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Die Klassenfahrt der 8b zur Jugendherberge in Norden-Norddeich steht unter keinem guten Stern. Direktor Hölzer und Klassenlehrerin Inka Müller begleiten die SchülerInnen auf Exkursionen durch Ostfriesland und das Wattenmeer. Als eine Schülerin verblutet, sorgt dies für eine furchtbare Wendung der harmonischen Reise. Den Kriminalisten stellen sich viele Fragen. Wieso duschte das Mädchen nachts? Wie zog sie sich eine klaffende Kopfwunde zu? Warum lag sie wie eine selig Schlafende da? War es ein Unfall? War es Mord? Hauptkommissar Ronny Mittler ahnt, dass hinter dem Tod der Schülerin mehr steckt und entdeckt ein streng gehütetes Geheimnis. Aufgrund der Beschreibung sexueller Handlungen empfiehlt der Autor dieses Buch Lesern ab 16 Jahren.
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Seitenzahl: 147
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Impressum neobooks
Prolog:
Freitag.
Angst- und Schreckensschreie hallten frühmorgens durch die Jugendherberge. Biba und Ulla hetzten kreischend aus dem Mädchenwaschraum auf den Flur und stürzten einer entgegenkommenden Gruppe Jungs in die Arme. Kaum zu verständlicher Auskunft imstande, stammelte Biba: „In ... d ... der ... Dusche!“ Erik vermutete einen Perversen im Waschraum und begab sich mit seinem Freund Frosch auf die Jagd nach ihm. Doch anstatt eines Sexualtäters entdeckten sie die Leiche einer Klassenkameradin, die wie eine selig Ruhende nackt auf den Bodenfliesen der Duschkabine lag. Ihr üppiges blondes Haar bedeckte ihr Haupt und verwehrte den Blick in ihr Gesicht. Der Kopf war auf dem ausgestreckten linken Arm gebettet. Blut rann durch ein verchromtes Abflusssieb in die Kanalisation. Den Anblick ihrer toten Klassenkameradin bekämen Erik und Frosch im Leben nicht mehr aus den Köpfen!
Realschuldirektor Hölzer wählte den Notruf. 20 Minuten später erschienen zwei Polizeibeamte. Er führte die Beamten zum Duschraum der Mädchen. Sie sondierten den Fundort und sorgten dafür, dass ihn kein Unbefugter betrat. Ein Beamter erstattete der Dienststelle Bericht per Funk und forderte Unterstützung an. Sein Kollege sperrte das Außengelände mit Flatterband ab.
Vor der Jugendherberge versammelten sich erste Schaulustige. Sie reckten die Hälse, um nichts zu verpassen, zückten Kameras und Smartphones, filmten oder fotografierten. Der Großteil der Neugierigen bestand aus Touristen, die in dem Geschehen eine Bereicherung ihres Urlaubs sahen. Gerüchte kursierten. Niemand wusste Genaues.
Bald fuhren Einsatzfahrzeuge der Kriminalpolizei, Spurensicherung und Gerichtsmedizin vor. Kommissare sprachen mit den Polizisten vor Ort und verschafften sich einen Überblick. Es folgte eine kurze Lagebesprechung. Der leitende Ermittler, Hauptkommissar Ronny Mittler, wies Aufgaben zu und begab sich mit Gerichtsmediziner Dr. Meyer zum Leichenfundort. Bevor sie die Räume betraten, zogen sie weiße Overalls und Überschuhe an. In dieser Bekleidung ähnelten sie Astronauten, die sich auf einen Raumflug begaben.
Spezialisten der Spurensicherung entluden aus einem Transporter ihre Ausrüstung und rollten Aluminiumkoffer ins Gebäude. Im Gang vor dem Waschraum legten sie Schutzkleidung an. Sie warteten darauf, dass Hauptkommissar Mittler und Gerichtsmediziner Meyer ihre Inaugenscheinnahme beendeten und den Duschraum zur Untersuchung frei gaben. Routiniert begannen sie dann ihre Arbeit. Aufblendendes Licht verriet, das jemand fotografierte. Die Maschinerie des Polizeiapparats nahm Fahrt auf. Die Jugendherberge des Küstenbadeorts Norden-Norddeich verwandelte sich zum Zentrum polizeilicher Ermittlungen.
Ein Krankenwagen traf ein und brachte einen Notarzt mit, der sich um SchülerInnen mit Kreislaufproblemen kümmerte. Der Schreck des Ereignisses sorgte bei einigen für Unwohlsein. Eintreffende Notfallseelsorger suchten das Gespräch.
45 Minuten nach Entdeckung der Toten rollte ein Leichenwagen im Schritttempo auf den Vorplatz. Da Gaffer keine Gasse bildeten, um ihn durchzulassen, schritten Polizisten ein um für einen geregelten Ablauf zu sorgen. Umständlich rangierte der Fahrzeugführer den Wagen, bis er mit dem Heck zur Eingangstüre der Jugendherberge stand. Dem Auto entstiegen zwei Herren in schwarzen Anzügen. Einer öffnete die Heckklappe und hantierte im Inneren. Der Zweite trat hinzu. Gemeinsam entluden sie einen Zinksarg, dessen eigenwillige Form an eine Badewanne mit Deckel erinnerte. Im Gleichschritt verschwanden die Sargträger ohne Eile im Haus. Ihr Handeln vollzog sich in moderatem Tempo.
Minuten verstrichen bis die schwarzen Herren zurückkehrten. Sichtlich trugen sie schwerer an ihrer Last. Dessen ungeachtet schritten sie gemessen einen Fuß vor den anderen setzend, feierlich zu ihrem Fahrzeug. Mit professioneller Akribie platzierten sie den Zinksarg beinah lautlos im Fahrzeug. Jeder Handgriff saß. Alles geschah würdevoll. Sanft schloss sich die Heckklappe. Wortlos stiegen die Herren ein. Der Motor startete. Schwerfällig setzte sich der Wagen in Bewegung. Seelenruhig chauffierte der Fahrer durch das sich bildende Spalier der Gaffer, das sich sogleich nach der Durchfahrt wieder schloss.
Vor dem Eingang des Speisesaals standen zwei Polizisten. Niemand durfte den Raum verlassen. In einer Nische unterhielt sich ein Notfallseelsorger feinfühlig mit zwei Mädchen. Sie weinten herzzerreißend und ihr Schluchzen tönte durch den Raum. Der Tod ihrer Mitschülerin riss sie aufs schrecklichste aus der bis jetzt harmonischen Klassenfahrt.
Die beiden begleitenden Lehrer standen flüsternd etwas abseits. An Mimik und Gestik war ihre Ratlosigkeit ablesbar. Sie fanden keine Lösung, die ihnen im Augenblick weiterhalf, und einigten sich, abzuwarten, was die Polizei anordnete.
Schweigend saßen die SchülerInnen im Raum, schauten unter sich, hingen düsteren Gedanken nach oder stierten ausdruckslos geradeaus. Bei einigen flossen Tränen. Der Blick in eine abgrundtiefe bodenlos scheinende schwarze Leere vereinte die Gruppe. Nie zuvor beherrschte die 8b solch eine bekümmerte Gemütsverfassung. Experten bezeichnen diesen Zustand mit dem Fachausdruck Schockstarre! Im Geiste stellten sich alle die gleiche Frage: Was war geschehen?
Montag. Vier Tage vor dem Leichenfund.
Um kurz vor 8 Uhr trafen die letzten SchülerInnen der Klasse 8b am Treffpunkt vor der Realschule ein. Sie freuten sich auf ihre Projektfahrt an die Nordsee. Die vor ihnen liegende Woche stand unter dem Thema „Abhängigkeit von sozialen Medien - 7 Tage ohne Internet“. Die Grundlage bildete ein Artikel der „Süddeutschen Zeitung“, den sie im Fach Politik behandelten. Titel: „100.000 Teenager sind süchtig nach sozialen Medien“. Ihre Reise war ein Selbstversuch, ohne Smartphone und Internetzugang auszukommen. Surfen, Chatten, Navigieren, Musik hören, entfielen. Einzig Fotoapparate gestatteten sie sich. Die SchülerInnen stellten sich der Frage, wie schwer der Verzicht fällt. Was würden sie vermissen? Welche alternativen Informationsquellen standen zur Verfügung? Die Ergebnisse der Selbststudie arbeiteten sie in der Nachbetrachtung auf. Ein weiteres Ziel ihrer Reise galt der Erforschung des Wattenmeers im Rahmen des Biologieunterrichts zum Thema Umwelt und Klimawandel.
Vor der Schule stand ein Reisebus. Autos fuhren vor und hielten. Eltern und Kinder stiegen aus. Kofferräume öffneten sich. Taschen und Koffer wurden entladen. Ein Mann mit schwarzem Schnauzbart riss dem erstbesten eine Reisetasche aus der Hand und schmiss sie mit Kawumm in den Bauch des Reisebusses. „Gäbbe se mirr där Gebäck! Ich backe in där Bus!“, rief er Ankommenden entgegen.
„Hört euch den an!“, kicherte Habbo, „Hat ´ne Bäckerei im Bus. Witzig! Wer ist denn der eifrige Knabe?“, erkundigte er sich bei Ali. „Der Gepäckträger mit Akzent?“ „Jup!“ „Das wird unser Kutscher sein.“
„Verehrte Eltern und Schüler, äh ja, ... darf ich vorstellen?“, rief ein Mittvierziger im grauen Anzug und gestikulierte in der Luft herum. Dabei zeigte er auf den Schnauzbärtigen. „Das ist unser Busfahrer Herr ..., äh ja?“ „Ich cheiße Iwan!“, brüllte der Angesprochene akzentreich aus dem Busbauch.
„Da hörst du´s! Scheiße-Iwan nennt er sich. Fährt er wie er heißt, wird´s ein Horrortrip direkt nach Sibirien!“, orakelte Ali. Ganz unrecht hatte er damit nicht.
„Alter, was geht denn jetzt ab? Pattex guck dir an, was dort Schrilles auf uns zu walzt!“ Grinsend stieß Matthes seinen besten Freund mit dem Ellbogen in die Seite, um dessen Aufmerksamkeit auf eine sich nähernde Menschengruppe zu lenken. Pattex drehte sich um, erstarrte kurz, dann brach er in schallendes Gelächter aus.
Klassenkameradin Sabine bot Anlass zur Heiterkeit. Sie führte den sie begleitenden Familienclan an. Ihr Hofstaat bestand aus Verwandtschaft, um die „Kleine“ tränenreich zu verabschieden. Sabine zog durch ihr extravagantes Outfit alle Blicke auf sich.
Beschriebe man Sabine als füllig, wäre dies rücksichtsvoll ausgedrückt. 90 Kilogramm überschritt die Waage und Sport war nicht ihr Ding. Sie besaß einen aus dem Rahmen fallenden Modegeschmack! Ihr spektakulärer Kleidungsstil war einer von vielen Gründen, dass man über sie lachte. Am prägnantesten beschreibt man ihren Style mit Begriffen wie schrullig, schrill, unübersehbar. Bisweilen bizarr, gelegentlich mondän, manchmal pfiffig, meist allerdings unfreiwillig komisch. Ihre Aufzüge erwarb sie bei TAKKO, KIK und NKD. Dazu äußerte sie sich wie folgt: „Das sind Modehäuser von Welt! Oder warum gibt´s die sonst wohl an jeder Ecke, frage ich euch?“
Für die Klassenfahrt putzte sich Sabine eigens schick heraus und wählte leichte Reisekleidung. Silberne Turnschuhe, rosa Kniestrümpfe mit blauen Fransen, ein kurzer gelber Faltenrock und ein knappes rosa-weißes Ringel-T-Shirt mit glitzernder Aufschrift „Ahoi“. Als modisches Accessoire zierte ein goldfarbener Rucksack das Ensemble. Er enthielt Proviant. Ihr derzeit hellgrünes Haar zu Zöpfen geflochten reflektierte den Sonnenschein und glänzte.
Bedauerlicherweise zählte das Mädel nicht zu den hellsten Kerzen auf der Torte. Häufig verstand sie Zusammenhänge falsch, verwechselte Vorkommnisse und gab Sachverhalte fehlerhaft oder mit fantasievollen Interpretationen wieder. Einmal dichtete sie beispielsweise ihrem Vater eine „Algerische Erektion“ an, als ihn bei erhöhtem Pollenflug eine „Allergische Reaktion“ plagte.
Weil Sabine nimmermüde sabbelte, brachte ihr dies den Spitznamen Sabbelbiene ein. Das naive Girlie bot Angriffsfläche und hielt auf der Liste der Zielscheiben für Hohn und Spott unangefochten die Spitzenposition.
„Was hat sie sich heute fein gemacht!“, unkte Pattex feixend, „Guck dir den Rock an!“ „Ihre Arschbacken sehen aus, wie zwei Nilpferde die sich unter einem Zirkuszelt paaren!“, kommentierte Matthes trocken den Anblick. Die Jungen kringelten sich vor Lachen und verschwanden unauffällig hinter den Bus. „Wo versteckst du das Feuerwasser?“ „Hier drin für die Fahrt.“ Pattex klopfte auf seine Umhängetasche. „Der Rest im Koffer.“ „Dann starten wir doch entspannt in den Tag!“, schlug Matthes vor, „Gönnen wir uns ein Schlückchen.“ Pattex zog eine Thermoskanne aus der Tragetasche und öffnete den Schraubverschluss. Das Gefäß enthielt keinen Kaffe oder Tee. Stattdessen entstieg markantes Whiskyaroma der Öffnung. Die Jungs tranken je einen kräftigen Schluck, danach verschwand die Isolierflasche wieder in der Tasche. Lässig schlenderten die Freunde zurück und mischten sich unters Volk. „Alle einsteigen!“, forderte der graue Herr die Schüler auf. „Guten Morgen Herr Hölzer.“, grüßten Matthes und Pattex im Vorbeigehen. „Guten ... äh ja, ... ebenfalls!“ „Alter Schwede, ist der Hölzerne wieder neben der Kappe!“, raunte Matthes und schob Pattex in den Bus.
„Schön gesittet, äh ja. Einer nach dem anderen. Wir haben Platz für alle! Und setzt euch hin. Frau Müller zählen Sie, ... äh ja, ... durch!“ „1, 2, 3, 4, .... Nein, das geht aber nicht! Ihr könnt jetzt nicht nochmal die Plätze tauschen. Setzen bitte. Tanja und Chantal, ich meine euch. 1, 2, 3, 4, ..., seid doch nicht dermaßen aufgeregt, schließlich fliegen wir nicht zum Mond. 5, 6, 7, ....!“
Unvermittelt enterte Sabines Mutter den Bus und unterbrach die Volkszählung, um der Klassenlehrerin ein Gespräch aufzudrängen. „Frau Müller, passen sie gut auf unser Kronjuwel auf!“, jammerte die besorgte Mama und stürzte sich auf ihr Kleinod, um sich abermals mit viel zu feuchten Küssen zu verabschieden. „Frau Pfitzner, sie müssen jetzt wirklich gehen!“, flehte die Klassenlehrerin. „Frau Müller, ich bitte sie. Achten Sie darauf, dass das Kind auch genug isst! Sie ist doch im Wachstum.“ „Sicher Frau Pfitzner, ich denke, das wird das geringste Problem sein!“, erwiderte Frau Müller.
Hörte man da einen sarkastischen Unterton? Sanft aber bestimmt schob sie Sabbelbienes dralle Mutti Richtung Ausgang. Unter Tränen verließ Frau Pfitzner den Reisebus, als sei es ein Abschied auf ewig. Die zahlreich erschienene Verwandtschaft fing sie auf.
In der 5. Busreihe herrschte indes ausgelassene Stimmung. „Kronjuwel! Hast du das gehört, Assi? Ich schmeiß mich weg, Kronjuwel!“, gluckste Uta Biberach, die alle Biba nannten, und vergrub kugelnd vor Lachen ihr Gesicht im Polster der Rückenlehne. „Von wegen Kronjuwel!“, feixte Sitznachbarin Assi bester Laune. „Sabbelbiene ist ein astreiner 100 Kilo Rohdiamant! Fehlt nur einer, der sie mal ordentlich auf Hochglanz poliert!“ Biba kam einem Lachkrampf nahe und hielt sich vor Vergnügen den Bauch. Tanja, aus Reihe 6. beugte sich über die Rückenlehne und fragte mit breitem Grinsen: „Was ist denn mit euch los, ihr Tussis? Braucht ihr Erste Hilfe?“ „Nein danke Kitty, alles bestens, wir sind okay!“, gluckste Biba. „Die Fahrt kann heiter werden, wenn es schon so losgeht.“, kommentierte Tanja.
„Pfft, pfft, tock, tock tock!“ Jemand pustete ins Bordmikrofon und schlug dreimal mit der flachen Hand darauf. Eine Rückkopplung quietschte aus den Lautsprechern und ließ die Schüler aufstöhnen.
„So, erst mal guten Morgen Klasse 8b, äh ja.“ „Guten Morgen Herr Hölzer!“, sang die Klassengemeinschaft im Chor. „Sind denn alle da?“ „Ja!“ „Schön, schön, sehr schön, äh ja. Dann übergebe ich mich auf Frau Müller. Ich meine, ich überreiche ihr das Mikroskop, äh ja.“
Riesengelächter im Bus. Die Stimmung könnte kaum besser sein. Aus den Lautsprechern tönten raschelnde Geräusche. Der Hölzerne wickelte sich die Mikrofonschnur um den Leib und bot eine ungeplante Slapstickeinlage. Klaas Meier, der auf der heiteren Seite des Lebens geborene Mitschüler, presste sich prustend beide Hände vor den Mund. Übers ganze Gesicht lachend, färbten sich seine Wangen knallrot.
„Also jetzt halt mal!“, krähte Frau Müller ins Mikrofon, „Ich muss doch sehr bitten. Klaas Meier, und damit meine ich die ganze Klasse. Das ist mir jetzt doch eine Spur zu albern hier.“ Sie wartete, bis halbwegs Stille einkehrte. „Guten Morgen 8b.“ „Guten Morgen Frau Müller.“ „Ich begrüße euch zu Klassenfahrt und Projektwoche. Unser Ziel ist die Stadt Norden in Ostfriesland. 400 Kilometer gilt es zurückzulegen, bis wir in der Jugendherberge Norden-Norddeich Quartier beziehen. Pausen einbezogen, rechnen wir mit der Ankunft zwischen 13 und 14 Uhr. Ich wünsche uns gute Fahrt und eine schöne Zeit.“
Beifall und Freudengeheul im Bus. Frosch rief: „Macht mal Musik! Oder ich fange an zu singen!“ „Bitte nicht drohen, Reiner!“, antwortete Frau Müller ironisch, „Ob es Musik gibt, entscheidet unser Fahrer.“ Die Klassenlehrerin übergab das Mikrofon.
Mit unüberhörbarem Akzent begrüßte Iwan der kasachischstämmige Busfahrer seine Fahrgäste: „Härzlich Willkomme an Bord von Bus, was macht scheene klasse Fahrt mit euch. Ich cheiße Iwan Kalaschnikow. Isse mainä ärste Reise für Busunternähmen dieses. Hoffe du und isch habbä viel Schapaß. Los gäht Ausfluch mit Musik ganz schäne aus meine Chaimat!“ Bescheidenes Beifallklatschen hallte durch den Reisebus. Iwan legte eine Musikkassette (!) ein, bekreuzigte sich, startete den Diesel und trat frohgelaunt aufs Gaspedal. „Nasdrowje Womm“, leierte es aus den Lautsprechern über ihren Köpfen. Begleitet vom Gesang der Don Kosaken rollte das Ungetüm los. Draußen winkten Eltern mit Taschentüchern. Frau Pfitzner weinte bittere Krokodilstränen.
Im Bus hielten sich viele die Ohren zu. Russische Volksweisen sind nicht jedermanns Sache. Direktor Hölzer war bester Stimmung. Er stand im Gang und dirigierte.
Mit „Kalinka, Kalinka“ erreichten sie die Autobahnauffahrt, da brach Sabine aus heiterem Himmel in Tränen aus. „Was ist los?“, erkundigte sich Frau Müller, die seit der fünften Klasse mit den Stimmungsschwankungen des Kronjuwels bestens vertraut war. „Hast du Heimweh oder Hunger?“ „Nein!“, schluchzte sie herzzerreißend. Tränen kullerten über ihre Wangen. „Ich habe meinen Reisepass vergessen!“ „Was?“ Frau Müller glaubte nicht richtig zu hören und schaute sichtlich irritiert. Die Fraktion in den Sitzreihen neben und hinter Sabbelbiene, grinste derweil ohne Unterlass, so dass die Klassenlehrerin ahnte, was los war. „Ich will doch mit nach Ostfriesland!“, jammerte Sabine mit tränenerstickter Stimme, „Aber ohne Visum komm ich nicht rein, haben die gesagt!“, und zeigte auf die hinter ihr sitzenden Mädchen Assi, Biba, Kitty, Blondi, Chantal und Lindi. „Sagt mal, ihr habt sie doch nicht mehr alle!“, rief Frau Müller laut, um Don Kosaken und kichernde Weiberriege zu übertönen. Sie war nicht wirklich sauer, das sah man. Es wirkte eher, als hätte sie gerne selbst lauthals losgelacht. „Müsst ihr denn ständig die Sabine verar ....., äh, veralbern?“ Sie drehte sich zum Kronjuwel und riet: „Glaub nicht jeden Unsinn, den sie dir erzählen, Mädchen. Schalt mal dein Gehirn ein!“ Sie ging und setzte sich auf ihren Platz neben Karina, die alle Engelchen nannten. „Was war denn?“ Frau Müller flüsterte ihr die Antwort ins Ohr.
Berufskraftfahrer Iwan Kalaschnikow verfolgte einen Plan. Via Hamburg gedachte er seine Reisegäste nach Norddeich zu kutschieren. Ein feiner Zug von ihm. Fatalerweise der Falsche! Iwan verwechselte die Ortschaft Norddeich im Kreis Dithmarschen, Schleswig-Holstein, mit dem eigentlichen Ziel, dem Stadtteil Norddeich der Stadt Norden in Ostfriesland, Niedersachsen. Der Schlenker betrug zusätzliche 440 Kilometer! Überdies entpuppte Iwan sich als Staufinder! Treffsicher steuerte er jede sich bietende Verkehrsstockung an, um den Reisebus punktgenau am Schwanzende der Autoschlange zu parken. Die Exkursion bewegte sich demzufolge zäh. Als ob all das nicht genüge, setzte eine Reifenpanne den Bus zur Mittagsstunde außer Gefecht. Iwan erläuterte den Zwischenfall via Bordlautsprecher: „Chat sich gämacht Puff und nu iss nix mähr Luft in Raifän!“ Die Reparatur beanspruchte Zeit und trug nicht zur Unterhaltung der Fahrgäste bei. Man sah manchen dicken Hals und hörte das ein oder andere Fluchen. Einziges Glück war, das die Reifenpanne in unmittelbarer Nähe einer Autobahnraststätte passierte. Dort genoss die Reisegruppe ein Mittagsmahl.
16 Stunden nach dem Aufbruch, traf man endlich im Zielort ein. Die Teilhabe an dieser Odyssee brannte sich unvergesslich ins kollektive Gedächtnis der Reisenden. Im Vergleich zu dem fürchterlichen Ereignis, das vor ihnen lag, war die Irrfahrt dahingegen eine unbedeutende Belanglosigkeit.
Montag auf Dienstagnacht. Drei Tage vor dem Leichenfund.
5 Minuten nach Mitternacht bog der Reisebus in die Einfahrt der Jugendherberge Norden-Norddeich und hielt. Zischend öffnete sich die Vordertür. Ein übellauniger Realschuldirektor stieg aus. Er stand auf dem spärlich beleuchteten Platz und schaute sich um. Ihm folgte ein auffällig geschminktes Mädchen von etwa 14 Jahren. „Isses das, Herr Hölzer? Sind wir endlich da?“ „Äh ja, ich hoffe es Krissi, ich hoffe es!“, antwortete der Herr in Grau. Er ließ sie stehen und ging raschen Schrittes auf die Jugendherberge zu. Über dem Eingangsbereich baumelte ein einsames Lämpchen, das mit seiner 60 Watt Birne kaum für Helligkeit sorgte. Der graue Herr fand den Klingelknopf und drückte darauf. Im Gebäude hörte er eine Glocke schellen.