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Was gibt dem Leben Sinn? Wie findet man Halt in Zeiten der Unsicherheit? Said Nursi, einer der bedeutendsten islamischen Denker des 20. Jahrhunderts, liefert zeitlose Antworten auf die großen Fragen des Daseins. Dieses Buch beleuchtet seine wegweisenden Gedanken über Glauben, Schicksal, Geduld und Glück. Themen, die Herz und Verstand gleichermaßen berühren. Erfahren Sie, wie Nursis Weisheiten Brücken zwischen Religion und Vernunft bauen, wie sie Hoffnung spenden und den Weg zu einem erfüllten Leben aufzeigen. Eine Einladung, den Glauben neu zu entdecken und Kraft für den Alltag zu schöpfen.
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Seitenzahl: 290
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Vorwort
Wendepunkte im Leben Said Nursis
Gotteserkenntnis in der Risale-i Nur
Glaubt man aus Leichtigkeit und Bequemlichkeit anGott?
Glauben oder Nicht-Glauben? Das ist hier die Frage
Die Reise des Menschen
Die Dreifache Dimension des Lebens
Seelsorge und Psychotherapie
Krankheitsverständnis
Drei Arten von Geduld
Glück und Unglück bei Said Nursi und Imam Ghazali
Krankheiten der Gesellschaft und ihre Heilmittel
Theodizeeproblem bei Said Nursi
Schicksal und freier Wille
Rolle der Senioren im Islam
Liebe als Ursache der Existenz
Sufismus bei Said Nursi
Die fünf Gebetszeiten und ihre Bedeutung
Weisheiten des Fastens
Verschwendung, Nachhaltigkeit und Umweltschutz
Tierschutz und Tierliebe
Musikverständnis im Islam
Risale-i Nur als Tafsir
Die Bedeutung der Sunna
Die Miradsch-Nacht
Betrachtungsweise der Prophetengeschichten
Die Rechtsschulen des Islams
Sein Verständnis von Dschihad
Haltung zur Republik, Demokratie und Säkularismus
Positives Handeln
Kultur des Miteinanders
Anti-Rassismus bei Said Nursi – eine Vision deruniversellen Brüderlichkeit
Religionspädagogik
Chronologie des Lebens von Said Nursi
Das Gesamtwerk Risale-i Nur im Überblick
Literatur
Der islamische Gelehrte Said Nursi (1876–1960) gehört zu den faszinierendsten Denkern der Moderne. Seine Ideen zu Religion, Wissenschaft, Politik, Freiheit, Gesellschaft und interreligiösem Dialog sprengen kulturelle und sprachliche Grenzen. Sie sind zu wertvoll, um nur in der ursprünglichen türkischen Sprache und innerhalb der türkischen Community verhaftet zu bleiben. Denn Nursi entwirft ein Menschenbild, das in seiner Tiefe und Wärme berührt: Es ist ein Bild voller Hoffnung und Glauben, durchdrungen von Vertrauen, Toleranz, Liebe, Aufrichtigkeit und dem festen Willen zum Dialog.
Gerade in einer Welt, die unter der Last von Kriegen, Krisen, Spaltung und Misstrauen leidet, brauchen wir solche Stimmen. Nursi bietet keine Parolen – er bietet Heilmittel. Seine Schriften, die unter dem Namen Risale-i Nur (“Sendschreiben des Lichts“) bekannt sind, bilden eine geistige Apotheke für die kranke Seele unserer Zeit. Wer sich auf diese Werke einlässt, findet keine fertigen Antworten, sondern Wege – Wege aus Dunkelheit, Hass und Orientierungslosigkeit.
Doch bevor wir uns der Wirkung seiner Ideen widmen, sollten wir den Menschen Nursi besser verstehen. Oder besser gesagt: Wir sollten zunächst verstehen, wer er nicht war.
Said Nursi war kein gewöhnlicher Moscheeimam – das schmälert nicht deren Bedeutung, zeigt aber, dass er andere Wege ging. Er war kein Philosoph im klassischen Sinne, kein Nationalist, kein Clanchef. Er war kein politischer Rebell. Nursi war weder ein Reformtheologe westlicher Prägung noch ein Politiker. Er war anders. Und gerade dieses “Anderssein“ macht ihn so interessant.
Wer war er also?
In Bitlis war er ein junger, mutiger Rebell gegen die Enge des Denkens. In Istanbul ein Verfechter von Freiheit und Unabhängigkeit. Während des Ersten Weltkriegs kämpfte er als Held an vorderster Front. In Barla, wohin er verbannt wurde, entwickelte er sich zu einem Denker von europäischem Format, der moderne Fragen mit spiritueller Tiefe durchdrang. Er war ein Gelehrter, der Folter überstand, Demütigungen ertrug und dennoch nie aufhörte, an das Gute im Menschen zu glauben. In den letzten Jahren seines Lebens trat er als Verteidiger der Demokratie auf – mit klarer Stimme und ungebrochener Überzeugung.
Said Nursi war vieles – aber vor allem war er ein Verbreiter des Lichts. Und wer ihm zuhört, kann selbst Licht finden. Diese Arbeit möchte einige seiner Ideen näher beleuchten. Nicht, um ihn in Stein zu meißeln, sondern um ihn sprechen zu lassen. Für unsere Zeit. Für uns.
Wenn wir uns Said Nursis Leben anschauen, dann gibt es einige Wendepunkte in seinem Leben. Diese Wendepunkte führten letztendlich zum Schreiben der Risale-i Nur Werke.
Mit 14 Jahren hatte Said Nursi einen Traum, der ein wichtiger Wendepunkt in seinem Leben ist. Im Traum sah er, wie die Welt untergegangen war. In dieser Situation wollte er unbedingt den Propheten Muhammed besuchen. Er dachte sich, dass der Prophet bestimmt die Sıratbrücke (die Brücke im Jenseits) durchqueren würde. So entschied er sich, vor dieser Brücke auf ihn zu warten. Nursi bemerkte, dass alle Propheten nach und nach begannen, die Brücke zu überqueren. Er küsste jedem einzeln die Hand. Zum Schluss kam der Prophet Muhammed. Nursi warf sich dem Propheten vor die Knie und bat ihn: „Oh Gottes Gesandter, ich will Wissen von Ihnen.“ Der Prophet antwortete: „Wenn du meiner Religionsgemeinschaft (meiner Umma) keine Fragen stellst, so bekommst du das Wissen des Korans.“ Voller Freude stand Nursi auf (2001a, S.30). Dieser Traum ist Ausschlaggebend für den Wissensdurst Said Nursis.
Ein anderer Wendepunkt: Im Jahre 1906 las er in der Zeitung, dass der britische Premierminister William Ewart Gladstone über den Koran folgendes gesagt hatte: „Wir können die Muslime, solange sie diesen Koran haben, nicht beherrschen. Entweder müssen wir diesen vernichten oder sie von ihm abbringen“. Als er dies las, verlautete Nursi wiederum in den Zeitungen, „Ich werde der Welt verkünden und beweisen, dass der Koran eine unauslöschliche Sonne ist“ (Nursi, 2001a, S.44). Dies ist der zweite Wendepunkt im Leben von Said Nursi. Aus diesen Worten und dieser Aufgabe wird später die Nurculuk Bewegung entstehen.
Ein dritter Wendepunkt im Leben Nursis ist eine Vision, die er hat. Er schreibt hierzu folgendes: „Ich war unter den berühmten Ağrı Dağı, der als Berg Ararat bekannt ist. Plötzlich explodierte der Berg mit einem fürchterlichen Knall. Stücke von der Größe eines Berges wurden durch die ganze Welt geschleudert. Ich schaute um mich und sah in diesem Moment, dass meine Mutter bei mir war. Ich sagte zu ihr: ´Habe keine Angst, dies geschah auf einen Befehl Gottes hin. Er ist All-Barmherzig und All-Weise.´ In diesem Moment sah ich plötzlich, dass eine wichtige Person mir einen Befehl gab: ´Zeige den Wundercharakter des Koran!´ Ich wachte auf und verstand, dass eine große Explosion und ein Aufruhr stattfinden würde. Die Mauern, die den Koran umgaben, würden zerstört werden. Dann würde der Koran sich selbst verteidigen. Er würde angegriffen werden, und sein Wundercharakter wäre eine stählerne Waffe. Und ich verstand, dass ich es wäre, der dazu bestimmt ist, dieses Mal den Wundercharakter des Korans zu enthüllen, was über meine Fähigkeiten hinaus ging“ (2004b, S.507; 2001b, S.357; vgl. 2001a, S.44). Auf Grund dieser Vision wird sich später Said Nursi nur noch auf den Koran fixieren und die Glaubenswahrheiten, namentlich Risale-i Nur, verfassen.
Und schließlich ein letzter Wendepunkt. Diesmal war er in Ankara. Er beschrieb den Zustand der Regierung als „Betrunken vom Sieg“. So verteilte er unter den Abgeordneten einen Aufsatz, in dem er die Wichtigkeit des Pflichtgebetes und der Danksagung an Gott beschrieb (Nursi, 2000d, S.85-87; 2001a, S.125-127). Daraufhin sollen mehrere Abgeordnete sich dem Gebet zugewendet haben, was einige Politiker verärgert haben soll. Es kam zu verschiedenen Wortgefechten und Meinungsunterschieden. Nursi erklärte sein Vorhaben. Daraufhin entschuldigte man sich bei ihm. Man bot ihm ein lukratives Gehalt und einen hohen Posten an. Doch Nursi lehnte ab und schrieb später: „Wenn ich dieses Angebot angenommen hätte, wäre das Risale-i Nur, das weder das Werkzeug für irgendetwas ist noch irgend einer Sache nachfolgt und das Geheimnis der Aufrichtigkeit trägt, nicht entstanden“ (2000b, S.258; 2004a, S.334).
Nursi verstand, dass er in Ankara nicht länger bleiben konnte. Seine Hoffnungen für eine Regierung, die die Werte des Islams einhält, waren enttäuscht worden. So stieg er, laut seiner Biographie, in den Zug, fuhr nach Van und wandelte sich zum Neuen Said (Nursi, 2001a, S.133; 2001d, S.294ff; 2002a, S.29-31). Nursi spricht hier vom „Zugticket“, das ihn zum Neuen Said verwandelte.
Es wäre aber zu einfach, wenn man diese Verwandlung als Antwort auf die neue Türkei beschriebe. Vielmehr war es für Nursi ein Rückzug von Genuss und weltlichem Ruhm. Als Mitglied des höchsten osmanischen Rates für Fragen der Bildung lebte er in einem gehobenen Lebensstil in einer Villa. Durch eine Vision (Nursi, 2001d, S.294ff; 2002a, S.29-31) kam er zum Entschluss, dass weltlicher Reichtum nicht strebenswert sei. Ebenfalls könne man nicht mit Politik den Glauben im Volk befestigen. Daher wollte er sich auf den Einzelnen konzentrieren. Das islamische Bewusstsein könne nicht durch die Hand des Staates erweckt werden, sondern durch den Einzelnen. Er widmete sich also der Basisebene einer Gesellschaft. Hinzu kommt, dass er einen Text des mittelalterlichen Sufi Scheichs Abdulkadir Geylani auf sich selbst bezog (2001b, S.339ff; 2004b, S.489). Dieser gab den Rat, „weltabgeschiedener und politikfremder und Einsiedler-Asket zu werden“ (Vahide, 1999, S.34). Daraufhin verzichtete Nursi auf Reichtum und Macht und zog sich in die Berge zurück. In völliger Abgeschiedenheit lebte er auf dem Hügel Yuşa in Istanbul. Danach zog Nursi zunächst in seine Heimatstadt Bitlis und anschließend nach Van, wo er die nächsten zwei Jahre seines Lebens in den Höhlen verbrachte. Für islamische Gelehrte charakteristischerer Weise zog sich Nursi aus der Politik und dem gesellschaftlichen Leben zurück (Aries, 2004, S.70). Schon Dhu al-Nun al-Misri betonte, dass nichts „der Rechtschaffenheit zuträglicher wäre als die Einsamkeit, denn derjenige, der alleine ist, sieht nichts außer Gott, nichts rührt ihn, außer der Wille Gottes“ (Abu-Rabi, 2003, S.84; vgl. Smith, 1995, S.196). So benutzte Nursi das Exil und die Einsamkeit als Inspiration für seine Werke. Er wandelte das Gefühl der Entfremdung in ein Gefühl des Aufgehobenseins (Haddad, 1999, S.309; Abu-Rabi, 2003, S.70). Der Neue Said zeichnete sich dadurch aus, dass er weder politisch aktiv wurde, noch sich zur Politik äußerte.
Er widmete sich der Risale-i Nur. Die Risale-i Nur ist die Verwirklichung seines Traumes, Naturwissenschaft und Religionswissenschaft zu vereinen. Während seiner Zeit in Van entwarf Nursi die Idee einer Universität, die ihn sein Leben lang beschäftigen sollte. Er ging davon aus, dass der Rückzug aus den Wissenschaften zum Untergang des Bildungssystems im Osmanischen Reich geführt hatte. So hatte er die Idee einer Universität in Van (namentlich: Medresetüz Zehra; eine Analogie zur „Al Azhar“-Universität in Kairo). Hier sollten religiöses und naturwissenschaftliches parallel gelehrt werden. Hiermit wollte er zeigen, dass Wissenschaft und Religion, Freiheit und Glauben und Moderne und Tradition miteinander vereinbar sind (Yavuz, 2004, S.122). Später schreibt er hierzu (Nursi, 1999, S.80): „Die Wissenschaft von der Religion ist das Licht (Ziya) des Gewissens. Die Naturwissenschaft spiegelt das Licht (Nur) der Vernunft wider. Die Wahrheit wird offenbar durch die Vereinigung der Beiden. Wenn sie getrennt sind, kommt es zu Fanatismus in der Religion. Und es entstehen Argwohn und Zweifel in der Wissenschaft.”1 Somit wollte er die weltliche Bildung vor dem Unglauben und die religiöse Bildung vor dem Fanatismus bewahren (Yavuz, 2004, S. 124).
Ein entscheidendes Gespräch, welches dieses Gedankengut zeigt, führte Nursi 1936, als er nach Kastamonu verbannt wurde. Er schriebt dazu folgendes: „In Kastamonu kam eine Schar von Gymnasiasten zu mir, und sie sagten: ´Erzähle uns von unserem Schöpfer, unsere Lehrer sprechen nicht über Gott.´ (Abdullah Yegin abi ist die glückliche Person, die ihm diese Frage stellt). Da sagte ich zu ihnen: ´Alle Wissenschaften, die ihr studiert, sprechen beständig von Gott und machen den Schöpfer bekannt, jede Wissenschaft mit der ihr eigenen besonderen Zunge. Hört nicht auf eure Lehrer, hört auf die Wissenschaften´“ (Nursi, 2002b, S.96; Nursi, 2000a, S.23). Said Nursis Annahme, dass jede Wissenschaft die Existenz Gottes zeigt und dass u.a. die Naturgesetze das System Gottes (Sünnetullah) sind, lieferte eine moderne Interpretation des Korans, die dem Wissenschaftszeitalter entsprach. Der Alltagsmuslim konnte also Physiker und gleichzeitig auch Imam (Prediger) werden. Dies ist eine der soziologischen Gründe, warum viele Wissenschaftler die Risale-i Nur lasen. Sie, also die Bücher, boten eine Alternative zum säkularen Staat, der indirekt forderte, „Entweder Physiker oder Imam“. Mit Hilfe der Risale konnte dies nun aufgebrochen werden. Der israelische Religionswissenschaftler Yehezkel Landau beschreibt diesen Zustand in einem Interview folgendermaßen: „Ein Wissenschaftler sagt, ´Ich brauche die Religion nicht´. Einige Geistliche sagen ´Alles, was ich wissen muss, steht in meinem heiligen Buch´. Nursi sagt, ´Nein, das stimmt nicht. Sowohl das heilige Buch, als auch die Wissenschaft sind von Gott gesandte Offenbarungen. Beides sind Wege um den Schöpfer zu verstehen“ (Akman, 2004). So konnte Nursi den Bruch zwischen den esoterisch-subjektiven Mystikern und den intellektuell-objektiven Philosophen, der in der Gründungszeit der Türkischen Republik zustande kam, beenden (Karabaşoğlu, 2003, S.269).
Die Politik jedoch versuchte dies mit allen Mitteln zu verhindern. Daher müssen wir uns natürlich die Frage stellen, warum sich die Risale-i Nur Bewegung trotzt Widerstände (Verbote, Verfolgungen und massiver Anti-Propaganda) so gut verbreiten konnte? Dies hat mehrere Gründe:
Die Nurculuk Bewegung war ja keine Erwiderung auf irgendeine Ideologie. Dies wäre eine oberflächliche Fehleinschätzung. Die Nurculuk Bewegung ist auch keine Gegenideologie, weil die Bewegung keine ideologische oder politische Identität hat.
Der Grund für den rasanten Anstieg der Bewegung war vielmehr, dass die Bewegung eine Antwort auf die geistliche Leere, die zu Beginn des 20. Jahrhundert in der Türkei herrschte, anbot. In der neugegründeten Türkei füllte Nursi die Lücke der Religiosität, die durch die Reformen des Staates entstanden war. So entstand der größte Teil der Werke im Kontext des neugegründeten türkischen Nationalstaates, der die alte islamische Identität abzulegen versuchte und neue Werte integrierte. Deutlich ist aber, dass es nicht Nursis Intention war, bewusst diese Lücke zu füllen. Vielmehr führten soziokulturelle und sozio-ökonomische Umstände zu dieser Tatsache. Nursi verstand schon früh, dass die Jungtürken und die Intellektuellen, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine Revolution im Osmanischen Reich wollten, sich vom Islam entfernen würden, da sie die Religion als Quelle des Abstiegs sahen. Auch war ihm bewusst, dass der traditionelle Islam keine Antworten auf die Fragen der Moderne bieten würde. So entwickelte er eine moderne islamische Identität, indem er den Muslimen eine neue soziale Landkarte bot (Mardin, 2003, S.49). Die Risale-i Nur ist also nicht nur eine Apotheke, sondern ein Navigationssystem.
Laut dem Soziologen Serif Mardin (1989, S.25) war der türkische Nationalismus unfähig gewesen, ihre Sichtweise durchzusetzen. Die positivistische Sicht des Staates und die Säkularisation setzten sich in der ländlichen Türkei nicht durch. Dies führte zu strukturellen Konflikten in den Provinzen und Dörfern, da die Veränderungen und Institutionen die Bedürfnisse der Gesellschaft im ländlichen kaum stillten (Mardin, 1997, S.374, 385). So durchlebte das Volk zwischen 1930 und 1950 eine Identitätskriese. Durch die revolutionären Veränderungen in allen Ebenen der Gesellschaft verlor sie ihren Bezug zur Vergangenheit und somit auch zu ihrer eigenen Identität. Die neue Identität, die ihnen vom Staat aufgedrückt wurde, war nicht kongruent genug und entfremdete zudem die Menschen. Und genau hier setzte die Nurculuk Bewegung ein. Sie deckte und befriedigte die religiösen Bedürfnisse der Muslime in der Türkei. Said Nursi bot ihnen mit der Risale-i Nur Ethik eine Identität, die auf ihrer alten Identität aufbaute. So war es leicht, sich die Ideen Nursis anzueignen, ohne sich zu entfremden. Dadurch konnte sich die Risale-i Nur schneller verbreiten.
Said Nursi erreichte durch sein Geschick, sowohl das Herz als auch den Verstand anzusprechen, ein breites Publikum. Er schaffte es, die islamische Tradition zu modernisieren, den Muslimen ein wissenschaftliches und ethisches Rüstzeug zugeben und ein dynamisches Identitätsbewusstsein zu vermitteln (Yavuz, 2004, S.121). Er gab Antworten auf neue Fragen. Fragen, die der islamischen Welt fremd waren und erst durch die Industrialisierung Zugang zur muslimischen Welt fanden. Der traditionelle Islam hatte keine Antworten auf diese Fragen der Moderne. Said Nursi schlug einen neuen Weg ein und bearbeitete diese Fragen mit der gleichen Methode, wie sie gestellt wurden. Er benutzte die gleichen Mittel wie die Moderne, um den Glauben zu legitimieren. Diese neue Art und Methode fand besonders unter Intellektuellen eine Akzeptanz. Diese schlossen sich dieser neuen modernen Bewegung an. Denn durch Nursi wurde das Streben nach Wissenschaft “wieder“ zum İbadet (Gottesdienst). Dies ist natürlich keine Erfindung Nursis, daher der Beisatz “wieder“. Durch seine Arbeiten gelang ihm eine Öffnung zur modernen Naturwissenschaft. Ein Individuum konnte gleichzeitig Naturwissenschaftler und Geistlicher werden und musste sich nicht für die eine oder andere Seite entscheiden.
Nursis Auffassung des Islams ermöglichte jedem den Zugang zum Koran. Dieser Zugang war Jahrhundertelang nur Gelehrten vorenthalten. Nursi brach diese Tradition und überlies es jedem Einzelnen, „den Islam nach seinen eigenen Umständen zu interpretieren“ (Yavuz, 2004, S.127). Dadurch vergesellschaftete er die Religion und machte sie nutzbar. Er vereinfachte religiöse Themen und machte sie verständlich für die Individuen. So konnte ein jeder zur eigenen Autorität in Religionsfragen werden und die Abhängigkeit zu einem geistlichen Führer oder Gelehrten wurde durchbrochen. Die folgenden Zeilen machen dies auch deutlich. Said Nursi sagt: „Wer ein Jahr diese Abhandlungen und Lektionen, also die Risale-i Nur, liest, versteht und sie annimmt, der wird ein bedeutender, wahrhaftiger Gelehrter unserer Zeit werden. Auch wenn er sie nicht versteht, so ist dennoch in Anbetracht dessen, dass die Schüler der Risale-i Nur eine geistige Körperschaft bilden, ohne Zweifel diese geistige Körperschaft einem Gelehrten unserer Zeit gleich“ (Nursi, k.A.d, S.334; 2000f, S.229). Durch die Vergesellschaftung versuchte er, das religiöse Bewusstsein in der Gesellschaft zu erwecken. Er versuchte die Religion, genauer die orthopraktische Lebensweise, in die Praxis zurückzuholen. Dabei verwies Nursi auf den Verstand. Der Tauhidgedanke Nursis spielt hier eine große Rolle.
Somit ist die Nurculuk Bewegung, keine Bewegung, die ihre Anhänger aus der Gesellschaft zurückzieht, sondern sie aktiv in die Gesellschaft zu integrieren versucht.
Die Aufgabe Deutschlands ist es, Said Nursi zu lesen und zu verstehen. Unsere Aufgabe ist es, diese Bücher zu verbreiten und zu leben.
1 Zum Unterschied zwischen Ziya und Nur: „Dhiya (Ziya) is the light of the source of light itself, for example, the light of the Sun. Nur is a light emanating from an indirect source, for example, the light of the Moon. The Qur´anic verse (10:5) ascribing Dhiya (Ziya) to the Sun, and Nur to the Moon well exemplifies this point. The light of the Sun that comes directly to us is Dhiya (Ziya), and the light reflected on the world through the Moon is Nur” (Karabaşoğlu, 2003, S. 291).
Imam Ghazali (2004b, S. 41ff) teilt das Wissen in verschiedene Bereiche ein:
Religionswissenschaften
a)Grundlegende, theoretische Wissenschaften (Einheit Gottes, Koranexegese, Hadith)
b) Praktische Wissenschaften (Gottesdienste, Rechte der Mitmenschen, Ethik)
Positive Wissenschaften
a)Logische Wissenschaften
b)Naturwissenschaften
c)Theologie
Die höchste Stufe des Wissens und die größte Wahrheit ist laut dem Islam die Erkenntnis Gottes (marifetullah). Man könnte sogar sagen, dass alle Wissenschaften nur Werkzeuge sind, um den Schöpfer zu erkennen. Die Erforschung des Universums und das Streben nach der Wahrheit dient dem Ziel, Gottes “Handlungsweise“ und seine Weisheit zu verstehen. Da der Zweck der Schöpfung des Menschen darin besteht, Gott zu erkennen, kann man sagen, dass dies das höchste Ziel ist.
Erst nach der Erkenntnis Gottes beginnt die wahre Liebe (muhabbetullah) zu ihm, denn der Mensch liebt, was er kennt, und kann nicht wirklich lieben, was er nicht kennt. Damit eine Liebe zu Gott entsteht, ist also die Erkenntnis Gottes notwendig.
Nursi beschreibt die Beziehung zwischen Erkennen und Lieben folgendermaßen: „Wisse mit Sicherheit: Das höchste Ziel der Schöpfung und die erhabenste Frucht der Natur ist der Glaube an Gott. Die erhabenste Stufe der Humanität und der Menschheit höchster Rang liegt in der Gotteserkenntnis, die aus dem Glauben an Gott erwächst. Überaus strahlende Glückseligkeit und süßeste Gnadengabe für Dschinnen und Menschen liegt in der Gottesliebe, die in der Gotteserkenntnis liegt. Die reinste Freude für die Seele und ungetrübter Frohsinn für das Herz des Menschen liegt in dem Wohlgeschmack des Geistes, der in der Gottesliebe liegt. In der Tat liegt alle wahre Glückseligkeit, reine Freude, angenehmer und ungetrübter Genuss mit Sicherheit in der Gotteserkenntnis und der Gottesliebe. Eines kann ohne das andere nicht sein. Wer Gott den Gerechten kennt und liebt, empfängt ohne alle Grenzen Glückseligkeit, Gnadengeschenke, Licht und (die Erkenntnis) der Geheimnisse entsprechend seinen Fähigkeiten oder Taten. Wer Ihn nicht wirklich kennt und liebt, muss hingegen physisch wie psychisch Qualen, Leiden und Sorgen ohne alle Grenzen erfahren“ (Nursi, k.A.f, S. 405).
Gott zu erkennen bedeutet, die Frage „Was für ein Gott?“ zu beantworten. Da wir Gott mit nichts in der Schöpfung vergleichen können, können wir ihn nur so erkennen, wie er sich uns selbst beschreibt. Im Koran und in den Hadithen stellt sich Gott durch Seine Attribute vor. Im “Dschawschan al Kabir“ (das große Bittgebet) begegnet Er uns mit 1001 Attributen. Im Koran macht Er sich durch die “Al Asma al Husna“ (die schönsten Namen) bekannt.
Said Nursi verwendet in seinen Werken eine interessante Methode, um Gott zu beschreiben. Er verwendet fast nie einfach nur das Wort “Allah“. Anstatt nur Allah zu schreiben, verwendet er je nach Zusammenhang eines der Attribute Gottes. Geht es um Gerechtigkeit, schreibt er “Adl“ (der Gerechte), bei Versorgung “Razzaq“ (der Versorger), bei Barmherzigkeit “Rahim“ (der Allbarmherzige) usw.
Mit dieser interessanten Methode beantwortet er die Frage „Was für ein Gott?“ in jeder Zeile und prägt dem Leser die Eigenschaften Gottes ein.
Der Leser beginnt, Gott zu lieben, je mehr er ihn kennt. Zweifel, die er möglicherweise hatte, verschwinden. Je mehr er liebt, desto stärker wird seine Verbindung und sein Vertrauen zu Gott. Das bedeutet, er beginnt auf Gott zu vertrauen.
Mit der Erkenntnis und Liebe zu Gott verändern sich auch die Gebete. Wenn man Heilung wünscht, wendet man sich an den “Shafi“ (den Heiler), für Vergebung an den “Gaffar“ (den Verzeiher) und für die Lösung von Schwierigkeiten an den “Fattah“ (den Öffner).
Durch diese Methode, die man in keinem anderen Werk findet, wird das Risale-i Nur zu einem einzigartigen Buch der Gotteserkenntnis.
Said Nursi spricht in seinem Koran-Kommentar “Risale-i Nur“ an vielen Stellen davon, dass es “einfacher“ oder “leichter“ ist, die Existenz Gottes und dass alles von Gott erschaffen wurde, anzunehmen. Andererseits sagt er, dass der Glaube daran, dass alles von selbst entstanden ist, ein “schwieriger Weg“ sei.
An einer Stelle heißt es beispielsweise: „Auf dem Weg der Leugnung zu gehen, ist noch mühsamer, noch gefährlicher als über das Eis zu gehen. Was aber den Weg des Glaubens betrifft, so ist er sehr leicht und ohne jede Mühe wie in Licht und Luft zu gehen oder im Wasser zu schwimmen. […] Dies ist ein Beispiel für die Leichtigkeit des Monotheismus. […] Und ein Beispiel für die Mühsal der Leugnung“ (Nursi, 2011b, S. 138).
Wer die Risale-i Nur nicht vollständig gelesen hat oder mit Nursis Stil nicht vertraut ist, könnte aus diesen Zeilen vielleicht schließen, dass er den einfachen Weg wählt und dass der Glaube an Gott eine Bequemlichkeit oder Leichtigkeit ist.
Betrachtet man jedoch alle Texte, in denen diese Zeilen vorkommen, als Ganzes, so stellt man fest, dass die Wörter “leicht“ und “schwierig“ hier im Sinne von “logisch“, “vernünftig“ und “möglich“ verwendet werden.
Wenn Nursi also sagt, dass es “leicht“ ist, einen Schöpfer anzunehmen, meint er damit, dass dieser Gedanke logisch, vernünftig und die einzig mögliche Erklärung ist.
Wenn er von der “Schwierigkeit“ des Leugnens spricht, meint er damit nicht, dass die Leugnung ein “schwer zu verstehendes wissenschaftliches Problem“ ist oder dass man sich deshalb “ohne nachzudenken zum Glauben bekehren“ soll.
Nursi sagt auch nicht: „Auch wenn es schwierig ist, könnte die Leugnung mit geringer Wahrscheinlichkeit wahr sein.“ Das Wort “schwierig“ wird hier im Sinne von “unlogisch“, “unvernünftig“ und “unmöglich“ verwendet. Das heißt, er bezeichnet es als unlogisch und unvernünftig, in das Universum zu schauen und keinen Schöpfer zu sehen, und er betrachtet es als unmöglich, dass es keinen Schöpfer gibt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Glaube an Gott keine Bequemlichkeit oder Leichtigkeit ist, sondern logisch, vernünftig und die einzige Möglichkeit. Die Leugnung hingegen wird als unlogisch, unvernünftig und unmöglich bezeichnet.
„Glauben oder Nicht-Glauben? Das ist hier die Frage“, hätte wohl Shakespeare gesagt, wenn er sich mit dieser Fragestellung beschäftig hätte. Dabei ist die Frage so alt wie die Schöpfungsgeschichte und wird in allen Offenbarungen immer wieder zum Ausdruck gebracht. Was der Glaube, eben der Nicht-Glaube jedoch bedeuten, soll hier skiziiert werden.
Wenn man das Wort Glaube im arabischen (iman) betrachtet, dann fällt auf, dass es eine andere inhatliche Bedeutung hat, als die, die man im Deutschen darunter versteht. Iman ist demnach nicht einfach nur zu “glauben“ (im Sinne von “vermuten“), dass es einen Schöpfer gibt, sondern es mit Sicherheit zu bestätigen. Demnach versteht man im islamischen Kontext Glaube als die Anerkennung und Bestätigung der Offenbarung mit klarer Sicherheit und Gewissheit. Es bedeutet also, die vom Propheten Muhammed überbrachten, zweifelsfreien Offenbarungen zu bejahen.
Dabei ist der Glaube eine Eigenschaft des Herzens. Wie es der islamische Gelehrte Sa'd ad-Din at-Taftazani in seiner Exegese ausdrückt, ist der Glaube ein Licht, das Gott in das Herz des Menschen legt, nachdem dieser seinen freien Willen dafür eingesetzt hat (Nursi, k.A.k, S. 77). Das bedeutet, dass der Mensch die vom Propheten überbrachte Wahrheit aus freiem Willen annimmt und sich zu eigen macht, woraufhin Gott dieses Licht in sein Herz legt, das fortan zu seiner inneren Eigenschaft wird. Dieses Licht ist sowohl eine Kraft als auch eine Erleuchtung, die das Verborgene sichtbar macht. Es ist zudem eine Eigenschaft, die Wahrheit anerkennt, bestätigt und Sicherheit gewährt.
Der Philosoph Augustinus sagte: „Glaube ist zu glauben, was du nicht siehst, die Belohnung dafür ist zu sehen, was du glaubst.“ Die Belohnung, also das “Unsichtbare“ zu sehen, offenbart sich durch das Licht Gottes, also durch den Glauben an ihn.
Auch Said Nursi betont die Bedeutung des Glaubens mit den Worten: „Glaube macht den Menschen zum Menschen. Sogar den Menschen zum Sultan. [..] Ja, derjenige, der den wahren Glauben in Händen hält, vermag der ganzen Welt Widerstand zu leisten und sich je nach der Stärke seines Glaubens vom Druck aller Geschehnisse zu befreien“ (Nursi, k.A.c, S. 548ff). Damit hebt er hervor, dass der Glaube eine wesentliche Eigenschaft der Menschlichkeit ist und dass jemand mit starkem Glauben – weil er auf Gott vertraut – dem Universum trotzen kann.
Ein gläubiger Mensch ist sich seines Schicksals sicher, daher weiß er, dass alles, was ihm widerfährt, eine Prüfung ist, und bleibt gelassen. „Vertraue auf Gott! Nur so wirst du vor der Bedrängnis in der Gefangenschaft des Diesseits bewahrt bleiben, davor, vor aller Welt ein Bettler zu sein, vor jedem Ereignis zu zittern, vor eitlem Ruhm und Spott, vor Qual im Jenseits“ (Nursi, k.A.c, S. 549). Somit wird der innere Frieden des Gläubigen nicht gestört. Ist er reich oder gesund, so ist er dankbar und nicht überheblich; ist er arm oder krank, so übt er Geduld und lehnt sich nicht auf. Nursi schreibt dazu: „Oh Freund! So wie alle Freuden im Glauben liegen, so liegen alle Leiden im Irrglauben“ (Nursi, 2012a, S. 52). Unruhe, Unglück und Schmerz entspringen daher der Verleugnung Gottes.
Im Koran werden die Begriffe „Schönste Gestaltung“ und „Niedrigste der Niedrigen“ (Koran, 95:4-5) verwendet. Durch den Glauben wird der Mensch auf die höchste Stufe erhoben, während die Leugnung ihn in die tiefste Erniedrigung stürzt, denn es widerspricht der natürlichen Schöpfung des Menschen.
Für den Nicht-Glauben wird in der Literatur öfters der äußerst negativ konnotierte Begriff “Unglaube“ genutzt. Im Koran finden wir hierzu den Begriff “kufr“. Dieses Wort bedeutet wörtlich “verdecken“ oder “verhüllen“. Im Islam bezeichnet es die Verleugnung, Ablehnung oder Verheimlichung einer durch den Propheten überbrachten, zweifelsfreien Wahrheit. In dieser Definition sind auch das Beigesellen anderer zu Gott, das Zuschreiben ungebührlicher Eigenschaften an ihn, die Leugnung einer koranischen Offenbarung oder eines feststehenden Urteils, die Leugnung der Engel, des Jenseits, der offenbarten Schriften und der Propheten enthalten. Daher ist es angemessener, für den “Nicht-Glauben“ den Begriff der Leugnung zu nutzen, da dies eine Existenz leugnet und damit viel treffender ist als der Begriff “Unglaube“.
Leugnung ist ebenfalls eine Eigenschaft des Herzens und das Gegenteil des Glaubens. Im Türkischen wird das Wort außerdem in der Bedeutung von Schimpfen verwendet, was sich jedoch von der islamischen Definition unterscheidet. Zudem impliziert der Begriff die “Undankbarkeit“, wie z.B. in dem Begriff “küfran-ı nimet“ (Undankbarkeit für die Gaben Gottes).
Die Bedeutung von Leugnung kann man in weitere Unterpunkte aufteilen:
Nichtanerkennung oder Ablehnung einer nachgewiesenen Tatsache (Adem-i Kabul). Diese Form der Leugnung entspringt meist aus Unwissenheit oder mangelnder Überzeugung.
Aktive Zurückweisung: Die Überzeugung, dass etwas, das existiert, nicht existiert (Kabul-ü Adem). Diese Form der Leugnung ist selbst eine Art von Glaube und entspringt einer gegenteiligen Überzeugung.
Das Leugnen, Verbergen oder Abstreiten einer eigenen Tat oder Aussage. Das Gegenteil ist in diesem Fall das Eingeständnis.
Die Quelle des Glaubens ist nicht Schwäche oder Hilflosigkeit. Der Glaube ist dem Menschen von Natur aus gegeben. Descartes betont dies mit seiner Aussage: „Etwas Existierendes kann nicht aus dem Nichts entstehen.“ Er verweist darauf, dass der Mensch mit seinem Verstand zu Gott finden kann.
In der Geschichte gibt es hierzu zahlreiche Beispiele: Der Prophet Abraham verwarf den Götzendienst durch seinen Verstand und suchte den wahren Schöpfer (Koran, 6:7481). Hamza, der Onkel des Propheten, fragte sich beim Jagen beständig: „Diese Schöpfung muss doch einen Erschaffer haben.“ Selbst Agnostiker erkennen an, dass es einen Schöpfer geben muss, auch wenn sie seine Attribute nicht bestimmen können. Bestimmte Ideologien akzeptieren ebenfalls einen Schöpfer, nennen ihn jedoch “Natur“. Götzendiener haben erkannt, dass es Schöpfer geben muss, sind aber in die Vielgötterei verfallen. Die alten Griechen hielten die unterschiedlichen Eigenschaften Gottes für verschiedene Götter und schrieben jedem Aspekt der Schöpfung eine eigene Gottheit zu.
Auch Imam Maturidi (2003) erklärt, dass man den Verstand nutzen muss, um die Existenz Gottes zu erkennen, während man die Offenbarung benötigt, um seine Eigenschaften zu verstehen.
Glaube ist dem Menschen also angeboren. In diesem Zusammenhang kam der Molekularbiologe Dean Hamer nach sechsjähriger Forschung zum Ergebnis, dass es im genetischen Code des Menschen ein “Gottes-Gen“ gibt (Hamer, 2006).
Trotzdessen gibt es Menschen, die die Existenz des Schöpfers leugnen. Laut Said Nursi sind dabei zwei Gründe entscheidend:
Leugnen aus Unwissenheit
Leugnen trotz Wissen:
a)Die Person kennt die Wahrheit, akzeptiert es aber nicht.
b)Die Person hat eine Gewissheit, aber keine Bestätigung des Glaubens.
c)Die Person bestätigt den Glauben, hat jedoch keine innere Sicherheit (Nursi, k.A.k, S. 129).
Das bedeutet, dass es sowohl Menschen gibt, die aus Unwissenheit leugnen, als auch solche, die es aus Trotz oder Hochmut tun. So kann ein Mensch allein aus Sturheit Gott leugnen. Hierzu passend eine Überlieferung: „Und auch dies ist zuverlässig überliefert, stieg bei der Eroberung von Mekka Bilal Habeshi auf das Dach der Kaaba und rief zum Gebet, während Abu Sufyan, Attab ibn Assid und Harith ibn Hisham, Fürsten vom Stamme der Qureysh beieinander saßen und miteinander plauderten. Da sagte Attab: ´Mein Vater Assid hatte das Glück, diesen Tag nicht zu sehen.´ Harith entgegnete ihm: ´Konnte Muhammed keinen anderen Mann als Gebetsrufer finden als diese schwarze Krähe?´ Und er machte so Bilal Habeshi verächtlich. Abu Sufyan wandte ein: ´Ich würde mich hüten, etwas dergleichen zu sagen. Selbst wenn es niemanden gäbe, so würden doch die Steine von Batha (Mekka) ihm Nachricht (über euer Gespräch) geben und dadurch wird Muhammed es erfahren.´ In der Tat begegnete ihnen wenig später der Ehrenwerte Gesandte, mit dem Friede und Segen sei und wiederholte ihnen buchstäblich, was sie zueinander gesprochen hatten. Da legten nun auch Attab und Harith Zeugnis ab und wurden Muslime“ (Nursi, k.A.k, S. 192ff).
Diese Überlieferung zeigt: Wenn Abu Sufyan glaubt, dass selbst die Steine darüber berichten würden, dann weiß er insgeheim um die Prophetenschaft des Propheten Muhammed, aber er leugnet es aus Trotz und Feindschaft. Denn wäre er wirklich nicht überzeugt gewesen, warum hätte er dann daran geglaubt, dass die Steine es berichten würden? Das wäre ein Widerspruch. Attab und Harith wiederum glaubten aus Unwissenheit nicht. Als sie die Warhheit erfuhren, traten beiden zum Islam über, während Abu Sufyan in seiner Sturheit verharrte.
Ein ähnliches Ereignis erlebte Abu Sufyan später erneut. Eines Tages sahen Abu Sufyan und Safwan, ein weiterer Anführer der Quraisch, auf einer Reise einen Wolf, der eine Gazelle jagte. Die Gazelle floh in das heilige Gebiet (Haram), woraufhin der Wolf umkehrte. Verwundert über dieses Geschehen, sahen Abu Sufyan und Safwan plötzlich, dass der Wolf sprach und die Prophetenschaft Muhammeds verkündete. Da sagte Abu Sufyan zu Safwan: „Wir wollen diese Geschichte niemandem weitererzählen, denn ich fürchte, dass sonst alle Bewohner von Mekka sich ihm anschließen werden“ (Nursi, k.A.f, S. 275).
Der Philosoph Emerson sagt hierzu: „Was ich sehe, zwingt mich dazu, an das zu glauben, was ich nicht sehe.“ Erst durch Sturrheit, lehnt man die Realität ab oder verdrängt es. Der Physiker Einstein wiederum schrieb seine verstandenen Erkenntnisse der Wissenschaft zu, während er das, was er nicht verstand, Gott zuschrieb. Das ist letztlich auch eine Form von Trotz.
Said Nursi war der Meinung, dass es wichtig ist, zu überzeugen, und sich nicht wie Barbarem, die keine Worte verstehen, zu kämpfen (k.A.b, S. 86; 2012b, S. 415). Das bedeutet, dass die Methode der Überzeugung angewendet werden sollte. In Bezug auf das Thema Glauben, bedeutet dies, transparent und ohne gegenseitige Vorwürfe oder Feindseligkeiten miteinander zu diskutieren. Andernfalls wird eine Seite die andere als “Fanatiker“ und die andere Seite die andere als “Gottlos“ beschimpfen. Jegliche Gespräche und Diskussionen wären dann unnötig.
In diesem Zusammenhang gibt es auch eine Erzählung vom Prophet Abraham, der einen älteren Mann, der nicht an Gott glaubte, als Gast ablehnte. Doch unmittelbar danach sagte Gott sinngemäß: „Oh Abraham! Du solltest den Menschen mehr Mitgefühl und Barmherzigkeit zeigen. Ich habe diesem Diener, der siebzig Jahre lang gegen mich sündigte, anstatt mir zu dienen, den Götzen huldigte und ungehorsam war, seinen Lebensunterhalt nicht verweigert.“ Daraufhin entschuldigte sich Abraham beim Gast und bewirtete ihn.
Auch als der Prophet Moses zum Pharao ging, befahl ihm Gott, mit sanften Worten zu sprechen: „Und so redet mit ihm in sanften Worten, auf daß er bedenken oder sich fürchten möge“ (Koran, 20:44). Ebenso wird dem Propheten Muhammed geraten, beim Verkünden des Glaubens sanfte Worte zu verwenden: „Durch Erbarmen von Gott bist du mild zu ihnen gewesen; wärst du aber schroff und hartherzig, so würden sie wahrlich rings um dich auseinandergelaufen. So verzeihe ihnen, bitte für sie um Vergebung und ziehe sie in den Angelegenheiten zu Rate“ (Koran, 3:159) und „Rufe zum Weg deines Herrn mit Weisheit und schöner Ermahnung, und streite mit ihnen in bester Weise“ (Koran, 16:125).
In diesem Kontext betrachtet Said Nursi diejenigen, die nicht glauben, als seine Gesprächspartner (k.A.d, S. 184ff). Er feindet sie nicht an, sondern versucht, sie zu überzeugen. Ob sie glauben oder nicht, hängt jedoch nicht vom Prediger ab. Das Ergebnis gehört Gott. Daher können Menschen anderen keinen Glauben geben, sie können nur Wissen vermitteln. Glaube ist – wie oben erwähnt – eine freiwillige Herzensangelegenheit mit der Führung Gottes.
Der Pädagoge Muhsin Abdülhamid interpretiert die Methode von Nursi folgendermaßen: „Nursi, der seine Inspiration aus dem Koran schöpft, bietet den durstigen Köpfen und Herzen eine großartige und perfekte ´Reise der Reflexion´. Er lässt die Menschen vor existierenden Kunstwerken, die eine unvergleichliche Schönheit und eine unbeschreibliche Landschaft besitzen, innehalten und erklärt ihre Geheimnisse bis ins Detail. Während er die Ordnung und Harmonie im Universum beschreibt, verwendet er den Verstand wie ein Instrument, das die Herzen berührt, die Unachtsamkeit vertreibt und das innere Auge öffnet. Er ergreift die Hand der Menschheit, die im finsteren Dunkel der Vergänglichkeit gefangen ist, und führt sie, indem er aufzeigt, dass der Himmel, die Erde und alles, was sich darin befindet, ihren Schöpfer preisen.“