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Eigentlich hat Dr. Peter Kersten nicht die geringste Lust auf eine Woche Urlaub. In der Frankfurter Sauerbruch-Klinik gibt es schließlich genug zu tun. Aber sein Vorgesetzter Prof. Weidner hat ihn zu dieser Auszeit "verdonnert", weil er ihn für dringend urlaubsreif hält.
Zusammen mit seiner Lebensgefährtin, der Kinder- und Jugendpsychologin Lea König, reist der Notarzt daher in die Berge, um dort ein wenig zu entspannen. Doch von Erholung kann keine Rede sein, denn bei einer Wanderung dringen plötzlich verzweifelte Hilferufe an sein Ohr. Und - es ist eine Kinderstimme, die da in heller Panik mitten im Wald schreit! Überstürzt folgt Peter den Rufen.
Als er sein Ziel keuchend erreicht, blickt er auf drei verlassene Kinder, die am Fuße eines Baumes hocken. Schnell wird Dr. Kersten klar, dass sich hier in den vergangenen Minuten ein Drama abgespielt haben muss. Und das Schlimmste ist: Dieses Drama ist noch lange nicht vorbei, denn eines der Kinder schwebt in größter Lebensgefahr ...
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Seitenzahl: 113
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Ausgesetzt im Nirgendwo
Vorschau
Impressum
Ausgesetzt im Nirgendwo
Im Urlaub trifft der Notarzt auf verzweifelte Kinder in Not
Karin Graf
Eigentlich hat Dr. Peter Kersten nicht die geringste Lust auf eine Woche Urlaub. In der Frankfurter Sauerbruch-Klinik gibt es schließlich genug zu tun. Aber sein Vorgesetzter Prof. Weidner hat ihn zu dieser Auszeit »verdonnert«, weil er ihn für dringend urlaubsreif hält.
Zusammen mit seiner Lebensgefährtin, der Kinder- und Jugendpsychologin Lea König, reist der Notarzt daher in die Berge, um dort ein wenig zu entspannen. Doch von Erholung kann keine Rede sein, denn bei einer Wanderung dringen plötzlich verzweifelte Hilferufe an sein Ohr. Und – es ist eine Kinderstimme, die da in heller Panik mitten im Wald schreit! Überstürzt folgt Peter den Rufen.
Als er sein Ziel keuchend erreicht, blickt er auf drei verlassene Kinder, die am Fuße eines Baumes hocken. Schnell wird Dr. Kersten klar, dass sich hier in den vergangenen Minuten ein Drama abgespielt haben muss. Und das Schlimmste ist: Dieses Drama ist noch lange nicht vorbei, denn eines der Kinder schwebt in größter Lebensgefahr ...
Dass er einen Fehler gemacht hatte, war Stefan Junker, dem neunundzwanzigjährigen Dorfpolizisten von Lilienbach im schönen Berchtesgadener Land, bereits in dem Moment klar gewesen, als er das Haus verlassen hatte.
Es war Freitagabend, und er hatte an diesem Wochenende Nachtbereitschaft in der Wache am Rathausplatz.
Stefan hatte in München eine rasche Karriere hingelegt, es bis zum Polizeihauptmeister gebracht und sich vor etwas mehr als einem Jahr in sein Heimatdorf versetzen lassen, als die Stelle des Polizeichefs dort frei geworden war.
Polizeimeister Ralf Burger, sein einziger Mitarbeiter, war mit seinen achtunddreißig Jahren fast zehn Jahre älter als er. Probleme oder Konkurrenzneid gab es deswegen jedoch nicht, denn Stefan dachte nicht im Traum daran, den Vorgesetzten heraushängen zu lassen.
Außerdem ging es in dem malerischen Örtchen Lilienbach so friedlich zu, dass es sowieso keine Möglichkeit gab, sich wegen etwaiger Meinungsverschiedenheiten in die Wolle zu kriegen. Warum auch immer, das Böse schien einen großen Bogen um Lilienbach herum zu machen. Vielleicht behagten ihm die Ruhe und der Frieden nicht, in dem die Menschen hier miteinander lebten.
Vielleicht war es auch der Umstand, dass jeder Fremde, der ein bisschen zu langsam durch die Gemeinde fuhr oder gar hier anhielt und ausstieg, genau beobachtet und ausgefragt wurde. Gar nicht so sehr aus Misstrauen, sondern vielmehr aus Interesse und Neugierde. Die wenigen Fremden, die sich hierher verirrten, nutzte man dazu, um etwas mehr von der großen weiten Welt zu erfahren.
Die Überschreitung der Geschwindigkeitsbeschränkung zählte zu den aufsehenerregendsten Verbrechen, die hier begangen wurden. Manchmal wurden Stefan oder Ralf auch darum gebeten, einen Trunkenbold vom Wirtshaus nach Hause zu eskortieren. Manchmal glaubte ein Tourist, er könne nur so zum Vergnügen und ohne Genehmigung ein paar Forellen aus dem Wildbach angeln. Und manchmal mussten sie Streitigkeiten zwischen Nachbarn schlichten.
Verhaften hatten Stefan und Ralf hier noch nie jemanden müssen. Ladendiebstähle, die fallweise vorkamen – meistens waren es halbwüchsige Bengels, die in Frau Grundböcks Tante-Emma-Laden etwas sahen, das sie unbedingt haben wollten, wie beispielsweise Fußballkarten, Zigaretten zum Ausprobieren oder Süßigkeiten –, regelten Ralf und er auf ihre Weise.
Meistens reichten bei den Kids schon alleine der Schreck und die Scham, erwischt worden zu sein, um den rechten Weg nie wieder zu verlassen. Manchmal mussten sie ihnen ein bisschen Angst mit dem Gefängnis machen. Bei größeren Jungs waren mitunter zusätzlich eine Kopfnuss und der Hinweis, dass man sie überwachen würde, notwendig.
Doch in den meisten Fällen brauchten sie nicht einmal den betreffenden Eltern das Herz mit den kleinen Vergehen ihrer Gören schwer zu machen.
Frau Grundböck war mit dieser Vorgehensweise voll und ganz einverstanden. Sie hatte ja selbst sechs Kinder großgezogen und wusste darüber Bescheid, dass die gerne mal ihre Grenzen ausloteten. Sie wusste auch, dass Kinder, die sich einmal die Finger verbrannt hatten, in der Regel nie mehr wieder ins Feuer fassten.
Im Gegensatz zu seinen zehn Jahren in München, genoss Stefan Junker sein Dasein als Polizist hier in Lilienbach. Hier konnte man abends ruhig noch vergessen, die Haustür abzuschließen, ohne morgens in einem leeren Haus aufzuwachen.
Hier kannte noch jeder jeden, hier halfen die Leute einander gegenseitig, wenn es nötig war, hier donnerten keine U-Bahnen unter den Häusern durch, es quietschten keine Straßenbahnen um die Kurven, und es raubten einem weder Straßenverkehr noch dröhnende Rockmusik den Schlaf.
Das lauteste Geräusch nach Einsetzen der Dunkelheit war hier der Moment, wenn sich Fuchs und Hase am nahen Waldrand Gute Nacht sagten.
Die am häufigsten gebrauchten Utensilien in der Wachstube am Lilienbacher Rathausplatz waren nicht Handschellen, Schießeisen und Gummiknüppel, sondern Schnapskarten, Kaffeemaschine und die rund fünfhundert Taschenbücher, die sich dort im Laufe der Jahrzehnte in den Aktenschränken angesammelt hatten.
Ein, zwei Einsätze pro Woche waren die Norm. Im Sommer, wenn Lilienbach von sagenhaften zehn bis zwanzig Touristen gestürmt wurde, waren es mitunter ein paar mehr.
Da es hier außer einem Wirtshaus, das auch Zimmer vermietete – die Pension Krautwurm, die den Bach im eigenen Garten zu einem kneippschen Wassertret-Pfad ausgebaut hatte und sich deswegen stolz Wellnessoase Krautwurm nannte –, und dem Tante-Emma-Laden, in dem man alles bekam, was die Dorfbewohner so zum Leben brauchten, nicht viel gab, hielt sich die Anzahl der Touristen immer in überschaubaren Grenzen.
Es waren durchweg ältere Leute, die hier Ruhe und Erholung in der berauschend schönen Natur suchten. Die stellten nicht sehr viel mehr an, als mal einen über den Durst zu trinken und dann nicht mehr nach Hause zu finden, unter Naturschutz stehende Blumen zu pflücken, illegal zu angeln oder in Schlappen auf den Berg zu wandern und sich dort den Knöchel zu brechen oder von einer Kreuzotter gebissen zu werden.
Vor vier Monaten hatte Stefan geheiratet. Elsa. Sie hatte Psychologie studiert und war auf der Polizeiwache in München, in der Stefan zuletzt stationiert gewesen war, als Supervisorin tätig gewesen.
Hier in Lilienbach half sie gelegentlich im Tante-Emma-Laden, in der Pension Krautwurm oder im Wirtshaus aus, wenn im Sommer viel Betrieb war. Ansonsten richtete sie das neu gebaute Haus gemütlich ein und zog Unmengen von Gemüse und Obst im eigenen Garten.
Stefan und Elsa hatten die Absicht, so bald wie möglich zwei oder drei Kinder in die Welt zu setzen, und sowohl Elsa als auch Stefan wollten ihre Kinder selbst erziehen, anstatt sie täglich in eine staatliche Einrichtung zu bringen.
Dafür klotzte Stefan tüchtig ran, um die Schulden vom Hausbau schnellstmöglich abzustottern. Er gab in der Fahrschule des nahen Städtchens Herzogberg Fahrstunden, schulte die Fahrschüler in Erster Hilfe und nahm auch die Führerscheinprüfungen ab.
Und genau da kam jetzt der vorhin erwähnte Fehler ins Spiel. Den Zusatzverdienst musste er natürlich extra versteuern. Und da er im Gegensatz zu Elsa eine mathematische Null war, hatte er sie, bevor er heute Abend zum Dienst aufgebrochen war, darum gebeten, sich seiner Steuererklärung anzunehmen.
Dazu musste sie natürlich alle seine diesbezüglichen Unterlagen und seine Kontoauszüge einsehen. Dass sie darin etwas finden würde, was er ihr verschwiegen hatte, daran hatte er leider nicht rechtzeitig gedacht.
Tja, und jetzt hockte er seit ein paar Minuten an seinem Schreibtisch in der Wachstube, wartete auf das Donnerwetter, das unweigerlich über ihn hereinbrechen würde, und hoffte inständig, dass sie ihm verzieh, dass er ihr nicht die ganze Wahrheit über sein Vorleben gesagt hatte.
Er betete darum, dass sie ihn ruhig alles nennen sollte, was ihr gerade in den Sinn kam, dass jedoch das Wort »Scheidung« nicht darunter sein möge.
Er war so nervös, dass er sich die Fingernägel bis tief ins Nagelbett abkaute. Und als dann das Telefon klingelte, erschrak er so heftig, dass er den noch fast vollen Kaffeebecher umstieß und der heiße Kaffee sich über die Tageszeitung ergoss, die er mitgenommen hatte, um im Fall der Langeweile das Kreuzworträtsel darin zu lösen.
»Ja ...? Hallo ...? Liebling ...? Wie schön, dass du mich anrufst. Ich hatte gerade an dich gedacht.«
Sie schwieg ziemlich lange. Dass sie noch in der Leitung war, wusste er nur, weil er sie atmen hörte. Und dann sagte sie es. Sie sagte es ziemlich ruhig.
»Warum hast du mir verschwiegen, dass du ein Kind hast?«
***
In der Notaufnahme der Frankfurter Sauerbruch-Klinik ging es ziemlich ruhig zu. Noch, musste man sagen, denn weder Dr. Peter Kersten, der Leiter der Notaufnahme, noch irgendeiner aus seinem Team gaben sich der Illusion hin, dass das auch so bleiben würde.
Noch saß die arbeitende Bevölkerung, die das beginnende Wochenende mit ein paar Bieren einleiten wollte, in den Kneipen. Mit jenen, die zu tief ins Glas guckten und denen dann auf der Heimfahrt ein Baum oder eine Hausecke vors Auto geriet, war zumeist erst ab Mitternacht zu rechnen.
Die, die es ein bisschen zu eilig hatten, ins Grüne oder ins Blaue zu gelangen, verunglückten üblicherweise außerhalb der Stadt auf den Landstraßen und wurden in den lokalen Krankenhäusern wieder zusammengeflickt.
Peter und sein Team nutzten die Flaute dazu, um sich auf den Ansturm, der in einer Freitagnacht nie ausblieb, vorzubereiten. Sie füllten die Bestände an Verbandszeug und Notfallmedikamenten in den Behandlungsräumen auf, überprüften die lebensrettenden Geräte in den Schockräumen, desinfizierten liegen gebliebene Instrumente und breiteten frische Papierauflagen auf die Untersuchungsliegen.
Zwischendurch trafen sie sich immer mal wieder im Bereitschaftsraum und unterhielten sich bei einem Becher Kaffee über Gott und die Welt.
Peter guckte hin und wieder auf die Uhr. Seine Lebensgefährtin, die Kinder- und Jugendpsychologin Dr. Lea König, hatte ihm versprochen, noch auf einen kurzen Besuch vorbeizuschauen, ehe sie nach Hause fuhr.
Leas Praxis befand sich nur fünf Gehminuten von der Sauerbruch-Klinik entfernt. Sie hatte heute noch eine späte Therapiesitzung eingeschoben, die um Viertel vor acht endete.
Da die beiden sich in den letzten Tagen zumeist nur kurz zwischen Tür und Angel gesehen hatten, weil sie beide beruflich stark eingespannt waren, freute sich der Notarzt auf die Gelegenheit, eine Stunde mit ihr verbringen zu können.
Bestimmt stand sie jetzt gerade bei Luigi oder in einem anderen Restaurant und wartete auf die bestellten Speisen. Sie kam nämlich nie mit leeren Händen in die Notaufnahme, weil sie wusste, dass bei Peter und seinem Team besonders in den Wochenendnächten der Hunger groß und die Zeit zu knapp war, um sich rasch eine Pizza zu bestellen.
Als bereits kurz nach acht Uhr das Funktelefon klingelte, das für Telefonate mit der Notrufzentrale und den Kollegen in den Rettungswagen reserviert war, dachte sich keiner etwas dabei.
»Geh du bitte ran, Elmar«, bat Peter den rothaarigen Assistenzarzt. »Das kann eh nichts Schlimmes sein.«
Peter saß an seinem Schreibtisch und tippte gerade ein paar längst fällige Antworten auf E-Mails, die er von Kollegen erhalten hatte. Deshalb bekam er auch nicht mit, wie sich Dr. Elmar Rösners Gesicht während des Telefongesprächs leichenblass färbte und seine Hände zu zittern begannen.
Der Assistenzarzt sprach leise und schirmte zusätzlich seinen Mund mit einer Hand ab.
Nach wenigen Minuten verabschiedete er sich von Dr. Jochen Vogel, dem Rettungsarzt, der ihn über einen äußerst brisanten Fall informiert hatte, mit einem übertrieben beschwingten »Alles klar, bis gleich also, Kollege!«.
»Und?«, fragte der Notarzt beiläufig.
Elmar zuckte mit den Schultern.
»Wie du sagtest. Kein Weltuntergang.« Dann fasste er sich plötzlich übertrieben erschrocken an die Stirn und stieß einen theatralischen Seufzer aus. »Mensch, ich glaube, ich bekomme Alzheimer! Ich habe total vergessen, dich zu informieren, Peter.«
»Worüber denn informieren?« Der Notarzt hob den Kopf.
»Der Chefarzt hat mich vor ...« Elmar machte eine Pause und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Himmel noch mal, das ist wohl schon gute zwanzig Minuten her. Der Chefarzt wollte dich dringend sprechen. Du sollst in sein Büro kommen.«
»Vor zwanzig Minuten hat er dir das gesagt?« Peter runzelte die Stirn.
»Ja. Tut mir leid. Ich hab's total verschwitzt. Falls er sauer ist, dass es so lange gedauert hat, kannst du ihm ruhig sagen, dass ich vergessen habe, es dir sofort auszurichten.«
»Darauf kannst du Gift nehmen«, erwiderte Peter schmunzelnd. »Hat er gesagt, um was es geht?«
»Nee, aber er hat so geklungen, als ob es dringend wäre. Beeil dich lieber.«
»Okay. Ihr wisst dann ja, wo ich bin, falls irgendetwas los sein sollte.« Peter klappte seinen Laptop zu und eilte aus dem Bereitschaftsraum.
Kaum ertönte draußen auf dem Flur das Geräusch, mit dem der Aufzug sich nach oben bewegte, wurde Elmar hektisch. Er wählte eine Telefonnummer, kaute nervös an seinem Daumennagel, während er wartete, und warf den Hörer dann mit einem entnervten »Verdammt!« wieder auf den Apparat.
Dann wählte er sofort erneut. Diesmal meldete sich Oberschwester Waltraud, die Nachtbereitschaft auf der Kardiologie hatte.
»Wo ist der Chefarzt?«, brüllte Elmar ungewohnt herrisch ins Telefon. »Außer Haus? Verdammt! Ähm ... warten Sie! Wenn Herr Kersten gleich raufkommt, sagen Sie ihm bitte, ich hätte mich geirrt. Es war Direktor Rohrmoser, der ihn dringend in seinem Büro sprechen wollte. Der ist doch bestimmt noch da, oder? Was? Wieso? Keine Zeit für Erklärungen!«
Abermals ließ er den Hörer auf das Telefon fallen, nahm ihn sofort wieder ab und wählte die Nummer des Verwaltungsdirektors, der dafür bekannt war, dass er auch an Freitagen kaum jemals vor Mitternacht sein Büro verließ.
Er riss abwechselnd an seinem Ohrläppchen und an seinen feuerroten Locken, während er wartete und ungeduldig die einzelnen Klingeltöne mitzählte.
»Vier, fünf, bitte! Mach schon! Sieben, acht, geh ran! Endlich! Ich bin's, Elmar Rösner aus der Notaufnahme! Was? Nein! Nein, ich will kein Geld von Ihnen. Bitte, Sie müssen mir zuhören, es ist wichtig!«
Die restliche Belegschaft der Notaufnahme stand seit ein paar Minuten im Halbkreis um Elmar herum und wunderte sich über dessen sonderbares Benehmen. Jetzt erfuhren sie endlich, was in ihren Kollegen gefahren war, und sie waren mindestens so entsetzt wie er.