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Auf der Grundlage bisher nie veröffentlichter Dokumente erzählt der amerikanische Wissenschaftsjournalist Jack El-Hai von der Begegnung des amerikanischen Militärpsychiaters Douglas M.Kelley mit der Elite des Naziregimes – unter ihnen »Reichsmarschall« Hermann Göring.
In Vorbereitung auf den am 20. November 1945 eröffneten »Nürnberger Prozess« vor dem Internationalen Militärgerichtshof untersuchten amerikanische Ärzte die inhaftierten 52 Nazigrößen auf ihre psychische Verfassung. Der leitende Armeepsychiater Douglas M. Kelley war von Hermann Göring auf der Stelle fasziniert und sah für sich die einzigartige Chance, in umfassenden Gesprächen die »Nazi-Psyche«, das »Böse im Menschen« zu erforschen.
»Sein Buch ist eine beeindruckend detaillierte Charakterstudie … ein spannender Schmöker über eine Phase psychowissenschaftlicher Theorie und Praxis, die noch gar nicht so lange vergangen ist.« Deutschlandradio Kultur.
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Auf der Grundlage nie veröffentlichter Dokumente erzählt der amerikanische Wissenschaftsjournalist Jack El-Hai das verstörende, politische Psychodrama um die Begegnungen des Armeepsychiaters Douglas M. Kelley mit Hermann Göring, dem nach der Kapitulation ranghöchsten noch lebenden Nazi. Es ist die zum ersten Mal mitgeteilte Geschichte einer erschreckenden Verstrickung. 1945, erst im luxemburgischen Mondorf-les-Bains, wo nach Kriegsende von der US-Armee ein Hotel zum Gefängnis für die Führungselite der Nazis umgebaut wurde, danach in Nürnberg, untersuchten amerikanische Militärpsychiater unter Leitung von Douglas M. Kelley die physische und psychische Verfassung der Elite des Naziregimes. Unter den 52 Nazi-Größen wie Dönitz, Hess, Keitel, Ribbentrop, Frank, Jodl, Speer oder Streicher war auch Hermann Göring, ehemaliger Chef der Luftwaffe, selbst ernannter „Reichsmarschall“ und dominante Figur unter den Gefangenen. Der übergewichtig joviale Göring erschien mit einem Dutzend Koffern, Schmuck, seidener Unterwäsche, Zigarrenkisten, einem Vermögen an Geldmitteln – und versteckten Zyankali-Kapseln. Der ambitionierte Psychiater Douglas M. Kelley sah in seinen Sitzungen mit den Gefangenen seine einzigartige Chance, das Böse im Menschen zu erforschen. Kelley baute eine enge Beziehung zu Göring auf, zwei ungewöhnliche Persönlichkeiten begannen einander zu schätzen. Kelleys bisher unbekannten Aufzeichnungen erzählen davon. Am Neujahrstag 1958, zwölf Jahre nach Göring, beging Douglas M. Kelley vor den Augen seiner Familie in Kalifornien Selbstmord – mit einer Zyankali-Kapsel.
Über Jack El-Hai
Jack El-Hai ist ein amerikanischer Wissenschaftsjournalist, der für seine Werke, vor allem aus dem Bereich der Medizin, vielfach ausgezeichnet wurde. Er lebt in Minneapolis.
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Der Nazi und der Psychiater
Jack El-Hai
Übersetzt von Henriette Heise
Titelinformationen
Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Hauptpersonen
Kapitel 1 Das Haus
Kapitel 2 Mondorf-les-Bains
Kapitel 3 Der Psychiater
Kapitel 4 In Trümmern
Kapitel 5 Tintenkleckse
Kapitel 6 Der Konkurrent
Kapitel 7 Im Justizpalast
Kapitel 8 Die NS-Psyche
Kapitel 9 Zyankali
Kapitel 10 Post Mortem
Danksagung
Endnoten
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Für Estelle El-Hai und Dr. Arnold E. Aronson
in Liebe und Dankbarkeit
Colonel Burton C. Andrus
Gefängniskommandant
Captain John Dolibois
Wohlfahrtsoffizier und Übersetzer
Lieutenant Gustave Gilbert
Psychologe
Major Douglas McGlashan Kelley
Psychiater
Howard Triest
Dolmetscher und Übersetzer
Karl Dönitz
Großadmiral und Nachfolger Hitlers
Hans Frank
Generalgouverneur des besetzten Polen
Wilhelm Frick
zunächst Reichsinnenminister, später Reichsprotektor für Böhmen und Mähren
Hans Georg Fritzsche
Generalbevollmächtigter für die politische Organisation des Großdeutschen Rundfunks
Walther Funk
Reichswirtschaftsminister
Hermann Wilhelm Göring
Reichsmarschall und Oberbefehlshaber der Luftwaffe
Rudolf Heß
Führerstellvertreter
Alfred Jodl
Chef des Wehrmachtführungsstabes
Ernst Kaltenbrunner
Chef des Sicherheitsdienstes
Wilhelm Keitel
Chef des Oberkommandos der Wehrmacht
Robert Ley
Leiter der Deutschen Arbeitsfront
Konstantin von Neurath
Reichsminister des Auswärtigen (bis1938)
Franz von Papen
Vizekanzler
Erich Raeder
Oberbefehlshaber der Reichsmarine
Joachim von Ribbentrop
Reichsaußenminister
Alfred Rosenberg
NS-Ideologe und Reichsminister für die besetzten Ostgebiete
Fritz Sauckel
Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz
Hjalmar Schacht
Reichsbankpräsident und Reichswirtschaftsminister (bis 1937)
Baldur von Schirach
Reichsjugendführer
Arthur Seyß-Inquart
Reichsstatthalter von Österreich und Reichskommandant der Niederlande
Albert Speer
Reichsminister für Bewaffnung und Munition
Julius Streicher
Gründer und Herausgeber der Wochenzeitung Der Stürmer
Von den Angeklagten erschienen nicht vor dem Nürnberger Tribunal: Robert Ley (Selbstmord am 25. Oktober 1945); GustavKrupp v. Bohlenund Halbach (Erkrankung); MartinBormann (angeklagt inAbwesenheit).
William Donovan
Assistent des Oberstaatsanwaltes
Robert H. Jackson
Hauptankläger und Oberstaatsanwalt
Geoffrey Lawrence
Vorsitzender Richter
Charles McGlashan
Großvater
June McGlashan Kelley
Mutter
George Kelley
genannt „Doc“, Vater
Alice Vivienne Hill Kelley
genannt „Dukie“, Ehefrau
Doug, Alicia und Allen Kelley
Kinder
Dr. Kelley und seine Familie wohnten in einer großzügigen Villa im spanischen Stil an der Highgate Road auf einer Anhöhe namens Kensington im Norden von Berkeley, Kalifornien. Die roten Dachziegel leuchteten hoch über den fernen Wellen der San Francisco Bay. Vom Haus ging der Garten in vier Terrassen mit Steinwegen, Obstbäumen und Redwoods hinab, er endete an den Grabsteinen des Sunset View Friedhofs.
Im Hof zwischen den Seiten des U-förmigen Hauses der Kelleys standen ein kleines Karussell und ein Planschbecken. Durch die vordere Tür betrat man die Eingangshalle, von der links die Küche mit einem großen Ofen, Grill und Fleischwolf abging. Hier kochte der Arzt für seine Familie. An die Küche war eine Speisekammer angeschlossen. Dort sollte eines Tages der älteste Sohn der Familie auf einem brummenden Tiefkühlschrank sitzen und in Erwägung ziehen, seinen Vater mit einem Beil zu erschlagen.
Rechts von der Eingangshalle lag ein Bad – hier sollte sich am Neujahrstag 1958 eine schauerliche Szene zutragen –, dahinter das Wohnzimmer mit Kamin, einem langen Sofa und dem grünen Ledersessel des Arztes. Der Fußboden war mit Teppich ausgelegt, und die Möbel standen an der Wand, sodass Platz für Gäste war. Hier spielte Dr. Kelley manchmal ein Spiel mit seinem ältesten Sohn, bei dem der Junge zunächst den Raum verlassen musste. In seiner Abwesenheit verschob der Arzt zum Beispiel einen Bleistift auf dem Wohnzimmertisch. Wenn der Junge zurückkam, musste er sagen, was sich verändert hatte.
Hinter dem Wohnzimmer lag Dr. Kelleys und Dukies Schlafzimmer, von dessen Fenster man den rückwärtigen Teil des 2000 Quadratmeter großen Grundstücks sah. In einem kleinen Wandschrank, in den die Kinder vom Flur aus klettern konnten, erlebten sie die Auseinandersetzungen ihrer Eltern im Schlafzimmer mit.
Vom Wohnzimmer führte eine schwarz gebeizte Treppe in den ersten Stock hinauf. Hier flankierten große Fenster einen lichtdurchfluteten Flur, dessen Holzfußboden an einer Stelle, sorgfältig mit einem Teppich bedeckt, ein Einschussloch aufwies. Der Flur endete an der Tür zu Dr. Kelleys Arbeitszimmer. Auf dem Weg dorthin ging man an dem Schrank vorbei, in dem der Psychiater die Requisiten für seine Zaubertricks aufbewahrte.
Vom Arbeitszimmer hatte man einen herrlichen Rundblick über die Golden Gate Bay und den Gefängnisturm von Alcatraz. Wenn Dr. Kelley sich in seinem Schreibtischstuhl umdrehte und sein Blick auf Alcatraz fiel, mag er sich an seine Monate als Mitarbeiter in einem anderen Gefängnis erinnert haben, einem Gefängnis in Nürnberg. Kelleys Schreibtisch war immer aufgeräumt. Die Schränke und ein kleines Labor enthielten Knochensägen, einen Labortisch, Mörser, Alkoholbrenner, Messzylinder und Kolben, Kristalle, Pflanzenproben auf Objektträgern, zwei menschliche Schädel und eine große Menge Chemikalien, von denen viele giftig waren.
Die Kinderzimmer befanden sich im Erdgeschoss. Wenn Dr. Kelley zum Gutenachtsagen kam, hatten seine Kinder Angst. Dann hörten sie die Treppe unter seinen schweren Schritten knarren und wappneten sich – man konnte nie wissen, in welcher Stimmung er sein würde.
Der letzte Streit nahm in der Küche seinen Anfang. Wenn Dr.Kelley und Dukie aneinandergerieten, nahm sie oft ihre Handtasche und verschwand für den Rest des Tages. Aber diesmal kam Dr. Kelley brüllend aus der Küche und stürmte die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer. Er schlug die Tür hinter sich zu. Ein Porzellantürstopper fiel um und die Scherben regneten aufs Erdgeschoss hinunter. Wenige Minuten später kam er wieder heraus und hielt etwas in der verschlossenen Hand. Er stieg die Treppe bis zum Absatz hinunter, der wie eine Bühne ins Wohnzimmer ragte. Er rief noch einige Worte, die seine Frau, seinen Vater und seine Kinder verwirrten und erschraken. Dann steckte er sich etwas in den Mund und schluckte.
Das Flugzeug, eine kleine Piper L-4, kam nicht vom Fleck. Ihr einziger Passagier, Hermann Göring, einst Fliegerheld des Ersten Weltkriegs, dann Chef der gefürchteten Luftwaffe und der höchstrangige NS-Funktionär unter den Überlebenden des Dritten Reichs, war zu schwer, um einen sicheren Start zu gewährleisten.
An Flauten war Göring nicht gewöhnt. Die vergangenen Wochen hatten sich durch ständige Bewegung, Ungewissheit und Gefahr ausgezeichnet. Er war aus seinem geliebten Carinhall, Jagdschloss und Sommerresidenz, geflohen.1 Nachdem er Hitler heldenhaft, wie er fand, angeboten hatte, die Regierung zu übernehmen, hatte der Führer ihn einsperren lassen. Kurz darauf hatte Göring erfahren, dass seine Ermordung durch Martin Bormanns Truppen angeordnet worden war, hatte aber gerade noch aus der SS-Haft entkommen können.
Weniger als 48 Stunden bevor er das Flugzeug bestieg, am Vortag der Kapitulation Deutschlands, am 7. Mai 1945, hatte Göring ein Schreiben an die US-Militärführung aufgesetzt und über die aufgelöste Gefechtslinie geschickt. Darin erkannte er den bevorstehenden Zusammenbruch Nazideutschlands an und bot den Alliierten seine Dienste bei der Neubildung der Regierung an.2 US Army Brigadier General Robert I. Stack wunderte sich noch über die Dreistigkeit des Absenders und brachte einen Konvoi mit dem Ziel der Ergreifung Görings auf den Weg, den er persönlich anführte. Sie holten Görings Kolonne vor den Toren von Radstadt in Österreich ein. Göring saß in einem kugelsicheren Mercedes.
Der Chauffeur packte Göring am Arm und sagte: „Herr Reichsmarschall, die Amerikaner kommen!“3 Daraufhin beugte Göring sich mit den Worten zu seiner Frau Emmy Göring: „Ich habe ein gutes Gefühl.“ Stack stieg aus seinem Wagen und schüttelte Göring die Hand. Göring und seine Frau, einst eines der mächtigsten Paare Europas, hatten die Endstation ihres Krieges erreicht. Frau Göring weinte. Wie sie später schrieb, war diese Begegnung mit feindlichen Offizieren auf einer von Flüchtlingen überfüllten Straße „ein schlimmer Augenblick für uns alle, am peinlichsten für meinen Mann“.4
Stack telefonierte mit dem Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte in Europa, General Dwight D. Eisenhower, und informierte ihn über Görings Ergreifung. Göring, der sich als der charismatischste und international beliebteste unter den deutschen Machthabern ansah, war überzeugt, dass Eisenhower schon bald seine Freilassung anweisen würde.5 Göring und seine Familie wurden von US-Soldaten zum Schloss Fischhorn bei Zell am See gebracht.6 Der einstige Reichsmarschall scherzte auf dem Weg zum Schloss, während sich Frau und Kind im ersten Stock einrichteten und beim Abendessen mit den US-Offizieren. Zu seiner Frau sagte er, dass er am nächsten Tag zu einem Treffen mit Eisenhower abreisen, aber schon bald zu ihr zurückkehren würde: „Werde nicht mutlos, wenn es ein paar Tage länger dauern sollte“, und er fügte kurz nachdenkend hinzu: „Ich habe eigentlich ein gutes Gefühl, Emmy, Du nicht?“7
Göring verbrachte die Nacht im Hauptquartier der 7.US-Armee in Kitzbühl, wo er abermals um sicheres Geleit und ein Treffen mit Eisenhower bat.8 Man gab Göring zu verstehen, dass ein solches Treffen äußerst unwahrscheinlich sei. Dennoch waren Stack und seine Mitarbeiter Göring gegenüber ausgesprochen zuvorkommend: Der große NS-Würdenträger trank bei Empfängen mit US-Soldaten Champagner, ließ sich mit ihnen fotografieren, gab eine Pressekonferenz und wurde ein letztes Mal als der hochrangige Staatsmann behandelt, der er noch zu sein glaubte.9
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Am nächsten Morgen brachte man den in seine graue Luftwaffenuniform gekleideten Göring zu einem nahe gelegenen Flugfeld, von dem aus er die kleine Piper bestieg und sich herausstellte, dass die Maschine nicht stark genug war für den Transport des 120-Kilo-Mannes.
Man trieb ein leistungsfähigeres Flugzeug auf, eine Piper L-5, deren Pferdestärken es mit dem Gewicht des NS-Mannes aufnehmen konnten.10 Göring bestieg die Maschine und machte es sich auf dem Rücksitz bequem, als sie auf ein weiteres Reisehindernis stießen: Der Sicherheitsgurt reichte nicht um seinen Rumpf. Göring hielt eines der Enden in die Luft und zuckte mit den Schultern. Dann legte er den Arm lässig aus dem Fenster auf den Flugzeugrumpf, der Pilot Captain Bo Foster ließ das Flugzeug auf die Startbahn rollen, und sie flogen los.
Nach einem 55-minütigen Flug sollten sie in Augsburg landen, wo die Geheimdienstoffiziere der 7.US-Armee schon auf sie warten würden. Während des Fluges sprachen Göring und Foster in einer Mischung aus Deutsch und Englisch über die unter ihnen vorbeiziehenden Sehenswürdigkeiten, und Göring zeigte Foster die Flugplätze und Industriegelände, die er wiedererkannte. Auf Fosters Frage, wann man in Deutschland mit der Entwicklung von Düsenflugzeugen angefangen habe, antwortete Göring lachend: „Zu spät.“ Er war gutgelaunt und in geselliger Stimmung. Foster trug eine Pistole im Schulterholster, aber wenn sein Gefangener, der ein ausgezeichneter Pilot war, die Nähe zu seinem Vordermann ausgenutzt hätte, um die Kontrolle über das Flugzeug zu erlangen, hätte Foster zu seiner Verteidigung keine Hand freigehabt. Foster und der wohl berühmteste Kriegsgefangene der Welt waren einander ausgeliefert.
Nach der Landung bat Foster seinen Passagier um ein Autogramm im Flugbuch. Die intime Begegnung mit Göring während des knapp einstündigen Fluges hatte ihn bewegt und erschüttert. Jahre später erinnert Foster sich: „Er verhielt sich genau, wie einer unserer Offiziere es getan hätte, wenn man ihn erwischt hätte. Meine Meinung über den Krieg hat sich durch die Begegnung nicht geändert, aber sie hat mir doch gezeigt, dass es sowas gibt wie …“ Er führte den Satz nicht zu Ende. „Also“, setzte er noch einmal an, „ich stellte jedenfalls vieles in Frage, was wir über diese grausamen Leute zu wissen glauben.“
Emmy und Edda Göring, die Ehefrau und die siebenjährige Tochter des ehemaligen Reichsmarschalls, wurden nach Burg Veldenstein gebracht, dem fränkischen Familiensitz der Görings.11
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In Augsburg entzog man Göring seine Privilegien. Die Wachen nahmen ihm seinen geliebten Marschallstab, ein Geschenk Hitlers aus dem Jahre 1940, der aus zweieinhalb Kilogramm Elfenbein bestand, in das Adler, Platinkreuze und 640 Diamanten eingelegt waren. Aber seine Mahlzeiten nahm er weiterhin mit den Offizieren ein, die auch mit ihm tranken (eventuell mit dem Ziel, seine Zusammenarbeit in den Verhören zu erwirken).12 Hier badete Göring förmlich in der respektvollen Ehrfurcht der US-Soldaten und genoss die Aufmerksamkeit der internationalen Presse.13 Hier sprach er auch zum letzten Mal mit seinem jüngeren Bruder Albert, einem entschiedenen Gegner des Nationalsozialismus, der während des Krieges den tschechischen Widerstand unterstützt und vielfach verfolgten Juden geholfen hatte. Albert gegenüber deutete Göring an, dass er mit einer längeren Haft rechnete. „Du wirst bald frei sein“, soll er Albert gesagt haben. „Dann nimm dich meiner Frau und meines Kindes an. Leb’ wohl.“
Eisenhower reagierte nicht auf Görings Bitte um ein Gespräch von „Mann zu Mann“, und bald teilte man dem Gefangenen mit, dass er sich auf eine weitere Umquartierung vorbereiten müsse, die am 20. Mai stattfinden werde. Göring durfte einen Adjutanten mitnehmen. Er wählte seinen langjährigen Diener Robert Kropp.14
Man brachte Göring ins luxemburgische Mondorf-les-Bains (Bad Mondorf), wo die Amerikaner unter dem Codenamen „Ashcan“ (amerikanisch für „Mülleimer“) ein Gefangenenlager und Vernehmungszentrum eingerichtet hatten. (Die Briten hatten ihr Gefangenenlager „Dustbin“ [britisches Englisch für „Mülleimer“] genannt.) Göring mag erfreut gewesen sein, als er erfuhr, dass ihr Ziel Bad Mondorf war, denn der luxemburgische, an der Grenze zu Frankreich und Deutschland gelegene Kurort mit Geschichte war für ausgezeichneten Wein, Parks und Blumenfelder und gute Hotels bekannt. Jedoch hatten US-Soldaten in Vorbereitung auf die Ankunft der Gefangenen das ehemals großzügig eingerichtete, jetzt aber im Verfall begriffene Palasthotel schon ausgeräumt: Die Zimmer waren bis auf ein Klappbett mit Strohmatratze leer.15 Die Kronleuchter waren abgehängt und die Fensterscheiben, durch die man eine bezaubernde Aussicht auf die Stadt hätte genießen können, vergittert und durch bruchsicheres Plexiglas ersetzt worden. Außerdem umgab das Hotel nun ein Zaun mit vier Wachtürmen, auf denen Soldaten mit Maschinengewehren positioniert waren. Bald sollten auch Flutlichter installiert, ein viereinhalb Meter hoher Stacheldrahtelektrozaun gebaut werden und weitere Soldaten mit Maschinenpistolen ihre Posten einnehmen.
Diese Verschönerungsmaßnahmen machten es dem neuen Kommandanten von Ashcan, US Army Colonel Burton C. Andrus, nicht leicht, den neuen Verwendungszweck des ehemaligen Hotels zu verheimlichen. Dennoch bemühte er sich auch dann noch um Geheimhaltung, als weitere namhafte Nationalsozialisten eintrafen. Darunter waren Großadmiral Karl Dönitz, das letzte Staatsoberhaupt Nazideutschlands (von Hitler, als Racheakt gegen Göring, zum Nachfolger bestimmt); der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel und sein Stellvertreter Alfred Jodl; der psychisch labile Leiter der Deutschen Arbeitsfront Robert Ley, der sich seit seiner Ergreifung für Essen und Trinken nicht zu interessieren schien, aber dringend weibliche Gesellschaft verlangte;16 der ehemalige Generalgouverneur Polens Hans Frank, der schon zwei Selbstmordversuche in Gefangenschaft hinter sich hatte; der Autor und NS-Ideologe Alfred Rosenberg, der sich bei einem Besäufnis zu Kriegsende den Fuß verletzt hatte; der Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht, der Hitler während des Krieges kritisiert und in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Flossenbürg interniert worden war; und schließlich Julius Streicher, der Herausgeber der berüchtigten antisemitischen Wochenzeitung Der Stürmer, der seine letzten Tage in Freiheit mit Landschaftsmalerei in den bayerischen Alpen verbracht hatte.17 Alles in allem übernahm Andrus in Bad Mondorf die Verantwortung für über 52 deutsche Militärs und hochrangige Regierungsvertreter.18 Später erinnerte er sich seiner ständigen Sorge, das Gefängnis könne angegriffen werden, „entweder von fanatischen Nazis, die die Gefangenen retten wollten, oder von Luxemburgern, die nicht nur die Nazis, sondern alle Deutschen hassten, die sie [im Krieg] so unbarmherzig behandelt hatten“.19 Manchen von ihnen konnte man die Mordlust wirklich nicht übelnehmen, so zum Beispiel den 176 Luxemburgern, die sich in Bad Mondorf von den Schrecken des Konzentrationslagers Dachau erholten.20
Andrus nahm seinen Auftrag sehr ernst. Der Mann mit dem hochglanzpolierten Helm, der stahlgerahmten Brille, dem knappen Ton und der steifen Körperhaltung war der Inbegriff eines zackigen Soldaten. Er verlangte, dass seine Gefangenen ihm mit Respekt begegneten und seiner Position als Kommandanten Rechnung trugen. Die New Yorker Zeitschrift Time beschrieb ihn zwar als „pummeligen kleinen Mann, der an einen aufgeplusterten Vogel erinnert“, aber der Colonel war eigentlich sportlich und ein begeisterter Wasserballspieler.21 Andrus war 1,77 Meter groß und wog 70 Kilogramm. Der gebürtige Amerikaner aus dem Staat Washington hatte sich im Ersten Weltkrieg als Kavallerist ausgezeichnet und dann das Militärgefängnis in Fort Oglethorpe im Bundesstaat Georgia geleitet. Bevor er dort eingesetzt wurde, hatte Chaos geherrscht: Es war häufig zu Ausbrüchen gekommen, und die wegen Mordes Verurteilten setzten ihre eigenen Gesetze in inoffiziellen, von Andrus als „kangaroo court“ (Kängurugericht) bezeichneten Prozessen durch. Zu Andrus’ Einstand in Fort Oglethorpe hatten die Häftlinge ihren Zellenblock kurz und klein geschlagen. Daraufhin hatte Andrus die Anführer gezwungen, aufzuräumen, Isolationshaft und neue Verhaltensregeln eingeführt. Dann hatte er den Wachen Anweisung gegeben, bei einem Ausbruchversuch sofort zu schießen. Jetzt herrschte Ordnung.
Kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs wurde Andrus im Presidio of Monterey in Kalifornien stationiert, wo er als Gefängnis- und Geheimdienstoffizier diente. In den 20er-Jahren war er Oberbefehlshaber eines Kavallerieregiments auf den Philippinen gewesen. Seine Kollegen beschrieben ihn als formellen, steifen, autoritären Mann, der keine Abweichung von den Vorschriften tolerierte. Dieser Eigenschaften wegen hielt ihn das US-Militär für den idealen Leiter des Gefängnisses, in dem die ranghöchsten Nationalsozialisten nach Ende des Zweiten Weltkriegs gefangen gehalten wurden.
Bei seiner Ankunft in Ashcan war Göring verstimmt wegen der Respektlosigkeit der kaugummikauenden Soldaten, die ihn vom Flugfeld abgeholt hatten.22 Stark schwitzend und noch immer in seine Luftwaffenuniform gekleidet, meldete Göring sich in Andrus’ Büro. Der Gefängniskommandant empfand schon bei der ersten Begegnung Antipathie. „Unter dem Jackett schwabbelte der Wohlstandsspeck“, beobachtete Andrus und fügte hinzu, dass er Göring für einen „einfältigen Waschlappen“ halte. Göring, der sich dem beurteilenden Blick des Kommandanten unterziehen musste, kochte vor Wut.
Göring hatte nicht nur seinen Diener Kropp dabei, sondern auch ein Dutzend monogrammierter Koffer und eine große rote Hutschachtel. Das Gefängnispersonal verbrachte einen ganzen Nachmittag damit, den Inhalt seines Gepäcks zu sichten. Es enthielt edelsteinüberkrustete Orden, Brillant- und Rubinringe, mit Swastika verzierten Schmuck, Manschettenknöpfe aus Halbedelsteinen, Görings Eisernes Kreuz aus dem Ersten Weltkrieg, seidene Unterwäsche, vier Militäruniformen, ein paar Pantoffeln, eine Wärmflasche, vier Brillen, zwei Zigarrenschneider und eine ganze Reihe von Armbanduhren, Anstecknadeln und Zigarettenetuis.23 Außerdem hatte Göring Bargeld in Höhe von 81268 Reichsmark (heute etwa eine Dreiviertelmillion Euro) im Gepäck. Er brüstete sich damit, dass einer seiner Ringe den größten Smaragd trage, der ihm als Edelsteinsammler je unter die Augen gekommen sei. Der Stein war zweieinhalb Zentimeter lang und über einen Zentimeter breit.24 Viele dieser Kostbarkeiten waren in den besetzten Gebieten gestohlen worden – des Krieges glitzerndes Raubgut.
Eine in Görings Kleidung eingenähte Kaffeedose enthielt einige Messingfläschchen, in denen mit einer klaren Flüssigkeit gefüllte Glaskapseln lagen: Tödliches Kaliumcyanid, auch bekannt als Zyankali. Viele hochrangige Nationalsozialisten – darunter der Reichsinnenminister, Reichsführer-SS und Chef der deutschen Polizei Heinrich Himmler und vermutlich auch der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels – hatten unter Verwendung ähnlicher Kapseln Selbstmord begangen oder sollten es bald tun. Wie Göring seinem Diener Kropp anvertraute, war es ihm gelungen, mindestens eine Zyankalikapsel bei sich zu verstecken.
Der Kommandant schickte Göring in seine Zelle. Der Raum, der noch vor kurzem ein fein möbliertes Zimmer mit vermutlich tapezierten Wänden und einem Fenster mit Blick gewesen sein musste, war jetzt bis auf einen instabilen Tisch, einen Stuhl und ein Bett ohne Kopfkissen leer.25 Als Göring sich auf den Stuhl setzte, berichtete Andrus später, knickte dieser unter seinem Gewicht ein. „Wenn er sich auf den Tisch gesetzt hätte, wäre auch der zusammengebrochen“, erklärte Andrus.26 „Die Tische waren so gebaut, dass die Gefangenen sich nicht draufstellen konnte, um sich aufzuhängen.“ Um Selbstmorde zu verhindern, ordnete Andrus auch an, dass die Gefangenen Schnürsenkel von 10 Zentimetern Länge bekamen.27 Damit konnte man sich weder erhängen noch die Schuhe zubinden.
Die erste medizinische Untersuchung bestätigte, dass Göring stark übergewichtig war. Sein Puls lag bei etwa 84 mit unregelmäßigem Herzschlag, seine Atmung war schnell und flach, seine Hände zitterten, und er schien, schrieb der untersuchende Arzt, „in sehr schlechtem Gesundheitszustand“ zu sein. Der Patient gab an, schon mehrere Herzinfarkte gehabt zu haben.28
Göring war außer sich, wie ein Krimineller festgehalten zu werden, war dem Gefängnispersonal gegenüber unverschämt – wenn er salutierte und die Hacken zusammenschlug, dann nicht ohne Sarkasmus – und beschwerte sich weiterhin brieflich bei Eisenhower.29 Er klagte, in Bad Mondorf werde mit ihm auf eine Weise umgegangen, „die mich, einen der ranghöchsten deutschen Offiziere und Reichsmarschall, tief erschüttert“. Er beanstandete, dass es in seinem Zimmer weder eine Lampe noch einen Türknauf gebe, dass man ihm beinahe sein gesamtes Eigentum genommen habe und ihn durch die Konfiszierung seiner Orden und seines Marschallstabes erniedrigt habe, dass rangniedrigere alliierte Offiziere ihm nicht den nötigen Respekt entgegenbrächten und, was für Göring wohl am schlimmsten war, dass ihm sein Diener Kropp nicht länger zur Verfügung stand, weil ihn die Alliierten als Kriegsgefangenen anderswo eingesetzt hatten. (Kurz vor Kropps Abreise, bei der Göring beinahe weinte, erwies der Diener seinem Herren einen letzten Dienst: Er stahl ein Kopfkissen für ihn, das US-Soldaten allerdings gleich wieder einzogen.)30 Göring bat Eisenhower, er möge ihm ein Flugzeug nach Bad Mondorf schicken, damit er seine Familie besuchen könne, und Kropp wieder einsetzen oder ihm einen anderen deutschen Soldaten als Adjutanten zur Verfügung stellen.31 Der Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte reagierte nicht. Andrus aber war aufgebracht und fand den Gefangenen gegenüber klare Worte:
Ich werde Sie nicht davon abhalten, Briefe zu schreiben, in denen es um den angeblichen Diebstahl von Privateigentum oder andere Verstöße gegen die Menschenrechte geht. Sich aber über die Unannehmlichkeiten oder das Fehlen von Annehmlichkeiten während Ihres Gefängnisaufenthalts zu beklagen oder sich zu der Ihnen schwer erträglichen Demütigung oder der Ihnen zustehenden Achtung zu äußern, ist sinnlos und wird nur zur Folge haben, dass die Zuständigen sich angewidert abwenden. […] Der Kommandant, seine Vorgesetzten, die Regierungen der Alliierten und die Weltöffentlichkeit wissen von den Gräueltaten, die von der deutschen Regierung, deutschen Soldaten und deutschen Behörden begangen worden sind. Etwaige Gesuche um zusätzlichen Komfort seitens der Täter wird die Missachtung nur verstärken, die man ihnen ohnehin schon entgegenbringt.32
Trotz dieser Zurechtweisung entwickelte Göring sich zu einem ermüdend kritischen Insassen, der an allem etwas auszusetzen hatte, ganz besonders am Essen. Andrus bestand darauf, dass die Speisung der Gefangenen den Mahlzeiten der Wachen entsprach. Der Zeitplan sah vor, dass Göring und die anderen Gefangenen früh aufstanden, um 7.30 Uhr im Speisesaal antraten, einem dunklen, durch Rundbögen zu betretenden Raum, in dem ihnen Suppe, Müsli und Kaffee vorgesetzt wurden. Zum Mittagessen gab es normalerweise Erbsensuppe und Rinderhaschee mit Spinat, zum Abendessen dann Omelette aus Eipulver mit Kartoffeln, dazu Tee. Als Besteck gab es nur Löffel. Die Gefangenen mussten sich ihre Zigaretten selbst drehen. Andrus gab die Sitzordnung zu den Mahlzeiten vor und setzte gelegentlich Erzfeinde nebeneinander. Der Kommandant erinnert sich an ein Gespräch zwischen Göring und dem deutschen Kriegsgefangenen, der das Essen servierte, über das Göring sich beschwerte: „Solch einen Fraß hätte ich nicht einmal meinen Hunden vorgesetzt.“ Daraufhin sagte der Kriegsgefangene: „Tatsächlich? Dann haben Sie Ihre Hunde aber besser ernährt als mich und alle, die unter Ihnen in der Luftwaffe gedient haben.“33
Diese Anekdote, mag ihr Wahrheitsgehalt auch zweifelhaft sein, zeugt doch deutlich von Andrus’ Antipathie gegenüber Göring. Wie viele der damaligen und heutigen Gegner der Nationalsozialisten sah wohl auch Andrus in Göring den Typus des rohen Manipulators. Der britische Ermittlungsbeauftragte für den Nürnberger Prozess Airey Neave beschrieb Göring als den „in unzähligen Filmen auftauchenden Fettwanst, der seine Killergang von seinem teuren Esstisch aus lenkt“, beschrieb.34 Wie Neave aber erkannte, war Göring „viel gerissener und gefährlicher als jede Filmfigur“.
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Hermann Göring, zum Zeitpunkt seiner Ergreifung 52 Jahre alt, war der Sohn eines Richters und Kolonialbeamten in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Göring war Fliegerheld im Ersten Weltkrieg, weil er einmal abgeschossen worden war, man ihm den Abschuss von 22 feindlichen Flugzeugen nachsagte, und er sein Geschwader bei Ende des Krieges wieder nach Deutschland zurückgeleitet und die Kapitulation verweigert hatte.35 Für seine Taten hatte man ihm den Orden Pour le Mérite verliehen, die damals höchste Kriegsauszeichnung Deutschlands.
In den frühen 20er-Jahren hatte Göring in München studiert. Hier hörte er auch zum ersten Mal Adolf Hitler auf einer Rednerbühne: „Mit Waffengewalt macht man seine Drohungen glaubhaft.“ Ein Ausspruch Hitlers, der ihm lange im Gedächtnis geblieben sei.36 „Genau das wollte ich hören. Hitler wollte eine Partei gründen, die Deutschland wieder stark machen und den Versailler Vertrag in 1000 Stücke schlagen würde. ‚Also, Hermann‘, sagte ich mir, ‚das ist die richtige Partei für dich! Nieder mit dem Versailler Vertrag, verdammt nochmal! Das ist ganz meine Sache!‘“ Göring war beruflich perspektivlos und voll Bitterkeit über die Rüstungsbeschränkung der Reichswehr, und so verschlang er Hitlers Mixtur aus Nationalismus, Antisemitismus und Antikommunismus. Er unterstützte die nationalsozialistische Bewegung, die damals noch so klein war, dass jedes Neumitglied willkommen war und ausgezeichnete Aufstiegschancen hatte, mit dem Ziel, seinen Hass gegenüber der Weimarer Republik zum Ausdruck zu bringen, ihren Untergang herbeizuführen und in der Nachfolgeregierung eine Machtposition einzunehmen. Die nationalsozialistische Partei war noch jung, „und dasbedeutete, dassich dort bald ein großer Mann sein konnte“, sagte Göring später.37 Der aus Opportunismus und Machtgier entstandene Plan ging auf und seine Mutter behielt recht. Sie hatte einst prophezeit: „Hermann wird entweder ein großer Mann oder ein großer Verbrecher.“38
Hitler, der am Aufbau Nazideutschlands arbeitete, erkannte schnell, dass ihm der Kriegsheld und das treue Parteimitglied Göring nützlich sein könnte. Er setzte Göring als Leiter der „Braunhemden“ ein, der im Aufbau befindlichen paramilitärischen SA. Das war die erste einer schwindelerregenden Anzahl hoher Positionen und Auszeichnungen, mit denen Göring sich im Laufe seiner NS-Karriere schmückte. Wie der Historiker Eugene Davidson schreibt, war „Göring für Hitler ein nützlicher Mitstreiter, weil er aus der oberen Mittelschicht kam und sowohl von Geschäftsleuten als auch von ehemaligen Offizieren respektiert wurde und, was besonders wichtig war, sich durch unerschütterliche Treue auszeichnete“.39 Wegen des wachsenden Drucks seitens der Weimarer Behörden verließ Göring Deutschland, lebte einige Jahre in Italien und Schweden und beobachtete die Entwicklung der Partei aus der Ferne.
1927 hieß Hitler Göring in seiner nun erstarkten nationalsozialistischen Organisation willkommen; sie stand kurz vor dem Einzug in den Reichstag. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1933 war Göring, mittlerweile einer der wichtigsten Drahtzieher der Partei, an der Planung und Durchführung einiger der schlimmsten Taten des Regimes maßgeblich beteiligt: darunter der auf den angeblichen Röhmputsch von 1934 folgenden Morde, durch die die Partei sich der rivalisierenden SA-Führung entledigte, die Hitler in die Quere gekommen war; außerdem spielte er eine Rolle bei der Gründung der Gestapo und dem Bau erster Konzentrationslager zur Internierung von Regimegegnern und der Verfolgung Oppositioneller, die Hitler für den Reichstagsbrand von 1933 verantwortlich machte. Gegen Ende der 30er-Jahre wurden Görings Verleumdungskampagnen gegen zahlreiche Nationalsozialisten und Militärs, die für Hitler und Göring eine potentielle Gefahr darstellten, dem Führer unersetzlich. Göring war des Weiteren beteiligt an der Verabschiedung der Nürnberger Rassengesetze, die die Rechte von Juden stark einschränkten, an weiteren Gesetzen, die die Judenvernichtung legalisierten und, in enger Zusammenarbeit mit Hitler, an der Planung und Durchführung des Krieges. Görings Beteiligung an so vielen der schlimmsten NS-Verbrechen sollte den US-Staatsanwalt Robert Jackson vor dem Nürnberger Gericht zu dem Ausspruch inspirieren: „Görings dicke Finger stecken aber auch in jeder Torte.“ Nachdem der Dolmetscher das ins Deutsche übersetzt hatte, brach Göring in schallendes Gelächter aus.40
Bei Kriegsende hatte Göring so viele Titel gesammelt, dass nur die lange Titelliste Hitlers die seine übertraf. Hermann Göring war Reichstagspräsident, Hitlers Stellvertreter, Ministerpräsident Preußens, Reichsluftfahrtminister und Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Reichswirtschaftsminister, Mitglied des Geheimen Kabinettsrats, Hauptleiter der Reichswerke Hermann Göring, Generalfeldmarschall, Vorsitzender des Ministerrats für Reichsverteidigung, Reichsforstmeister und Reichsjägermeister. Der höchste Rang, den Göring erreichte, war der des Reichsmarschalls, ein Titel, den vor ihm nur eine einzige Person getragen hatte, knappe 200 Jahre zuvor Prinz Eugen von Savoyen.
Als Nummer zwei in der Hierarchie, wurde Göring 1935 Hitlers offizieller Nachfolger. Göring steckte all seine Energie in die übernommenen Aufgaben, sodass er der NS-Regierung bald unersetzlich wurde. Gleichzeitig bereicherte er sich durch Diebstahl und Bestechung. Im Gegensatz zu vielen anderen ranghohen Nationalsozialisten hatte Göring Humor und eine Ausstrahlung, die ihm in den ersten Kriegsjahren die Sympathie seiner Soldaten sicherte. Er liebte Prunk, Trachten und Orden – einmal trug er bei einer Begegnung mit dem US-amerikanischen Präsidenten Herbert Hoover ein rotes Seidenhemd mit einem durch eine smaragdene Nadel in Position gehaltenen Halstuch. In Carinhall, dem nach seiner ersten Frau benannten großzügigen preußischen Jagdschloss, hielt er zahme Löwen, trat mit Speer und Helm eines mittelalterlichen Kriegers vor seine Gäste, spielte mit einer aufwändigen Spielzeugeisenbahn, sah Wildwestfilme und dekorierte seine Wände mit Kunstwerken, die er Museen und Sammlern in ganz Europa gestohlen hatte.41
Als sich der Krieg langsam zu Ungunsten von Deutschland wendete und die Luftwaffe zusammenbrach, verlor der Spaßmacher Göring seinen Reiz. Sein Einfluss auf Hitler und seine Bedeutung als Kriegsberater schrumpften, während andere, vornehmlich Heinrich Himmler, Joseph Goebbels, Albert Speer und Martin Bormann, seinen Platz einnahmen. Er zog sich zurück, blieb der Front fern und widmete sich seinen Hobbys: der Jagd, dem Kunstraub und seinen Spielzeugen. Zum Zeitpunkt der Kapitulation Deutschlands war ihm nur ein Titel geblieben: der des Reichsmarschalls. Göring hatte nur überlebt, weil Ernst Kaltenbrunner, Leiter der Gestapo, gezögert und die Unterschrift Hitlers unter dem Exekutionsbefehl verlangt hatte.42
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Bei der Durchsuchung von Görings Gepäck fand man ungeheure Mengen kleiner Tabletten unbekannter Zusammensetzung. Kurz nach Görings Ankunft zeigte ein Wachmann Andrus einen edlen Lederkoffer mit den Worten: „Das sollten Sie sehen, Sir.“43 In dem Koffer war „ein Tablettenarsenal, wie ich es noch nie gesehen hatte“ – es handelte es sich um etwa 20000 Pillen. Andrus ließ Göring in sein Büro kommen, welcher erklärte, er nehme täglich 40 Tabletten gegen ein Herzleiden ein. Wie sich herausstellte, waren die Pillen aber nicht Teil einer medizinischen Behandlung. Bei Kriegsende hatte Göring sich einen riesigen Vorrat davon angelegt.44 Der volle Koffer, dessen Anblick Andrus so erstaunt hatte, war nur ein Bruchteil davon. Den Rest hatte Göring in der Toilette hinuntergespült, weil er es für unehrenhaft hielt, wenn man bei seiner Ergreifung so viele Medikamente bei ihm fände.
Was Göring über Inhalt und Wirkung der Tabletten gesagt hatte, überzeugte Andrus nicht, deshalb schickte er eine Probe nach Washington an den Direktor des Federal Bureau of Investigation (FBI) J. Edgar Hoover. Der übergab die Probe an Dr.Nathan B. Eddy, einen Pionier der Drogenforschung in der Antidrogenbehörde des US-Gesundheitsministeriums. Eddys Untersuchung bestätigte Andrus’ Verdacht, dass es sich nicht um ein Herzmedikament handelte. Stattdessen enthielten die Tabletten Paracodin, ein starkes Schmerzmittel und „relativ seltenes Betäubungsmittel, das in den USA nicht verwendet wird“.45 Das FBI stufte das Suchtpotential von Paracodin ähnlich dem von Morphium ein und warnte die Gefängnisleitung in Bad Mondorf eindringlich vor einem plötzlichen Entzug der Droge. Hoover bat, über den Zustand des NS-Gefangenen auf dem Laufenden gehalten zu werden.46 Es ist nicht zu vermuten, dass Göring von der Medikamentenanalyse durch das FBI gewusst hat, dennoch erfuhr er von Hoovers Interesse an seiner Person, als zwei FBI-Agenten nach Bad Mondorf kamen, um ein Erinnerungsstück für das Museum der Behörde in Washington mitzunehmen. „Stellen Sie sich das nur vor: Ich in dem berühmten FBI-Museum, neben der Pistole von John Dillinger und der Maske von Babyface Nelson“, rief Göring. „Was für eine phantastische Vorstellung!“47 Doch dann hielt er inne, als ihm die Bedeutung der Anfrage klar wurde. „Man hat mich also schon verurteilt und als üblen Verbrecher abgestempelt. In der Zukunft werden amerikanische Kinder zittern, wenn sie im FBI-Museum vor dem Andenken des bösen Reichsmarschalls stehen.“ Göring ließ sich schließlich von den Agenten dazu überreden, einen seiner Militärorden beizusteuern.
Görings Vorrat an der synthetischen Droge, die er bei deutschen Herstellern beschlagnahmt hatte, war beinahe die Gesamtmenge des weltweit existierenden Paracodins. Das Medikament war vier Jahrzehnte zuvor von einer deutschen Pharmafirma entwickelt worden. Der Wirkstoff des Beruhigungsmittels ähnelt dem von Opium. „Paracodin schließt die Lücke zwischen Codein und Morphin“, schreibt eine deutsche Pharmakologiezeitschrift zu Beginn des 20. Jahrhunderts. „Auch in kleinen Dosen wirkt Paracodin meist stärker als Codein. Im Vergleich zu Codein hat dieses Medikament allerdings eine stärkere beruhigende Wirkung.“48
Göring war abhängig, und um seine Sucht zu befriedigen, ließ er von Pharmazeuten spezielle, für seinen Gebrauch niedrig dosierte Tabletten herstellen. Jede Tablette beinhaltete zehn Milligram Paracodin. Die Wirkung von fünf Tabletten entsprach einer Dosis von 65 Milligramm Morphium – das war mehr als genug, um eine normalgewichtige Person zu betäuben. Gegen Ende des Krieges unterbrach Göring seine Arbeit und Besprechungen regelmäßig, um die Tabletten einzuwerfen.
Andrus wollte Drogensucht in seinem Gefangenenlager nicht tolerieren. Am 26. Mai, Görings sechstem Tag in Bad Mondorf, gab Andrus dem medizinischen Personal, dem deutschen Arzt Ludwig Pflücker und dem US-Amerikaner William Miller, die Anweisung, mit einer Entziehungskur zu beginnen. Zunächst reduzierten sie Görings tägliche Dosis auf 38 Tabletten, am 29. Mai dann auf 18. Göring zählte die Pillen, die man ihm gab, mit wachsender Unruhe. Andrus notierte im Gefängnisprotokoll: „Seine Empörung war unübersehbar, sonst bemerkte man aber keine Veränderung in seinem Verhalten.“ Doch zwei Tage später erkrankte Göring an Bronchitis, und die Mediziner unterbrachen die Entziehungskur. Miller gab Andrus zu verstehen, dass „meiner Meinung nach eine weitere Reduktion der Dosis oder der gänzliche Entzug des Paracodins bei diesem Patienten ernsthafte psychische und körperliche Folgen haben würde“. Es sollten viele Wochen vergehen, bis ein weiterer Versuch gemacht wurde.
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Die Behandlung von Görings Drogenabhängigkeit war noch nicht abgeschlossen, als Anfang August ein neuer Mitarbeiter in BadMondorf eintraf. Davor war er in einem US-Militärkrankenhaus stationiert gewesen, wo er psychologische Beratung angeboten hatte und für die psychiatrische Behandlung von tausenden von US-Soldaten verantwortlich gewesen war.
Der junge Mediziner mit dem gewellten braunen Haar sah jungenhaft aus, war aber robust gebaut und von einer rauen Attraktivität. Es war der gebürtige Kalifornier Captain Douglas McGlashan Kelley. Als er nach Bad Mondorf kam, hatte er schon fast drei Jahre im Sanitätsdienst der US-Armee hinter sich. Wie Andrus ihm bald erklärte, war er nach Bad Mondorf versetzt worden, um die psychische Gesundheit von Göring und den anderen NS-Gefangenen zu gewährleisten, bis entschieden war, was mit ihnen geschehen sollte.
Nachdem Kelley sich in Bad Mondorf eingerichtet hatte, stellte er sich nach und nach jeder der NS-Größen vor, Göring aber traf er zuerst und führte eine medizinische Untersuchung durch. Göring muss aufgefallen sein, dass sein neuer Psychiater nicht die wissenschaftlich distanzierte Haltung an den Tag legte, die man hätte erwarten können. Wenn Kelley sprach, dann tat er es laut und direkt und bewegte dabei die buschigen Augenbrauen. Er näherte sich seinem Patienten behutsam und nahm zunächst Görings Krankengeschichte auf. Kelley wusste nicht, was er von diesem berüchtigten Patienten zu erwarten hatte. Manche hatten Göring als „machiavellistischen Schuft, [andere als] fetten, harmlosen Eunuchen“ beschrieben, die meisten hatten ihn aber als einen Mitläufer Hitlers dargestellt, der nur auf Auszeichnungen, Ruhm und Reichtum aus war.49
Ein anderer Gefängnismitarbeiter war mit dem berühmtesten Insassen Bad Mondorfs schon vertraut. John Dolibois war ein vertrauenswürdiger und sympathischer gebürtiger Luxemburger, amerikanischer Staatsbürger und Geheimdienstoffizier. Bevor seine Familie nach Akron in Ohio ausgewandert war, hatte er das Hotel als Kind zu dessen goldenen Zeiten kennengelernt.50 Er arbeitete seit Mai 1945 in dem Gefangenenlager und hatte sich, um seine Verwandten in Deutschland zu schützen, den Gefangenen als John Gillen vorgestellt. Dolibois bemühte sich darum, unter den Gefangenen als sanftmütig und harmlos zu gelten, und übernahm die Rolle des Wohlfahrtsoffiziers, der ihnen bei Problemen half, sie nach ihren Bedürfnissen fragte und sich mitfühlend ihre Beschwerden anhörte. Dadurch gelangte er an wichtige Informationen, die er an die Verhörer weitergab. Viele der NS-Gefangenen sprachen ganz offen, weil sie noch nicht glauben konnten, dass man sie wegen ihrer Verbrechen anklagen würde. „Wir mussten keine Hilfsmittel einsetzen, um die Gefangenen zum Sprechen zu bringen“, erinnert Dolibois sich in seinem Buch. „Manchmal redeten sie eher zu viel. Fast alle der Männer in Ashcan redeten mehr als bereitwillig. Wenn man sie mehrere Tage lang nicht verhört hatte, fühlten sie sich vernachlässigt.“51 Mit ausgezeichneten Deutschkenntnissen und einem Psychologieabschluss von der Miami University war Dolibois der ideale Dolmetscher und Übersetzer für Kelley, der nur über rudimentäre Deutschkenntnisse verfügte.
Göring war ein geselliger Mann und hatte anregende Gespräche dringend nötig. Er war äußerst erfreut über die Aufmerksamkeit, die der Arzt ihm entgegenbrachte. Bei einem ihrer ersten Treffen rühmte er sich vor Kelley damit, immer sehr auf seinen Körper geachtet zu haben. Tatsächlich erklärte der ehemalige Reichsmarschall, er habe die beste Konstitution in ganz Deutschland. Er beschrieb Kelley „aufs genaueste jede Narbe und jeden Kratzer an seinem Körper“, notierte der Arzt, der die Krankengeschichte Görings zusammenzustellen begann:
Bei Geburt 5,5kg. Als Kind schlank, Gewichtszunahme ab 1923.
1916 – 16. Nov.:Abgeschossen – Geschoss in r. Flanke – Metallsplitter und Polsterung. Krankenh. Bis Jan. 1917 – Narbe 16cm […]
Schuss in oberen Oberschenkel – 1923 in München – 9. Nov. ’23 bis März ’24.
Damals wurde Morphium verschrieben; Selbstinjektionen. Nach Entlassung aus dem Krankenhaus: Injektionen und orale Einnahme für weitere 6 Monate bis 3 Jahre.52
Kelley interessierte sich immer mehr für die Berge an Besitztümern, die Göring bei seiner Ankunft in Ashcan im Gepäck gehabt hatte. Die große Anzahl von Kosmetikartikeln und Accessoires beeindruckte den Psychiater, der unter den Gegenständen zwar Körperlotion und -puder fand, entgegen Gerüchten aber kein Make-up.53 Wirklich beeindruckt aber war Kelley von den drei Ringen im Besitz des hochrangigen Nationalsozialisten: Es seien „wirklich massive Schmuckstücke“ gewesen. In den einen war ein großer Rubin eingefasst, in den zweiten ein Smaragd und in den dritten ein blauer Brillant. Göring erklärte Kelley, er habe die drei Ringe vor seiner Ergreifung „immer bei sich gehabt, um täglich den auszuwählen, der am besten zu seiner Stimmung passte“. Auch der riesige lose Smaragd unter Görings Habseligkeiten entging dem Psychiater nicht.54
Göring sprach zu Kelley verschiedentlich mit großen Stolz von seiner exzellenten Gesundheit, seiner Kraft und seinen sportlichen Fähigkeiten. „Ich bin zeit meines Lebens sehr sportlich gewesen“, erklärte Göring Kelley, der neben ihm auf dem Bett saß. „Bis in die letzten Kriegsjahre hinein habe ich viel Zeit mit Skifahren, Jagen und Wandern verbracht.“ Göring schien sich dabei für unsterblich gehalten zu haben. Als Jugendlicher habe er in den österreichischen Alpen, während seine Begleiter sich eilig in Sicherheit brachten, einfach zugesehen, als um ihn herum eine Lawine niederging. Ein anderes Mal habe er Freunde gescholten, die in Panik geraten waren, weil das Ruderboot sich einem Wasserfall näherte. In Görings Erinnerung habe er ihnen zugerufen: „Wenn wir da reingeraten, ist es aus mit uns. Aber wir können ja doch nichts machen, warum sich also aufregen?“
Von Kelley über seinen Lebenswandel befragt, antwortete Göring, er esse gern, trinke maßvoll und rauche gelegentlich eine Zigarre. „Er beschreibt sein Sexualleben als normal und gibt an, dass seine Gewichtszunahme seit den 20er-Jahren keinen Einfluss darauf gehabt habe“, notierte Kelley.
Dann wandte sich der Psychiater Görings Drogensucht zu. Göring erklärte Kelley, dass er gut zwei Jahrzehnte zuvor am Münchener Bürgerbräu-Putsch teilgenommen hatte, dem gescheiterten Versuch einiger Mitglieder der NSDAP, die bayerische Regierung zu stürzen. Göring war damals schon Hitlers rechte Hand gewesen und an der Planung des Staatsstreiches maßgeblich beteiligt gewesen, hatte die SA organisiert, die Zivilisten einschüchterte und Regierungsgebäude besetzte, und hatte die Stimmung so aufgeheizt, dass es ihnen gelungen war, den Münchener Bürgerbräukeller zu besetzen, in dem Gustav von Kahr eine Rede hielt. Die 24-stündige, chaotische Geiselnahme endete in einer Straßenschlacht zwischen den Nationalsozialisten und der bayerischen Polizei. Bei den Schusswechseln starben 20 Personen und viele weitere wurden verletzt. Hitler und die anderen Putschisten wurden in die Flucht geschlagen. Göring hatte eine Kugel im Oberschenkel. Die Wunde entzündete sich, und Göring verbrachte viele Monate im Krankenhaus. Hier entwickelte er die Drogenabhängigkeit; begleitend zu der Behandlung der Schusswunde hatte man Göring als Schmerzmittel immer wieder Morphium gespritzt. Die Wunde heilte mit der Zeit, aber sein Verlangen nach der Droge hielt an. Nach Abschluss der Behandlung besorgte Göring sich Morphium auf dem Schwarzmarkt. Wegen seiner Rolle im Putsch musste er Deutschland verlassen und zog 1924 auf der Suche nach Arbeit als Berater in der Luftfahrt mit seiner Frau Carin nach Schweden.
Die Sucht nahm er mit. Der Schmerz in seinem Bein sei unerträglich geworden, und er habe sich wegen der ihm durch die Arbeitslosigkeit aufgezwungenen Untätigkeit nutzlos gefühlt. Er erhöhte die Tagesdosis. Das Morphium habe Wahnvorstellungen, Unzuverlässigkeit, Redseligkeit, Manie, Selbstüberschätzung und Schlaflosigkeit ausgelöst. Es habe ihn immer wieder zum Überkochen gebracht und gewalttätige Wutanfälle provoziert. Er habe in der Wohnung mit Möbeln um sich geworfen. Das Morphium hatte Görings Hormonausschüttung stimuliert und zu einer gewaltigen Gewichtszunahme geführt, bis er über 130 Kilogramm wog. Der schlanke, gutaussehende Fliegerheld des Ersten Weltkriegs hatte groteske Formen angenommen.
Göring machte Carin das Leben zur Hölle. Nachdem die Ärzte ihr gesagt hatten, er stelle für sich und andere eine Gefahr dar, hatte sie ihn ins Krankenhaus von Aspudden (Stockholm) einweisen lassen, wo man den neuesten Suchtbehandlungsmethoden entsprechend Görings tägliche Morphiumdosis sofort drastisch reduzierte. Göring war freiwillig ins Krankenhaus gegangen, aber ihm war wohl nicht klar gewesen, welche Qualen ihn dort erwarteten. Die Mediziner lehnten seine Bitte um höhere Dosen ab und sagten ihm, er solle die Entzugserscheinungen wie ein Mann nehmen. Unter Schmerzen, heftigem Verlangen und Frustration griff Göring eine Krankenschwester an, versuchte, sich Zugang zu den Medikamenten des Krankenhauses zu verschaffen, und drohte mit Selbstmord. Man steckte ihn in eine Zwangsjacke und überwies ihn an eine um einiges strengere Institution, die psychiatrische Anstalt Långbro.
Von den folgenden drei Monaten seien ihm nur gräuliche Bilder im Gedächtnis geblieben. Man habe ihn gefesselt und in eine Gummizelle gesteckt, damit er sich nichts antun konnte. Dann habe man ihm das Morphium ganz entzogen, und die Entzugserscheinungen trafen ihn mit voller Wucht. Wieder auf freiem Fuß und in der Obhut seiner Frau, verfiel Göring sofort abermals der Sucht und war kurz darauf ein zweites Mal zu einer Entziehungskur in Långbro. 1927 wiederholte er, nach Deutschland zurückgekehrt, die Behandlung. Das letzte Mal habe er im Winter 1928 zur Behandlung von Halsschmerzen Morphium genommen. Danach habe Göring mehrere Jahre lang, trotz Carins Tod 1930 und in der Zeit des aufreibenden Aufstiegs der NSDAP, keine Drogen genommen.
Damals nahm er zwar gelegentlich Diät- und Schlaftabletten, die Sucht hatte er aber anscheinend überwunden. Doch das änderte sich, als er 1937 wegen starker Zahnschmerzen abermals abhängig wurde. Der Zahnarzt glaubte, die Schmerzen seien auf Nervosität und Angst zurückzuführen und gab Göring eine Flasche Paracodintabletten, von denen er alle zwei Stunden zwei nehmen sollte, bis der Schmerz nachließe. Fünf Tage später hatte Göring weder Schmerzen noch Tabletten und verlangte aus Angst vor einem aufkommenden Verlangen nach Morphium mehr Paracodin von dem Zahnarzt. Dieser lehnte mit dem Hinweis auf die hohe Suchtgefahr ab, aber Göring trieb das Medikament problemlos anderweitig auf. Bald nahm er täglich zehn Tabletten.
Vielleicht hätte Göring die Warnung des Zahnarztes vor einer körperlichen und psychischen Abhängigkeit ernst nehmen sollen. Das Paracodin versetzte ihn zwar nicht in einen euphorischen Zustand, er brauchte es aber als Stimmungsaufheller und zur Steigerung seiner Aufmerksamkeit und seines Charmes. Außerdem verursachte es Stimmungsschwankungen von Euphorie bis Depression und erhöhte seine natürliche Tendenz zu Egozentrik, schwülstiger Rede, extravaganter Kleidung und aufsehenerregendem Auftreten. Göring bewahrte die Tabletten in seinem Haus in alten venezianischen Glasschalen auf, an denen er sich bedienen konnte, wann immer ihn das Verlangen packte.
Der ehemalige Reichsmarschall erzählte Kelley, er habe Paracodin bis 1940 relativ niedrigdosiert zu sich genommen, dann sei der Druck durch den Krieg gewachsen, und die Einnahme habe sich auf zuletzt bis zu 160 Tabletten täglich gesteigert. Im Verlauf des Krieges habe er diese bedenkliche Menge wieder reduziert, doch die Dosis sei abermals gestiegen, als sich Deutschlands Niederlage abzeichnete. „Bei seiner Ergreifung habe er täglich etwa 100 Tabletten eingenommen“, notierte Kelley in den Unterlagen – das war etwa dreimal so viel wie die empfohlene Tageshöchstdosis.55 Kelley glaubte allerdings, auch bei dieser Menge handele es sich um „keine außergewöhnlich starke Dosis. Sie genügte jedenfalls nicht, um seine geistigen Fähigkeiten zu irgendeiner Zeit herabzusetzen“.56
Kelley appellierte an Göring, der sehr stolz war auf seine Konstitution und Manneskraft, und überredete ihn, den Entzugsprozess zu beschleunigen. Bald wurde ihm klar, wie leicht es war, dem Gefangenen zu suggerieren, er sei stärker als andere Männer und könne sich seiner Sucht deshalb schneller entledigen. Göring reagierte mit Enthusiasmus auf Kelleys Schmeicheleien und schwieg über seine Beinschmerzen und andere Entzugserscheinungen, wenn man ihn nicht direkt danach fragte. Kelley verringerte Görings Paracodindosis Schritt für Schritt, bis Göring am 12. August von der Abhängigkeit befreit war.
Der Arzt lernte, Göring zu manipulieren. Was er dabei übersah, war der Einfluss, den Göring wiederum auf sein Denken hatte. Indem er Kelley die Schwere seiner Entzugserscheinungen vorenthielt, ließ Göring den Psychiater im Glauben, es handele sich, wenn überhaupt, um eine leichte Abhängigkeit. Kelley hielt sie schließlich für nichts als eine „Gewohnheit“.57 Ursache dafür sei Görings „Bedürfnis, mit seinen Händen und mit dem Mund etwas zu tun, eine Handlung zu verrichten, an die er gewohnt war und die er liebte“, schreibt Kelley. „Genau wie Raucher darauf achten, dass sie jeden Morgen einen Vorrat an Zigaretten und Tabak auf ihrem Schreibtish vorfinden, stellte Goering eine Flasche mit hundert kleinen Pillen auf sein Pult. Im Verlauf von Konferenzen oder Besprechungen nahm er die Flasche, öffnete sie, ließ einige Tabletten in seine Hand fallen, steckte sie in den Mund und kaute sie gemächlich während der Unterhaltung.“ Abschließend urteilte Kelley: „Ich kann bezeugen, dass seine Sucht nicht sehr stark war.“58
Anderen Personen gegenüber hatte sich Göring in Bad Mondorf ganz anders geäußert. Kommandant Andrus hatte Göring während der Entziehungskur von starken Kopfschmerzen und Schlafstörungen erzählt und die ursprüngliche Paracodindosis verlangt. Unberührt hatte Andrus geschrieben, dass „er gejammert und geklagt hatte wie ein verwöhntes Kind beim Abstillen“.59
Göring hatte eine lange Geschichte der Opiatabhängigkeit hinter sich, und seine vielfachen Versuche, seine Paracodineinnahme zu reduzieren, waren besonders während der stressreichen Kriegsjahre erfolglos gewesen. In diesem Licht erscheint Kelleys Einschätzung von Görings Drogensucht als leichte Abhängigkeit äußerst unrealistisch. Es waren nicht Beinschmerzen gewesen, die Göring in den 30er- und 40er-Jahren zur Einnahme von Zehntausenden von Paracodintabletten gebracht hatten, sondern wachsende Angst. Heute wird Paracodin von der Drogenvollzugsbehörde der USA als eine Droge der Klasse II eingestuft, deren Konsum zur Abhängigkeit führen kann und deshalb gesetzlich eingeschränkt ist. Paracodin gehört zu den Lieblingsdrogen von William Lee, dem Junkie aus William Burroughs Naked Lunch.
Göring spielte mit Kelleys Stolz als Mediziner, indem er sich den Anweisungen des Arztes beugte. Kelley war äußerst zufrieden mit dem Verlauf des Entzugs, aber es blieb unklar, wer hier eigentlich wen angeführt hatte. In den ersten Wochen ihrer Bekanntschaft hatte Kelley noch nicht begriffen, was es auch für ihn bedeutete, dass Göring in der Vergangenheit meisterhaft getäuscht, manipuliert und einen scharfen Blick für die Motive der ihn umgebenden Personen bewiesen hatte. Diese Fähigkeiten hatte er während Hitlers Aufstieg in Deutschland perfektioniert. Göring war nicht irgendein Drogenabhängiger.
Während der Entziehungskur nahm Göring auch Kelleys Hilfe bei der Gewichtsabnahme an. Während des Diätprogramms verlor Göring in fünf Monaten 30 Kilo. Kelleys eigentliches Motiv war eine Entlastung des Herzens seines Patienten; Göring gegenüber gab er aber einen anderen Grund an: Der einstige Reichsmarschall würde einfach besser aussehen. „Göring gefiel der Gedanke, wieder zu dem Fliegerhelden des Ersten Weltkriegs zu werden“, beobachtete Dolibois, „der hochdekorierte Pilot des Richthofengeschwaders“.60 Göring erklärte sich mit Kelleys Diätprogramm einverstanden und aß weniger. Dann verlangte er Änderungen an seiner Häftlingskleidung und seiner Uniform. Seine Hosen mussten um 15 Zentimeter verengt werden. „Dies wurde ihm bewilligt“, gab Kelley zu. „Jedoch nicht aus dem Grunde, weil wir ein Interesse an Görings Aussehen hatten, sondern weil ihm sonst die Hosen hinuntergefallen wären.“61
Görings verbesserter Gesundheitszustand führte auch dazu, dass er sich dem Gefängnispersonal gegenüber weniger feindselig zeigte und sich sein allgemeiner Gemütszustand verbesserte. Aber er blieb angespannt und beschuldigte die Gefängniswachen verschiedentlich der Planung eines Attentats auf ihn. Göring war nicht gern allein, und eines Nachts löste ein kräftiger, über das Gefängnis dahinziehender Sturm, den Göring allein in seiner Zelle erlebte, einen Anfall aus, der zunächst einen Herzinfarkt vermuten ließ. Ein Arzt diagnostizierte dann aber nur Herzrasen.62