Der Notarzt 367 - Karin Graf - E-Book

Der Notarzt 367 E-Book

Karin Graf

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Beschreibung

Seit sieben Jahren schon trägt Lola an einer schweren Trauer. Damals ist etwas Furchtbares geschehen: Sie wurde von ihren erzkonservativen Eltern dazu gezwungen, ihre neugeborene Tochter abzugeben. Nicht einmal kurz im Arm halten durfte sie das Baby. Seitdem hat sie den Boden unter den Füßen verloren. Der Kontakt zu ihren Eltern ist abgebrochen, Lola hat weder Freunde noch eine Arbeit. Einzig die Psychologin Lea König weiß vom Schicksal der jungen Frau. Einmal im Jahr, am Geburtstag ihrer Tochter, sucht Lola spät abends die Praxisräume der Psychologin auf. Dann hat sie immer ein selbst gebasteltes Geschenk für ihr Kind dabei. Geschenke, die Lea König in einer Kiste sammelt, um sie eines Tages an Lolas Tochter weitergeben zu können. Aber wird dieser Tag jemals kommen? Lola hat sich längst damit abgefunden, dass sie ihr Kind niemals wieder zu Gesicht bekommen wird. Im Grunde ist es ihr auch lieber so, die Kleine soll gar nicht sehen, was für eine Versagerin ihre Mama ist. Das sieht Lea König allerdings ganz anders. Die engagierte Psychologin ist fest entschlossen, Mutter und Kind wieder zusammenzubringen ...

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Seitenzahl: 127

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhalt

Cover

Impressum

Mein geraubtes Leben

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Dragana Gordic / shutterstock

eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 9-783-7325-9775-8

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Mein geraubtes Leben

Mit Mitte zwanzig hat Lola das Gefühl, schon alles verpasst zu haben

Von Karin Graf

Seit sieben Jahren schon trägt Lola an einer schweren Trauer. Damals ist etwas Furchtbares geschehen: Sie wurde von ihren erzkonservativen Eltern dazu gezwungen, ihre neugeborene Tochter abzugeben. Nicht einmal kurz im Arm halten durfte sie das Baby. Seitdem hat sie den Boden unter den Füßen verloren. Der Kontakt zu ihren Eltern ist abgebrochen, Lola hat weder Freunde noch eine Arbeit. Einzig die Psychologin Lea König weiß vom Schicksal der jungen Frau. Einmal im Jahr, am Geburtstag ihrer Tochter, sucht Lola spät abends die Praxisräume der Psychologin auf. Dann hat sie immer ein selbst gebasteltes Geschenk für ihr Kind dabei. Geschenke, die Lea König in einer Kiste sammelt, um sie eines Tages an Lolas Tochter weitergeben zu können. Aber wird dieser Tag jemals kommen? Lola hat sich längst damit abgefunden, dass sie ihr Kind niemals wieder zu Gesicht bekommen wird. Im Grunde ist es ihr auch lieber so, die Kleine soll gar nicht sehen, was für eine Versagerin ihre Mama ist. Das sieht Lea König allerdings ganz anders. Die engagierte Psychologin ist fest entschlossen, Mutter und Kind wieder zusammenzubringen …

„Kann ich die bitte haben, Peter?“

Marius Ammon, der siebenundzwanzigjährige Assistenzarzt, der erst seit drei Monaten Dr. Peter Kerstens Team in der Notaufnahme der Frankfurter Sauerbruch-Klinik angehörte, schleppte den prall gefüllten Müllsack hinter sich her, den Oberschwester Nora vor dem Medikamentenraum stehen gelassen hatte.

Darin befanden sich abgelaufene Medikamente, Verbandszeug, dessen Verpackung beschädigt war, Salben, Desinfektionsmittel – kurz: alles, was bei der jährlichen Inventur als nicht mehr hundertprozentig perfekt durchgefallen war.

Peter Kersten, der Leiter der Notaufnahme, hob den Kopf, lehnte sich auf seinem Bürosessel zurück, verschränkte die Hände hinter seinem Nacken, streckte sich und gähnte herzhaft.

Seit etwa einer halben Stunde quälte er sich durch die ellenlange Liste, die Nora Lechner verfasst hatte, kontrollierte die Zahlen der Bestände im Medikamentenraum und bestellte, wovon zu wenig oder gar nichts mehr vorhanden war. Das war eine Arbeit, die er hasste, deshalb war er für jede Unterbrechung dankbar.

„Wofür brauchst du das Zeug, Marius?“, fragte er kopfschüttelnd. „Es ist doch alles abgelaufen oder steht zumindest kurz davor.“

„Ich weiß, Peter.“ Der attraktive junge Mediziner, der dem Notarzt vom ersten Moment an sehr sympathisch gewesen war, ihm jedoch seit einiger Zeit immer größere Rätsel aufgab, nickte lächelnd. „Aber die Sachen sind deswegen doch nicht über Nacht schlecht, unbrauchbar oder unwirksam geworden.“

„Das natürlich nicht. Aber dennoch dürfen sie nicht mehr verwendet werden.“

„Ja, klar!“ Marius Ammon lachte trocken auf. „Für die Wohlstandsbürger nicht, die einen Rundumversicherungsschutz genießen und die sich keine Gedanken darüber machen müssen, woher ihre Medikamente kommen und wie viel sie kosten. Es gibt jedoch auch Menschen, die lieber abgelaufenes Zeug schlucken, als zu leiden oder gar zu sterben.“

„Ja, die gibt es. Und es werden immer mehr“, musste Peter zugeben. „Und? Willst du die Sachen an jene zum halben Preis verhökern, um dir nebenher ein bisschen was dazuzuverdienen?“

Kaum hatte er diese Frage ausgesprochen, tat es Peter auch schon leid, überhaupt an diese Möglichkeit gedacht zu haben.

Der junge Mediziner, der von so manchem Kollegen hinter vorgehaltener Hand auch der heilige Marius genannt wurde, schaute ihn so erschrocken an, dass Peter das Gewissen zu plagen begann.

„Vergiss es, ist schon gut“, erwiderte der Assistenzarzt mit heiserer Stimme, und Peter konnte deutlich sehen, dass ihm die Augen feucht geworden waren. „War eine blöde Frage. Es tut mir leid. Ich dachte nur, ehe die Sachen weggeworfen werden, könnte man sie …“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, ist doch egal!“

„Herrgott!“ Peter seufzte tief. „Nimm das Zeug, und vergiss, was ich gesagt habe, Marius. Das war nur dummes Gerede. Wie alle anderen, schalte auch ich nicht immer erst das Gehirn ein, ehe ich was sage. Und schlechte Laune habe ich auch, weil mir dieser Bestellkram auf den Keks geht. Okay?“

„Schon gut.“ Marius nickte, wirkte aber nicht unbedingt überzeugt.

„Hör mal, ganz ehrlich, du bist definitiv der Letzte, dem ich zutrauen würde, dass er sich mit den Sachen bereichern will. Also: Ja, das ganze Zeug gehört dir, und ich werde nicht fragen, wofür du es brauchst, weil ich dir vertraue. In Ordnung?“

„Danke!“ Ein Lächeln erhellte das eben noch betrübte Gesicht des jungen Mannes. Er hob den Sack hoch und warf ihn sich über die Schulter. „Ich stelle ihn lieber in meinen Garderobenschrank, ehe er doch noch zur Entsorgung abgeholt wird. Wäre wirklich schade drum.“

„Ja, mach das.“ Peter nickte. Er überlegte kurz, ob er nicht weiter versuchen sollte, herauszubekommen, wofür Marius Ammon die Medikamente brauchte, ließ es dann jedoch bleiben. Der junge Kollege war, was sein Privatleben anbelangte, verschlossener als eine Auster.

Peter würde wohl endlich in die Tat umsetzen müssen, was er sich schon so lange vornahm: Detektiv spielen, Marius nachspionieren und herausfinden, warum er sein Leben außerhalb der Sauerbruch-Klinik wie ein Staatsgeheimnis hütete.

Dass er ihm vertraute, war keine Lüge gewesen. Er wollte einfach nur wissen, ob er dem jungen Kollegen, der auf ihn den Eindruck machte, als würde er sich selbst für irgendetwas bestrafen, irgendwie helfen konnte.

Als Marius Ammon vor drei Monaten ohne Voranmeldung in die Notaufnahme geschneit war, hatte er sich keine Chancen auf eine Anstellung ausgerechnet.

Ich will nur nichts unversucht lassen“, hatte er gesagt und Peter ganz offen gestanden, dass er bereits sämtliche Kliniken des ganzen Landes angeschrieben und überall eine negative Antwort erhalten hatte.

Der Vollständigkeit halber versuche ich es abschließend noch in den Kliniken, die ich vorher aussortiert habe, weil ich sicher war, dort ganz bestimmt nicht unterkommen zu können, weil sie dafür bekannt sind, dass sie nur die Besten der Besten aufnehmen.

Anstatt ihn sofort wieder wegzuschicken, wie es offensichtlich alle anderen getan hatten, hatte Peter sich die Zeit genommen, seine Bewerbungsunterlagen genau zu studieren. Dabei hatte er festgestellt, dass Marius das Medizinstudium auf der Uni in Heidelberg in der kürzest möglichen Zeit und mit den besten Abschlussnoten durchgezogen hatte.

Ein Anruf in Heidelberg hatte nur Positives ergeben. Man konnte sich dort noch gut an den Studenten erinnern, der sehr bescheiden, unheimlich eifrig, hoch talentiert, aber leider ein bisschen depressiv war und irgendein dunkles Geheimnis mit sich herumzuschleppen schien.

Hätte er mit demselben Eifer weitergemacht wie von Anfang an, wäre Marius heute vermutlich einer der jüngsten fertig ausgebildeten Fachärzte des Landes gewesen, denn er hatte seine Approbation mit noch nicht einmal dreiundzwanzig erhalten. Danach war er jedoch bis zu seinem Auftauchen in der Sauerbruch-Klinik völlig von der Bildfläche verschwunden.

Vier Jahre, vier verlorene Jahre, für die er keine Belege, keine Beurteilungen und keinerlei Leistungsnachweise hatte und die er in seinem Lebenslauf nur mit dem knappen Hinweis Erfahrungen gesammelt erwähnte.

Doch die Erklärungen, die Marius für die verlorene Zeit – leise murmelnd und mit tief gesenktem Kopf – abgegeben hatte, hatten Peters Interesse geweckt. Er hatte ziemlich viel Geld vertelefoniert, um den Lebensweg, von dem Marius ihm nach mehrmaligem drängenden Nachhaken erzählt hatte, nachzuverfolgen und bestätigt zu bekommen.

Ein Jahr in einem Kinderlazarett in Afghanistan – dort schwärmte man heute noch von ihm.

Ein Jahr in einem Missionskrankenhaus in Ruanda. Dort würde man weiß Gott was dafür geben, ihn wiederzubekommen. Und zwei Jahre in einer Klinik im Sudan, am Rande der Sahara. Dort hatte er laut Angaben des Leiters der primitiven Baracke Hunderte, wenn nicht gar Tausende Leben gerettet.

Marius hatte diese Krisengebiete nicht für Ärzte ohne Grenzen oder ähnliche Organisationen, sondern auf eigene Faust und ohne jegliche Absicherung und Bezahlung aufgesucht.

Als Peter ihn gefragt hatte, warum er diese freiwilligen Einsätze nicht wenigstens der Ärztekammer gemeldet hatte, um die Zeit für seine Ausbildung angerechnet zu bekommen, hatte er irgendetwas von einer persönlichen Schuld, die er damit abzutragen versucht hätte, gemurmelt. Mehr war darüber nicht aus ihm herauszubekommen gewesen.

Als der Leiter der Notaufnahme sich nach ein paar Probetagen davon überzeugt hatte, dass der junge Mann einem voll ausgebildeten Chirurgen an Erfahrung in nichts nachstand, dass er ein exzellenter Diagnostiker war, dass er ein unglaublich feines Gespür für den korrekten Umgang mit Patienten – vor allem mit Kindern – hatte, hoch belastbar, flexibel und absolut zuverlässig war, hatte er ihn als Assistenzarzt angestellt.

Seither bemühte er sich nach besten Kräften darum, dass Marius zumindest ein Teil der vier Jahre für seine Facharztausbildung angerechnet wurde.

Marius hatte sein Glück zuerst gar nicht fassen können. Er hatte sogar gemeint, er hätte es eigentlich gar nicht verdient, dass jemand sich für ihn einsetzte.

Und obwohl die Dienstzeiten eines Klinikarztes mit zwölf Stunden pro Tag ohnehin schon bis an die menschliche Belastungsgrenze heranreichten, machte er nicht selten auch noch unbezahlte Überstunden und opferte sich regelrecht für die Patienten auf.

Das, und der Umstand, dass er schon öfter dabei erwischt worden war, wie er nach Dienstschluss heimlich nicht versicherte Patienten behandelt und die verbrauchten Medikamente und Materialien aus eigener Tasche bezahlt hatte, hatte ihm den Beinamen der heilige Marius eingebracht.

Wann immer er diesen gutmütigen Spott mitbekam, schien er regelrecht in sich zusammenzufallen.

Wenn ihr wüsstet, was für einer ich in Wahrheit bin!, murmelte er dann manchmal mit tief gesenktem Kopf, weigerte sich jedoch, eine nähere Erklärung dazu abzugeben.

Bislang war es Peter noch nicht gelungen, dahinterzukommen, wofür der junge Kollege sühnte. Dass er genau das tat, stand für ihn außer Zweifel. Denn er arbeitete nicht nur bis zum Umfallen, er schien sich auch außer so lebensnotwendigen Dingen wie Atemluft, Wasser und eine tägliche Handvoll Essen selbst absolut nichts zu gönnen.

Die Sache mit den abgelaufenen Medikamenten war Peter Kersten nun abermals ein Ansporn, endlich hinter Marius‘ Geheimnis zu kommen.

Heute schnüffle ich ihm nach, nahm er sich fest vor. Heute war die Gelegenheit äußerst günstig, denn Marius besaß kein Auto und würde mit dem schweren Sack nur sehr langsam vorankommen. Da müsste sogar ein ungeübter Gelegenheitsdetektiv wie er es schaffen, an ihm dranzubleiben.

Andererseits hatte er seine Lebensgefährtin, die Kinder- und Jugendpsychologin Dr. Lea König, darum gebeten, ihn um sieben abzuholen.

Lea war genauso viel beschäftigt wie er, und sie sahen sich oft wochenlang nur für ein paar Minuten zwischen Tür und Angel. Einer kam, der andere ging. Hallo, Schatz, tschüss, Schatz. So spielte sich ihr Zusammenleben leider nur allzu oft ab.

Für heute hatten sie sich beide vorgenommen, pünktlich Feierabend zu machen, ins Kino zu gehen, danach irgendwo zu Abend zu essen und es sich dann zu Hause gemütlich zu machen. Sollte er wirklich darauf verzichten, nur um seine Neugierde zu befriedigen?

Andererseits ging es ihm ja nicht darum, das Privatleben seines jungen Kollegen auszuspionieren. Er wollte doch lediglich in Erfahrung bringen, warum Marius unter so massiven Schuldgefühlen litt, dass er beinahe das Leben eines Märtyrers führte, der es sich selbst weder gestattete zu lachen noch das Leben in irgendeiner Form zu genießen. Er wollte ihm wirklich helfen.

Peter überlegte eine Weile hin und her. Es war bereits kurz vor sechs, und er musste eine rasche Entscheidung treffen.

Das Telefon auf dem zweiten Schreibtisch im Bereitschaftsraum, den die Assistenzärzte sich miteinander teilten, klingelte. Peter stand auf, nahm den Hörer ab und meldete sich mit seinem Namen.

„Dr. Ammon, bitte!“, verlangte eine verlegen klingende heisere Männerstimme nach längerem Zögern.

„Er ist gerade nicht hier, kann ich ihm was ausrich…“, wollte der Notarzt fragen, doch da riss Marius ihm auch schon atemlos den Hörer aus der Hand.

„Das ist für mich, danke, ich mache das schon!“, keuchte er und klang dabei wie ein auf frischer Tat ertappter Schuljunge. Nachdem er kurz zugehört hatte, schirmte er seinen Mund mit einer Hand ab. „Ja, heute um halb acht bei mir“, raunte er in den Hörer. „Sagen Sie es bitte weiter.“

Als er das merkwürdige Gespräch beendet hatte und Peters misstrauischen Blick sah, stieß Marius ein verhuschtes Lachen aus.

„Ein Freund von mir“, behauptete er, und die Röte schoss ihm ins Gesicht.

„Ach, und du bist mit deinen Freunden per Sie?“

„Ähm … nicht direkt … ha, ha, ähm … ja, also …“ Marius suchte fast panisch nach einer weiteren Lüge. „Das … das ist nur so ein … ein Running Gag zwischen uns.“

„Ach so.“ Peter sparte sich jede weitere Frage. Er würde ja doch keine Antwort darauf bekommen. Zumindest keine ehrliche. Doch seine Entscheidung war damit getroffen. Schweren Herzens zog er sein Telefon zu sich heran, um den gemeinsamen Abend mit Lea abzusagen.

Sie würde enttäuscht sein, dass der geplante gemeinsame Abend wieder einmal ins Wasser fiel. Doch er zweifelte keine Sekunde lang daran, dass Lea Verständnis haben würde, wenn sie den Grund dafür erfuhr.

***

Wenige Gehminuten von der Sauerbruch-Klinik entfernt, in der psychologischen Praxis von Peter Kerstens Lebensgefährtin, stürmte der sechsjährige Tobias Klein aus dem Therapiezimmer.

„Das hat heute wieder ur-viel Spaß gemacht, Mama!“, brüllte er überschwänglich und fiel seiner wartenden Mutter um den Hals. „Die Lea ist eine voll coole Tante, und ich freue mich schon auf das nächste Mal!“

Die Kinder- und Jugendpsychologin konnte beobachten, wie Frau Klein zuerst dazu ansetzte, ihren Sohn freudestrahlend in Empfang zu nehmen, wie sich ihr Blick nach einer Sekunde verdüsterte und schließlich das, was man ihr jahrelang eingetrichtert hatte, gegen ihren natürlichen Mutterinstinkt in den Krieg zog.

Das liebevolle Lächeln fiel ihr aus dem Gesicht, die ausgebreiteten Arme sanken nach unten, sie schob ihren ungestümen Sohn mit sanfter Gewalt von sich, setzte eine strenge Miene auf und sagte den Text auf, von dem sie glaubte, dass man diesen von einer pädagogisch einwandfreien Mutter erwartete.

Dabei konnte Lea beobachten, dass ihr jedes einzelne Wort selbst wehtat und wie sehr es ihr widerstrebte, zu sagen, was sie glaubte, sagen zu müssen.

„Es heißt Frau Dr. König, Tobias! Und jetzt gibst du ihr die Hand und sagst danke! Danke, Frau Dr. König. Du musst endlich einmal lernen, Respekt zu zeigen. Wie oft muss ich dir das denn noch sagen?“

In nur wenigen Sekunden zerstörte die Frau damit, was Lea in der heutigen Stunde und in den drei Stunden davor mühsam aufgebaut hatte. Das Vertrauensverhältnis, die positive Stimmung und das freundschaftliche Miteinander, die es Tobias erlaubten, sich seinen ganzen Kummer von der Seele zu reden.

Sie konnte förmlich sehen, wie die Begeisterung und die Freude, mit denen er sich auf ihre Strategien eingelassen hatte, sich in bittere Enttäuschung zu verwandeln begannen. Der Eifer, mit dem er sich vorgenommen hatte, die Übungen ihr zuliebe zu Hause und in der Schule zu praktizieren, schien langsam der Überzeugung zu weichen, dass man es auch hier nicht ehrlich mit ihm meinte und es besser war, die Klappe zu halten und zu allem bloß zu nicken.

Lea seufzte fast unhörbar. Der quirlige und kluge Junge war von seiner Lehrerin an sie verwiesen worden. Man hatte ihm ein Schreiben mitgegeben, auf dem seine Mängel aufgelistet worden waren. Diese Liste kam Lea ungefähr so vor wie die Abrechnung, die sie immer nach der jährlichen Inspektion ihres Autos bekam.

Soziales Verhalten: mangelhaft. Aufmerksamkeit: unterdurchschnittlich. Lernbereitschaft: kaum vorhanden. Respekt gegenüber Erwachsenen: bedenklich. Konzentrationsvermögen: unterentwickelt. Intelligenz: fraglich. Und so weiter.