigt euch nach Überwachungskameras. Lasst euch die Aufnahmen aushändigen.“

Später erhält Mittler eine Textnachricht auf sein Smartphone: Pantoffel im Zimmer gefunden. Fotos anbei. Hausmeister hat uns eine DVD mit Film der Überwachungskamera gebrannt. Sind unterwegs zum BOOTSHAUS. Merle & Lena.

Visite.

„Moin Herr Mittler.“, grüßt Doktor Harr. Er macht einen übernächtigten Eindruck. Unter den Augen des Mediziners zeigen sich dunkle Ränder. Oberschwester Ulrike Kill folgt ihm auf dem Fuße. Sie schiebt einen Rollwagen ins Zimmer. Der enthält Akten aller Patienten der Privatstation. Einen Ordner sucht sie heraus, legt ihn auf den Wagen. Im Anschluss widmet sie sich Mittler. „Moin“ nuschelt sie kurz angebunden. Mehr bringt Perle nicht über die Lippen. Sie schüttelt das Kopfkissen auf. Professionell erledigt sie ihre Aufgaben, wuselt geschäftig umher.

„Wie ist heute ihr Befinden?“, erkundigt sich Dr. Harr. „Danke der Nachfrage, ich fühle mich besser.“ „Schön. Schön. Das freut mich. Wie gesagt.“

Er greift die Patientenakte. Blättert. Liest. Tippt mehrmals auf ein Blatt und sagt: „Nachtschwester Friederike protokollierte Schwindel. Sie nennt einen Schwächeanfall aus Überanstrengung als Grund. Was war da los?“ „Das ist richtig. Bei der Inaugenscheinnahme des verstorbenen Herrn van der Leuwen wurde mir schwindlig.“ „Ah ja. Ich entsinne mich. Friederike erwähnte es. Sie bat sie um Rat, nicht wahr? Als anwesenden Experten sozusagen.“ „So war es. Beim Betrachten des Verstorbenen schwächelte ich dann.“ „Verständlich. Ungewöhnliche Situation, der sie ausgesetzt waren.“

Mittler zuckt mit den Schultern, sagt: „Nicht wirklich.“ „Sie sind bei der Mordkommission, richtig?“ „Das trifft zu. Ich bin KHK.“ „Diese Abkürzung steht vermutlich nicht für Koronare Herzerkrankung?“, scherzt Professor Harr. „Nein!“, lacht Mittler. „Kriminalhauptkommissar.“ „Ah ja! Schön, schön. ... Ergo ist der Anblick Verstorbener für sie, ... wie drücke ich es aus ... professioneller Alltag und dergleichen?“ „In der Tat kann man es so bezeichnen.“

„Sie bekommen des Öftern Unappetitliches vor Augen?“ „Das ist unumgänglich.“ „Zu diesem Beruf ist vermutlich nicht jeder geeignet.“ „Sie sagen es, Doktor Harr. Ein Mordermittler muss psychisch topfit sein und Charakterstärke besitzen. Ein belastbarer Magen ist ebenso von Vorteil.“ „Der Anblick eines Verstorbenen ist für sie Routine, nehme ich an, Herr Kommissar?“ „Wie sie sagen. Es gehört zum Arbeitsalltag eines Mordermittlers.“

Oberschwester Kills Tätigkeiten sind beendet. Sie bezieht Position neben Professor Harr. Fachlich erweckt sie einen kompetenten Eindruck. Ansonsten zeigt Ulrike nicht die Herzlichkeit, die Frauen ihrer Berufsgruppe auszeichnet. Ihr Gesicht ist schwer zu lesen, stellt der Kriminalhauptkommissar fest. Nicht die geringste Gefühlsregung ist erkennbar. Die braunen Knopfaugen sind ausdruckslos geradeaus gerichtet. Perle erweckt den Anschein ins Leere zu stieren. Dessen ungeachtet sind ihre Sinne scharf gestellt. Nichts entgeht ihr.

„Darf ich eine Frage an sie richten, Herr Professor?“, erkundigt sich Ronny Mittler. „Bitte gerne. Womit kann ich dienen?“ „Der verstorbene Thilo van der Leuwen trug wegen Fraktur des Handgelenks Gips am rechten Arm.“ „Das ist richtig.“ „War er trotz des Handicaps in der Lage, einen Knoten zu binden?“ „Einen Knoten? Wie kommen sie darauf?“ Der Professor zeigt sich überrascht. „Konnte er?“, fragt Mittler nach. „Selbstverständlich. Das ginge zwar nicht flott wie gewohnt, dennoch ist es möglich.“

Doktor Harr wendet sich an Oberschwester Kill. „Ulrike, was sagen sie? War Thilo mit Gips in der Lage Knoten zu binden?“ „Herr van der Leuwen war motorisch eingeschränkt, aber dass schaffte er.“ Ulrikes raue Stimme dröhnt, dennoch bewegen sich ihre Lippen beim Sprechen nur minimal.

„War der Patient depressiv?“ Mittler stellt die Frage in den Raum, schaut beide an. In Schwester Kills Gesicht erkennt er keine Regung. Sie schweigt. Harr ringt um Antwort.

„Herr Hauptkommissar, ich bin unsicher, ob ich zu Auskunft verpflichtet bin. Datenschutz. Patientenschutz. Ärztliche Schweigepflicht und dergleichen. Sie verstehen? Heutzutage wird man schneller verklagt, wie man seinen Namen ausspricht. Sie wissen, wie es heißt: Ist der Ruf erst ruiniert .... Wie gesagt.“

„Ich möchte sie einen Moment unter vier Augen sprechen.“, bittet der Kriminalhauptkommissar. „Ist das möglich?“ Oberschwester Kill zeigt eine menschliche Reaktion. Die Knopfaugen weiten sich, ihre Kinnlade klappt herunter. Der Mund formt ein „O“. „Ulrike, sind sie so freundlich?“ Ihr Chef weist mit einer Hand Richtung Tür. Schwester Kill dreht auf dem Absatz um, stampft aus dem Zimmer. „She is not amused!“, kommentiert Harr ihren Abgang.

„Herr Professor, ich glaube nicht, dass Thilo van der Leuwen Suizid beging.“ „Wie bitte? Im Ernst?“ Der Doktor reist die Augen auf. „Sie vermuten, ... er ... wurde ...?“ „Ich gehe von Mord aus!“ „Ach du Scheiße!“, reagiert der Arzt sehr menschlich. „Darf ich?“ Er zeigt auf einen Stuhl neben Mittlers Bett. „Bitte nehmen sie Platz.“ „Entschuldigen sie meine Wortwahl. Zugegebenermaßen überrascht mich ihre These. Sie erwischen mich sozusagen auf dem falschen Fuß. Sagt man das so?“ Er ist sichtbar erschüttert, pustet kräftig durch und fragt: „Was veranlasst sie zu dieser Annahme?“

„Doktor Harr, ich bitte um Verständnis. Beim derzeitigen Ermittlungsstand benenne ich keine Einzelheiten. Wir verfolgen verschiedene Hinweise. Es gibt Indizien. Nochmals meine Frage. War Thilo depressiv? Zeigte er psychische Auffälligkeiten?“

„Nein. Ich kenne den Jungen, seit er auf die Welt kam. Hätte er seelische Probleme, wüsste ich das. Da bin ich sicher. Seine Eltern wären auf mich zugekommen, um Rat zu suchen. Thilos Vater Volkmar und ich sind Freunde. Es besteht ein Vertrauensverhältnis zwischen uns. Ich bin Gründungsmitglied des Yacht & Segelsportvereins, wie die van der Leuwens. Wir sehen uns regelmäßig.“

„Was wissen sie darüber, wie Thilo sich das Handgelenk brach?“ „Eine harmlose Geschichte. Ein Zank unter jungen Burschen. Wie er alle nasenlang vorkommt. Nicht der Rede wert.“ „Harmlos? Finden sie? Ein Mensch wird verletzt, landet mit Armbruch im Krankenhaus. Ohne Übertreibung ist der Tatbestand der Körperverletzung erfüllt, betrachtet man es von rechtlicher Seite, Herr Harr.“

„Schön. Schön. Sie haben recht. Ein Krankenhausaufenthalt war im Grunde nicht notwendig. Er hätte nach Röntgen und Eingipsen nach Hause entlassen werden können.“ „Warum blieb er?“ „Volkmar und Griselda bestanden darauf. Sie wünschten, dass ich den Heilungsprozess persönlich begleite.“ „Aus welchem Grund?“ „Wie gesagt. Sie baten darum.“

„Ihre Antwort reicht mir nicht. Wenn die Verletzung eine Banalität darstellte, frage ich mich, warum die Eltern diese Bitte an sie richteten.“ „Sie wünschten, dass ihr Sohn zu einhundert Prozent wieder hergestellt wird. Das er sich erholt. Im Krankenhaus sei er unter Kontrolle, meinte Volkmar. Zu Hause ist der Junge doch nur auf Achse. Das sagte er wörtlich.“

„Sie wollten ihn unter Aufsicht wissen? Weshalb?“ „Sie befürchteten, ihr Filius nähme die Blessur auf die leichte Schulter. Thilo ist aussichtsreicher Kandidat für das Olympiateam der Segler. Eine schwerwiegende Verletzung oder gar Behinderung käme äußerst ungelegen.“

„Verständlich. Zum Leben eines Spitzensportlers gehören Selbstdisziplin, hartes Training, Verzicht und Durchhaltevermögen. Der Wille, sich für den Erfolg zu quälen, muss vorhanden sein. Stimmen sie zu?“ „Das ist richtig, Herr Mittler.“ „Mangelte es Thilo an der nötigen Disziplin?“ „Ich fürchte, der Junge war irdischen Freuden mehr zugetan, wie eisernem Training.“ „Genauer?“

Professor Harr windet sich auf dem Stuhl. Man sieht, wie unangenehm es ihm ist, Auskunft zu erteilen. „Thilo war Partygänger. Ständig auf Achse. Feiern stand bei ihm hoch im Kurs. Wein, Weib und Gesang und dergleichen. Er nahm das Leben leicht. Übernahm nicht die notwendige Verantwortung. Dem Alkohol entsagte er nicht, wie man es von einem Sportler erwartet.“

„Wie kam es zum Bruch des Handgelenks? Spielte Trunkenheit eine Rolle?“ „Details sind mir alleinig vom Hörensagen bekannt. Ich war kein Augenzeuge der Auseinandersetzung.“ „Ich bin mit allem zufrieden, was sie wissen. Erzählen sie, Herr Doktor. Wurde getrunken?“ „Alkohol war sicher im Spiel. Davon ist auszugehen. Sitzt Thilo samstagabends mit Freunden im BOOTSHAUS, trinken sie. Vorglühen nennen die jungen Leute es heutzutage. Für den nachfolgenden Clubbesuch.“

„Kam es innerhalb der Gruppe zu einer Auseinandersetzung?“ „Nein. Soweit ich informiert bin, drehte es sich bei dem Streit um Carola. Sie kellnert aushilfsweise im BOOTSHAUS. Verdient sich was dazu. Nettes Mädchen. 19 Jahre alt.“

„Sie war der Grund der Auseinandersetzung? Wie kam das?“ „Thilo verhielt sich ihr gegenüber, ... wie drücke ich es aus ...? Er benahm sich nicht wie ein Gentleman.“ „Was deuten sie an? Genauer bitte.“

Stockend berichtet Doktor Harr: „Er berührte Carola. ... In unangemessener Weise. ... Am Gesäß. ... Zwang sie, ... sich auf seinen Schoß zu setzen, ... dergleichen.“ „Er begrapschte sie gegen ihren Willen?“ „Ja. Soweit mir bekannt ist.“ „Nötigung und sexuelle Belästigung also. Was weiter? Wie kommt der andere Teilnehmer der Streitigkeit ins Spiel? Wie heißt er? Was macht er?“

„Dennis Jakobs. Auch ein Segler. Er ist Carolas Freund. Ihr Verlobter, wenn ich nicht irre.“ „Wie alt ist er?“ „Das weiß ich nicht. Mitte zwanzig vielleicht.“ „Was ist er von Beruf?“

Professor Doktor Harr legt die Stirn in Falten. „Einen Moment bitte. ... Kurz nachdenken. ... Er arbeitet bei der Stadtverwaltung. Welche Position er begleitet, ist mir unbekannt. Ich kenne nicht jedes Vereinsmitglied persönlich. Zu den jungen Leuten pflege ich kaum Kontakt. Allenfalls sehe ich sie bei Vereinsfeiern. Hin und wieder sonntags beim Tee trinken im BOOTSHAUS. Diesbezüglich bin ich außerstande weiterzuhelfen, Herr Mittler.“ Er erhebt sich. „War es das? Haben sie noch Fragen? Ich muss los, Visite, sie verstehen?“

„Falls ich weitere Auskünfte benötige, weiß ich ja, wo ich sie finde. Danke für ihre Zeit Professor Harr.“

Im BOOTSHAUS.

Lena öffnet die Tür des Lokals, tritt ein und geht zur Theke. „Moinchen.“, grüßt eine Frau hinter dem Tresen. Unverblümt mustert sie den frühen Gast vom Scheitel bis zur Sohle. „Was weht mir der raue Nordseewind denn da Hübsches in die Hütte?“ In ihrem Mundwinkel klemmt eine Zigarette, die beim Sprechen wippt. Sie nimmt den Glimmstängel raus, löscht ihn im Spülwasser, wirft den Stummel in einen Mülleimer. „Dämliches Rauchverbot. Gilt auch für mich. Ab und zu ziehe ich mal eine durch, wenn keine Gäste da sind. Aber nun bist du ja reingeschneit, Schätzchen. Was darf ich für dich tun? Käffchen? Tee? Erotische Massage?“ Sie lacht, als sei es ein Scherz, trotzdem entsteht bei Lena der Eindruck, das Angebot sei Ernst gemeint.

„In der Reihenfolge wäre schön!“, spielt sie den Flirt mit und setzt sich auf einen Barhocker. „Hoppla. Jetzt wird´s interessant!“ Die Bedienung lehnt sich auf die Theke, schaut ihrem Gast tief in die Augen. „Scheint doch kein schlechter Tag zu werden, wie ich beim Aufstehen dachte. Fangen wir mit dem Käffchen an?“ „Gerne.“, antwortet Lena mit brüchiger Stimme. Sie räuspert sich. „Frosch im Hals?“, erkundigt sich die attraktive Frau gutgelaunt. „Lieber einen Kräutertee?“ „Nein. Alles gut!“, flunkert die Oberkommissarin und ärgert sich insgeheim, das es ihr im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache verschlug.

Die dunkelblonde Bedienung steht mit dem Rücken zu Lena, derweil sie die Kaffeemaschine mit Wasser befüllt. „Dauert einen Moment. Ich muss die Maschinerie erst in Gang bringen.“, erklärt sie. Sie hat eine sportliche Figur. Ihr Haar trägt sie lang bis zu den Hüften. Hübsch, denkt Lena, gefällt mir. Ihr Herz klopft schneller, wie normal.

Die Tür zum Gastraum wird geöffnet. Merle Jörgisdottir tritt ein. „Moin.“, grüßt sie. „Auch ein fröhliches Moinchen!“, trällert die Bedienung und wendet sich ihrem neuen Gast zu. „Hallihallo! Hab ich ein Glück!“, raunt sie anerkennend. „Hat eine Fähre mit Schönheitsköniginnen angelegt, oder was geht ab?“, scherzt sie.

„Kein Parkplatz zu finden!“, erklärt Merle und knallt den Autoschlüssel auf den Tresen. „Norddeich ist rappelvoll mit Touris.“, nörgelt sie. „Den Wagen habe ich notgedrungen direkt vors Lokal gestellt und das Blaulicht aufs Dach gepackt. Wenn einer nicht dran vorbeikommt, muss er sich melden.“

„Blaulicht? Hab ich was mit den Öhrchen oder hast du das wirklich gesagt?“, fragt die Wirtin. „Kommissarin Jörgisdottir. Kriminalpolizei.“, stellt sich Merle vor. Sie hält ihr den Dienstausweis vor die Nase, zeigt auf Lena und sagt: „Meine Vorgesetzte. Oberkommissarin Schösteen.“

„Vorname Lena.“, fügt diese apart lächelnd hinzu. Die Wirtin wendet sich ihr zu und raunt: „Lena heißt das schöne Kind. Nett! ... Sehr nett!“ Der Angesprochenen rieseln angenehme Schauer den Rücken hinunter. An ihren Armen stellen sich Härchen auf.

„Und sie sind wer?“, fragt Merle diensteifrig. „Wer ich bin? Das werde ich dir sagen.“ Zur Überraschung der Polizistinnen beginnt die Gefragte zu singen: „Ich bin die fesche Lola, der Liebling der Saison, ich hab ein Pianola, daheim in mein´ Salon. Ich bin die fesche Lola, mich liebt ein jeder Mann, doch an mein Pianola, da lass ich keinen ran.“

Sie streckt Merle die Hand zum Gruß hin. „Dreimal darfst du raten, wie ich heiße. Ein Tipp: Rumpelstilzchen ist es nicht!“ Sie lacht sympathisch. „Nur ein Späßchen. Lola nennt man mich. Lolita Andersen lautet der Name, der im Perso steht. Inhaberin dieser Gaststätte. Geboren in Hamburg. 1,70 m. Augenfarbe grün. Naturblond. 31 Lenze. Schuhgröße 39. BH Doppel D. Lesbisch. Alleinstehend. Was habe ich verbrochen Kommissarin?“

„Wegen Falschsingen werde ich sie jedenfalls nicht verhaften!“, verkündet Merle amüsiert. „Respekt! Das war klasse! Sind sie Sängerin?“ „Danke für die Blümchen, Schätzchen. Schön wär´s. Nee, ich bin nur eine Bardame, die gerne singt.“

„Frau Andersen ...“ „Nenn mich Lola.“ „Na gut. ... Frau Lola, ... was können sie ...“ „Also bitte!“, unterbricht die Wirtin Merle. „Was bist du denn für eine? So steif? So förmlich? Wir sind doch unter uns, Goldstück. Sag du zu mir!“ „Okay. ... Du. ... Ja. ... Ist gut.“, stammelt Merle verdattert. „Wie wär´s mit einem Käffchen zum Auflockern?“, fragt Lola. „Was?“ „Tass Kaff? Braun. Heiß. Leckerschmecker! Kennste?“ „Äh. Ja. .... Gerne.“

Es ist ein selten vorkommender Umstand, Merle verwirrt zu sehen. Für gewöhnlich ist sie für Witze, Sprüche und Alberei zuständig. Entsprechend rar gesät sind Momente, wo sie jemand aus dem Konzept bringt.

Sie setzt sich auf den Barhocker neben Lena. Die kichert, hält sich eine Hand vor den Mund.